Start    Weiter

10. Die lange Reichweite der Geburt: Ein Weg zu Krebs und Epilepsie

 

 

356-368

Die Vorstellung von einer Verbindung zwischen schwerer Krankheit und persönlichem Trauma ist nicht neu. Die Forschung hat in letzter Zeit spezifische Krankheiten mit spezifischen Persönlichkeitstypen korreliert, so daß es nun üblich ist, von Persön­lich­keits­profilen zu sprechen, für die Krebs, Herzinfarkt und so weiter typisch sind. Was diese Korrelationen anzeigen, ist, daß die Art, in der Menschen auf Streß und Trauma reagieren, den Typ der Krankheit bestimmt, die sie sich zuziehen. Was bestimmt aber diese charakteristischen Reaktionsweisen? Und was schafft eine Schmerz-Valenz, die so groß ist, daß als Entsprechung eine schwere Krankheit zu beobachten ist?

Ich habe versucht, Antworten auf diese Fragen aus einer neuen Sicht vorzuschlagen. Wenn ich auch nicht behaupte, daß alle Krankheiten durch ein Trauma und seine Verdrängung verursacht werden, so glaube ich doch, wir werden bald entdecken, daß die Somatisierung von Urschmerz während eines ganzen Lebens von Erfahrungen als der üblichste einzelne und dennoch am wenigsten verstandene ätiologische Faktor wirkt.

Krebs  

Beweismaterial für die Verbindung zwischen Schmerz und Krebs stammt aus verschiedenen Gebieten. Das eine betrifft unser eigenes Immunsystem und seine Überwachungsfunktion in bezug auf Krankheit. Es scheint, daß Krebszellen periodisch im Körper eines jeden Menschen erscheinen, gewöhnlich aber von den Lymphozyten genannten weißen Blutzellen zerstört werden. Ist das Immunsystem durch Streß überlastet, so funktioniert es schlecht, und die Krebszellen können wachsen und sich vermehren.

Wir wissen, daß psychischer Schmerz auf dieselbe Weise verarbeitet wird wie physischer. Offensichtlich führt Primärschmerz zu einer höheren Produktion unserer körpereigenen Endorphine.

Das bedeutet, daß Primärschmerz durchaus imstande sein könnte, die Lymphozytenfunktion zu beein­trächtigen, was eine schwere Erkrankung zur Folge hat. Die Blockierung von Urschmerz kann verheerende Folgen haben. Meine Hypothese lautet, daß die Verdrängung von Urschmerz einen Menschen einer erhöhten Krebsgefahr aussetzt.

Steven Locke, ein Wissenschaftler an der Boston University, berichtete, daß bei einer Studie an College-Studenten diejenigen, die Streß schlecht bewältigten, »an Defiziten in der zellularen Immunität gegen gewisse Krankheiten litten«.1 Er nahm an, daß die Individuen, die Streß gut bewältigen, etwas haben, was er eine »natürliche Killerzellen-Aktivität« nannte und was in Aktion tritt, wenn der Körper durch abnormale Zellen (wie z.B. Krebszellen) bedroht wird.

Das Verfahren, das Locke und seine Kollegen anwandten, bestand darin, daß sie weiße Blutzellen von Individuen nahmen, die Streß teils gut und teils schlecht bewältigten. Dann setzten sie die weißen Zellen beider Gruppen Leukämiezellen aus, die durch radioaktive Stoffe gekennzeichnet waren. Es zeigte sich, daß die »natürliche Killerzellen-Aktivität« am höchsten bei denen war, die mit Streß gut fertig wurden. Mit anderen Worten, die Angehörigen dieser Gruppe hatten ein besser funktionierendes Immunsystem und neigten daher weniger zu Erkrankungen.

In einem anderen Experiment des bekannten Streßforschers Hans Selye wurden Nagetiere auf schlüpfrige Erhöhungen gesetzt, so daß sie jedesmal in einen Wassertank fielen, sobald sie einschliefen. Da ihr Schlaf immer wieder unterbrochen wurde, waren die Tiere chronisch müde und gestreßt — und sie entwickelten Krebs längs der Hypophysen-Nebennieren-Achse, wo die Endorphine ausgeschieden werden. Der Krebs bildete sich, weil die Umwelt die Organsysteme der Tiere überforderte.

Anders gesagt, der Endorphinbedarf, der durch äußeren Streß geschaffen wurde, belastete die Hypophyse über ihre Kapazität hinaus. Es ist nicht zu weit hergeholt zu sagen, daß die übermäßige Endorphin­ausschüttung, die gefordert wird, um den inneren Schmerz zu bewältigen, das System zu ständigen Reaktionen über den normalen Rahmen hinaus zwingt, die ebenfalls eine Erkrankung zur Folge haben.

Science News, 11. März 1978, S. 151.

357


Die genannten Untersuchungen sind insofern von Bedeutung, als sie zeigen, daß nicht der Urschmerz allein katastrophale Krankheiten verursacht, sondern auch die zur Verdrängung dieses Schmerzes nötige Reaktion. Es zeigt sich immer deutlicher, daß Symptome auf eben die chemischen Substanzen zurückgehen, die aktiviert werden, um Schmerz zu bekämpfen. Wie ich schon sagte, gibt es nicht so etwas wie eine gesunde Krankheit. Abwehren führen zu Krankheiten.

Es scheint keine Rolle zu spielen, ob das Ergebnis psychologischer Natur ist und die Form von Neurosen oder Psychosen annimmt, oder ob es sich in Form von körperlichen Krankheiten zeigt: beides ist die Folge von erhöhten Endorphinspiegeln. Was all das bedeuten könnte, ist, daß die Senkung der inneren Endorphin­spiegel durch die Entfernung des Schmerzes aus dem System ein spezifisches Vorbeugungsmittel gegen das Fortschreiten von Krebs sein kann. Solange wir den Schmerz nicht aus dem System beseitigen, kann seine Verdrängung tödlich sein.

 

Epilepsie   

Die Art von Druck, die der Psychotiker in sich staut, unterscheidet sich nicht von dem Druck, den wir bei der psychogenen Epilepsie sehen. Nichts stellt den von einem Trauma der ersten Ebene zurückgelassenen konvulsiven Sturm lebhafter dar als ein epileptischer Anfall. Der große generalisierte Anfall des Grand mal (im Gegensatz zu den kurzen abortiven Anfällen des Petit mal. A.d.Ü.) stellt eine massive Freisetzung von Energie dar, die durch Verdrängung gespeichert wurde. Die Größenordnung des Anfalls kann die Größenordnung des verdrängten Urschmerzes nicht übersteigen. Das heißt, daß bei der Epilepsie keine mysteriöse Kraft am Werk ist. Vielmehr sind spezifische Energiequantitäten in das System eingeprägt, die genau der Energie der ursprünglichen Störung (oder des Traumas) entsprechen. Ein großer Anfall externalisiert und konkretisiert lediglich diese spezifischen Energiequantitäten.

358/359

Die Epilepsie zeigt, was geschehen kann, wenn das Geburtstrauma durch zahlreiche Kindheitstraumata verstärkt wird: der Körper erreicht einen Punkt, wo er den Schmerz nicht mehr zu integrieren vermag. Ist die Verdrängung des Gefühls stark genug, so kann der Druck stark genug werden, um eine plötzliche wahllose und massive Entladung von Energie — neuroelektrischer Energie — auszulösen. Das ist die Art des Gehirns »loszulassen«, so wie Zittern und Zucken die Art des Körpers ist »loszulassen« — oder Durchfall die Art der Eingeweide. Wir haben es wieder mit derselben Primärkraft zu tun. Das Gehirn tut einfach das einzige, was ihm im Sinne einer Abwehr zu tun übrigbleibt. Es läßt genug Spannung ab, um den Menschen für kurze Zeit von Symptomen freizuhalten, bis eine neue Konvulsion infolge des Wieder­aufsteigens von eingeprägtem Urschmerz ausbricht. Tatsächlich kann der leichteste Auslöser — ein Händeklatschen, ein Blitzlicht oder eine Autohupe — eine Konvulsion herbeiführen.

Die Verbindungen zwischen Urschmerz und Epilepsie und zwischen Geburtstrauma und Epilepsie sind zunehmend klarer geworden durch unsere Arbeit mit epileptischen Patienten. Sie lernten, die Anzeichen des beginnenden Anfalls (die prodromale Aura) zu beachten, so daß sie, anstatt einen Anfall zu erleiden, in ein Primal übergingen. Primals, die aus einem beginnenden Anfall kommen, sind ebenso intensiv, wie es der Anfall selbst gewesen wäre, und beinhalten fast immer Empfindungen des Erstickens, Würgens, Ertrinkens und der Atemnot, bei denen es um Leben und Tod zu gehen scheint.

Das Folgende ist der Bericht eines epileptischen Patienten, der das Gefühl hatte, daß er es sich in seinen Primais »erlaubte, Stück für Stück Krämpfe zu haben«:

»In meiner Hilflosigkeit während des Ertrinkens im Schoß fühlte ich, daß ich mich nicht bewegen oder weinen oder schreien konnte. Ich starb. Ich spannte mich an gegen meine Auslöschung, und ich wußte es. Dieses Anspannen ist meine lebenslange Empfindung geworden, ebenso wie das Gefühl, daß immer gleich etwas Schreckliches geschehen wird.

Bei einer Sitzung würgte und erstickte ich und hatte Gesicht und Nase in eine Pfütze von Schleim gepreßt, der gerade aus mir herausgebrochen war. Plötzlich hatte ich die Einsicht, daß das, was ich da durchmachte, genau dasselbe war wie das, was bei meinen epileptischen Krämpfen geschieht. 

359


Bei dieser Einsicht erlaubte ich mir, Stück für Stück Krämpfe zu haben, immer eine kleine Weile zu würgen, so daß ich tatsächlich langsam und absichtlich den Schrecken meiner Geburt wiedererlebte. Ich fühlte den Schmerz, anstatt mich gegen ihn zu verschließen. Ich erkannte, daß es das Sich verschließen gegen den Schmerz war, was meine epileptischen Anfälle auslöste.

Die banalsten Situationen schienen diese alten begrabenen Gefühle zu wecken. Sie wallten auf in einem massiven großen Anfall, und ich hatte völlig unbeherrschte Krämpfe. Kurz, meine epileptischen Anfälle waren in Wirklichkeit verkleidete Geburts-Primals. Dieses lebenslange Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen werde, entsprach der Wahrheit — außer, daß dieses Schreckliche schon geschehen war: ich war bei der Geburt beinahe ertrunken. Indem ich das Feeling Stück für Stück kostete, es ausprobierte und testete, immer nur ein klein wenig ertrank, schien es letzten Endes nicht so schrecklich zu sein.

Nach mehreren Wochen mit Geburts-Primals beschloß ich, meine Mutter anzurufen und sie nach meiner Geburt zu fragen. Es hätte mich nicht so erstaunen sollen zu hören, daß ich als <blaues Baby> geboren worden war — ich kam mit einem Sauerstoffmangel und stark anästhesiert zur Welt, so daß mich der Arzt eine ganze Weile herumschwenken und schlagen mußte, bis ich zu mir kam. Ich konnte an meiner eigenen Geburt nicht teilnehmen, weil ich narkotisiert war. Ich konnte nicht einmal versuchen, den Schleim aus meinen Atemwegen herauszubekommen.

Mir war zumute, als hätte ich mit diesen Primals eine schwere Krankheit durchgemacht, und nun erholte ich mich wieder. Mein Geschlechtstrieb sank für eine Weile auf Null, und ich fühlte mich absolut geschlechtslos. Ich nehme kein Dilantin mehr und habe keine Anfälle. Der Brunnen ist angebohrt worden. Ich habe nun meine ganze schwere Kindheit vor mir.«

 

Ein anderer Patient schrieb ausführlich über seine Epilepsie und wie sie sich durch die Therapie veränderte:

»Bevor ich mit der Primärtherapie begann, war ich Epileptiker. Ich hatte Hunderte von Anfällen zwischen ungefähr meinem siebenten Lebensjahr und dem Beginn der Therapie im Alter von einundzwanzig. Ich wurde bewußtlos während des Schulunterrichts, bei der Arbeit, beim Spielen, vor Freunden und Angehörigen, bei Tisch und im Schlaf.

360


Ich war mir immer akut dessen bewußt, daß ich ohnmächtig werden würde, denn ich fühlte mich elend und unglücklich. Wenn ich damit nicht fertig wurde, fiel ich in Ohnmacht. Die Anfälle waren im Kontext meines Lebens sinnvoll, deshalb akzeptierte ich sie allmählich einfach. Zu der Zeit, als ich ins Institut kam, fragte ich mich, warum sich alle so darüber aufregten, daß ich oft Anfälle hatte. Kurz nach Beginn meiner ersten Sitzung verstand ich es. Ich konnte kaum von meiner Familie und meinen Gefühlen sprechen, ohne den Beginn eines Anfalls zu spüren. 

Ich bekam ein kränkliches, verlorenes Gefühl mit einer entsetzlichen Empfindung in meinen Eingeweiden. Ein elektrisches Summen und Kribbeln trat an die Stelle des Entsetzens, es begann in meinen Genitalien und Gedärmen und stieg von dort aus auf. Manchmal konnte ich spüren, wie meine inneren Organe gegen die Bauchwand glitten. Das Summen kroch durch meine Eingeweide zum Zwerchfell und zu meiner Kehle herauf. Oft versuchte ich es zurückzuhalten, aber die Mühe schien zum Scheitern verurteilt zu sein. Das Gefühl mußte echt sein: es war wirklich da. Bei dieser Erkenntnis stieg das Summen weiter herauf. Vor der Therapie breitete es sich dann ganz aus, kurz nachdem es meine Kehle erreicht hatte. Ich sah Schwarz und Weiß und dann nur noch Schwarz, während ich bewußtlos wurde. In meinen Sitzungen war ich imstande, wenn das Summen meine Kehle erreichte, mein Feeling auszudrücken, in mein altes tränenreiches Entsetzen zu verfallen und mich besser zu fühlen. Genau wenn ich das Feeling bekam, zerstreute sich das Summen (der Anfall).

Das muß in den ersten anderthalb Jahren der Therapie mindestens hundertmal geschehen sein. Es gibt einige Unterschiede zwischen Primais und Anfällen. Nach einem Primal komme ich zu mir und fühle verhältnismäßig klar, was geschehen ist. Ich verstehe mein Leben auf eine neue, klarere Weise. Nach Anfällen fragte ich mich, wo ich war. Ich hatte noch ein dickes Summen in der Zunge und ein übles Gefühl in den Eingeweiden. Mir war so, als wäre da etwas gewesen, was ich irgendwie vergessen hatte. Das Nachdenken über Feelings führt zu konkreten, nützlichen Veränderungen in meinem Leben. Das Nachdenken über Anfälle führte oft dazu, daß ich wieder und wieder das Bewußtsein verlor. Ich bin während meiner Feelings bei Bewußtsein. Ich habe andere Patienten sagen hören, daß sie beunruhigt sind, weil sie während ihrer Feelings andere Ereignisse im Gruppenraum wahrnehmen. Aber gerade dieses Bewußtsein gibt den alten Erlebnissen ihren Sinn. Wenn sie vollkommen ohne Bewußtsein wären, hätten sie einen Anfall.

361


Meine Primals haben eine wohltuende kumulative Wirkung auf mich. Nach beinahe zwei Therapiejahren hat sich mein Leben so gebessert, daß es nicht wiederzuerkennen ist. Ich hatte innerhalb weniger Minuten und in den unpassendsten Augenblicken Anfälle. Mit dem Fortschreiten meiner Therapie werden die prodromalen Symptome vor den Feelings weniger ausgeprägt. Vor ein paar Monaten spürte ich ein leichtes Kribbeln im Unterleib, bevor ich ein tiefes Feeling hatte. Seither ist das Summen völlig verschwunden. Was von meiner Epilepsie zurückzubleiben scheint, ist, daß ich oft weine und daß mich meine Feelings rasch und fast oder ganz ohne Vorwarnung überfallen. Es fällt mir oft schwer, nicht zu fühlen, auch wenn es ganz unpassend ist. Aber auch das ändert sich nun.

Ich weiß jetzt, warum und wie ich Epileptiker wurde. Ich bekam Anfälle, weil ich an massivem Urschmerz litt. Ich lebte beinahe ständig in Angst. Ich hatte täglich Migräne-Anfälle - mein Kopf schmerzte drei Jahre lang beinahe ununterbrochen. Mein ganzer Körper war von Schmerz zerrüttet. Nichts paßte meiner verrückten Mutter oder half wirklich gegen den Schmerz. Unlängst erinnerte ich mich daran, wie ich mit neun Jahren in der Garage lag, vorgab, ein Baby zu sein, und plötzlich die alten Szenen aus meiner frühen Kindheit sah. Das war nicht atypisch. Ich hatte ständig Alpträume, manchmal mehrere in einer Nacht. Ich wachte dann immer auf und fühlte Fleisch über meinem Gesicht. Einmal, zwei Jahre vor der Therapie, hatte ich ein vollständiges Geburts-Feeling. Es gab in meinem Leben keine Möglichkeit, mir längere Zeit vorzumachen, daß ich mich gut fühlen würde, wenn ich gescheit oder sportlich wäre. Alles tat weh. Der Tod schien in nächster Nähe zu sein.

Aber viele leidende Menschen werden gewalttätig und/oder verrückt, anstatt Anfälle zu bekommen. Meine Anfälle waren das Ergebnis meines spezifischen Urschmerzes. Ich habe Dutzende von Primals über die Zeiten gehabt, in denen ich das Bewußtsein verlor. Ich begann das Bewußtsein zu verlieren, als ich allmählich erkannte, daß ich todkrank und voller Schmerzen war, daß mich

362


niemand der Hilfe wert fand und daß es sinnlos war, auch nur zu versuchen, Hilfe zu bekommen. Den ersten Anfall, an den ich mich erinnere, hatte ich, als Mama mich anschrie, weil ich mir am Eßtisch den Musikantenknochen angeschlagen hatte. Als ich wieder zu mir kam - ich konnte noch nicht sehen -, hörte ich Mama sagen: >Jetzt hör auf, auf dem Fußboden zu spielen und iß dein Abendessen.< Ich versuchte zu sagen, daß ich >ohnmächtig< geworden war, aber sie schnitt mir das Wort ab. Also aß ich mein Abendessen.

Später wurde ich oft im Klassenzimmer bewußtlos, wo die Lehrer immer irgendeinen Unsinn über mich sagten und nichts von meinem Schmerz bemerkten.

Meine nächste Serie von Anfällen trat auf, als ich mich beim Aushöhlen einer Kürbislaterne in den Finger schnitt. Ich stand im Flur, hielt meine blutige Hand in die Höhe, damit Mama sie sah, und hoffte, sie werde mir helfen. Sie sah entsetzt und zornig aus. Sie sagte, ich solle ins Badezimmer gehen; sah ich denn nicht, was das Blut auf dem Boden anrichten konnte? Ich machte zwei Schritte ins Badezimmer, sah mein aschgraues Gesicht im Spiegel und meinen blutigen Finger vor der Wand, die weiß wie in einem Krankenhaus war, und fiel auf das Linoleum. Mama half mir auf, als ich gerade wieder zu mir kam, und sagte: >Jetzt bleib hier stehen, ich hole ein paar Papierhandtücher.< Ich kippte wieder um, als sie gegangen war. Das wiederholte sich mehrere Male. Ich war sicher, daß ich sterben mußte.

In unzähligen Primais lag ich dort auf dem Boden, bat um Hilfe und bat, Papa und meine Brüder sehen zu dürfen. Vor allem rief ich: >Mami, halt mich fest!< Es schien, daß das einzige, was mir jemals ein gutes Gefühl gab, Mamas warme Gegenwart war. Sie ging wie damals an dem Tag im Badezimmer, und ich >starb<. Sie ging, und ich >starb< immer wieder. In der Folge fiel ich jedesmal in Ohnmacht, wenn es allzu offenkundig war, daß ich Schmerzen hatte und daß niemandem genug an mir lag, um mir zu helfen. Ich wurde ohnmächtig, weil ich an Migräne litt, weil ich mir die Zehe angeschlagen hatte und weil ich schlecht träumte. Beinahe jeder Schmerz konfrontierte mich mit der Wirklichkeit, daß mich niemand sehr liebte.

Wenn ich für meinen Schmerz ein richtiges Ventil gehabt hätte, würde ich es gewiß verwendet haben. Meine Brüder lehnten sich alle gegen meine Mutter auf, jeder auf seine Weise, und keiner von ihnen hatte Anfälle. Warum ich?

363


Die Antwort ist in meinem schrecklichen Erlebnis als Baby zu suchen. Ich hatte das Gefühl zu sterben und erlebte das körperliche Äquivalent zu der Frage: »Wozu sich dagegen wehren?< Ich weinte eine Ewigkeit in der Wiege, bis ich erschöpft war und einschlief. Ich gab die Hoffnung auf, daß meine Mutter jemals kommen werde. Das Bedürfnis nach Ruhe war stärker als jede Hoffnung, Nahrung zu bekommen. Dann kam sie und weckte mich, um mich zu stillen. Wozu sich dagegen wehren? Ich habe nun zweimal Feelings gehabt, in denen ich die Gewißheit hatte zu ertrinken. Und ich gab auf. Ein andermal fühlte ich mich in einem weißen Krankenhauszimmer mit weißen Wänden und einem juckenden Verband um meinen verletzten Penis liegen. Es war niemand da, und ich hatte Angst, auch nur zu weinen, denn als ich das das letzte Mal getan hatte, waren sie gekommen und hatten mich geschnitten. Wozu um Hilfe rufen?

Bei all diesen Ereignissen fühlte ich, daß es keine Hoffnung gab, daß ich sterben mußte und daß ich besser daran war, wenn ich es geschehen ließ. Die erste Situation, in der es mir so erging, war die Geburt. Als die Kontraktionen begannen, zerbrachen sie mir beinahe den Schädel. Mit der Nabelschnur mußte etwas geschehen sein, denn ich bekam bald keine Luft mehr. Der Schoß wurde statisch und vibrierte nur, anstatt sich zusammenzuziehen. Ich versuchte zu atmen, aber mein Gesicht war flach gegen Fleisch gedrückt, und ich konnte nur schreckliche Druckver­änderungen in meiner Brust zustande bringen. Ich versuchte, um mich zu schlagen, etwas zu ändern, aber die Wände waren wahnsinnig stark. Ich sehnte mich danach, noch einmal die Geborgenheit des Schoßes zu fühlen. (Später lag ich oft in meinem Zimmer, die Bässe der Stereoanlage aufgedreht, unter einer Decke zusammengekauert und mich hin und her wiegend und vibrierend. Aber damals war sie nirgends zu finden.) Ich gab das Atmen auf und begann zu sterben. Vermutlich wurde ich unmittelbar darauf geboren.

Man hat mir gesagt, daß der ganze Vorgang weniger als eine Stunde dauerte. Man sprach von einer >leichten< Geburt. Ich frage mich, für wen. Ich hatte das Gefühl zu sterben, daß der Sterbeprozeß begonnen hatte. 

364


Der Prozeß schloß das Feeling des Sterbens, des Ohnmächtigwerdens ein, das in meinen späteren Anfällen hervorbrach. Er legte auch das Schema für meine Kopfschmerzen und für wiederholte Defekte während meines ganzen Lebens fest. Es würde mich ohnehin niemand lieben, wozu also das alles? Ich schwelgte einfach in jeder Empfindung, die angenehm zu sein schien. Da es, innerlich, so aussah, als hätte ich nur noch einige Minuten zu leben, rührte ich nie einen Finger, um irgend etwas zu veranlassen. Ich sterbe, wozu also das Geschirr spülen oder mich kämmen? Ich dachte meistens nicht einmal an direkte Linderung wie Narkotika oder Selbstmord. Mein System neigte dazu, einfach abzuwarten und mehr oder weniger einfach den Schmerz angreifen zu lassen.

Ich erkenne jetzt, daß viele der Gedanken und Empfindungen, die während des Herannahens eines Anfalls kamen, buchstäbliche und beinahe vollständige infantile oder fetale Erinnerungen waren. Ein anfallähnliches Kribbeln begleitete bei mehreren Gelegenheiten, als ich ein Kind war, lange und unausweichliche Geburtserinnerungen.

Wichtig ist bei all dem für mich, daß überwältigende, kaum verdrängte Gefühle meine Symptome verursachten und daß ich das Symptom durch Fühlen verlor. Ich suche jetzt absichtlich Dinge, die mir ein gutes Gefühl geben. Das heißt, ich lebe wirklich, anstatt ständig zu sterben.

Ich möchte noch eine Anmerkung machen. Größtenteils verursachte mein Leiden meine Anfälle und nicht anders herum. Ich frage mich, wie vielen Epileptikern, die mit Medikamenten behandelt werden, man wirklich einen Dienst erweist. Natürlich bringt es soziale Vorteile mit sich, keine Krämpfe zu haben. Die Einstellungen der Gesellschaft sind sehr negativ. Ich wäre entsetzt, wenn ich jetzt in Ohnmacht fiele. Aber ich habe keine Ahnung, wohin all der Schmerz gegangen wäre, wenn ich keine Anfälle gehabt hätte. Es ist eine Schande, daß die meisten Mediziner jemandem, der Anfälle hat, nur helfen können, sich gut zu verhalten, anstatt ihm zu helfen, den Schmerz, der die Anfälle verursacht, zu fühlen und zu integrieren.«

 

Mehrere Monate nach der Niederschrift dieses Berichts hatte der Patient einen Autounfall, der noch tiefere Verknüpfungen mit dem wirklichen Ursprung seiner Epilepsie auslöste: 

365


»Vor ein paar Tagen hatte ich das erste tiefe Feeling in dem Monat seit meinem Autounfall und die direkteste Verknüpfung mit meiner Epilepsie, die ich je erlebte.

Der Bruch meines Brustbeins bei dem Zusammenstoß löste meinen ersten Anfall seit dem Beginn der Therapie vor mehr als zweieinhalb Jahren aus. Der Anfall war anders als sonst. Zum erstenmal war ich mir, als ich wieder zu mir kam, des typischen Zuckens bewußt, das mir meine Mutter, meine Lehrer und Freunde im Laufe der Jahre vorgemacht und beschrieben hatten. In dem folgenden Monat ohne tiefe Feelings fühlte ich mich mehrere Male der Ohnmacht nahe, was ich schon gut ein Jahr lang nicht mehr erlebt hatte. In der vergangenen Nacht hatte ich endlich ein Primal, ich hatte zwei Alpträume über Autounfälle -meine ersten. Als ich aufwachte, schmerzte meine Brust noch bei der leichtesten Bewegung, und ich nahm an, daß ich zu verletzt war, um zu fühlen. An diesem Nachmittag litt ich sichtlich so starke Schmerzen, daß ich dem Vorschlag eines Freundes folgte und in ein Zimmer ging, um ein wenig zu weinen.

Sofort fing ich an zu schluchzen, weil ich niemanden hatte, der mir half oder dem etwas an mir lag. Ich legte meine Hände über der Brust zusammen, wo der rein körperliche Schmerz meine Atmung schwer beeinträchtigte. Ich sah meine Mutter über mich gebeugt, grimassierend wie in früheren Anfall-Szenen. Plötzlich lag ich flach auf dem Rücken in der Electric Avenue in Venice (Kalifornien), wo der Unfall passiert war, und fragte: >Wo bin ich? Was ist geschehen?< Fremde Menschen standen über mir und starrten. >Jemand soll sich um mich kümmern! ... Ich kann mich nicht bewegen!< Ich schrie und stöhnte. Flüssigkeit rann mir aus den Augen, aus der Nase und dem Hals und sammelte sich in Pfützen im Zimmer. Ich sah das Blut aus meinem Mund und meiner Nase auf den Gehsteig fließen. Ich brüllte wie ein Tier. Ich hatte das Gefühl zu sterben. Meine Brust und mein Becken zuckten abwechselnd krampfhaft. Die Krämpfe in meiner Brust hatten eine seltsame frakturierte Dissonanz. Sie waren schnell und arhythmisch wie mein Atem nach dem Zusammenstoß. Die Einzelheiten des Unfalls rollten in Sequenzen ab wie ein ungeschnittener Film — von meinen Zuckungen, als ich auf dem Gehsteig zu mir kam, der Menschenmenge und den Fragen des Hilfsarztes bis zu meinen knirschenden Knochen auf dem Röntgentisch.

366


Ich versuchte zu murmeln: >O Gott!< (damals meine einzigen Worte), brachte aber nur Rülpser und Flüssig­keits­spritzer hervor. Sogar die Erinnerungen an - und die Überlegungen über - frühere Anfälle kehrten in vollkommener Ordnung zurück. Gelegentlich setzte ich mich auf und rief, wie schrecklich das alles war und daß doch einfach jemand da sein mußte, der mir half. Schließlich hatte ich Konvulsionen in der Brust, und meine Arme und Beine schössen spastisch nach vorn, als ich sah, wie der andere Wagen über die Mittellinie der Straße fuhr und einmal, zweimal und wieder und wieder gegen mich krachte. Ich öffnete die Augen in meinem zerschlagenen und quietschenden Wagen und stöhnte, daß ich nun nichts mehr hatte. Ich fühlte ein leichtes Prickeln in den Fingern und lag wieder auf dem Gehsteig. Es war so furchtbar, nicht atmen zu können! Meine Rippen schienen nur ohne Sinn und Ordnung in meiner Brust zu rasseln.

Ich kniete im Zimmer. Es gab keine Luft, und die Wände schienen so nahe zu sein. Mein Kopf pochte in meinen Händen wie eine schwere Last. Blut schien in meinem Kopf umherzuspritzen. Ich sank zusammen und ließ meinen Freund die Hände gegen mein rechtes Auge und meinen Hinterkopf pressen, wo der Schmerz am heftigsten war. Mich schauderte, ich hörte vollständig zu atmen auf und begann mit einheitlichen S-förmigen Kontraktionen. Der Schoß formte sich um mich herum. Ich hatte schon früher gefühlt, wie die Nabelschnur nicht genug pumpte, wie ich durch sie zu saugen versuchte und sie leer zu sein schien. Ich erinnere mich sogar, daß ich im Geburtskanal zu atmen versuchte. Aber da war nun einfach KEINE LUFT. Mein Körper schlug gegen diese massive Schoßwand, ohne daß ich selbst irgendwelche Anstrengungen unternahm: ich wurde ohnmächtig, ich starb. Sinnlos, auch nur zu versuchen zu atmen. Die Konvulsionen wurden zunehmend schneller und weniger synchron. Das Schema der Konvulsionen entsprach genau den Beschreibungen meiner Anfälle, die ich im Laufe der Jahre Zeugen entlockt hatte, und den Anfällen, die ich in Feelings und in den Augenblicken der Konvulsionen auf dem Gehsteig in Venice erlebt hatte.

Mein Freund, der zuvor schon meine und andere Geburts-Feel-ings gesehen hatte, hatte seine Hände von meinem Kopf genommen. Später fragte er mich, ob ich während der Dauer des Vorfalls bei Bewußtsein gewesen sei. Sein Eindruck war, daß er einen Anfall gesehen hatte. Ich nehme an, daß ich im Schoß bewußtlos wurde. Später im Leben, wenn ich eine Krise hatte, fühlte ich mich immer so hoffnungslos, daß ich meine ganze Anfall- und Sterbeszene reproduzierte - einschließlich des Schlängelns durch die gleichen Konvulsionen.«

*

Was wir verstehen müssen, ist, daß der Druck, der im großen epileptischen Anfall so plötzlich und konvulsiv durchbricht, immer vorhanden ist. Zum Anfall kommt es einfach in dem Augenblick, in dem das Gehirn die Stauung nicht mehr halten kann. Er ist ein sehr anschauliches Zeichen dafür, daß die Verdrängung versagt hat. Quantitativ besteht kein Unterschied, wenn bei einer Psychose die Gedanken oder wenn bei Krebs die Zellen durch den Druck »wild« werden. Die massive Energiequantität ist dieselbe. Unterschiedlich ist nur die Form des Erlebnisses, in das die Energie übergeleitet wird.

367-368

#

 ^^^^