11. Das Ende der Linie: Selbstmord als Lösung für die Geburt
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Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit. Hilflosigkeit. Verhängnis. Ein bodenloses Gefühl der Sinnlosigkeit. »Wozu das alles?« — »Es gibt keinen Ausweg.« Das sind im wesentlichen die Gefühle, die zu dem Drang führen, sich selbst zu töten. Es sind auch die typischen Gefühle im Zusammenhang mit einer traumatischen Geburt. Die meisten von uns kommen möglicherweise dem Tod am nächsten, wenn sie zum Leben erwachen. Das Erlebnis, bei der Geburt dem Tod sehr nahegekommen zu sein, kann in einem Menschen Todesgefühle hinterlassen, gegen die er sein Leben lang ankämpft. Die Erinnerung an das Erlebnis der Todesnähe ist eine Prägung wie jede andere Erinnerung. Sie kann ebenfalls eine prototypische Reaktion werden, so daß, wenn später Streß auftritt, Todesgedanken stärker sind als konstruktive Gedanken.
Wenn jemand gewohnheitsmäßig auf Todesgedanken verfällt, muß angenommen werden, daß die Gedanken Kräfte widerspiegeln, die auf niedrigeren Ebenen am Werk sind. Selbstmordgedanken sind jedoch die Produkte dieser Kräfte, nicht ihre Ursachen. Der Gedanke an Tod oder Selbstmord ist oft ein Trost, weil er wenigstens einen Ausweg zeigt. Menschen möchten sterben, wenn sie keinen Ausweg sehen, und wenn alles andere versagt, können sie ein wenig von dem Schmerz töten, indem sie lediglich an den Tod denken. Sie haben das Gefühl, es gebe keinen anderen Ausweg als den Tod, weil sie das ursprüngliche Geburts-Feeling auf einer völlig unbewußten Ebene erleben.
In der Unmittelbarkeit der Situation können sie nicht zwischen Gefühlen aus der Vergangenheit und solchen in der Gegenwart unterscheiden. Daher kommt es, daß jemand unter Umständen einfach nicht daran denkt, den Ehepartner zu verlassen, obwohl die Ehe für beide ein Alptraum ist. Durch die Bindung an die Vergangenheit können in der Gegenwart keine Alternativen gesehen werden. Das Leben war eine Hölle und ist es noch. Kein Wunder, daß der Selbstmord die einzige Lösung zu sein scheint — nicht fortgehen, nicht eine Veränderung herbeiführen, nicht ein neues Leben aufbauen, sondern sterben.
Der Tod ist jetzt eine Lösung, weil die Todesnähe der einzige »Lösung« für das Geburtstrauma war. Der Tod wird als die Antwort eingeprägt, und unter den entsprechenden Umständen wird er zur einzigen Lösung für die Probleme des Lebens. Er verspricht Erlösung vom Schmerz. Das Entscheidende ist, daß zuerst die Verzweiflung kommt und dann die selbstmörderische Verzweiflung. Ich behaupte, daß selbstmörderische Verzweiflung — die von Todesgefühlen durchdrungene Verzweiflung — meistens eine Erinnerung an die Todesnähe (bei der Geburt) ist.
Im folgenden Bericht sehen wir, wie der Selbstmord zu einer Obsession im Denken und Handeln als »Lösung« für bei der Geburt eingeschriebenen und während der ganzen Kindheit verstärkten Urschmerz wurde:
»Ich habe gerade erfahren, wie wichtig dieser erste Tag des Lebens ist. Meine Mutter war krank, und ich wurde gleich nach der Geburt von ihr weggebracht. Sie vernachlässigte mich dann auch während meines ganzen übrigen Lebens. Aber an diesem ersten Tag auf Erden war ich so allein und voller Schrecken. Ich hatte ein so verzweifeltes Bedürfnis. Und ich war halb tot, weil ich danach tagelang nicht berührt wurde. Ich brauchte so viel, aber es war niemand da, und so schaltete ich einfach ab. Sie berührte mich auch später nie, und daher wurde ich nie lebendig. Ich mußte berührt werden, um zu leben, aber ich wurde nicht berührt und fühlte und handelte daher «»lebendig.
Ich schnitt mir zweimal die Pulsadern auf. Einmal, glaube ich, tat ich es, weil ich meinen Freund verloren hatte. Ich blickte in den Spiegel und sah das Blut, und es fühlte sich an wie ein Heroinrausch. Ich habe mich nie in meinem Leben so ruhig gefühlt. Das Blut war mein Schmerz, der hervorsprudelte, und ich konnte ihn endlich sehen. Und vielleicht hoffte ich, daß ihn endlich auch meine Mutter sehen könnte. Vielleicht würde sie endlich meine Agonie sehen und etwas tun. Mich umarmen, mich berühren, mir geben, was ich immer gebraucht hatte!
Das Wiedererleben dieses ersten Tages meines Lebens war wie in einem Vakuum sein. Da waren keine liebenden Hände, die mir das Gefühl gaben, sicher und behütet zu sein. Niemand kann sich die Panik des Neugeborenen während dieser ersten schwierigen Augenblicke vorstellen — besonders wenn, wie in meinem Fall, das Entsetzen das Kind veranlaßt abzuschalten und scheinbar ungerührt zu sein.
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Es gab buchstäblich keine Stütze für mich, und tatsächlich hatte ich mein Leben lang den Alptraum zu fallen und zu fallen. Ich hatte diesen Alptraum immer, wenn ich allein schlafen mußte. Deshalb brauchte ich immer jemanden, der in meiner Nähe schlief. Sonst überfiel mich die Panik - dieses ursprüngliche Alleinsein.
Ich war vom Tod besessen. Ich wollte lieber sterben, als halb tot leben. Wenn man tot ist, fühlt man nichts. Seligkeit. Selbstmord war für mich Seligkeit. Ich habe das immer ausagiert: >Dein Baby ist tot, Mama, schau! Ich möchte, daß du es weißt, aber du weißt es nicht. Du willst deine Augen nicht öffnen, bis ich blutend auf dem Boden liege - bis du mich da liegen siehst, vollkommen allein und halb tot, wie ich es immer gewesen bin. Obwohl du mein Blut nie gesehen hast, Mama, war es doch meine Art, dir zu zeigen, daß du mich getötet hast.<
Man hat mir gesagt, daß ich mit der Zange aus dem Geburtskanal geholt wurde, weil ich während der Wehen zu sterben begann. Nach dem ganzen anderen Trauma so herauszukommen und dann allein gelassen zu werden, das war wirklich unmenschlich. Diese Stunden waren für mich so lang wie ein ganzes Leben. Was für ein Empfang im Leben! Kein Wunder, daß der Tod die einzige Lösung zu sein schien. Zum Glück habe ich es nicht mehr nötig, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Ich habe die Agonie dieser ersten Augenblicke gefühlt und brauche sie nicht mehr auszuagieren. Jetzt sind nur noch die Todesgedanken übriggeblieben, aber das sind nur Gedanken - es steckt keine Gefühlskraft hinter ihnen.«
Selbstmord und der primäre Prototyp
Der Parasympath neigt im Denken und Handeln weit stärker zum Selbstmord als der Sympath. Das kommt daher, daß bei der Geburt des Parasympathen gewöhnlich eine todesnahe Situation eintritt, in der das Neugeborene keine andere Alternative hat als die, das Trauma total aufzunehmen. Das parasympathische Kind hat bei der Geburt nur die Wahl, auf die Todesdrohung innerlich und passiv zu reagieren. Das führt zu einer kontemplativen Persönlichkeitsverfassung, in der man nur abwarten und über den Schmerz nachdenken kann.
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Der Sympath dagegen begann das Leben kämpfend (es gab Wahlmöglichkeiten, für die man kämpfen konnte), er hat sich an den Kampf gewöhnt und wird als Erwachsener depressive oder selbstmörderische Gefühle niederkämpfen. Der Kampf half ihm bei der Geburt zu überleben, und durch diese Erfahrung hat er gelernt davonzulaufen — vor Schmerz, vor Selbstmordgedanken, vor allem, was ihn an Niederlage oder Tod erinnert. Er wird nicht aktiv selbstmörderisch werden, es sei denn, alle Auswege, zu entkommen oder Erleichterung zu finden, sind ihm verschlossen: Wenn er seine Stellung, seine Frau, seine Gesundheit verliert — wenn es keine anderen Möglichkeiten auf der Welt mehr gibt, dann wird ein solcher Mensch schließlich den Selbstmord auf einer bewußten Ebene in Betracht ziehen — aber nur dann.
Das soll nicht heißen, daß die Persönlichkeit des Sympathen unter alltäglichen Umständen immun gegen Todesimpulse sei. Die Impulse sind eben nur nicht bewußt. Das heißt, der Sympath beschäftigt sich vielleicht nicht mit bewußten Todesgedanken, aber er kann so in seiner Arbeit aufgehen, daß die Arbeit zu einem langsamen, unbewußten Selbstmord wird. Es ist interessant, daß die Menschen, die sich auch nach Herzanfällen noch buchstäblich zu Tode arbeiten, diejenigen sind, für die Kampf Leben und nicht Tod bedeutete. Aber durch eine später eintretende Umstellung nimmt der unaufhörliche Kampf die Bedeutung eines frühen Todes an, obwohl er ursprünglich Überleben bedeutete.
Die Auslösung selbstmörderischer Geburts-Feelings und ihre Bewältigung
Es gibt zwei Arten der Auslösung von Geburts-Feelings. Die erste kommt zur Wirkung, wenn überwältigende Ereignisse in der Gegenwart ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit hinterlassen: der Verlust einer Stellung, die man lange gehabt hat, ein Versagen in der Schule, der Tod eines geliebten Menschen, Scheidung, Trennung, Krankheit etc. Diese gegenwärtigen Traumata aktivieren remanente Geburts-Feelings, so daß eine Situation, die als schwierig oder streßhaft gesehen werden sollte, nun als hoffnungslos und unmöglich erlebt wird. Anstatt sich traurig, frustriert oder deprimiert zu fühlen, denkt der Betreffende an Selbstmord.
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Die zweite Art, Geburts-Feelings auszulösen, ist die absichtliche Erinnerung an sie. Wenn das zu früh geschieht, können obsessive Selbstmordgedanken die Folge sein. Wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden, ist das oft bei »Rebirthing«- oder Wiedergeburts-Therapien der Fall, bei denen die Patienten ohne Umschweife in Geburtssequenzen geschickt werden. Aber auch wenn der Abstieg ins Unbewußte langsam und methodisch vor sich geht, kann ein Mensch, der mit seinen Geburts-Feelings in Berührung kommt, deprimiert sein, ohne zu wissen, warum. Da er kein äußerliches Trauma erlebt, scheinen die Feelings sinnlos zu sein, und er wird von ihnen überwältigt. Es kommt ihm so vor, als werde der Schmerz niemals enden, und in dieser Zeit sind Selbstmordgefühle zu erwarten. Von allen unseren Primärpatienten unternahmen 17 Prozent vor der Therapie mindestens einen Selbstmordversuch. Und ich schätze, daß beinahe 100 Prozent unserer Patienten zu irgendeinem Zeitpunkt der Therapie Selbstmordgefühle haben, nach denen sie allerdings nicht handeln.
Je näher der Urschmerz dem Bewußtsein kommt, desto wahrscheinlicher ist es, daß der Impuls wirksam wird. Bei einer geringeren »Bremsung« des Impulses — das heißt bei einer geringeren Symbolisierung des Urschmerzes — nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß er direkt durch einen physischen Angriff in die Tat umgesetzt wird. Deshalb machen viele Patienten vorübergehende Selbstmordanwandlungen durch, während sie sich Urschmerz der ersten Ebene nähern. Und deshalb müssen die Patienten auch darauf aufmerksam gemacht werden, daß diese Gefühle des Unheils, der Verzweiflung und der äußersten Hoffnungslosigkeit zu einem Geburts-Feeling gehören, das ohne die richtige Verknüpfung erlebt wird. Da der Patient von den Feelings überflutet wird, braucht er Hilfe, um Vergangenheit und Gegenwart voneinander zu trennen, wenn er nicht zu einer Gefahr für sich selbst werden soll. In diesem Augenblick muß der Therapeut die Bereitschaft des Patienten für das Geburtserlebnis richtig beurteilen können. Hat er einen guten Teil des Kindheitsmaterials aus dem Weg geräumt? Ist sein Ich stark genug, um das Erlebnis zu integrieren?
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Oder braucht er noch mehr Polsterung seiner Abwehren? Oft entscheiden wir uns zugunsten der letzten Möglichkeit, das heißt, das Wiedererleben wird noch eine Weile hinausgezögert, bis wir sicher sind, daß es der Patient ertragen kann. Wir wissen aber auch, daß er periodische Selbstmordanwandlungen haben kann, bis er den Urschmerz aufgelöst hat.1
Fallberichte
Ein Patient nach dem anderen berichtete von dem Todesgefühl während des Schlafs und der Notwendigkeit aufzuwachen, um sich davon zu überzeugen, daß er noch lebte. Wieder sehen wir hier einen Beweis für die vorherrschende innere Realität: diese Augenblicke des Schreckens sind einfach durchbrechende Fragmente des ursprünglichen Erlebnisses.
Man sieht daran, warum es keine wirksame Methode ist, jemandem Selbstmordanwandlungen ausreden zu wollen. Das System wendet sich immer seiner Einprägung zu. Man kann gegen solche Tendenzen sprechen, vor ihnen warnen, Ermahnungen und Bitten äußern — in dem Augenblick, in dem die Ermahnungen aufhören, wendet sich das System wieder den unverknüpften Todeserinnerungen zu — Erinnerungen, die tief im Gehirngewebe eingebettet sind und mit Worten und Begriffen nichts zu tun haben.
Der folgende Bericht beschreibt die Erfahrung eines Patienten mit dem unerwarteten Durchbruch von Todesempfindungen in der Gegenwart und die Verknüpfung, die er zwischen diesen Empfindungen und seiner Vergangenheit herstellte. Wir sehen in diesem Bericht auch, wie die eigenen inneren Verknüpfungen des Patienten die Auflösung herbeiführen, nicht die Ermahnungen oder Argumente eines Therapeuten:
1 Eine der Möglichkeiten, dem Patienten zu helfen, ist die Anwendung von Blockern der ersten Ebene, d.h. Tranquilizern, die die Aktivierung auf niedrigen Ebenen beeinflussen. Der Patient muß von dem Medikament so viel einnehmen, daß die Überaktivierung des Urschmerzes niedergehalten wird, aber nicht so viel, daß er nicht mehr fühlen kann. Selbstverständlich muß die Dosierung von jemandem bestimmt werden, der Erfahrung mit der Wirkung des Medikaments und der »Aktion« des Primärschmerzes hat.
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»Vor ein paar Monaten hätte ich beinahe einen tödlichen Unfall gehabt. Ich ging schwimmen, als die Wellen viel höher als gewöhnlich waren. Ich beschloß, durch die Brandungswellen in ruhigeres Wasser hinauszuschwimmen, was ich auch tat. Ich schwamm ein wenig umher und machte dann kehrt und hielt auf das Ufer zu. Leider wählte ich den falschen Zeitpunkt und sah auch schon eine riesige Welle nicht weit hinter mir. Sie stürzte auf mich nieder, tauchte mich unter, und mir blieb der Atem weg und ich hatte Angst. Es war nicht weit bis zum Ufer, und bald fühlte ich auch schon Sand unter den Füßen, aber das wirbelnde Wasser nahm mir alle Kraft, während ich kämpfte, um ans Ufer zu kommen. Ich sah mich um, und eine andere riesige Welle hatte mich beinahe schon eingeholt. Ich war erschrocken, rechnete mir aber auch aus, wieviel Kraft ich noch hatte. Die Welle brach über mir zusammen und tauchte mich wieder unter, und diesmal machte sich ein seltsames Gefühl bemerkbar. Ich fühlte, daß der Tod sehr nahe war. Ich war schwach und kam gegen all diese Kraft nicht auf. Aufzugeben schien so leicht, so richtig zu sein. Der Tod kam mir so verlockend und natürlich vor. Wenn ich nachgäbe, würde ich tot sein - nur ein weiteres Ereignis in meinem Leben. Dann dachte ich, wie lächerlich - wie wahnsinnig - es wäre, unter solchen Umständen zu sterben, nur wenige Meter vom Ufer entfernt.
All diese Gedanken nahmen nur einige Sekunden in Anspruch, dann kämpfte ich wieder und stieß mich nach oben. Ich schrie, als ich die Oberfläche erreichte, so daß mich jemand in der Nähe sah, wenn mich noch einmal eine Welle erfaßte. Zum Glück geschah das nicht. Ich stolperte erschöpft, zitternd und atemlos ans Ufer. Ich hatte das Gefühl, mich in einer Situation befunden zu haben, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte und auch nie wieder erleben wollte. Ich erzählte einigen Leuten von dem Vorfall, und dann dachte ich nicht mehr viel daran.
In der darauffolgenden Woche arbeitete ich auf Dächern. Bei zwei verschiedenen Gelegenheiten hatte ich, als ich in die Nähe der Dachkante kam, starke Empfindungen von Gefahr und Todesnähe und wieder das Gefühl, ja sogar den Wunsch oder die Versuchung aufzugeben - freiwillig in meinen möglichen Tod zu stürzen. Ich hatte solche Gefühle bei früheren Gelegenheiten, wenn ich irgendwo hoch oben war, nicht gehabt.
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Einige Wochen später hatte ich eine Sitzung, und ich sprach von dem großen Druck, den ich aus meinen gegenwärtigen Lebensumständen heraus fühlte. Ich begann von den Wellen zu sprechen, und bald fing ich an zu weinen. Der Therapeut fragte mich, was mich zum Weinen brachte, und ich sagte: >Die massive Kraft der Wellen - sie sind so stark, und ich bin so schwach. < Ich weinte ziemlich viel, und dann sprach ich von dem Druck der Arbeit und fühlte das. Ich erinnerte mich dann, wie ich einen ähnlichen überwältigenden Druck als Teenager gefühlt hatte, als mir klar wurde, wieviel ich von meinen Eltern nicht bekam und wieviel ich niemals imstande sein würde zu bekommen. Dieses letztere Gefühl war das Schlimmste - daß ich so viel brauchte und es nicht bekommen konnte. Es war, als versuchte ich, meinen Lebensumständen zu entkommen. Es gab aber kein Entkommen, und der Druck hielt mich einfach nieder, so daß ich nicht aufstehen und ich selbst sein konnte. Ich war überrascht und froh, eine Verknüpfung zwischen dem Druck der Wellen und dem Druck seitens meiner Eltern herstellen zu können.
Ich hatte auch das Gefühl, meinen Kopf gegen die (gepolsterte) Wand stoßen zu wollen, um zu meiner Mutter durchzukommen, und ich tat es auch. In den nächsten Wochen fühlte ich mich viel, viel stärker und tüchtiger. Aber in den nächsten Wochen wurde auch das (in den vorausgegangenen Monaten gelegentlich aufgetauchte) Gefühl stärker, mit dem Kopf gegen die Wand rennen und sie durchstoßen zu wollen. Die Gefühle waren ziemlich heftig. Manchmal waren es nur wortlose Gefühle der Wut und Frustration. Wenn ich wirklich sprach, wollte ich entweder zu meiner Mutter durchkommen, sie berühren, oder ich wollte sie davon überzeugen, daß ich nicht schlecht war.
Jetzt spüre ich eine Verbindung zwischen dem schrecklichen Druck und der Stärke der Wellen, die auf mich niederstürzen und mich bedrohen, und dem intensiven Druck, den ich oft erlebe, wenn ich über meine Mutter fühle. Ich spüre, daß vieles davon mit meiner Geburt verbunden ist - vielleicht irre ich mich - ich bin noch nicht sehr weit in diese Feelings eingedrungen, aber es scheint mir so. Ich habe das Gefühl, daß ich mich, obwohl ich kämpfte, geschlagen und aufzugeben bereit fühlte. Das war sicherlich die Geschichte meines übrigen Lebens mit ihr. Sie machte alles so schwierig, war immer kritisch und gab nie etwas.
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Obwohl das Erlebnis mit den Wellen Gefühle aufrührte, die es mir ermöglichten, einige wichtige Verbindungen herzustellen, wurde ich zu sehr frühen Feelings zurückgerissen, wobei umgangen wurde, wie ich mich später in der Kindheit fühlte. Ich begann, wenn ich mich schlecht fühlte, in diese früheste Periode meines Lebens zurückzuspringen und Feelings der ersten Ebene zu haben, ohne jedoch volle Verknüpfungen herzustellen. Es fühlte sich einfach gut an, die Feelings zu haben. Ich kam davon ab, mich schlecht zu fühlen. Jetzt versuche ich allerdings die Feelings zu verbalisieren und dadurch mehr Verknüpfungen herzustellen. Das funktioniert gut, und ich bin besser imstande, die neuen Feelings zu integrieren.«
*
Wie alle Primärprägungen hat die Todeseinprägung für verschiedene Patienten verschiedene unbewußte Bedeutungen. Sie kann Entkommen, Kapitulation, Sieg, Niederlage, Schwäche, Stärke und so fort bedeuten. Alles hängt vom Gesamtkontext ab — von der gesamten Lebensgeschichte.
Ein Mann hatte nach seinem Geburts-Primal die Einsicht, daß der Versuch, sich zu töten, in Wirklichkeit ein Versuch war, sein Leben zu retten. Er wollte dem Tod nahekommen, den letzten verzweifelten Telefonanruf an einen Freund tätigen mit der Bitte, ihn zu retten, und gerettet werden — genau so, wie es bei der Geburt geschehen war. Wir haben festgestellt, daß Menschen, die bei der Geburt durch Narkotika asphyxiert waren, oft diesem Impuls erliegen, große Mengen von asphyxierenden Drogen zu nehmen, und dann zum Telefon greifen, um gerettet zu werden.
Ein anderer Patient kam aus seinem Geburts-Primal mit der Einsicht, daß der Selbstmord seine Methode war, den Tod zu besiegen. Er hatte immer ein inneres Gefühl von unheilvollen Vorahnungen gehabt, und der Gedanke an den Selbstmord gab ihm die Selbstsicherheit, über das letzte Unheil Gewalt zu haben. »Der Tod wird nicht kommen und mich holen — ich werde ihn holen!« Das war seine Art, die Hilflosigkeit der mit der Geburt zusammenhängenden Agonien zu besiegen.
Wieder eine andere Patientin hatte das Gefühl, daß sie der Gedanke an den Selbstmord stark machte: sie konnte zum Tod eine aktive Einstellung haben, anstatt seinem Schrecken passiv ausgeliefert zu sein.
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Es scheint, daß für viele Menschen der (Gedanke an den) Selbstmord eine wichtige Abwehr gegen das Gefühl der primären Hilflosigkeit ist, die sich so katastrophal anfühlt, daß sogar der Tod noch besser ist.
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Reaktionen des Kindes auf das Geburtstrauma auch als prototypische Muster eingeprägt werden. Ein interessanter Aspekt der Einprägung der Todesnähe ist, daß das spätere Werkzeug des Selbstmords oft eng verwandt mit der ursprünglichen Art des Erlebens der Todesnähe ist. Eine Patientin, die die Strangulation durch die Nabelschnur wiedererlebte, hatte immer den Drang gehabt, sich zu erhängen, wenn sie an Selbstmord dachte. Ein anderer Patient, der während der Geburt gegen den Schambogen gestoßen war, hatte den Impuls, sich mit einer Ladung Dynamit zu sprengen, und tatsächlich lagerte er sogar in seiner Garage Dynamit für den schicksalhaften Tag. Das Bild, das er sich in seinem Geist machte, war, daß er sich eine Stange Dynamit an jedes Ohr hielt, um den Druck aus seinem Kopf wegzublasen. Was er wirklich loswerden wollte, war der katastrophale Druck bei der Geburt.
Dynamit war auch das Mittel, das ein anderer Patient (aus der Schweiz) wählte, aber aus einem ganz anderen Grund. In einem persönlichen Brief an mich erklärte er:
»Erinnern Sie sich, wie wir uns in Champery darüber unterhielten, warum die Menschen bestimmte Methoden wählen, sich zu töten? Ich sagte, wenn ich mich je umbringen wollte, würde ich es mit einem Paket Dynamit tun — indem ich mir das Hirn in die Luft jage. Sie fragten mich, ob ich wüßte, warum, und ich sagte nein. Jetzt weiß ich es.
Neulich fühlte ich mich so bedrückt, und da fiel mir ein, daß mein Gewehr gerade in der Ecke meines Zimmers lehnte ... Ich sah mich selbst das Gewehr nehmen, auf das Dach des Mietshauses gehen und mir in den Schlund schießen. Das war alles sehr klar. Ich sah den Augenblick, in dem ich abdrückte, und den Sekundenbruchteil danach, in dem ich erkannte (und fühlte), daß es nun da ist: Ich sterbe.
Dann wurde mir klar, daß das der Grund ist! Deshalb möchte ich Dynamit verwenden — der Sekundenbruchteil! Bei Dynamit gibt es nicht einmal einen Sekundenbruchteil. In dem Augenblick, in dem es explodiert, ist das Hirn auch schon zerfetzt. Es besteht keine Möglichkeit, daß ich auch nur einen Sekundenbruchteil fühle: >Ich sterbe.<
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Das ist der springende Punkt. Ich möchte das nicht fühlen: STERBEN. Mein wahres, ursprüngliches Selbst will nicht sterben. Ich will nur die Agonie meiner ungeheuren Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit nicht fühlen.
Wir sprachen auch vom <richtigen Verhältnis>. Ich weiß nicht, wann ich als Kind nahe daran war zu sterben, außer daß mir meine Eltern erzählten, die Nabelschnur habe sich dreimal um meinen Hals geschlungen, mit drei verschiedenen Knoten, die aufzulösen waren. Sie versicherten mir aber, daß ich nicht blau geboren wurde und daß meine Geburt <leicht> war.«
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Ein anderer Patient, der einen zwanghaften Antrieb in sich hatte, der daher kam, daß er aus dem Geburtskanal getrieben worden war, sagte, er werde sich zu Tode arbeiten.
Eine skandinavische Patientin hatte den Drang, an einen See zu gehen und still und ohne Anstrengung einfach zu erfrieren. In ihrem Geburts-Primal erlebte sie die schreckliche Erschöpfung nach dem Versuch geboren zu werden, wieder. Die Anstrengung bei der Geburt war eingeprägt worden, und danach war ihr alles zu viel. Um diesem Feeling entgegenzuwirken, wollte sie einfach verlöschen — einfach aufhören, all diese Erschöpfung zu fühlen. Sie wollte keine Arbeit mehr in ihrem Leben haben — nicht einmal die Arbeit, sich selbst zu töten.
Eine andere Patientin wollte Tabletten nehmen, um sich zu töten — die Tabletten konnten ihr die vernunftmäßige Begründung dafür liefern, daß sie sich so völlig erschöpft fühlte. Ein Mann, der fühlte, wie er bei der Geburt Flüssigkeit einatmete und dem Ertrinken nahe war, wollte so weit ins Meer hinausschwimmen, daß er nicht mehr zurückkonnte, und so ertrinken. Die Idee des Ertrinkens übte noch eine weitere Anziehung auf ihn aus, weil er nicht wollte, daß man seine Leiche fand. Er entdeckte auch den Grund dafür: sein Körper war nach der Geburt so voller Schmerzen gewesen, daß er lieber gar keinen Körper gehabt hätte. So würde er nicht leiden. Und eine Frau hatte das Wiedererlebnis, wie sie aus dem Geburtskanal gestoßen wurde. Sie hatte, wenn sie auf einem Balkon stand, immer das Gefühl, man würde sie hinunterstoßen — in den Tod.
Schlußfolgerungen
Die meisten Selbstmordversuche werden mit schmerzbetäubenden Mitteln unternommen. Das ist kein Zufall. Die Menschen versuchen, den Urschmerz zu töten, aber auf die eine oder andere Weise töten sie dabei auch sich selbst. Die meisten Patienten, die wir behandelten, sagten, wenn sie den Schmerz hätten töten können, wäre der Versuch, sich selbst zu töten, nicht nötig gewesen. Es verhielt sich eben so, daß ihr Schmerz und ihr Selbst untrennbar miteinander verbunden waren.
Wir haben festgestellt, daß tiefe Primals auf der ersten Ebene einen signifikanten Unterschied bei der Auflösung dieser Selbstmordimpulse ausmachen. Diejenigen, die das Todeserlebnis bei und im Zusammenhang mit der Geburt wiedererleben, scheinen diese Fixierung auf Tod und Selbstmord endlich aufzulösen. Was hier klar ist, ist, daß das Fühlen von schrecklichem Schmerz nicht die wirkliche Gefahr ist, wie manche behaupten. Im Gegenteil, ihn nicht zu fühlen, läßt einen in der Gefahr eines stets gegenwärtigen Todes und Gefühls des Unheils zurück.
Das Kindheitstrauma spielt natürlich eine bedeutende Rolle für spätere Selbstmordanwandlungen, und diese werden gemildert durch die Auflösung von Kindheitsschmerz. Aber es scheint, daß die volle Auflösung der Tendenzen beinahe immer mit Kräften der ersten Ebene verbunden ist — denn diese Kräfte sind es, die einen Menschen zuallererst für Suizidanwandlungen prädisponieren und präsensibilisieren.
Es mag seltsam erscheinen, daß diese wenigen Minuten bei der Geburt bestimmen können, ob jemand später einmal den Selbstmord als ernsthafte Alternative in Betracht ziehen wird oder nicht, aber die aus Primais gewonnenen Erkenntnisse zeigen, daß das der Fall ist. Selbstmordversuche sind Versuche des Systems, zurückzugehen und wieder in die Nähe des Todes-Feelings zu kommen. Es ist eine Methode, dieses ursprüngliche psychologische Erlebnis wiederzugewinnen, bei dem der Säugling zuerst dem Tode nahekam, um dann lebendig zu werden.
Das bedeutet letzten Endes, daß der Selbstmord in Wirklichkeit ein Heilungsversuch ist. Er ist tatsächlich ein Versuch, den Tod zu besiegen. Und er ist letzten Endes ein Zeugnis für die Macht des Primärschmerzes: man möchte lieber tot sein, als ihn fühlen.
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