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Teil 5    Die Auflösung des Geburtstraumas

12. Illusion und Wirklichkeit: Rebirthing und Wiedererleben

 

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Zurückgehen und das Geschehene, die Geschichte, ungeschehen machen, das ist eine erstaunliche Vorstellung. Aber die Geschichte wird auch nicht in einigen Minuten oder einigen Wochen aufgehoben, und sie kann nicht anders aufgehoben werden als auf die Weise, in der sie ursprünglich stattgefunden hat. Kein Trick, keine Technik, keine Maschine oder Droge kann diese Geschichte ändern, denn biologisch gespeicherte Ereignisse können nur durch denselben biologischen Prozeß wieder aufgehoben werden, der sie ursprünglich eingeprägt hat.

Beim Wiedererleben des Geburtstraumas taucht der Mensch in ein Unbewußtes ein, das viele Geheimnisse seines Lebens aufbewahrt. Es ist nicht das Unbewußte Freuds, das sich weigert, seine libidinösen Geheimnisse preiszugeben. Es ist vielmehr ein freundliches Unbewußtes, das uns alles sagt, was wir jemals wissen wollten. Es ist gütig in jeder Hinsicht und spricht nur zu uns, wenn wir zu hören bereit sind. Den Rest hält es zurück, es verrät uns die Geheimnisse wie ein guter Freund — nicht so rasch, daß wir überwältigt sein könnten, aber früh genug, um unser Interesse wachzuhalten.

Das Erlebnis am Beginn des Lebens sagt uns so viel über das ganze übrige Leben, daß wir eine so präzise und umfassende Information nur bewundern können — eine Information, die nicht allein durch Worte übermittelt wird, sondern auch durch den Körper, der seine eigene Sprache hat. Tatsächlich spricht der Körper unaufhörlich auf seine eigene Weise. Er sagt: »Ich stehe unter Druck« durch seinen zu hohen Blutdruck und seine Migräne-Anfälle. Er sagt: »Ich leide« durch seine Magengeschwüre, durch Kolitis und Asthma. Er sagt: »Ich habe Angst« durch Phobien und Paranoia. Er sagt: »Ich bin in der Falle« durch seine Zwangshandlungen und Obsessionen.

Er sagt: »Der Urschmerz tötet mich« durch Herzanfälle, selbstmörderische Depressionen und schwere Krankheiten. Das Wunder ist, daß das genaue Bild der ursprünglichen traumatischen Geburtsszene bereitgehalten wird. Die Geburtsszene ist es, die, wenn sie verdrängt wird, all diese Leiden, Ängste und Krankheiten zur Folge hat. Aber das Geburtsbild muß entschlüsselt werden in all seinen verschiedenen Empfindungs-punkten, die, zusammengesetzt, eine kohärente Einprägung des gesamten, vor Jahrzehnten durchgemachten Erlebnisses bilden. Dieser »Entschlüsselungs«-Prozeß kann nicht vorausgesagt oder vorgeschrieben werden, denn die Elemente des Geburtstraumas jedes Menschen sind einzigartig. Die genaue Konstellation der Empfindungen, die sich schließlich zu einem totalen Wiedererleben zusammenfügen, gehört einem Menschen und ihm allein. Kein anderes Muster würde zu seiner inneren Wirklichkeit »passen«. Wie die Fingerabdrücke gibt es das Geburtstrauma des Individuums nur einmal.

Empfindungen sind für das Geburtstrauma primär. Sie sind die der wiedererlebten Zeitperiode angemessene »Sprache«. Worte kommen während eines Geburts-Primals nicht vor, und keine Worte können es wirklich beschreiben. Als Erwachsene müssen wir uns mit der Tatsache auseinandersetzen, daß Klarheit nicht immer Worte bedeutet. Die klarsten Wahrnehmungen (außerhalb von Primals) haben wir vielleicht in unseren Träumen. Die Farben, Formen und Laute der Traumbilder haben eine Frische, eine Lebendigkeit und Intensität, die wir im Wachleben nicht nach vollziehen können. 

Dieselbe Art von Klarheit existiert auf einer anderen Bewußtseinsebene während des Geburtserlebnisses. Es gibt da eine Klarheit der Empfindung, der auch spätere Bilder nicht gleichkommen können, denn Empfindung ist der direkteste, unmittelbarste und physischste Aspekt des Erlebens. Die Empfindung der Leere kurz nach der Geburt, wenn man von der Mutter entfernt wird, ist ein starker Input, der später als eine Art primärer Leere im Leben gefühlt wird. Von dieser wortlosen Empfindung während eines Primais völlig durchdrungen zu sein, ist genau (und paradoxerweise) das, was die Flut von Einsichten auslöst, die zu Verständnis, Klarheit und Bewußtheit führen.

*  (AdÜ:) Rebirthing: Wiedergeburtserlebnis, bzw. dessen rasche Herbeiführung (»Wiedergeburts-Therapie«) im Gegensatz zum »Wiedererleben der Geburt« in der Primärtherapie

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Man muß die Neurologie des Schmerzes und die Evolution des Gehirns in Betracht ziehen, wenn man mit dem Geburtstrauma arbeitet. Eine Beschäftigung mit diesem intensiven Erlebnis darf nicht versuchen, sich um dramatischer Effekte willen über diese Evolution hinwegzusetzen. Wir haben es mit einer ernsten Angelegenheit zu tun, und nichts Geringeres als die Integrität des menschlichen Geistes steht auf dem Spiel.

Das Wiedererleben des Traumas ist wie die Rückspulung der Bandaufzeichnung eines Ereignisses: das Band spult sich immer zurück bis Null und läuft erneut ab. Da die Geburtssequenz im Laufe von Monaten »abgespielt« wird, verlagert sich der Nullpunkt immer weiter nach vorn, so daß jedes Primal dort beginnt, wo das letzte abbrach. Der Körper scheint immer genau zu wissen, wo dieser Punkt ist. Über ein Jahrzehnt lang haben wir erhärtende Beweise sowohl für das Primal als auch das ursprüngliche Trauma gesammelt, aber jeder, der es erlebt hat, bedarf keines Beweises — er trägt ihn in sich. 

Die Bedeutung der Forschung und der Bestätigung durch Beweise liegt darin, daß das Geburtstrauma und das Geburts-Primal in einen neurologischen Kontext gestellt werden, so daß.... 

  1. beide in den Begriffen der Neuroanatomie und Neurophysiologie verständlich werden, 

  2. wir beginnen, ein Verständnis der tiefsten Ursprünge der Neurose und der neurotischen Verhaltensweisen zu gewinnen, 

  3. wir imstande sind, die Menge remanenter Spannung zu quantifizieren, die dadurch geschaffen wird, und diese Spannung mit der späteren Entwicklung der Persönlichkeit zu korrelieren, 

  4. wir ein Mittel entdecken können, mit dessen Hilfe sich Neurose und Psychose durch die Auflösung des ursprünglichen Traumas beseitigen lassen, und

  5. wir gewährleisten können, daß das Geburts-Primal weder ein erzwungenes noch ein suggeriertes Erlebnis ist, sondern direkt der neurologischen Reaktivität entspringt.

Die Primärtheorie über das Geburtstrauma steht im Einklang mit dem, was man heute in der Neurologie weiß. Sie erklärt, wie Schmerzen auf den verschiedenen Bewußtseinsebenen innerhalb des sich entwickelnden Nervensystems festgehalten werden. In bezug auf die eingeprägten Traumata arbeitet die Primärtherapie im Sinne dieser umgekehrten Evolution: das heißt, wir arbeiten zuerst mit den letzten Repräsentationen des Geburtstraumas — dem äußeren Gehirn und seinen kognitiven Aspekten; dann mit dem mittleren, fühlenden Gehirn und zuletzt mit dem inneren Gehirn, wo die schmerzhaften körperlichen Empfindungen der Geburt zu finden sind.

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Unsere gründliche Erforschung des Geburtstraumas hat uns mehrere wichtige Dinge gelehrt. Erstens, daß Erinnerungen konkrete Realitäten sind, die gespeichert werden und auf Zugang zum Bewußtsein warten, denn wie könnten wir sonst erklären, warum ein Patient, der in einer absolut nicht bedrohlichen Umgebung still auf dem Boden liegt, eine signifikant mobilisierte Funktion des Systems und des Gehirns zeigt — allein als Ergebnis einer schmerzhaften oder traumatischen Erinnerung? 

Zweitens beobachteten wir: je näher die Erinnerung an das traumatische Ereignis dem Bewußtsein kam, desto mehr erhöhten sich die Vitalfunktionen und desto größer wurden die Hirnwellen-Amplituden. Drittens, je größer die Valenz des aus dem ursprünglichen Erlebnis stammenden Schmerzes war, desto höher wurden alle diese Meßwerte. Viertens, der Schmerz war direkt mit der Hirnwellen-Amplitude und den Vitalfunktionen verbunden, was das Sinken dieser Werte mit der Auflösung des Schmerzes bewies, und zwar sowohl in der akuten Phase eines Primais als auch permanent. (Das bedeutet, daß Geburts-Primals dauerhafte qualitative Veränderungen der Physiologie bewirkten.) 

Und fünftens waren diese Veränderungen mit anderen signifikanten Änderungen in der Biochemie des Patienten, einschließlich einer Normalisierung der Streß-, Wachstums- und Sexual­hormonspiegel, verbunden. Um all das zusammenzufassen: Wir stellten fest, daß das Ausmaß der Funktions­störungen auf allen Bewußtseinsebenen vom Grad des Urschmerzes abhing und daß der heftigste von unseren Instrumenten gemessene Schmerz der bei der Geburt erlittene war.

 

Die »Wiedergeburtsindustrie«

Seitdem ich vor vielen Jahren über die Möglichkeiten schrieb, die Geburt wiederzuerleben, ist eine ganze Wiedergeburts- oder »Rebirthing«-Industrie entstanden. Ich möchte die sich daraus ergebenden Probleme und Gefahren diskutieren. Wie überall sonst ist Halbwissen gefährlich, ja es ist im Falle des Rebirthing besonders gefährlich. Irgendeinen Aspekt des Primal-Prozesses herauszugreifen und darauf ein System zu errichten, ist unklug. Die Neurose baut sich aus einem ganzen Leben voll von Schmerzen auf. Sie alle müssen in Betracht gezogen werden.

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Da Geburtsschmerzen in den innersten Tiefen des Nervensystems zu finden sind, müssen sie am Ende eines systematischen Kontinuums wiedererlebt werden, nicht am Anfang. Das bedeutet nicht, daß es nicht möglich sei, jemanden sehr rasch zu einem Geburts-Primal zu bringen, denn es ist möglich. Aber die Ergebnisse sind beinahe immer nachteilig. Und das Erschreckende daran ist, daß sowohl Rebirthing-Therapeuten als auch Patienten diese Wirkungen oft nicht erkennen oder zu ignorieren vorziehen.

Allein bei theoretischer Betrachtung müßte klar sein, daß man sich bei der Umkehrung einer Neurose zuerst mit den jüngsten, weniger ernsten Schmerzen befassen und dann auf die tieferen, höher geladenen hinarbeiten muß. Das stimmt mit der Art der Gehirnentwicklung überein. Die größere Intensität der tief erliegenden Schmerzen ist gemessen worden. 

Wie ich schon bemerkte, haben wir auch gesehen, was geschieht, wenn Patienten in der Therapie zu rasch zu einem sehr frühen Trauma vordringen. Es kommt zu einem gewissen Grad von Abkoppelung und Desintegration. Wenn das geschieht, müssen besondere Maßnahmen ergriffen werden, um dafür zu sorgen, daß der Prozeß nicht weitergeht. Sehr leicht entwickelt sich eine Rinne zwischen Schmerz der ersten und der dritten Ebene, wobei die zweite Ebene umgangen wird, so daß Säuglingsreaktionen als Abwehr gegen das wirkliche Fühlen der verbindenden Schmerzen der späteren Kindheit verwendet werden. Damit kann all das Umsich-schlagen, Schreien und Sichwinden wie ein echtes Geburts-Primal aussehen, während es in Wirklichkeit nur eine weitere Abwehr gegen das Fühlen geworden ist. 

Kurz, es ist nur wieder eine Form des Agierens für einen neurotischen Patienten, der irgend etwas Magisches tun möchte, um seine Neurose aufzulösen. Weil er es mit einem Schmerz von hoher Ladung zu tun hat und weil er auf den höheren Ebenen nicht genug gefühlt hat, kann er kein voll integriertes, verknüpftes Feeling haben. Das Ergebnis ist eine weitere Überlastung und Symbolisierung; aber es ist die Art von Symbolisierung, die manchmal täuschend verknüpft aussieht.

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Ein Patient schrieb: »Daß ich zum erstenmal wie ein Baby weinte, geschah sehr früh in meiner Therapie. Mein Therapeut brauchte manchmal lange, bis er in der Gruppe zu mir kam, und ich weinte, weil ich ihn brauchte, und dann weinte ich heftig wie ein Baby. Ich maß diesen Erlebnissen wenig Wert bei, weil sie unverknüpft zu sein schienen; ich scheute mich vor diesem <Baby-Platz>, weil ich die Gefahr fühlte, meine Masse von Kindheitsschmerz zu umgehen.

Nach einer Therapie von einem Jahr begannen sich dann aber meine Primals zufriedenstellender mit meinem Geburts- und Babymaterial zu verknüpfen. Was für ein Feeling ich auch immer erlebte — daß ich Papa brauchte, Mama brauchte, <Hilf mir>, <Liebe mich> etc. —, es kam immer ein Augenblick, in dem ich mich einfach gehenlassen und wie ein Baby weinen konnte. Ich begann auch in diesem Augenblick nach dem Primal wirklich Erleichterung zu fühlen.«

*

 

Es gibt alle Arten von Therapeuten, die Rebirthing praktizieren, aber die bekanntesten beginnen mit einem Schwimmbecken oder einer Wanne und einer Wassertemperatur von 37,8 °C und mehr. Der Patient wird ausgezogen und entweder schwimmend auf das Wasser gelegt oder untergetaucht, manchmal mit einem Schnorchel und einer Nasenklemme, bis ihn Panik ergreift. Das wird gleich am ersten Tag, ja in der ersten Stunde gemacht. Dann wird der Patient ermutigt, die Berührung mit seinen Geburts-Feelings aufzunehmen. Manche beginnen, um sich zu schlagen wie bei Geburts-Feelings, und manche kommen tatsächlich mit der Peripherie der Geburt in Kontakt und erleben viele der Empfindungen, die jemand haben würde, der Primärschmerz wiedererlebt — körperliche Spannung, Unfähigkeit zu atmen, Würgen und Ersticken, den Auswurf von Schleim und so weiter.

Eine Variante besteht darin, zukünftige Patienten (die gewöhnlich keiner Vor-Auswahl unterzogen werden, um schwer pathologische Fälle auszusondern) eine Geschichte über die Geburt lesen zu lassen. Damit sollen sie in die richtige geistige Verfassung für das Geburtserlebnis kommen. Das Ziel ist, wie eine Gruppe behauptet, das Geburtstrauma zu reaktivieren. Die Patienten wählen dann eine Nummer, die bestimmt, wann sie mit dem Geborenwerden an die Reihe kommen. Sie legen sich auf den Rücken und versuchen, die Geburt geschehen zu lassen. Selbstverständlich können das viele Menschen nicht. Aber andere können es, und das sind genau diejenigen, die es nicht tun sollten.

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Wenn sie echten Geburts-Feelings so nahe sind, ist ihr Abwehrsystem zu schwach. Sie brauchen alles andere als ein erschütterndes Erlebnis, vor allem da die meisten nur an einem Wochenend-Meeting teilnehmen und nicht eine systematische Therapie mit einer sorgfältigen Nachuntersuchung durchmachen.

Viele der »Rebirthers« wenden die Atemtechnik an, die ich zum erstenmal im Urschrei beschrieben habe. Sie lassen den Patienten immer tiefer atmen, bis er die Herrschaft über seinen Körper verliert und scheinbar die Geburt durchmacht. Wir bedienen uns dieser Techniken nur noch selten, und zwar eben deshalb, weil sie Schmerzen außerhalb der Sequenz heraufbringen können. Wenn wir von ihnen Gebrauch machen, dann nur in ausgewählten Fällen und unter besonderen Umständen. »Rebirthers« wenden aber im allgemeinen bestimmte Techniken wahllos an, und manche scheinen sich über die Folgen dessen, was sie tun, keine Gedanken zu machen und führen auch keine Folgeuntersuchungen durch. Einige veranstalten sogar Bühnenauftritte, und jeder aus dem Publikum kann sich freiwillig für das Wiedergeburtserlebnis melden. Tragischerweise wird das von »Therapeuten« gemacht, die keine Ahnung von der Lebensgeschichte der Freiwilligen haben. Und was für den einen eine vergleichsweise harmlose Katharsis seiner Empfindungen sein mag, kann bei einem anderen eine schwerwiegende geistige Desintegration verursachen.

Was beinahe alle »Rebirthers« gemein haben, ist eine etwas mystische Orientierung. Und darin liegt eine große Gefahr. Wenn der Therapeut eine Vorliebe für das Mystische hat, kann die sonderbare oder irreale Ideenbildung eines Patienten seiner Aufmerksamkeit entgehen. Kommt der Patient mit seiner Geburt in Berührung und ist das Erlebnis für ihn zu viel, um integriert zu werden, so muß das zu einer seltsamen Ideenbildung führen. Sie wird aber nicht als seltsam oder symbolhaft betrachtet, weil der Therapeut bereit sein kann, selbst an diese Ideation zu glauben. Einige Wiedergeburts-Therapien werden im Freudschen Rahmen angelegt. Die Therapeuten behaupten, sie wollten das Ich nicht überwältigen, sondern machten Gebrauch von den kognitiven Fähigkeiten der Patienten, um ihnen zu helfen. In sechs Sitzungen mit einer traditionellen Freudschen Verbaltherapie wird die psychosexuelle Geschichte des Patienten umrissen, und die Betonung liegt auf den von Freud dargelegten Entwicklungsstadien.

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In der nächsten Sitzung legt sich der Patient nieder, richtet den Blick auf den Therapeuten und verschränkt die Arme. Er macht drei tiefe Atemzüge und wird dann an ein anderes Gruppenmitglied weitergegeben. Er beginnt, sich zu bewegen und tiefer in sich selbst zu versinken, bis er eine andere Bewußtseinsebene erreicht. Dann hat er seine »Wiedergeburt«. Mit anderen Worten, nach einigen Stunden psychosexueller Diskussion überschreitet der Patient Ebenen der Gehirnorganisation, um die tiefste Ebene zu erreichen, ohne zuvor auch nur einen Schmerz, der eine Zwischenverbindung herstellt, erlebt zu haben. 

Es ist unter solchen Umständen — weitergegeben werden, atmen und sinken — unmöglich, ein verknüpftes Geburtserlebnis zu haben. Der Schmerz wäre einfach zu viel. Wenn es je eine Situation gäbe, das »Ich« zu überwältigen, dann wäre es diese. Die »Rebirthers« wissen nicht, wie sie den Patienten schützen sollen, weil sie weder eine systematische Theorie haben noch das richtige Verständnis für die Organisation des Gehirns, um eine Theorie darauf aufzubauen. Meistens setzen sie lediglich ein Dogma und ein Ritual an die Stelle einer natürlichen Methode, Schmerz wiederzuerleben.

Man legt sich nicht einfach hin und hat ein Geburts-Primal. Für all die tausend Schmerzen, die nach dem Geburtstrauma und zu diesem dazukamen, gibt es auch entsprechende Verdrängungen. Es ist undenkbar, daß jemand diese ganze Verdrängung nach sechs Sprechsitzungen überwinden und zu etwas übergehen könnte, was das System bis in die Wurzeln hinein erschüttert. Selbst unsere Patienten brauchen gewöhnlich irgendeine Art von gegenwärtigem Schock für das System, der die Abwehren verwundbarer macht — und diese Verwundbarkeit tritt erst nach Monaten oder Jahren des Fühlens ein. 

Ein Hinweis darauf, daß der Schmerz unterwegs ist, besteht darin, daß die nach oben drängenden Feelings den Patienten oft dazu provozieren, eine »Krise« zu schaffen. Er tut etwas, was entweder impulsiv oder für sein Leben verwirrend ist, und dann hilft ihm diese Verwirrung (seiner Abwehren), das wirkliche Geburts-Feeling zu erreichen. Er kann, zum Beispiel, einen Streit wegen nichts und wieder nichts vom Zaun brechen. In jedem Fall ist es der Patient, der entscheidet, wann er bereit ist, aber nicht irgendein Therapeut; und genaugenommen »entscheidet« auch der Patient nichts.

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Wenn ein Patient in seiner Therapie der Geburt nahekommt, was vielen Patienten nie gelingt, zeigen sich einige charakteristische Symptome. Es gibt verräterische pathognomische (für ein Krankheitsbild typische) Zeichen. Wir halten nach ihnen Ausschau und erleichtern dann dem Patienten den Zugang zu Feelings, mit denen er schon Berührung aufgenommen hat. Und er hat Berührung mit ihnen, weil er schon monatelang Primärerlebnisse hatte, die den Weg ebneten. Wenn er bei einem Wiedererleben der Geburt und frühen Kindheit ankommt, kann er integrieren, was er durchmacht. Gewöhnlich sind die ersten Geburts-Primals — auch die ersten zehn — von kurzer Dauer, weil der Schmerz so heftig ist, daß der Körper augenblicklich abschaltet; was er auch soll.

Der Patient sollte nie über diesen Punkt hinaus gedrängt werden. Und es ist von entscheidender Bedeutung, daß der Therapeut weiß, wo dieser Punkt ist. Es gibt, zum Beispiel, gewisse offensichtlich aufschlußreiche Bemerkungen, die ein Patient während der Stadien eines Primais machen kann. So kann eine Patientin sagen: »Ich glaube, der Kampf mit meinem Freund lohnt sich gar nicht. Ich krieche jetzt einfach in mein Loch zurück, so daß ich nichts mehr höre und sehe.«

Ob die Patientin tatsächlich bereit ist, »in ihr Loch zurückzukriechen« oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Erstens von der bisherigen Geschichte ihrer Primals. Ist sie schon weit genug voran­gekommen und hat sie genug aus der Kindheit aufgelöst? Zweitens, gibt es andere physische Anzeichen, die das bevorstehende Geburtserlebnis voraussagen? Drittens, hat sie speziell an diesem Tag wirklich genug auf der zweiten Ebene aufgelöst, um imstande zu sein, tiefer zu gehen? 

Wenn er die Antworten auf diese Fragen weiß oder spürt, muß der Therapeut seine Sondierung zeitlich genau richtig und als logische Folge des Vorausgegangenen abstimmen. Die Techniken müssen sich spezifisch nach den Bemerkungen richten. Der Therapeut wendet zwar seine spezialisierten Techniken an, aber er muß sich vom Patienten führen lassen. Und er muß die Sekunde erkennen, in der der Patient nicht für das Erlebnis bereit ist, denn auch dafür gibt es verräterische Zeichen. Man preßt den Patienten nie in eine starre Form — was ebenfalls für viele »Rebirthing«-Therapeuten typisch ist. (Bei der Wiedergeburts-Therapie habe ich nur drei Geburtserlebnisse angeführt, die für notwendig erachtet werden. In der Primärtherapie gibt es keine bestimmte Zahl, und es ist absurd, auch nur von Durchschnittszahlen zu sprechen.)

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Ich habe an anderer Stelle bemerkt, daß das Kennzeichen des Pseudotherapeuten eine autoritäre Methode ist: der Therapeut trifft wesentliche Entscheidungen für den Patienten. Bei der Wiedergeburts-Therapie, zum Beispiel, werden Geschwindigkeit und Bewegungsart des Geburtserlebnisses vom Therapeuten mit der Absicht kontrolliert und gelenkt, die Geburtssequenz zugunsten eines glücklichen Endes zu verändern. Es wird angenommen, daß der damit erreichte Gewinn dann in das tägliche Leben übergeht, so daß wir nicht mehr unsere Neurosen ausagieren. Das ist Magie, nicht Wissenschaft. 

Was am Wiedererleben des Geburtsvorgangs so wichtig ist, ist gerade, daß es ohne Einmischung genau so abläuft wie die tatsächliche Geburt. Das Erleben selbst wirkt auflösend. Deshalb kann man nicht beschließen, ein bestimmtes Primärtrauma mit einem guten Ende zuzudecken in der Hoffnung, es so aufzulösen. Wenn der Wiedergeburts-Therapeut das versucht, macht er sich dilettantisch an einem präzisen neurologischen Schaltkreis zu schaffen, an einer Erinnerungseinprägung, die so unveränderlich ist wie die frühere Geschichte des Patienten. Diese Geschichte ist eine dominierende Realität. Das ursprüngliche Trauma endete nicht gut. Das ist die Wahrheit. Es gibt keine Methode, ein Primärerlebnis gut enden zu lassen. Da Erwachsene stärker und reifer sind, wenn sie das Geburtstrauma wiedererleben, können sie ein Erlebnis integrieren, das vom Neugeborenen nicht integriert werden konnte. Diese Integration beendet die Sequenz.

Eine Sequenz zu unterbrechen, um zu versuchen, sie zu ändern, ist sogar gefährlich. Der Patient wird durch eine falsche Lösung getäuscht, und seine Erinnerungskreisläufe werden in unwirkliche Kanäle umgeleitet und abgelenkt. Das ist nichts anderes als das, was ursprünglich geschah, als echter früher Schmerz in unwirkliche, symbolische Rinnen abgeleitet wurde. Der Wiedergeburts-Therapeut verschlimmert damit das Problem. Er zwingt das neurologische System des Patienten buchstäblich zu einer Mehrarbeit. Denn der ursprüngliche Kreislauf, der nun durch die aufgezwungene Lösung des Therapeuten umgeleitet wurde, muß eine neue Spur entwickeln, um all die Fehlverbindungen eines vorgetäuschten und unwirklichen Geburts­erlebnisses zu kodieren.

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Der Patient vermeidet damit den echten Schmerz, bildet sich aber ein, ein echtes Erlebnis gehabt zu haben. Die neue, künstliche Ideenbildung wird zu einem fixierten Überbau, der noch weiter abgekoppelte Primär­energie beherbergt. Weit davon entfernt, das Geburtstrauma aufzulösen, hat der »Rebirther« in die normalen Verdrängungsprozesse und die natürliche Freisetzung von Schmerz störend eingegriffen. Er muß nun eine Ideologie oder Wiedergeburtsgewinne bieten, damit der Patient nicht ohne eine formalisierte Abwehr dasteht.

Es gibt eine weitere Wiedergeburtsmethode, die ich für noch gefährlicher halte und die LSD mitverwendet, um den Prozeß zu erleichtern. Jede bewußtseinsverändernde Droge wie LSD bringt die Sequenz der Geburts­schmerzen durcheinander, so daß sie nicht integriert werden können. Der Körper scheint zu wissen, was integriert werden kann, denn wenn er ungestört sich selbst überlassen wird, bietet er Schmerz in einer Sequenz dar: er produziert nur, was integriert werden kann, und nicht mehr. Das Ergebnis der beim »Rebirthing« aufgestiegenen unaufgelösten Schmerzen ist eine Verschlimmerung der Neurose. Das ist letzten Endes das Wesen des Symbolismus: er führt einen weiter von sich selbst fort, und die Folge ist ein Glaube an mystische Erlebnisse und Ereignisse — einschließlich solcher weit draußen im Kosmos, wie der militante Glaube an Ufos zeigt. Bewußtseinsverändernde Drogen verursachen meiner Ansicht nach schwere Neurosen und beginnende psychotische Zustände — wenn es sich auch um eine kontrollierte und gutartige Psychose handeln mag, deren Wahnvorstellungen in irgendeine Art von sozial akzeptablem Schema passen.

Leider überwindet man LSD-Erlebnisse nicht leicht. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß einige ihrer Wirkungen permanent sein können.

Durch die Öffnung der limbischen Schleusen und die Unterdrückung des Bewußtseins der dritten Ebene wird man vollständig überflutet, ohne daß der Intellekt hilft, die Überflutung innerhalb zusammenhängender Grenzen zu halten. Es ist kein Zufall daß die früheren LSD-Schlucker in Ufos, außerkörperlicher astraler Projektion, seltsamen östlichen Philosophien, den geheimen Mächten der Pyramiden, religiösen Konversionen etc. ihren Trost gefunden haben. Sie müssen unwirklich bleiben, weil sie keine Möglichkeit haben, wirklich zu sein.

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Sie sind durch entfesselte Primärenergie verrückt geworden, die ständig durch Ideenbildung verhüllt werden muß. Im Gegensatz dazu ist keine Ideologie notwendig, wenn die Freisetzung von Primärenergie vorsichtig gehandhabt wird. Die kortikalen Repräsentationen (präzise, mit tatsächlicher Erfahrung verbundene Ideen) stellen den Endpunkt des ursprünglichen Kreislaufs dar, dessen Teil sie werden. Die Empfindung hat nun einen Namen, einen Kontext und eine persönliche Bedeutung.

Wenn mystisch orientierte Menschen unsere Patienten werden, geben wir ihnen gewöhnlich Tranquilizer, die als Blocker auf der ersten Ebene wirken. Interessanterweise verlieren sie rasch ihre mystischen Anschauungen. Das bedeutet, daß wir das Aktivierungsniveau des Schmerzes auf handliche Portionen reduziert haben. Die Patienten können anfangen, über die wirklichen Erlebnisse zu fühlen, von denen sie nicht einmal wußten, daß sie ihnen zu schaffen machten.

 

   Das Wiedererleben der Geburtssequenz   

 

Es ist für alle jene, die im Begriff sind, Schmerzen der ersten Ebene in der Primärtherapie zu fühlen, sehr wichtig zu wissen, daß diese Schmerzen tatsächlich existieren, daß sie »fühlbar« sind, daß es Monate dauern kann, sie ganz zu fühlen, daß es normal ist, jedesmal nur kleine Stücke zu erleben, daß sie nichtverbal sind und keiner Erklärung oder Szene bedürfen und daß das Fühlen von Feelings das spezifische Vorbeugungsmittel gegen die Psychose ist. Dem Patienten muß versichert werden, daß keine Gefahr besteht, wenn er richtig überwacht wird.

Das bloße Wissen, daß die Geburtsschmerzen da sind und das ganze Leben lang da waren, daß sie erlebt werden müssen, damit große Spannung aufgelöst werden kann, ist für die Patienten eine große Erleichterung. Die namenlose Furcht, die sie vorher empfunden haben, ist nicht mehr namenlos. Sie können hineingehen in diese schwarze Leere und das Erlebnis als das durchmachen, was es ist, ohne sich darüber aussprechen zu müssen. Der Körper muß seinen Schmerz anerkennen. Tatsächlich geschieht es gerade dann, wenn man einen »intellektuellen« Sinn aus dem Erlebnis abzuleiten versucht, daß ein psychotischer Symbolismus erscheinen kann.

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Einen Sinn entdecken zu wollen, ist das, was die Menschen verrückt macht..... Wieder eine Art von Dialektik. Feelings und Worte über diese Feelings werden auf verschiedenen Gehirnebenen und von verschiedenen Strukturen organisiert. Sie sind nicht austauschbar, und das eine kann nicht die Arbeit des ändern verrichten. Sich »hilflos« fühlen, das ist eine Erlebnisdeutung, die erst mit der Entwicklung der Sprache existiert. Aber das erlebnismäßige Fühlen der Hilflosigkeit — diese Machtlosigkeit des Säuglings, Schmerz abzuschalten, geht der Benennung um Jahre voraus.

Es gibt während einer Geburtssequenz keine Worte, weil es ursprünglich keine Worte gab. Jemanden während einer Geburtssequenz sprechen oder auch nur denken lassen, heißt, sie augenblicklich in ein künstliches Erlebnis der Abreaktion verwandeln. Wenn ein Therapeut während dieser Erlebnisse etwas zum Patienten sagt, bringt er ihn von der Spur ab. Er versetzt ihn in die Gegenwart, um über die Vergangenheit nachzudenken, anstatt ihn ganz in der Vergangenheit zu lassen. Wir können aber die Vergangenheit nicht vom geistigen Beobachtungspunkt der Gegenwart aus erleben.

Worum es in der Therapie im Grunde geht, ist, daß man dem inneren Prozeß vertraut — diesen präzisen neurophysiologischen Mechanismen, die Geist und Körper verbinden. Das Gehirn und der Körper kennen die unbeendeten Aufgaben. Schleim wird während einer Sequenz produziert, die das Ertrinken in Flüssigkeit beinhaltet, aber er wird nicht mehr produziert, sobald einmal dieser Teil der ganzen Sequenz abgelaufen ist. Während eines Geburts-Primals kommen keine Tränen, und es werden keine kindlichen Schreie während des Wiedererlebens einer Zeit ausgelöst, in der das Neugeborene noch unfähig war, solche Laute hervorzubringen. Patienten, die sich rhythmisch auf dem Boden winden, können nicht anfangen, diese Bewegungen zu imitieren, wenn sie das entsprechende Feeling nicht mehr haben. Eine Frage muß man sich stellen: Wo waren all der Nasen- und Rachenschleim, das Keuchen, das Würgen, alle diese einzigartigen Bewegungen in den vielen Jahren? Wie können diese konkreten physischen Begleiterscheinungen eines jahrzehntealten Traumas reproduziert werden? Wie kann sich der Rachen, die Nase, als Reaktion auf eine Geburtserinnerung jetzt mit Schleim füllen?

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Wir müssen verstehen, daß Verbindungen zwischen Nase und Rachen und dem Gehirn bestehen, und zwar in den sehr niedrigen Zentren der Nervenachse des Gehirns. Dort werden die alten Erinnerungen ausgelöst, die irgendwie Schleim produzieren. Es ist eine Reflexhandlung. Die Tassen voll Schleim, die während Primais ausgeschieden werden, sind buchstäblich unvorstellbar. Offensichtlich werden alle physischen Reaktionen, die das Trauma begleiteten, als Teil des Erinnerungsschaltkreises gespeichert. Deshalb wird ein Patient, der das Geburtstrauma einer Anoxie wiedererlebt, tatsächlich blau und ist unfähig, Atem zu holen. Die Lungen scheinen aufzuhören zu arbeiten, und der Patient hat die größten Schwierigkeiten zu atmen. Das kann nicht vorgetäuscht werden. Wenn Patienten außerhalb des Geburts-Feelings aufgefordert werden, dieselbe Art von Symptomen zu wiederholen, sind sie dazu nicht imstande.

Manche Patienten haben festgestellt, daß sie nach Geburts-Primals, bei denen es zu Schleimaus­scheidungen kam, nicht mehr jeden Morgen ihre Nase und ihre Kehle freizumachen brauchen. Die Verstopfung war auch nur ein Überbleibsel einer alten Erinnerung. Gewöhnlich ist den Patienten nicht bewußt, daß es sich um Erinnerungen handelt, bis die Symptome mit dem Wiedererleben der Vergangenheit verschwinden. Doch Geburts-Primals beseitigen nicht nur spezifische Symptome. Sie bringen auch ein allgemeines Gefühl des körperlichen und emotionalen Wohlbefindens zustande.

 

Ein Patient schrieb:

»Ein Freund sagte mir einmal voraus, ich würde durch die Primärtherapie gehen <wie ein glühender Pfeil>, und ich glaube, das hat sich zum Teil bewahrheitet. Aber obwohl ich meine Kindheitsschmerzen ungefähr ein Jahr lang rasch und wild fühlte, war das weitgehend ein Akt des Glaubens meinerseits. Denn die echte Erleichterung kam erst, als ich begann, Verknüpfungen mit meinem Geburtsschmerz der ersten Ebene herzustellen.

Ich fühle nun seit zweieinhalb Jahren, und ich bin froh, sagen zu können, daß ich nicht mehr so viele Primais brauche wie früher. Ich komme mit einem pro Woche aus, während ich früher zwei bis drei in der Woche und manchmal täglich eines brauchte. Das Gefühl des Wohlbefindens, das ich jetzt habe, ist ein totales Körpergefühl.

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Als ich nur Primals über Kindheitsschmerz hatte, fühlte ich nachher wohl eine gewisse emotionale Erleichterung, aber das Fühlen der Baby-Feelings begann erst, mir meinen Körper zurückzugeben. Mein Körper fühlt sich jetzt auf eine Weise entspannt, die zu erleben mir absolut unmöglich war, bevor ich mit der Therapie anfing. Dieses gute Gefühl kann gar nicht genug betont werden, weil es der einzige triftige Grund ist zurückzugehen und sich mit allen diesen schrecklichen ungefühlten Feelings, mit all diesen Traumata des frühen Lebens zu beschäftigen.«

 

Und ein anderer:

»Ich könnte weiter und immer weiter machen. Aber ich bin sehr glücklich, endlich meine Geburt wiedererlebt zu haben und all die Feelings zu fühlen, die mir mein Leben lang so viele Schwierigkeiten bereitet haben. Ich bin auch glücklich zu erkennen, daß ich, obwohl ich so viel durchgemacht habe, immer noch mein wahres Ich besitze. Ich bin ein guter und mutiger Mensch und ich mag mich selbst! Ich werde mich nie wieder jemandem ausliefern. Jetzt muß ich anfangen, daran zu arbeiten, meinen Gefühlen zu vertrauen und zu folgen, die so oft richtig sind. Ich habe mir einmal an einem Wochenende viele Scherereien eingehandelt, weil ich nicht dem folgte, was ich fühlte, und natürlich mußte ich mich nachher hinlegen und diese Feelings fühlen. Mir ist klar, daß ich das noch oft tun muß, bis die Verknüpfungen stark sind. Aber ich werde von Tag zu Tag klarer. Ich weiß, es ist nur eine Frage der Zeit und des Fühlens. Ich bin jetzt sehr optimistisch und habe das Gefühl, daß ich Gewalt über mein Leben habe und daraus machen kann, was ich will. Ich bin all den Therapeuten dankbar, die mir geholfen haben, und ich verdiene es auch selbst, daß man mir auf die Schulter klopft, denn ich habe in den vergangenen zwei Jahren eine Menge harte Arbeit geleistet, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin!«

*

Das Ziel der Primärtherapie ist es, die Leidenskomponente der verdrängten Erinnerung aufzuspüren. Diese Leidenskomponente wirkt auf anderen Nervenbahnen als die verbale Komponente, weshalb es manchmal möglich ist, sich weit an ein traumatisches Ereignis zurückzuerinnern und sich dennoch von der Erinnerung zu distanzieren. Aber die Leidenskomponente des verdrängten Traumas muß das Bewußtsein erreichen, um als verknüpftes Erlebnis freigesetzt zu werden.

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Wenn das geschieht, nimmt das Trauma nur noch eine Stelle als gespeicherte Information ein und wirkt nicht mehr als eine Kraft, gegen die der Körper ständig ankämpfen muß. Es ist nun zugängliche Information und nicht mehr zirkulierender Schmerz. Es bleibt in der Erinnerung, und man kann nach Belieben daran denken, denn das Leiden verläßt den Körper, nicht die Erinnerung.

Ich habe darauf hingewiesen, daß es für jede traumatische Erinnerung eine Abwehr gibt. Die Abwehren sind biologische Erfordernisse; sie entstehen, damit wir nicht von der Vergangenheit überwältigt werden. Die Änderung dieser Abwehren auf irgendeine künstliche Weise ohne Rücksicht auf die Anordnung des Schmerzes in Sequenzen ist gefährlich. Genauer gesagt: die Freisetzung der Leidenskomponente der Erinnerung durch tiefe Atmung, heiße Bäder, dadurch, daß man die Patienten Geburtshaltungen einnehmen läßt, etc. kann das Bewußtsein überfluten und es zwingen, sich in das Sonderbare und Mystische »auszudehnen«.

Man könnte wahrscheinlich keinen Computer konstruieren, der Schmerzen in der richtigen Reihenfolge von niedriger zu hoher Valenz abbauen würde. Das Ganze ähnelt mehr den Gestellen, in denen man Teller aufstapelt: nimmt man den obersten Teller weg, wird der ganze Stapel nachgeschoben. Zöge man aber einfach den untersten Teller heraus, so würde der ganze Stapel in Scherben auf dem Boden liegen.

Das Drama und die Kraft des Geburtsereignisses können für den Patienten und den Therapeuten verführerisch sein. Der Therapeut kann sich der Täuschung hingeben, daß er das Erlebnis produzierte — daß es in seinem Patienten dank seiner eigenen Kraft und Geschicklichkeit zustande kam. Das ist nicht wahr. Der Therapeut muß sich davor hüten, sich solche Kräfte zuzuschreiben. Die vergangene Geschichte des Patienten »schafft« vielmehr das Geburtstrauma. Der Therapeut ist nur Helfer und Lenker, wenn es wiedererlebt wird.

Beide, der Patient und der Therapeut möchten oft an magische und plötzliche Heilungen glauben und wenden sich daher dieser oder jener Technik zu. Letzten Endes gibt es aber keine Abkürzung zum Unbewußten und damit auch keine Abkürzung zum Bewußtsein.

Das Unbewußte bildete sich durch die langsame Ansammlung von Erlebnissen und Erfahrungen, und ebenso bildete sich das Bewußtsein: durch die langsame, folgerichtige Sondierung des Unbewußten. 

Es gibt kein einzelnes Primal, keine magische Verwandlung, keinen Durchbruch an einem Wochenende mit einer spontanen Genesung. Es gibt kein »Ausspeien der Mutter«, kein »Herausprügeln des Schmerzes« und dergleichen, das einen gesund macht. Es gibt nur das tägliche Wiedererleben dessen, was uns geschehen ist. Wir müssen unserer eigenen Entwicklung — auch der Entwicklung unseres Schmerzes — vertrauen, denn sie hat uns dahin gebracht, wo wir sind.

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