Teil 4 Katastrophale Implikationen des Geburtstraumas
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Einleitung
Je tiefer und stärker die Kraft des gespeicherten Urschmerzes ist, desto größer ist das Potential für eine spätere katastrophale Reaktion. Es »sickert« immer genug von frühen Einprägungen durch, um uns wissen zu lassen, daß sie da sind. Manchmal können wir einfach mit den Füßen einen Takt schlagen oder mit den Fingern trommeln, um die überschüssige Energie freizusetzen. Zu anderen Zeiten sind die Energie und ihre Verdrängung von solcher Größenordnung, daß es keine Freisetzung gibt, und der Druck auf das System wird enorm. In solchen Fällen erscheinen dann sowohl physiologische als auch psychologische Reaktionen katastrophaler Natur.
Verrücktheit ist eine Abwehr gegen Schmerz. Der Körper kennt viele Möglichkeiten, verrückt zu werden, und wir können auf jeder Bewußtseinsebene »verrückt« sein. Krebs, zum Beispiel, kann eine Art von physiologischem oder zellularem Wahnsinn sein, Epilepsie eine Art von neurologischem und eine Psychose eine Art von intellektuellem Wahnsinn. Und wenn diese Abwehren, so extrem sie sind, versagen, kann der Mensch zur katastrophalsten aller Abwehren getrieben werden: zum Selbstmord, durch den er den Schmerz tötet, indem er sich selbst tötet.
Die Trennung des Urschmerzes von seinem Kontext läßt, vom Selbstmord abgesehen, nur zwei Alternativen offen — die Symbolisierung der Feelings durch eine abwegige Ideenbildung oder ihre Somatisierung durch eine schwere körperliche Krankheit. Die biologischen Komponenten können dabei jedoch dieselben sein: Vitalfunktionen, die höher als normal sind, charakteristische hormonale Veränderungen (einschließlich einer erhöhten Menge der Streßhormone) und Änderungen in den Spiegeln der zirkulierenden biochemischen Verdrängungsmittel (z.B. der Endorphine). Das zeigt uns, daß Krebs, Epilepsie und Psychosen zwar verschiedene Krankheiten sind, gleichzeitig aber nur verschiedene Manifestationen desselben Urschmerzes. Die Manifestationen unterscheiden sich, weil jede Bewußtseinsebene die Primärkraft anders verarbeitet.
Was hat das Geburtstrauma mit Krankheit und Selbstmord zu tun?
Wir haben festgestellt: je ernster das Symptom ist, desto wahrscheinlicher ist die generierende Kraft ein bei oder vor der Geburt kodiertes Trauma. Es ist jedoch möglich, daß zerrüttende Ereignisse in der frühen Kindheit den gleichen Grad von Schaden anrichten wie das Geburtstrauma, aber es muß bei solchen Ereignissen gewöhnlich das Überleben auf dem Spiel stehen. In jedem Fall aber ist das Gehirn zu diesem späteren Zeitpunkt biologisch besser ausgerüstet, das Trauma zu verarbeiten.
Eine Analogie zum Wirken unseres Immunsystems könnte hier aufschlußreich sein. Wenn das unversehrte menschliche System mit Allergenen in Berührung kommt, setzt es nicht sofort Antikörper ein. Statt dessen beginnt der Körper mit der Herstellung von spezifischen Antikörpern gegen das spezifische Allergen, so daß sich der Körper bei der nächsten Begegnung mit diesen Fremdkörpern an den früheren Angriff »erinnert« und die für ihre Bekämpfung geeigneten Antikörper bereit hat.
Dasselbe geschieht vermutlich mit allen Arten von somalischen und psychischen Abwehren einschließlich der schwerwiegendsten, Im frühen Stadium besitzt das Kind sehr wenig Abwehr gegen Angriffe. Die frühen Ereignisse — die Traumata vor und während der Geburt — lösen den Beginn der Produktion dieser innerem Kampfstoffe, vor allem der Endorphine, aus.
Spätere Angriffe wecken zuerst die Erinnerung an den ursprünglichen Angriff und regen dann die Produktion dessen an, was benötigt wird, um den gegenwärtigen Angriff abzuwehren. Das heißt, daß sich die späteren Abwehren auf die Erinnerung an die früheren Angriffe gründen. Waren diese ursprünglichen Angriffe katastrophal schwer, so werden die Abwehren, die der Betroffene entwickelt, ebenfalls katastrophal schwer sein, auch wenn die äußeren Umstände gar nicht entsprechend traumatisch zu sein scheinen.
Deshalb ist es so schwierig, so etwas wie Krebs oder eine Psychose zu verstehen. Diese Krankheiten sind so unglaublich schwer, daß sie »aus heiterem Himmel« zu kommen scheinen. Wir können zu einer solchen Krankheit keine exakte Verbindung herstellen, weil der katastrophale Urschmerz, den sie ausdrückt, noch tief unbewußt ist. Und solange wir keine Verbindung herstellen — keine Ursache in uns lokalisieren können — haben wir praktisch keine Gewalt über sie.
Selbstverständlich werden nicht alle diese Krankheiten durch Urschmerz verursacht, aber die Forschung stellt nach und nach fest, daß viele rein psychosomatische Ursachen haben können. Krebs und psychogene Epilepsie sind zwei solche Krankheiten. Was den Selbstmord anbetrifft, gibt es hinsichtlich seiner Ursachen keine Fragen. Aber die Psychose ist eine andere Geschichte. Manche glauben, ihre Ursache sei biochemischer Natur, andere sprechen von Vererbung, wieder andere machen die Umwelt verantwortlich. Interessanterweise könnten sie unter einem bestimmten Gesichtspunkt alle recht haben: eine Psychose verursacht tatsächlich schwere biochemische Störungen, sie wird pränatal durch das Milieu im Mutterschoß »weitergegeben«, und sie wird in der Kindheit durch ein fortgesetztes Trauma verstärkt.
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9 Zum Wahnsinn geboren? Der Beitrag der Geburt zur Geisteskrankheit
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Da die Psychose eine Verwirrung der Gedanken mit sich bringt, sehen wir sie als eine Krankheit des Geistes. Dabei ist uns jedoch nicht klar, was »Geist« ist oder wo wir ihn suchen sollen. Seine Manifestation ist zwar der Natur nach ideenhaft. Aber wir dürfen die Art, in der die Krankheit ausgedrückt wird, nicht mit ihrer essentiellen Natur verwechseln.
Der Neokortex ist ein später Zusatz zum Gehirn. Ideen reflektieren das Wirken niedrigerer Prozesse, bringen diese aber nicht hervor. Wir sehen, wie sich absonderliche oder psychotische Ideen aus frühen Einprägungen auf niedrigerer Ebene entwickeln, wenn sich die Patienten in der Therapie den Geburtserinnerungen nähern. Die Ideen werden unnatürlich und sonderbar. Wenn umgekehrt die Einprägungen des Geburtstraumas auf niedriger Ebene aufgelöst werden, geht die psychotische Ideenbildung zurück. Damit haben wir einen klinischen Beweis für die direkte Verbindung zwischen dem Geburtstrauma und dem Versuch des Gehirns, dieses Trauma durch Ideen zu bewältigen.
Ideen existieren nicht im leeren Raum. Sie sind keine selbständigen Wesenheiten. Sie sind die Endstation unserer Empfindungen und Emotionen. Ideen beschreiben unsere innere Verfassung und ermöglichen uns die Kommunikation. Wenn diese Verfassung durch frühen Urschmerz überwältigt wird, ist die Kommunikation verstümmelt. Sie ergibt keinen Sinn. Das kommt daher, daß der einzige Sinn, den sie haben kann, ein innerer ist.
Die Psychose ist lediglich ein ins Extreme getriebener Rationalisierungsprozeß. »Jemand ist hinter mir her«, entspricht vielleicht nicht etwas Wirklichem, was in der Gegenwart vorgeht, aber es kann sehr wohl etwas mit tatsächlichen Ereignissen in der Kindheit zu tun haben, als die Eltern das Kind verletzten, dessen einziges Hilfsmittel damals darin bestand, den Schmerz zu verdrängen.
Es wird dann notwendig, das Irrationale zu rationalisieren. Der erwachsene Geist muß irgendwie Ideen liefern, die mit der allzu irrationalen inneren Wirklichkeit übereinstimmen. So kann die Vorstellung »Jemand ist hinter mir her« äußerlich sinnlos, aber im primären Kontext absolut rational sein.
Der Mensch stellt sich eine Verletzung vor, die ohne jeden Grund auftreten wird, weil diese Verletzung seine Geschichte ist. Der Versuch, ihm die Idee ohne Rücksicht auf die zugrunde liegende Quelle auszureden, bedeutet nur eine Verstärkung der Krankheit. Die Ideen sind richtig, falsch ist nur der Kontext. Psychotische Ideenbildung ist ebenso sinnvoll wie die tatsächlichen Erlebnisse, die der Psychotiker durchgemacht hat.
Die Ursache der Psychose
Exzentrische Ideen machen einen Menschen nicht verrückt; sie drücken nur verbal aus, was oft nichtverbale Agonien sind. Urschmerz ist oft die Ursache einer Psychose. Als fremde Einmischung veranlaßt er das System (damit auch das Hirnsystem), abnormal zu reagieren. »Fremde Einmischung« ist einfach alles, was die normale Funktion verhindert: das Zurückgehaltenwerden bei der Geburt, das Verbot zu weinen, wenn man Schmerzen hat, das Eindringen eines Virus oder eine Krankheit. Die Einmischung, sei sie körperlicher oder psychologisch/emotionaler Natur, zwingt das System, von seiner normalen Entwicklung und Funktion abzuweichen. Unsere Erwachsenen-Abwehren — unsere emotionalen »Antikörper« — gründen sich auf die Erinnerung an die ursprüngliche Einmischung, die ursprünglichen »Antigene«. So schafft das Eindringen von Urschmerz aus dem Geburtstrauma seinen eigenen, entsprechend starken Antikörper — in diesem Fall die Psychose.
Aber nicht einfach Urschmerz ist die Ursache der Psychose, sondern auch der Grad der Abkoppelung von ihm. Die Abkoppelung zwingt uns zu verleugnen, was wirklich geschah, und an dessen Stelle etwas anderes zu setzen. Das Kind, dem die Eltern sagen, ihre heftigen Streitigkeiten seien »normal« und sollten es nicht aus der Fassung bringen, muß einen anderen Grund dafür finden, daß es sich so verzweifelt erregt. Hier besteht nun eine umgekehrte Beziehung: je weniger stichhaltig die Begründung ist, die das Kind für seine Gefühle in dem Kontext bekommt, in dem sie auftreten, desto zusammenhangloser und sonderbarer werden die »Gründe« für seine Gefühle.
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Wenn beispielsweise das Kind gezwungen wird, seine reale Furcht vor den Eltern zu leugnen, kann es sie in Furcht vor seinen Lehrern verwandeln. Wenn diese Furcht von den Eltern noch immer nicht berücksichtigt und bagatellisiert wird — »Aber, Peter, das ist doch lächerlich, deine Lehrer werden dir nichts tun« —, muß das Kind seine »Gründe« noch weiter herholen. Es kann dann plötzlich erklären: »Ich kann nicht in die Schule gehen, weil ich sterbe, wenn ich dort die Toilette benutze.« Und so weiter, bis der Geist vollkommen entstellt ist. Und all das, weil das ursprünglich berechtigte Gefühl der Angst und des Schreckens als Reaktion auf die Heftigkeit der Eltern einfach geleugnet wurde.
Psychose als Energie
Wenn die unteren Ebenen genug von der Primärenergie absorbieren, kommt es zu keiner Psychose. Können Migräne-Anfälle, hoher Blutdruck, Kolitis und Magengeschwüre einiges von der Energie entladen, läßt sich die Psychose vielleicht abwehren. Viele von uns wehren sehr oft eine Psychose ab. Der workaholic ist ein Beispiel. Stillzusitzen macht ihn »verrückt« — und das ist keine willkürliche Wortwahl. Alkohol hält Urschmerz nieder, dieselbe Wirkung haben Zigaretten.
Die Tatsache, daß diese Energie durch Bewegung, durch physische Manipulation entladen, durch Schreien abreagiert oder durch Elektroschocks aus dem System gejagt werden kann, deutet darauf hin, daß Urschmerz eine globale Energieform ist. Er ist ein elektrischer Zustand, der durch »Geschäftigkeit« entsprechend verringert werden kann. So trägt die Verminderung der elektrischen Kraft der Muskulatur durch Bewegung auch dazu bei, die Tendenz zu psychotischer Ideenbildung zu verringern. Deshalb werden präpsychotische Patienten, die zur Therapie kommen, manchmal vor der Sitzung aufgefordert, ein oder zwei Meilen zu laufen, um genug Energie zu zerstreuen, so daß das allgemeine Schmerzniveau zeitweilig gesenkt und ihnen der Zugang zur Primal-Zone ermöglicht wird.1)
1 Die Primal-Zone ist die Zone, in der Feelings gefühlt werden können, wo Schmerz und Verdrängung so ausgewogen sind, daß der Schmerz ins Bewußtsein aufsteigen kann, ohne es zu überwältigen Sie ist die Zone, in der die Heilung stattfindet.
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Hier ist der klare Beweis dafür zu finden, daß wir es nicht nur mit einer Geisteskrankheit zu tun haben: Änderungen im elektrischen Output der Muskeln oder des Gehirns beeinflussen unsere Art zu denken.
Eine überzeugende Methode, die Energie und Kraft des Urschmerzes bei Psychotikern zu sehen, ist die Beobachtung ihrer Geburts-Primals. Die Kraft vergrößert die Hirnwellen-Amplitude um mehrere hundert Prozent, sie erhöht die Körpertemperatur innerhalb weniger Minuten um 1°C und verdoppelt den Blutdruck und die Herzfrequenz. Da der Patient mit einem Primal in einer druckfreien Umgebung stilliegt, ist offensichtlich, daß jeder Druck, der während dieser Zeit aus ihm hervorbricht, nur von innen kommen kann. Das sagt uns mehr als alles andere etwas über die im Geburtstrauma und in der Psychose eingeschlossene Energie.
Vielleicht könnte die »Urknalltheorie« der Entstehung des Universums hier eine gute Analogie darstellen. Der Nachhall dieses Ereignisses tönt durch den ganzen Kosmos und stellt meßbare elektrische Energie dar. Innerhalb des menschlichen Systems ist die Energie des ursprünglichen »Urknalls« (des Geburtstraumas) durch den ganzen inneren Kosmos (den Körper) verteilt. Alles, was diese Verteilung beeinträchtigt, beeinträchtigt auch das Gleichgewicht des Systems. Daher tritt ein allgemeines Nachlassen des Drucks ein, wenn die elektrische Kraft in den Muskeln durch Massage oder Bewegung verringert wird. Druck »im Kopf« kann nach unten fließen, so daß der Geist eine geringere Energiemenge zu bewältigen hat.
Eine Psychose entsteht, wenn der Druck »im Kopf« nicht verringert werden kann. Wir brauchen Ideen (im Kopf), von denen wir verrückt werden können, und das bedeutet, daß wir einen reifen, zur Ideenbildung fähigen Geist brauchen, damit es zur Psychose kommen kann. Die Psychose, wie wir sie kennen, ist die letzte evolutionäre Alternative für die Entladung überschüssiger Primärenergie.
Tiere kennen diesen Luxus nicht. Sie können nicht ein Netz von Ideen spinnen, um ihren Schmerz zu verringern. Aber der Hund, der jeden beißt, den er zu fassen bekommt, weil er sein ganzes Leben angekettet und mißhandelt wurde, drückt nichtsdestoweniger seine eigene Art von Psychose aus.
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Psychose als letzte Abwehr
Die Psychose ist das letzte, was das Gehirn gegen den primären Ansturm tun kann. Man darf sich nicht ohne Rücksicht auf die zugrunde liegenden Kräfte an ihr zu schaffen machen. Diese Kräfte sind die Methoden, durch die das System sein Gleichgewicht aufrechterhält, und man muß immer dieses biologische homöostatische Gleichgewichtsprinzip beachten, bevor man ein Symptom oder Verhalten einzeln behandelt. Die Psychose ist imstande, genug Urschmerz zu entladen, um die vitalen Funktionen eines Menschen zu erhalten. Letzten Endes ist sie eine Abwehr gegen den Tod, weshalb es um so gefährlicher ist, sich mit ihr zu beschäftigen. Wenn der Mensch nicht verrückt werden kann — wenn die letzte Abwehr versagt und verknüpftes Feeling nicht möglich ist —, bleibt der Tod als einzige Alternative. Wir können nicht unverknüpften, unabgewehrten Urschmerz als ständigen Seinszustand aufrechterhalten. Man beachte die folgende Beschreibung der Gefühle einer Patientin, nachdem sie sich einer spirituellen Gemeinschaft angeschlossen und ihren Zorn »aufgegeben« hatte:
»Wir hatten Gurus, die uns sagten, daß es schlecht sei, zornig zu werden, und daher hörte ich auf, zornig zu werden; ich hörte auf, mich über die Dinge aufzuregen. In einer gewissen Hinsicht sehe ich nun, daß diese Einstellung wie ein Todesurteil für mich war. Zorn war die einzige Abwehr, die mich am Leben erhielt — mein Zorn und mein Kampf. Als ich das im Namen der Geistigkeit aufgab, war ich schutzlos. Ich hörte auf zu essen und magerte ab auf 90 Pfund. Ich wurde todkrank. Meine Haare fingen an auszufallen, und meine Haut wurde gelb. Ich wußte nicht, was mit mir geschah, aber ich hatte das Gefühl, langsam zu sterben. (Kursivschreibung durch den Autor.) Ich hatte das einzige aufgegeben, was mich am Leben erhielt — meinen Zorn.«
Die konventionelle Behandlung der Psychose kann gerade dadurch gefährlich sein, daß Abwehren blockiert oder verändert werden ohne Rücksicht auf das Bedürfnis einer Gefühlsverknüpfung mit dem Urschmerz, der abgewehrt wird. Ohne seine Abwehren befindet sich der Psychotiker in einem sehr gefährlichen Zwischenreich.
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Die absonderliche, aber gut abgewehrte Welt, die ihm vertraut war, wurde verändert, aber die wirkliche innere Welt seines Schmerzes bleibt ihm unzugänglich. Er kann nicht »hinuntergehen« in seine Gefühlswirklichkeit, aber er kann auch nicht »hinauf«, zurückkehren in seine psychotische Wirklichkeit. Er befindet sich tatsächlich in einem Niemandsland. Wir können uns bis zu einem gewissen Grade die Gefahr einer solchen Situation vorstellen, wenn wir ein weniger extremes Beispiel wählen. Nehmen wir an, wir werden von einem Freund oder Geschäftspartner gekränkt oder gedemütigt. In dem Augenblick, in dem uns die Kränkung trifft, wird unser Abwehrsystem aktiv, um sie zu rationalisieren, zu widerlegen und abzumildern. Je schwerer die Kränkung ist, desto stärker ist unser Bedürfnis, sie zu rationalisieren. Gewöhnlich ist das nicht eine Frage der Wahl, sondern Körper und Geist arbeiten automatisch, um das Leiden so gering wie möglich zu halten.
Wenn jedoch unsere Abwehren gegen diese Kränkung plötzlich blockiert wären, würden wir uns in einem emotionalen Wirrwarr befinden, den wir weder verstehen noch integrieren könnten. Was eine relativ geringfügige Kränkung war, wird dann zu einem unabgemilderten Angriff auf ein unabgewehrtes System. Wenn wir nicht wissen, wie wir die Verknüpfung zu der primären Quelle dieser Kränkung herstellen und ihr damit eine Bedeutung geben sollen, wird sie uns einfach weiter quälen. Die Bedeutung ist das Tor zur Heilung, das Fühlen ermöglicht es uns, es zu durchschreiten.
Psychose, Gewalttätigkeit und Geburt
Im Falle der Psychose sprechen wir von Jahren unaufhörlicher Leiden, die ununterbrochen das System überflutet haben. Das »Herumbasteln« an den Abwehren gegen diese Leiden ist buchstäblich ein Spiel mit Dynamit: die Macht und Kraft, die in un-verknüpftem Schmerz der ersten Ebene stecken, sind explosiv und können ungeheuer destruktiv sein. Wir brauchen nur unsere Gefängnisse zu betrachten, um uns davon zu überzeugen. Psychopathisches und psychotisches Verhalten sind in Wirklichkeit nur zwei Gabelungen derselben Straße frühen, katastrophalen Urschmerzes.
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Die aufgestaute Gewalttätigkeit, deren Ursache die ursprüngliche Frustration, nicht aus dem Geburtskanal zu kommen, ist — ein Trauma mit hoher elektrischer Valenz —, und dazu die Verstärkung durch Jahre emotionaler Deprivation können später entweder psychopathisches oder psychotisches Verhalten zur Folge haben. Gewalttätigkeit gegen einen Menschen kann bei der Geburt beginnen und dann früher oder später ihre Entladung finden.
Die Forschung beginnt nun, das gewalttätige Verhalten Erwachsener mit frühkindlichen Traumata in Verbindung zu bringen. Sarnoff A. Mednick, der Leiter des Instituts für Psychologie in Kopenhagen, berichtete in Psychology Today2 über eine ausführliche Untersuchung an 2000 Dänen männlichen Geschlechts, die 1936 in Kopenhagen geboren wurden: »Von 16 Männern, die Gewaltverbrechen begingen, hatten 15 die denkbar schrecklichsten Bedingungen bei der Geburt erlebt... und der 16. hatte eine epileptische Mutter.«
Dr. Mednick kommt zu dem Schluß, es sei »sehr gut möglich, daß wir Bedingungen auf der Spur sind, die einige Beiträge zu impulsiver Kriminalität leisten«. Dr. Mednicks Team führte auch eine umfassende Studie über schizophrene Kinder durch. Wieder stellte er fest, daß ungünstige Bedingungen während der Schwangerschaft und Geburtskomplikationen signifikant zur späteren Geisteskrankheit beigetragen zu haben scheinen. Siebzig Prozent der untersuchten gestörten Kinder hatten während der Schwangerschaft oder Geburt eine oder mehrere ernsthafte Komplikationen durchgemacht: Anoxie, Frühgeburt, zu lange Wehen, Strangulation durch die Nabelschnur oder Steißlage. Mednick schloß, daß »Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen die Fähigkeit des Körpers schädigen, Streßreaktions-Mechanismen zu regulieren«.
In den Vereinigten Staaten kam die Anerkennung der wichtigen lebenslangen Wirkungen traumatischer Geburtserlebnisse von einer etwas ungewöhnlichen Seite — einem staatlichen Gesetzgeber. John Vasconcellos aus San Jose, California, äußerte die Ansicht, daß moderne Entbindungsverfahren eine mögliche Ursache von Verbrechen sein könnten.
2 April 1971, Vol 4, S 11.
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Wie die New Press von Santa Barbara 1979 berichtete, glaubt Vasconcellos, daß eine Änderung der Entbindungspraktiken auf lange Sicht die Neigung zu Verbrechen reduzieren könnte: »Ein Säugling, der unmittelbar bei der Geburt traumatisiert wird, könnte sehr wohl für Gewalttätigkeit konditioniert werden.« Er trat für die Einführung der Leboyer-Methode in großem Maßstab ein und schlug Untersuchungen über die Verbindung zwischen Geburt und späterem gewalttätigem Verhalten als Alternative zu der traditionellen Methode vor, »mehr und bessere Möglichkeiten zu finden, uns selbst und einer den anderen zu unterdrücken und zu kontrollieren«.
Psychotische Ideenbildung und das Gehirn
Die Beziehung zwischen Geburt und psychotischer Ideenbildung fällt uns in der Therapie sehr bald auf. Die präpsychotischen Patienten, die wir behandeln, beginnen mit ihren Geburts-Primals oft schon sehr früh in der Therapie — ja sogar zu früh — und müssen eine Zeitlang von ihnen abgelenkt werden, bis sie die Kraft besitzen, den Urschmerz zu integrieren. Um diese Ablenkung zu erreichen, geben wir ihnen Tranquilizer, die als Blocker auf der ersten Ebene wirken, so daß zunächst einige der weniger schweren Traumata behandelt werden können.
Was tatsächlich geschieht, ist, daß das Material der ersten Ebene mit seiner enormen Ladung ständig in die zweite und dritte Bewußtseinsebene einbricht. Der Patient ist so sehr überwältigt, daß er sich nicht auf eine Szene oder ein Feeling konzentrieren kann. Der Zusammenhalt geht verloren. Oft ist die zweite Ebene auch mit verstärkten Kindheitstraumata überladen, so daß sie als Abwehr nur geringe Dienste leistet. Damit muß die dritte Ebene die Hauptwucht des Eindringens von der ersten Ebene her tragen. Der Zusammenhalt der dritten Ebene wird immer stärker gestört, da sie mehr und mehr Neuronen rekrutieren muß, um den Angriff abzuwehren.
Wenn wir uns die dritte Ebene als ein zusammengesetztes (und zusammenhängendes) Puzzle vorstellen, und wenn wir uns vorstellen, wie Schmerzen niedrigerer Ebenen nach oben, gegen das Puzzle stoßen, um seine Zusammensetzung und seinen Zusammenhalt zu stören, erhalten wir eine Idee davon, worin das Problem der Psychose besteht.
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Das Ergebnis dieser Kraft oder dieses Stoßes ist, daß der Intellekt zersplittert und viele Teile vollkommen voneinander getrennt sind. Es gibt kein einheitliches, zusammenhängendes Bild mehr. Und wenn es in der Psychose zu diesem Mangel an Zusammenhalt kommt, hält sich der Kranke an jede getrennte Wahrnehmung oder Idee als an ein isoliertes Erlebnis. Es gibt keine Gesamtstruktur mehr, die Gedanke und Wahrnehmung zusammenfaßt und vereinigt. Deshalb kann der Psychotiker mit einer vollkommen klaren Vorstellung beginnen und sich in einem absonderlichen Geschwätz verlieren.
Das Problem bei der Wiederauffindung des Geburtstraumas ist, daß der ideenbildende Geist mit einem Ereignis tief unten im Nervensystem fertig werden muß, einem Ereignis, das der Entwicklung ebenjener Ideen vorausgeht, die benutzt werden müssen, um es zu verstehen. Das Erlebnis ist »sinnlos« ohne den Zugang zum ursprünglichen Geschehen. Es könnte einfach nicht anders sein. In einem bequemen Therapieraum zu liegen und plötzlich in ein überwältigendes Feeling von Tod und Unheil gestürzt zu werden, gibt jemandem zunächst beinahe immer das Gefühl, verrückt zu werden.
Was der ideenbildende Geist in einem Primal tun muß, ist, seine Funktionen »fahrenlassen« und den niedrigeren Ebenen trauen. Das Erlebnis des Feelings selbst liefert alle Logik, die man braucht; und tatsächlich setzt nach dem Erlebnis des Feelings die dritte Ebene automatisch wieder ein, um die Logik und die Begriffe beizustellen, die benötigt werden, um das Feeling mitzuteilen. Entscheidend dabei ist, daß die »Logik« der Feelings gefühlt werden muß. Diese Logik gehört zu einem verknüpften Feeling.
Der Versuch, Feelings mit Ideen zu überdecken, ist nutzlos. Tatsächlich wird man gerade dann verrückt, wenn man versucht, primäre, nichtverbale Feelings in Ideen zu kleiden. Es gibt keinen auf das Erlebnis anwendbaren Begriff, keine Einstellung oder Haltung, die man zu ihm einnehmen müßte. Es ist, was es ist, und muß als solches genommen werden. Etwas anderes zu tun, käme etwa dem Versuch gleich, einen Block von Ideen auf einen Vulkan zu placieren. Die Druckwelle des Fühlens zersprengt und verstreut die Ideen, so daß man nur noch vereinzelte Vorstellungen, bruchstückhafte Gedanken und die Asche psychotischen Bruchwerks übrigbehält.
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Neurotische und psychotische Ideenbildung
Die Grenze zwischen neurotischem und psychotischem Denken ist eine feine Linie. Eine Situation zu mißdeuten, ist gewöhnlich neurotisch. Eine Situation zu fabrizieren, ist eine andere Angelegenheit. Der Patient, der seine Frau verließ, weil »sie mir keinen Raum zum Atmen läßt«, mißdeutet vielleicht seine Realität. Seine Frau neigte wirklich dazu, ihn zu beherrschen; dennoch war seine Reaktion übertrieben aufgrund seiner Primäranlage — bei der Geburt war tatsächlich kein Raum zum Atmen vorhanden gewesen. Wenn sich aber jemand einbildet, die Mafia sei hinter ihm her, um ihn »zu ersticken«, so ist man auf der psychotischen Ebene angelangt.
Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen den beiden Arten von Ideenbildung. »Die Wände erdrücken mich« oder »ich muß weiter« sind Beispiele für verdrängten Geburtsschmerz, der zu neurotischer Ideenbildung führt. Aber: »Sie verschwören sich, mich in meinem Zimmer einzumauern« ist psychotisch. Die häufige Klage des Neurotikers, daß »alle zu viel Druck auf mich ausüben«, kann eine Überreaktion auf das hohe innere Druckniveau sein. Das Feeling des Primärdrucks sagt dem Neurotiker, wie unverknüpft seine Reaktion war. Der Psychotiker dagegen hält gewöhnlich gar keinen Druck aus. Sogar die Wahl von Kleidungsstücken kann ihn überwältigen.
Die verrückte Idee erscheint jemandem, der wirklich psychotisch ist, nie so verrückt. Er reagiert direkt auf eine drängende innere Wirklichkeit. Für ihn ist der Kontext real, weil er in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart lebt. Das primitive Kindergehirn mit seinen Erinnerungen hat sich in den Vordergrund gedrängt. Das Gehirn der dritten Ebene oder das Erwachsenengehirn ist nur da und versucht, den Erinnerungen einen Sinn zu geben. Wenn die Erinnerung direkt mit dem Bewußtsein verknüpft werden könnte, käme es zu einem Primal. Aber dem Ereignis ist der direkte Weg verwehrt, und es wird daher symbolisiert. Diese Ereignisse sind so weit von jeder gegenwärtigen Wirklichkeit entfernt, daß natürlich jeder Versuch, sie zu erklären oder zu rationalisieren, sonderbar erscheint. Der verbale Geist verbindet Ideen mit einem Ereignis, das keine Ideen kennt. Er macht ein unbegriffliches Erlebnis zu einem begrifflichen. Er kann keinen »Sinn« schaffen. Und er sollte es auch nicht.
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Psychose und Schlaf
Wegen der großen Überlastung der dritten Ebene haben Psychotiker nur selten Tiefschlafperioden. Das ist ein weiteres Anzeichen dafür, daß die hinter der Psychose wirkenden Kräfte auf der ersten Bewußtseinsebene liegen. Der Tiefschlaf ist mit der tiefsten Bewußtseinsebene verbunden. Wir haben jahrelang beobachtet, daß die chronisch Schlaflosen oft unter einem Eindringen von der ersten Ebene her leiden und daß Patienten mit aufsteigendem Urschmerz der ersten Ebene zuerst im Hinblick auf den Schlaf leiden.
Die Hirnstromtätigkeit während der Tief schlaf s ist durch große, langsame Wellen gekennzeichnet. Die Verdrängung erreicht nun ein Maximum, um jeden eindringenden Schmerz davon abzuhalten, ins Bewußtsein aufzusteigen und den Schlaf zu stören. Ohne diesen natürlichen Verdrängungsprozeß wären die meisten von uns außerstande zu schlafen. Der Psychotiker, dem ein wirksames Verdrängungssystem fehlt, befindet sich in einem chronischen Stadium des Eindringens von der ersten Ebene her. Sie steht ständig im Vordergrund. Tief schlaf bedeutet, daß Schmerzen der ersten Ebene gut verwahrt sind, und das ist beim Psychotiker nicht möglich.
Der Mensch, dessen Unbewußtes durch das Bewußtsein gestört wird — das heißt, der nicht tief unbewußt werden kann —, ist der Psychotiker. Er hat die Fähigkeit zu verdrängen und damit die Fähigkeit zu schlafen verloren. Wer plötzlich durch nächtliche Ängste in den Zustand des Bewußtseins versetzt wird, erlebt, wie Energie der ersten Ebene durch die Schranken der Verdrängung nach oben durchbricht. Und gewöhnlich ist der Alptraum kurz vor dem Erwachen durch Begleiterscheinungen der ersten Ebene charakterisiert: Unfähigkeit zu atmen, ein Gefühl des Erdrückt- oder Gequetschtwerdens, des Ertrinkens oder Erstickens, des Gefangenseins und des bevorstehenden Todes.
Menschen, die LSD genommen haben, leiden nach der Aufgabe der Droge ebenfalls noch jahrelang unter Schlafproblemen, weil LSD das natürliche Verdrängungssystem stört. Man braucht ein »ruhiges« Gehirn, um zu schlafen, und es kann nicht ruhig sein, wenn es mit Reizen aus dem Innern bombardiert wird. Im Schlaf kehrt man die Evolution um: die dritte Bewußtseinsebene fällt zuerst aus, dann die zweite, und schließlich »lebt« man auf der ersten Ebene.
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Wenn aber die dritte Ebene mit Kräften der ersten durchsetzt ist, jagt der Geist, anstatt ruhig zu bleiben, und verhindert so den Schlaf. Es ist ein Jagen, das dieses Eindringen der Kräfte bewältigen soll. Normalerweise würden die Schleusensysteme der niederen Ebenen richtig funktionieren, und der Schlaf wäre kein Problem.
Der Psychotiker, der Schlaflose und der Mensch, der nächtliche Ängste erlebt — sie alle steigen im Schlaf zu einem Alptraum hinunter, den sie schon erlebt haben. Es ist ein Abstieg in die Wirklichkeit. Aber bevor im Schlaf eine direkte Verbindung hergestellt werden kann, setzt die Verdrängung ein.
Psychosen: Verschiedene Krankheiten oder verschiedene Illusionen?
Psychotische Reaktionen sind Reaktionen auf Prägungen. Je nach den prototypischen Tendenzen und der Lebensgeschichte eines Menschen unterscheiden sich diese Reaktionen. So spricht man von Katatonie (einer Form der Schizophrenie), manisch-depressiver Psychose, paranoisch-halluzinatorischer Schizophrenie etc. Das sind keine verschiedenen Krankheiten oder Unterteilungen von Krankheiten. Sie zeigen denselben massiven Urschmerz und dieselbe massive Funktionsstörung an — die aber unterschiedliche Formen annehmen.
Der Katatoniker reagiert auf seinen Urschmerz somalisch durch eine Lähmung der Körperwand; der Manisch-Depressive reagiert auf emotionaler Ebene durch extreme und unbeherrschbare Stimmungsschwankungen; und der Paranoiker reagiert im ideellen (intellektuellen) Sinne durch wahnhafte Gedanken.
Viel hängt vom ursprünglichen Geburtsprototyp ab. Wenn bei der Geburt ein großer Drang nach Leben auftritt, der durch eine massive Abschaltung mittels Narkotika mit einem daraus resultierenden Erlebnis der Todesnähe unterbrochen wird, kann die Grundlage für manisch-depressive Stimmungsschwankungen im späteren Leben geschaffen worden sein.
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Natürlich würde diese Tendenz erheblich verstärkt werden durch eine launenhaftunbeständige Familienatmosphäre, aber die ursprüngliche Geburtseinprägung der Polarität zwischen Hoch und Tief — zwischen Leben und Tod — kann der determinierende Faktor sein. Der Druck (die Energie) hinter beiden Polaritäten ist der gleiche. Depression ist der Versuch des Körpers, die Kraft des Urschmerzes niederzudrücken; was man bei einer Depression fühlt, ist die mühsame Anstrengung des Körpers, genau das zu erreichen. Das Manische übernimmt, wenn die Verdrängung zuletzt versagt. Nun werden Geist und Körper (Verhalten) »wild«. Der Kranke wird so »hoch«, wie er tags zuvor »tief« war.
Es ist etwas Unvermeidliches an der manisch-depressiven Erkrankung. Auf die manische Phase folgt immer die Depression, und die Depression erzeugt wieder die manische Phase. Das kommt daher, daß der manisch-depressive Zyklus mit dem Geburtszyklus in enger Verbindung steht, und zwar durch die Wiederholung des »Hochs« des bevorstehenden Lebens, auf das das »Tief« der Narkotika und des beinahe eintretenden Todes folgt. Was ursprünglich geschah, wird während des ganzen Lebens nachgespielt. Der Manisch-Depressive gewöhnt sich daran, alle guten Gefühle aus Angst vor dem, was kommen wird, niederzuhalten.3 Glücklichsein bringt immer die Erinnerung oder die Empfindung von Tod und Depression mit sich. Der manische und der depressive Zustand sind nur die beiden Seiten derselben Münze (des Geburtstraumas).
Paranoia ist ein weiteres Beispiel für primären Druck.4 Eine schwierige Geburt, auf die eine Kindheit voller Kritik und Schelte folgt, kann den Erwachsenen leicht dazu bringen zu glauben, daß die Leute auf der Straße schlecht von ihm reden.
Was hier geschieht, ist, daß das Kind gezwungen wird, all das Gescholtenwerden — »Kannst du denn nichts lernen!« / »Warum trödelst du immer so!« / »Warum bist du nicht wie dein Bruder!« / »Du taugst einfach nichts!« — zu verdrängen, aber zuletzt treibt der innere Druck den Menschen dazu, es auf andere zu projizieren.
Und es ist leichter zu glauben, daß einen fremde Leute auf der Straße nicht mögen, als daß einen die eigene Mutter nicht mochte.
3 Lithiumsalze (die allgemein bei manisch-depressiver Erkrankung verschrieben werden) bewirken genau das: sie gleichen die Hochs und Tiefs aus und ermöglichen es dem Kranken, in einer »Grauzone« der Neutralität als Abwehr zu leben.
4 Auch hier ist es wieder wahrscheinlich, daß die spezifische Familienpathologie eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der spezifischen Art von Psychose spielt, die sich später entwickelt.
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Ohne den enormen Druck der Geburt wäre aus dem Kind vielleicht ein neurotischer Erwachsener geworden, der sich ständig darüber beklagt, von allen herumgestoßen zu werden. Aber mit dem Geburtsdruck kann er in die Psychose getrieben werden und nun glauben, daß jeder, der ihn ansieht, ihm etwas Böses tun will. Der Inhalt ist real — er paßt nur nicht in den Zusammenhang. Die »Leute« redeten wirklich schlecht von ihm — aber diese Leute waren seine Eltern, und es geschah vor zwanzig oder dreißig Jahren. Was das Neugeborene anbetrifft, so hat es nicht die Möglichkeit zu wissen oder zu begreifen, daß der Schmerz, den es erlebt, unbeabsichtigt ist. Daher sollte es uns nicht verwundern, daß ein solcher Schmerz direkt zu paranoiden Tendenzen in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter führen kann.
Ideen sind nie »krank«. Sie können aber eine Störung der Geistesfunktion anzeigen, und das ist die Natur der Krankheit.5
Paranoia ist nicht nur eine Veränderung von Ideen. Sie wird auch von vielen physiologischen Veränderungen begleitet. Und wegen dieser totalen Veränderung nennen wir sie eine Krankheit. Das ganze System ist krank, nicht nur der Geist. Ebendeshalb kann man Medikamente verabreichen, die den Geist beeinflussen oder beruhigen, ohne an der Krankheit ein Jota zu ändern, wenn das auch zunächst einmal nicht so offensichtlich ist. Bald wird es sich aber auf die eine oder andere Weise zeigen. Und deshalb ist es so wichtig zu verstehen, daß Paranoia erstens keine Geisteskrankheit ist und daß sich zweitens ihre Behandlung nicht auf geistige Begriffe beschränken kann.
Ein Patient, der nach der Geburt vier Stunden allein gelassen worden war — wozu eine Verstärkung durch eine Kindheit kam, in der er abgelehnt wurde —, entwickelte, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, die Wahnvorstellung, daß im Fernsehgerät Leute seien, die ihm sagten, was er tun solle. Das alte Feeling war: »Ich bin ganz allein, und niemand kümmert sich um mich.« Die Leute im Fernsehapparat hatten sich um ihn gekümmert. Die Wahnvorstellung dieses Mannes verschwand, nachdem er sowohl seinen Geburtsschmerz, allein gelassen zu werden, als auch seinen Kindheitsschmerz wegen der Ablehnung gefühlt hatte.
5 Man denkt unwillkürlich an eine Analogie aus der Biologie. Eine in das System eindringende Mikrobe veranlaßt viele Subsysteme, den Kampf zu beginnen. Der Körper wird zu diesem Zweck mobilisiert, und Funktionsänderungen finden statt, um diese Mobilisierung zu ermöglichen. Die Anzahl der weißen Blutkörperchen ändert sich, ebenso die Herzfrequenz, der Haut-Tonus, der Blutkreislauf etc. Mit der Zeit führt die Belastung des Subsystems zu einem Zusammenbruch der normalen Organfunktion, und diesen Zusammenbruch nennen wir Krankheit.
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Eine andere Patientin, die nach zwei Tage dauernden Wehen durch Kaiserschnitt zur Welt gebracht worden war, schrieb:
»Ich sprach mit meiner Therapeutin über das, was während der Woche geschehen war, und auch darüber, daß ich das Gefühl hatte, keine Gewalt über mein Leben zu haben. Ich begann das Feeling zu haben, daß ich keine Gewalt in der Gegenwart bis zurück zu der Zeit, wo ich noch im Schoß war, hatte und auch keine Gewalt über das, was dort drinnen mit mir geschah.
Ich war im Leib meiner Mutter und versuchte wieder hinauszukommen, fühlte wieder ihren Haß auf mich, der mir weh tat. Ich begannt zu schieben und versuchte hinauszukommen. Die Therapeutin half mir, indem sie mich mit einem Kissen in eine Ecke drückte. Mein Rücken schmerzte. Ich begann an einer Flüssigkeit zu würgen. Dann fühlte ich mich erschöpft und außerstande weiterzumachen — die Qual, nicht zu wissen, was geschah. Ich hatte zuvor schon ein Primal erlebt, in dem ich das Gefühl gehabt hatte, daß ich, kurz bevor ich geboren wurde, im Schoß meiner Mutter tatsächlich verrückt geworden war. Es fühlte sich an wie ein elektrischer Schlag mitten auf der Stirn und tat regelrecht körperlich weh. Ich weiß, daß das wahr ist. Ich wurde verrückt, weil ich zu müde war weiterzukämpfen. Ich hatte das Gefühl, bei der Geburt zu sterben, und ich habe mein ganzes Leben lang viele Selbstmordgefühle gehabt. Ich wollte nur, daß der Schmerz aufhörte.Zurück zu meiner Geburt. Ich ruhte mich nach dem anfänglichen Kampf ein wenig aus. Dann begann ich etwas völlig anderes zu fühlen. Ich hatte das Gefühl, daß ich in die Richtung gezogen wurde, die der, in die ich mit aller Kraft gestrebt hatte, entgegengesetzt war. Ich fühlte mich sehr hilflos und entsetzt. Ich sagte der Therapeutin, ich hätte das Gefühl, in einem Fluß zu sein, der mich stromabwärts trug, während ich versuchte, mich irgendwo festzuhalten, um nicht in diese Richtung abzutreiben. Ich bekam große Angst.
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Die Therapeutin streckte eine Hand aus, um mich zu halten, und sagte mir, das sei ein Feeling, aber ich müsse es noch mehr fühlen. Ich bat sie, mich auf den Kopf zu stellen. Zuerst half ich, indem ich mich mit den Händen auf dem Boden aufstützte, aber dann ging ich mit dem Feeling mit, auf dem Kopf zu stehen, und ließ einfach los. Wie es der Therapeutin gelang, mich in dieser Stellung zu halten, weiß ich nicht. Es war schrecklich. Dann klappte ich zusammen und weinte regelrecht. Ich war aus dem Schoß draußen. Ich war so erschrocken und erschöpft. Ich lag würgend und an Flüssigkeit erstickend da. Ich fühlte mich sehr erschöpft. Nach zwei Tagen Wehen war ich endlich geboren.
Ich weiß jetzt, warum ich immer das Gefühl hatte, ein schlechtes Mädchen zu sein. Meine Mutter zeigte mir oft die Narbe. Ich war ein schlechtes Mädchen, machte nie etwas richtig, wurde ständig kritisiert und versuchte trotzdem immer wieder, ihr zu gefallen. Sie liebte mich nie und wollte mich nie vom Beginn meines Lebens vor der Geburt an. Ich glaube, deshalb bin ich immer sehr paranoid gewesen und konnte meinen Schmerz nicht von dem aller anderen trennen, so wie ich mich nicht von meiner Mutter trennen konnte.«
Psychose, Religion und Mystizismus
Was für den Psychotiker gefährlich ist, ist der Zusammenschluß mit anderen, die dieselben oder ähnliche Probleme haben. Der Anschluß an religiöse und mystische Gruppen kann verhindern, daß der Psychotiker jemals gesund wird. Warum? In allererster Linie ist der Psychotiker ein Mensch, dem der Tod auf die unmittelbarste Weise gegenwärtig ist: durch die Geburtseinprägung der Todesnähe. Religiöse und mystische Vorstellungen machen den Tod »handlich«, schmackhaft, ja sie leugnen ihn sogar. Dein Körper stirbt, aber deine Seele lebt weiter. Oder: Du wirst in ein besseres Leben eingehen, wo du endlich deinen Lohn finden wirst. Solche Vorstellungen sind sehr verlockend für den Psychotiker, ja für viele Menschen. Sie haben eine enorme Kraft. Ein großer Teil dieser Kraft stammt von der sogenannten transzendenten Natur der Vorstellungen her: sie gründen sich bequemerweise nicht auf Beweise, sondern auf »Gegebenheiten«.
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Diese Gegebenheiten werden leicht als Ideen fixiert und institutionalisiert, die als automatische Verdrängungsmechanismen dienen. So kann ein Mensch, in dem Geburtsschmerz aufsteigt, diesen mit einer vorgegebenen Doktrin auslöschen. Diese Doktrin hindert ihn daran, jemals wirklich eine Verknüpfung mit seinem Urschmerz und damit mit der Realität herzustellen. Er hat nun, was ich eine »gutartige Psychose« nenne.
Die Rolle der Ideen ist bei der Psychose sehr wichtig. Tatsächlich ist es oft schwer zu sagen, ob jemand verrückt ist, wo keine Ideen vorhanden sind. Wir wissen, daß Urschmerz sein eigenes endogenes Morphin produziert, das ihn zu unterdrücken hilft. Mit der überschüssigen Energie, die dadurch mobilisiert wird, kann der Mensch dann Ideen entwickeln. Sie werden nie wirklichkeitsbezogen sein, denn dafür haben Urschmerz und Verdrängung gesorgt. Wir haben also irreale Ideen. Wie irreal sie sind, hängt von dem Grad der zugrunde liegenden Kraft ab.
Zwei Elemente — Verdrängung und Abkoppelung — gewährleisten eine fixierte Symbolisierung des Urschmerzes und eine Verstärkung irrealer Ideen. Rührt man an die Ideen, so rührt man an die Abwehr, und das kann den Urschmerz dem Bewußtsein näherbringen. Bei diesen Ideen steht etwas Primäres auf dem Spiel, und sie können es ermöglichen, sich buchstäblich über die Wirklichkeit zu erheben, im Gehirn. Das gestattet es jemandem, auf eine gesunde Weise verrückt zu werden, oder jedenfalls auf eine kulturell definierte, akzeptable Weise.
Es ist eine von der Gruppe neu definierte Gesundheit. Die Gruppe legt Richtlinien für das Verhalten ihrer Novizen fest und kanalisiert die Psychose innerhalb dieser Grenzen. Der Mensch fühlt sich nicht mehr allein in seinem Wahnsinn — zum Glück, denn sonst wären die Nervenheilanstalten noch voller. (Sie könnten allerdings auch so voll sein, wie sie sind, weil es dem Mystizismus und den Religionen nicht gelingt, den Wahnsinn innerhalb annehmbarer Grenzen zu halten.)
Ein e falsche Idee hat die Funktion, die Wirklichkeit zu verbergen . Wenn eine innere Wirklichkeit vorherrscht, werden die Ide«n nach dieser inneren Wirklichkeit ausgerichtet, ungeachtet der sich ändernden gegenwärtigen Umstände, und sie nehmen eine Kraft und Hartnäckigkeit an, die den Feelings entspricht.
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Die Ideen werden so stark und unbeugsam wie die Einprägung. Wenn man gegen die Idee argumentiert, argumentiert man in Wirklichkeit gegen die Geschichte, und um sie zu ändern, gibt es keine guten Argumente.
Ingmar Bergman sagte in Das siebente Siegel: »Wir machen Symbole aus unseren Ängsten und nennen das Gott.« Und John Lennon schrieb: »Gott ist ein Begriff, mit dem wir unseren Schmerz messen.« Die Vorstellung, daß es da draußen eine Kraft gibt, die stärker ist als das Individuum und die ihm hilft und es lenkt, unterscheidet sich nicht sehr von der psychotischen (und nichtreligiösen) Wahnvorstellung, daß es da draußen eine Kraft gibt, die stärker ist als das Individuum und darauf abzielt, es zu verletzen.
Der Kontext ist im großen ganzen derselbe, nur die Natur des Feelings ändert sich. Dieselbe innere Kraft ist am Werk; es ist eine innere Kraft, die nach außen projiziert wird, jedoch mit kleinen Unterschieden. Wenn Gott ständig versuchte zu »verletzen«, anstatt zu »helfen«, würde man den Menschen, der das glaubt, mit größerer Wahrscheinlichkeit als wahnsinnig beurteilen. Das Geburtstrauma erleben wir unbewußt, aber Gott und den Himmel schaffen wir uns bewußt.
Die Vorstellung von Gott ist nicht nur dazu da, unsere Schmerzen zu stillen, sondern auch dazu, unsere wichtigsten unerfüllten Bedürfnisse (angehört, beschützt, bewacht, geliebt zu werden etc.) zu befriedigen. Sie ist die Vorstellung, die die Endorphine zu produzieren beginnt, welche buchstäblich unsere Gebete um Aufschub beantworten. Die Idee Gottes ist die wirkliche Kraft. Dennoch stellen wir uns vor, daß die Erleichterung das Werk einer Gottheit sei. Wir selbst führen die Erleichterung herbei durch Akte des Glaubens und der Hoffnung. Diese beiden psychologischen Faktoren entstehen aus dem Schmerz und unterdrücken ihn. Die Macht ist in uns selbst. Positiver Glaube hat die Kraft zu beruhigen.
Die wahre Macht liegt im Schmerz, der, wenn er gefühlt wird, irregeleiteten Glauben in Unglauben verwandelt. Der Glaube an andere und an Dinge verflüchtigt sich mit dem Schmerz. Ein Mensch, der sich selbst tief gefühlt hat, kann nun an sich selbst glauben. Denn all die Dinge, an die wir glauben — die Gottheiten, die mystischen Vorstellungen, ein früheres Leben, ein Leben nach dem Tode und so fort —, sind Dinge, die uns irgendwie erfüllen. Wir wollen ein allmächtiges Wesen, das uns nichts Böses widerfahren läßt, das darauf sieht, daß Gerechtigkeit geschieht, das dafür sorgt, daß unsere Feinde bestraft und daß gute Taten belohnt werden.
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Der Psychotiker hat recht mit seinem Glauben an eine »Kraft«, aber es ist eine primäre Kraft, nicht »da draußen«, sondern tief in uns. Da es keine Möglichkeit gibt, sich vorzustellen, daß eine solche Kraft in uns existiert — vor allem, da die Verdrängung die Aufgabe hat, dafür zu sorgen, daß wir nichts von ihr wissen —, muß sie nach außen projiziert werden. Wird sie aber gefühlt, so zerstreut diese Kraft die Vorstellung sowohl von einem allwissenden Wohltäter als auch von einem übelwollenden Angreifer. Es kann Monate, vielleicht Jahre dauern, bis man diese Kraft fühlt.
Nicht mehr mit Geschichte überlastet, lebt der Mensch in der Gegenwart und ist ein fühlender Mensch. Das ist die Definition eines gesunden Individuums: jemand, der fühlen kann ... jemand, dessen erster Instinkt nicht Verdrängung ist.
Infantiler Autismus und Primärschmerz: ein Fallbericht
Die Ursachen des infantilen Autismus (einer Art von Kindheitspsychose) sind komplex und werden zur Zeit noch nicht richtig verstanden. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Kombination von strukturellem (Gehirn-)Schaden und massivem Primär-schmerz (der ersten Ebene). Im Jahre 1974 erhielten wir ausführliche Mitteilungen von der Mutter eines autistischen Kindes, die auf erschütternde Weise die kritische Rolle des Urschmerzes für den Autismus zeigten.
Zu der Zeit, als wir die Briefe erhielten, lebten die Mutter und ihr acht jähriges Kind in Virginia. Leider war es ihnen nie möglich, nach Los Angeles zu kommen. Was die Frau zu schreiben veranlaßte, war eine »Episode« mit ihrem Sohn, die das erschreckendste, quälendste und schließlich therapeutisch wertvollste Erlebnis war, das sie je mit ihm gehabt hatte. Nach dieser Episode waren die mit dem Kind vorgehenden Veränderungen so auffällig, daß seine Mutter das Gefühl hatte, endlich einen Zugang zu seinem Autismus gefunden zu haben. Dieser Zugang waren Urschmerz und sein Ausdruck.
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Offensichtlich können wir keine Schlüsse aus den Erfahrungen mit einem einzigen Kind ziehen, aber der Fall soll dargestellt werden, um den sehr realen Preis frühen Schmerzes konkret sichtbar zu machen. Wir können nur folgern, daß, da der Ausdruck des Schmerzes das autistische Verhalten reduzierte, der Autismus auf eine wesentliche und womöglich entscheidende Weise mit diesem Schmerz verbunden war. Die Krankengeschichte des Jungen zeigte, daß bei seiner Geburt drei, möglicherweise vier größere Traumata aufgetreten waren, die schwer genug waren, um festgehalten und in seine Krankengeschichte aufgenommen zu werden. Es ist außerdem wahrscheinlich, daß aus der Sicht des Kindes noch andere traumatische Ereignisse stattfanden, die unbewußt blieben und nicht aufgezeichnet wurden.
Es folgen Auszüge aus Mrs. K.s erstem Brief, in dem sie die Entwicklungsgeschichte ihres Sohnes Jason und die Episode schildert, die sie zu schreiben veranlaßte. (Die Namen wurden geändert, um die Anonymität der beteiligten Personen zu wahren.)
»Lieber Dr. Janov,
die beiliegende Information könnte für Sie und Ihr Institut von Interesse sein. Ich glaube, ich sollte Ihnen mitteilen, daß ich vor meinem <Erlebnis> mit meinem Sohn keine Ihrer Publikationen gelesen hatte, wenn ich auch mit einer Freundin über <Primals> diskutiert hatte, weil mein Sohn nie wirklich weinte. Ich habe die Krankengeschichte meines Sohnes zusammen mit Bildern von ihm beigelegt, die in verschiedenen Altersstufen in zur Sache gehörenden Situationen aufgenommen wurden.
Ich glaube, die anderen Aufzeichnungen zeigen, daß Jason im Alter von zwei bis fünf Jahren nicht sprach. Er hatte vor dem Alter von zwei Jahren zu sprechen begonnen und dann einfach aufgehört. Sehr seltsam war allerdings, daß Jason oft die amerikanische Nationalhymne summte — die ganze Melodie, aber keine Worte. Ich hatte das mehreren Fachleuten gegenüber erwähnt, aber viele >seltsame< Blicke dafür bekommen, und daher gab ich jede weitere Diskussion über meinen Sohn auf.
Während der genannten Periode war Sprechen zwischen mir und meinem Sohn nicht notwendig. Jason kam zu mir, und ich wußte, was er wollte. Bei einer Gelegenheit gab ich ihm ein Glas Milch statt des Orangensafts, den er, wie ich >wußte<, haben wollte. Das Kind warf mir das ganze Glas mitsamt der Milch ins Gesicht.
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Obwohl Jason nicht sprach, bemerkten meine Mutter und ich, daß er lesen konnte. Wir waren dessen ganz sicher, als er drei Jahwe alt war. Mutter und ich arbeiteten ständig mit ihm und brachten den Jungen dazu, Worte zu sagen. Jason wurde wegen seiner <Lesefähigkeit> in eine Privatschule aufgenommen, die aucfc sein älterer Bruder und seine ältere Schwester besuchten. Obwohl er angefangen hatte, mehr zu sprechen, bemerkte ich, daß er mich zwar meinte, aber nicht mit mir sprach. Ich war so sicher, daß mein Sohn >in Ordnung< sein werde, sobald wir ihn dazu gebracht hätten zu sprechen. Er sprach nun zwar, aber es gab keinen Gedanken oder Ausdruck. Nachdem Dr. G. seine Untersuchung beendet hatte, mußte ich eine harte Wahrheit hinnehmen. Ich hatte nicht mehr als eine abgerichtete >Puppe<. Es gibt: Dinge, die wir wissen, aber es wirklich offen zuzugeben, ist eine andere Sache.
Ich bin hier nicht auf Jasons >Zornausbrüche<, >Wutanfälle< etc. eingegangen. Ich bin sicher, daß jeder, der das autistische Kind kennt, sehr gut weiß, wieviel Heftigkeit mit im Spiel ist. Es ist die erschütterndste Situation, die ich kenne. Es ist so offensichtlich, daß diese Kinder nichts dafür können.
Um auf mein >Erlebnis< mit meinem Sohn zurückzukommen. Ich ging in die Bruno Bettelheim Orthogenic Clinic in Chicago und suchte ... Hilfe? Antworten? Wer weiß? Das Wichtige daran ist, daß ich auf der Rückreise im Shands Teaching Hospital vorbeisah und auf Empfehlung Dr. G.s eine Mrs. C. aufsuchte.
Ich sprach mit Mrs. C. über viele Situationen, die meinen Sohn betrafen. Ich erzählte ihr von seiner Unfähigkeit zu weinen. Dann erzählte ich ihr von etwas, was >gleich geschehen< mußte, wenn ich fühlen konnte, daß er dem Weinen nahe war. Ich erklärte auch, daß ich mich, immer wenn es so weit war, innerlich buchstäblich >gefroren< fühlte. Ich hatte offenbar Angst vor dem, was geschehen konnte. Mrs. C. versicherte mir, daß es meinem Sohn nicht schaden konnte zu weinen. Ich erklärte, daß ich zu verlieren fürchtete, was ich hatte. Sehen Sie, sagte ich, eine >Puppe< ist besser als das Nichts, das ich vorher hatte. Wieder versicherte mir Mrs. C., daß ich Jason nicht schaden konnte, wenn ich ihn zum Weinen brachte, und sie riet mir, mit ihm zu weinen.
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Ich erklärte auch, daß ich es nicht absichtlich so weit bringen konnte. Es geschah nicht jedesmal, wenn er mit dem Kopf gegen die Wand stieß. Immer, wenn es Jason so weit trieb, daß ich das Gefühl hatte, er sei nahe daran, sich zu verletzen, gab ich ihm einen kräftigen Klaps, nur einmal, und dann nahm ich ihn in die Arme, um ihn zu trösten. Ich sang ein Wiegenlied, und er kuschelte sich in meine Arme wie ein Baby. Dann war er den Tränen nahe.
Ich kam am selben Abend nach Hause zurück, und ich schreibe das, was geschah, zum Teil meiner eigenen Verfassung zu. Ich war erschöpft und meine Abwehren waren geschwächt. Ich hatte schon vor langer Zeit bemerkt, daß mein Sohn Emotionen wie Waffen >verwendete<, und war an diesem Abend auf alles vorbereitet.
Jason schien zuerst glücklich zu sein, mich zu sehen. Aber ich war gerade lang genug daheim gewesen, um mich umzuziehen, als er anfing zu schreien, um sich zu schlagen und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Es wurde immer schlimmer, bis ich ihn schlagen mußte. Diesmal kam aber alles anders. Ich bekam keine Angst und sang einfach weiter. Jason versuchte, sich zu befreien, anstatt sich wie sonst trösten zu lassen. Er wurde regelrecht gewalttätig. Bei verschiedenen früheren Gelegenheiten hatte er manchmal seltsame leise Laute von sich gegeben, die wie ein Stöhnen klangen. Aber diesmal war es nicht dasselbe. Er trat und schrie und wehrte sich gegen mich, aber ich bemerkte so etwas wie Nässe um seine Augen. Ich erinnerte mich an das, was Mrs. C. gesagt hatte, und hielt ihn fest und sang weiter (wenn man das so nennen kann).
Jason trat und schlug noch um sich, aber er begann auch, sehr ungewöhnliche Laute auszustoßen. Wenn Sie das Folgende nicht glauben, mache ich Ihnen keinen Vorwurf. Die Laute verwandelten sich in etwas anderes, in etwas sehr Grauenhaftes. Ich weiß nicht, was ich getan haben würde, wenn ich mich nicht an Mrs. C.s Versicherungen erinnert hätte. Diese Laute, die aus meinem Sohn kamen, waren die grauenhaftesten — unmenschlichsten —, ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Ich habe nie so etwas gehört und kann sie mit keinem ähnlichen Laut in Verbindung bringen. Mein Sohn fing tatsächlich zu weinen an, aber diese Laute gingen weiter. Sie ließen erst nach, als er zu schluchzen begann. Ja, ich weinte mit ihm. Wie lange er weinte, weiß ich wirklich nicht. Es kann eine halbe Stunde oder eine Stunde gewesen sein. Ich hatte das nicht beabsichtigt, und ich achtete nicht auf die Zeit.
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Ungefähr eine Woche später war ich in den Laden gegangen, und mein Sohn hatte daheim einen Unfall. Er hatte sich einen Finger verletzt und weinte regelrecht. Als ich nach Hause kam, waren meine Mutter und meine Tochter erstaunt und konnten es nicht erwarten, mir zu sagen, wie Jason geweint hatte, als er sich verletzte. Wir waren so froh. Mein Sohn verletzte sich und weinte!
Diese ursprüngliche <Episode> trug sich Anfang April zu. Ich lege ein Foto meines Sohnes bei, das im Juni gemacht wurde. Es zeigt, daß die beiden oberen Schneidezähne meines Sohnes noch ganz intakt sind. Vom Durchbruch der zweiten Zähne ist noch nichts zu bemerken. Vor ungefähr anderthalb Monaten verlor er die beiden oberen Schneidezähne, und die neuen sind schon durchgekommen«. Das war der Grund für meinen Anruf in Ihrem Institut — ich wollte wissen, ob Sie tatsächlich medizinische Anhaltspunkte dafür haben, daß Änderungen der Drüsentätigkeit im Körper nach einem sehr emotionalen traumatischen Erlebnis stattfinden.
Mein Sohn erlebt nicht nur physische Veränderungen, sondern auch geistige. Meine >Puppe< ist nicht mehr. Er hat angefangen, seine eigenen Gedanken auszudrücken. Er war vergangenen Montag und Dienstag zu einer weiteren Untersuchung im Shands. Als mein Sohn ein Bild von einem Menschen zeichnen sollte, war das der endgültige Test für mich. Bis zu dieser Zeit war das einzige, was er tun konnte, daß er das Wort Mensch schrieb. Diesmal nicht — diesmal zeichnete er einen Menschen, vielleicht grob, aber er zeichnete einen.
Es hat verschiedene Vorfälle ähnlich unserer ersten Episode gegeben, aber keiner war mehr so intensiv. Einmal, als ich wußte, daß ich es nicht durchstehen konnte, bat ich meine Mutter, ihn festzuhalten und zu singen, bis er weinte. Ich glaube, es bedarf keiner Worte, um auszudrücken, was ich fühle.«
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Mrs. K. legte ihren Briefen Krankengeschichten und Beurteilungen der Entwicklung ihres Sohnes bei. In den Aufzeichnungen über Jasons Geburt steht, daß er nach vollen neun Monaten durch Kaiserschnitt zur Welt kam (erstes Trauma), daß er nach der Geburt einen »drastischen Gewichtsverlust« erlitt (zweites Trauma), daß Mrs. K. zum Zeitpunkt der Entbindung geschlechtskrank war und ihr neugeborener Sohn ebenfalls (drittes Trauma), weshalb er acht Wochen lang mit Penicillin behandelt wurde, und schließlich daß er wahrscheinlich unmittelbar nach der Geburt eine Bluttransfusion wegen Rhesus-negativen Faktors erhielt (möglicherweise viertes Trauma).
Und das sind, wie ich schon sagte, nur die medizinisch bekannten Traumata. Wie das Ganze für den kleinen Jason aussah, wissen wir nicht. Die Tatsache, daß er von früher Kindheit an oft krank war und sehr schlecht schlief, zeigt nach meinem Dafürhalten die Nachwirkungen einer sehr schmerzhaften Geburt an.
In ihrem zweiten Brief an uns faßte Mrs. K. die Geschichte ihres Sohnes in einigen Sätzen zusammen: »Um alles ausführlich zu erklären, müßte ich vor acht Jahren anfangen. Die Geschichte meines Sohnes würde sehr langatmig werden. Ich brauchte acht Jahre, um zu erkennen, inwiefern Jason vom Augenblick seiner Geburt an <anders> war. Es gab keine Wärme.« (Kursiv durch den Autor.)
Im Laufe des nächsten Jahres schickte uns Mrs. K. weitere Berichte über die Fortschritte ihres Sohnes. Ihrer Erfahrung nach schienen diese Fortschritte direkt mit seiner zunehmenden Fähigkeit zu weinen in Verbindung zu stehen. Allmählich trat das Weinen an die Stelle der heftigen Wutanfälle, und »normales« Verhalten begann viele der autistischen Züge zu ersetzen.
Drei Monate nach ihrem ersten Brief schrieb Mrs. K.: »Am letzten Wochenende hat sich Jason richtig ausgeweint. Er war sehr übermüdet. Wir hatten uns an diesem Tag wahrscheinlich zu viel vorgenommen, und als ich bei der Heimkehr in die Einfahrt einbog, war er aufgeregt. Er sagte, er werde seinen Kopf gegen die Knie schlagen. Ich sagte >gut<, und er tat es — aber nur ganz leicht. Ich streckte die Arme nach ihm aus und fing an zu singen, und Jason weinte sich nur richtig aus. Er kam später ins Haus, badete und ging zu Bett — lächelnd.«
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Und beinahe ein Jahr nach ihrem ersten Brief: »Obwohl einige Zeit vergangen ist, seitdem ich Ihnen zum letztenmal geschrieben habe, dachte ich mir, es könnte Sie interessieren, von Jasons Fortschritten zu hören. Er wurde am 19. Juni aus dem Shands (Hospital) entlassen, und sein Fortschritt ist so bemerkenswert, daß ihn viele der Ärzte ganz <unglaublich> genannt haben. Ich finde es ganz erstaunlich, daß unsere Mediziner einfach nur zusehen und sich so sehr über Jasons Fortschritt wundern, aber wenn ich etwas von Primals sage, bekomme ich mehr als einmal die Antwort, daß <wir uns da an eine konservative Behandlungsmethode halten müssen>. Ich nehme eben an, wir leben in einer so engstirnigen Gesellschaft, daß der lebendige Beweis nicht genug ist.«
Die Veränderung der Psychose: die große therapeutische Aufgabe
Eine tiefe Persönlichkeitsveränderung sollte genau das bedeuten: eine tiefgehende Veränderung des ganzen Systems, des Körpers und des Gehirns gleichermaßen — eine Veränderung, die nicht weniger umfassend ist als die tiefgehende Pathologie, die überhaupt die Psychose auslöste.
Eine Änderung der Ideen, eine Entwicklung neuer Einsichten oder eine neue Lebensanschauung müssen sich im Körper widerspiegeln, oder die Veränderung geht nicht tiefer als die Haut oder der Kortex. Solche oberflächlichen Einsichten sind oft das Ergebnis der Psychoanalyse und der »rationalen« Therapien, bei denen ein Patient beispielsweise so weit kommt, seine Eltern in einem »neuen Licht« zu sehen.
»Ich sehe jetzt, daß sie selbst nur Kinder sind, Opfer ihrer Vergangenheit.« — »Sie taten das Beste, was sie den Umständen entsprechend tun konnten«, oder: »Jeder wählt seine eigene Neurose und jeder ist selber schuld« und dergleichen vernunftmäßige Erklärungen. Solche »Einsichten« ändern nicht das ursprüngliche Bedürfnis oder den Schmerz, der aus seiner Nichterfüllung erwächst. Ebensowenig ändern sie am unbewußten, auf den frühen Traumata beruhenden Verhalten.
Jede wirkliche Änderung der Ideen muß sich aus dem Individuum und seiner Geschichte entwickeln, einer Geschichte, die seine Ideen, seinem frühen Trauma entsprechend, entstellt hat. Die Ideen, die wir später über unsere Erlebnisse haben, können nicht unserer inneren Wirklichkeit entsprechen, weil diese Wirklichkeit weder zugänglich noch verknüpft ist. Tiefer Zugang und Verknüpfung sind es, die letzten Endes Ideen in der Wirklichkeit verankern und nicht in einer psychotischen Ideenbildung.
Für den Psychotiker ist die bloße Änderung der Ideen eine gefährliche und bedenkliche Methode. Sie muß sich auf den zusammenhanglosesten und labilsten Teil der Person — ihre Denkprozesse — als das eigentliche Medium der Veränderung stützen. Die Psychose ist daher die größte Aufgabe für jede Therapie, weil sie die größte Entstellung der menschlichen Natur ist. Diese Entstellung ist ein Prozeß, der mit der Geburt beginnt und sich durch die ganze Kindheit fortsetzt. Die Geburt ist wahrscheinlich nie die einzige Ursache der Psychose, da nichts in einem Vakuum existiert.
Ein Kind mit einer extrem traumatischen Geburt, das in einer liebevollen und hilfreichen Familie aufwächst, wird nicht psychotisch werden, wohl aber ein Kind mit einer ähnlich traumatischen Geburt und einer Familie, die ihm jede Hilfe verweigert. Umgekehrt kann die Geburt gut gewesen sein, die Kindheit aber so zerrüttend, daß eine Psychose ohne ein signifikantes Geburtstrauma entsteht.
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