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Einführung

 Primärtherapie: Zwanzig Jahre danach

Janov 1991

 

Vor einigen Jahren hörte ich etwas, das den Verlauf meines Berufslebens und des Lebens meiner Patienten verändern sollte. Was ich hörte, ... (war) ein unheimlicher Schrei, der aus dem Tiefinneren eines jungen Menschen hervorbrach, der während einer therapeut­ischen Sitzung auf dem Fußboden lag. Ich kann den Schrei nur damit vergleichen, was man vielleicht von einem Menschen hören würde, der ermordet wird.   (Urschrei, 1970)

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Der Schrei, den ich vor zwanzig Jahren beschrieb, ist das Produkt unbewußter, universaler, ungreifbarer Wunden, welche die meisten von uns mit sich herumtragen und die anscheinend niemals heilen. Meine Prophezeiung war in der Tat richtig. Sie hat mein Leben und das Leben vieler tausend Patienten verändert. Dieser Schrei hat mich dazu gebracht, nach seinen Quellen zu suchen, und dabei bin ich in die Tiefen des Unbewußten vorgestoßen. Er hat Menschen aus dreißig Ländern angeregt, in meine Therapie zu kommen, und mir eine umfassendere Sicht auf das Menschsein verschafft.

Ich glaube, die Entdeckung des Schmerzes, der diesem Schrei zugrunde liegt, ist eine wichtige Entdeckung auf dem Gebiet der Psychologie, denn sie bedeutet letztlich das Ende großen menschlichen Leidens. Sie bedeutet, daß es einen Weg gibt, das Elend zu beseitigen, das so viele von uns Tag für Tag durchleben.

Nach zwei Jahrzehnten des Suchens und Forschens und nach der Behandlung Tausender von Patienten mit allen nur denkbaren psychologischen und physiologischen Beschwerden sind wir zu einer präzisen, berechenbaren Therapie gelangt, welche die Zeitspanne verringert, die man in Behandlung verbringt, und auf alle überflüssigen Schritte verzichtet. Es ist eine Therapie, die seit über fünfzehn Jahren von unabhängigen Wissenschaftlern untersucht wird, und deren Feststellungen stimmen überein. 

Die Primärtherapie ist in der Lage, eine Fülle von physischen und psychischen Beschwerden in relativ kurzer Zeit mit dauerhaften Ergebnissen zu lindern oder zu beseitigen. Sie kann fühlende Menschen hervorbringen, die in der Lage sind, jeden Aspekt ihrer selbst zu erfahren, deren Gehirne nicht in Fächer unterteilt sind, so daß ein Bereich nicht mehr weiß, was ein anderer erlebt — Individuen, bei denen Körper und Geist sich nicht länger fremd sind.

Ein Mensch, der fühlen kann, kann spüren, was in ihm liegt, und braucht sich nicht mehr selbst zu täuschen. Selbsttäuschung ist die sine qua non der Neurose. Sie erfordert, daß wir uns selbst belügen. »Dir selbst gegenüber sei wahrhaftig«, ist kaum das Motto des Neurotikers.

Dieses Buch handelt nicht nur von einer Psychotherapie. Es handelt von der conditio humana. Es handelt davon, wie man Neurosen entdeckt und wie man erkennt, was normal ist. Es handelt vom Weinen und seiner Rolle für die Gesundheit eines jeden von uns. Es handelt von Angst und Depression und davon, was sie wirklich sind. Es handelt von Verzweiflung und Hoffnung und dem lautlosen Schrei, der als Krankheit bekannt ist. Es handelt von der Bösartigkeit der Hoffnungs­losigkeit, vom Tumor der Depression, von zerbrochenen Träumen und gescheiterten Beziehungen. Es handelt von der Natur der Liebe. Und schließlich handelt es von wirklicher Intelligenz, nicht davon, wie man kultiviert, gebildet und gelehrt ist. Es handelt von der Fähigkeit, zu lieben und zu geben, zu überleben und ein Leben zu führen, das intelligent ist, ein Leben, das weder selbstzerstörerisch ist noch andere verletzt. Wie klug muß jemand sein, um zu wissen, daß man weinende Kinder aufheben und trösten sollte?

Die Schmerzen, die jenem Schrei zugrunde lagen, den ich vor so langer Zeit hörte, waren das, was ich als Urschmerzen bezeichne; sie stammen aus allen möglichen Quellen im frühen Leben — Operationen, physischer Mißbrauch oder schlichte Vernachlässigung. Das zentrale Element dieser Schmerzen liegt im Mangel an Liebe. Entscheidend ist, daß das Ereignis, das sie ausgelöst hat, mehr Schmerzen enthält, als damals integriert werden konnten. Darum war es nötig, einen guten Teil davon zu verdrängen und zu späterer Verwendung zu speichern.

Urschmerzen rühren nicht nur von diesem Mangel an Liebe her, sondern auch von jenen Augenblicken oder Szenen, in denen einem Kind offenbar wird, daß es nicht geliebt wird und nicht geliebt werden wird. Sie entstehen, wenn es für einen kurzen und vergessenen Moment von der Erkenntnis erschüttert wird, daß es nicht sein kann, was es ist, und doch geliebt werden kann. Dieser Augenblick und andere Augenblicke ebenso monumentaler Hoffnungs­losigkeit erzeugen die Urschmerzen. Dann kämpft das Kind mit aller Kraft darum, so zu sein, wie seine Eltern es haben möchten. Es schiebt den Schmerz weg, oder vielmehr wird der Schmerz ihm durch unser wundersames Verdrängungs­system automatisch abgenommen.

Die Verdrängung erzeugt wirkungsvoll zwei Selbsts, die miteinander im Krieg liegen: das reale Selbst, beladen mit Bedürfnissen und Schmerz, und das irreale Selbst, das Selbst, das die Berührung mit dem anderen Selbst verloren hat, das noch in der Lage war, die Außenwelt zu bewältigen. Das irreale Selbst hat die Funktion, das reale Selbst davon abzuhalten, sein Gesicht zu zeigen. 

Die beste Art, das zu erreichen, scheint darin zu bestehen, daß das irreale Selbst in bezug auf seine eigene Geschichte unwissend bleibt. Deshalb denke ich, daß Neurotiker ahistorische Wesen sind. Der Schmerz hat sie ihrer Vergangenheit beraubt.

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Die Hauptquelle dieses Schmerzes ist längere, unerfüllte Bedürftigkeit früh im Leben. Zu einem bestimmten Schlüsselzeitpunkt werden unerfüllte Bedürfnisse nach Liebe, Obhut und Schutz zu Schmerz, der wiederum Verdrängung erfordert. Nach der Spaltung fährt das irreale Selbst fort, auf der Grundlage dieser Bedürfnisse auszuagieren. Ich bezeichne dieses Programm als »symbolisches Ausagieren«, weil dabei versucht wird, auf symbolische Art und Weise Erfüllung zu erreichen. 

Das ist das Wesen der Neurose. Alte Schmerzen werden verdrängt und dann auf eine Art und Weise ausagiert, die irreal und rein symbolisch ist.

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Wir haben einen Weg gefunden, diesen Prozeß umzukehren, indem wir die Patienten zurückgehen und die ursprüngliche überwältigende Szene, das Gefühl oder das Bedürfnis im Laufe der Zeit Stückchen für Stückchen noch einmal erleben lassen, bis all das schließlich gelöst wird und aus dem System verschwindet. Patienten können den neurotischen Entwicklungsprozeß umkehren und damit tatsächlich auch eine Geschichte, die bis zu ihrer Geburt zurückreicht. Was wir gefunden haben, ist die Möglichkeit, mit dem Vehikel der Gefühle durch die Jahre zurückzufahren zu jenen traumatischen Wegstellen, an denen unsere Entwicklung verzögert wurde.

Wenn Menschen dies tun, gibt es vorhersagbare Veränderungen, die wir im Laufe der Jahre messen können. Hirnfunktion und Hirnstruktur verändern sich, Blutdruck und Herzschlag verringern sich, und auch zahlreiche Hormone unterliegen Veränderungen. Noch wichtiger ist, daß unsere jüngeren Forschungen auf eine signifikante Veränderung im Immunsystem jener hindeuten, die Schmerzen noch einmal erleben. Dies mag durchaus Folgen für die Behandlung katastrophaler Erkrankungen wie Krebs haben.

Wir wissen jetzt eine Menge über den Schmerz und darüber, wie durchdringend er ist, sogar bei Menschen, die nie glauben würden, daß er in ihnen beschlossen liegt. Wir wissen auch mehr über den Vorgang der Verdrängung und darüber, wie und wo er am Werk ist. Die Wissenschaft hat sich in den letzten zwanzig Jahren fortbewegt und mit ihr auch die Primärtherapie. So können wir sehen, wie neueste Entdeckungen auf dem Gebiet von Hirnforschung und Immunologie und aus der Untersuchung von Schmerz, Verdrängung, Endorphinen, Weinen und Krebs mit unserer Arbeit zusammen­hängen.

Was früher Hypothesen waren, sind heute feststehende Tatsachen. Was eine Vermutung war, ist jetzt nach­weisbar. Aus einer ziemlich allgemeinen Theorie ist inzwischen eine detaillierte Struktur geworden, die uns gestattet, den Therapie­verlauf bei unseren Patienten zu steuern und mit einiger Genauigkeit vorher­zusagen. Das bedeutet, daß es für viele einen Ausweg aus Schmerz und Neurose, einen Ausweg aus Migräne­anfällen, Magen­geschwüren, Kolitis, Phobien und ständig zerbrechenden Beziehungen gibt. 

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Es bedeutet, daß Neurose und ihre Behandlung meßbare Gebilde sind, daß Fortschritt quantifizierbar ist, daß Psychotherapie jetzt in das Reich streng wissenschaftlicher Methoden eingebracht werden kann. Sie ist nicht länger nur eine Kunstform. Die Techniken sind vorhanden, um seelische Krankheit zu behandeln, und dabei spielt der Therapeut keine Rolle. 

 

Die Haupttodesursache in der heutigen Welt ist weder Krebs noch Herzkrankheit. Es ist die Verdrängung. Die Unbewußtheit ist die wirkliche Gefahr und die Neurose der versteckte Mörder. Meine jahrzehntelange Praxis hat mich immer mehr von dieser Tatsache überzeugt. Die Verdrängung — eine heimliche, versteckte, ungreifbare Kraft — wirft viele von uns um. Sie tut das in so vielen verdeckten Formen — Krebs, Diabetes, Kolitis —, daß wir sie nie nackt als das sehen, was sie ist. Das ist ihre Natur — teuflisch, komplex, abstrus. Sie durchdringt alles, und doch wird sie überall geleugnet, weil ihr Mechanismus darin besteht, die Wahrheit zu verbergen. Verleugnung ist die unvermeidliche Konsequenz ihrer Struktur.

Es gibt fast keine Krankheit, seelisch oder physisch, ohne Verdrängung. Eine der Arten, wie wir die Wahrheit dieser Aussage feststellen können, ist die Umkehrung der Krankheit, indem wir die Patienten zu ihrem Schmerz führen und den Deckel der Verdrängung abheben. Später werden wir sehen, wie es in der Forschung möglich ist, viele Krankheiten einfach dadurch rückgängig zu machen, daß man Chemikalien injiziert, die den Verdrängungsprozeß umkehren. Wir können beispielsweise das Werk der Verdrängung beim Bluthochdruck sehen. Wenn wir die Patienten zu ihrem frühen Schmerz zurückführen, steigt der Blutdruck enorm an; wenn sie diesen Schmerz erneut durchlebt haben, sinkt der Blutdruck signifikant ab.

Was verdrängt wird, sind im großen und ganzen Bedürfnisse und Gefühle. Deshalb erlaubt das Empfinden frühen Schmerzes durch Schwächung der Verdrängung dem Menschen, wieder zu fühlen. Das bringt ihm die Sinnhaftigkeit zurück und erlaubt ihm endlich, die Freude, Schönheit und Buntheit des Lebens zu erfahren. Es bedeutet die Vereinigung der beiden Selbsts und macht den Menschen organisch, integriert und ganz. 

 

Wir werden in diesem Buch lernen, warum Gefühle von herausragender Bedeutung sind. Sie beseitigen nicht nur die Symptome, sondern auch den Kampf um symbolische Erfüllung. Das wirkliche Selbst taucht auf, und die Suche nach dem eigenen Ich ist beendet. Das reale Selbst ist innerhalb des Schmerzes gefunden worden. Die Prinzipien, die den Urschmerz und die Primärtherapie betreffen, haben sich in mehr als zwanzig Jahren nicht verändert. Alles andere aber hat sich verändert. Ich denke, der größte Wandel ist die Berechenbarkeit der Behandlung. 

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Am Anfang hatten wir nicht genügend Erfahrung mit einem breiten Patientenspektrum, um zu wissen, was geschehen würde, außer auf eher allgemeine Weise, wenn wir den Schmerz angriffen. Jetzt wissen wir nicht nur, was geschehen wird, sondern auch, auf welcher Bewußtseinsebene der Patient sich betätigt. Dies gibt uns Aufschluß darüber, was von den folgenden Sitzungen zu erwarten ist. Die Bewußtseinsebenen, die ich vor einigen Jahren entdeckte, sind von einer Reihe von Forschern bestätigt worden. Es handelt sich dabei um etwas, das wir dauernd sehen — drei deutlich unterschiedene Bewußtseinsebenen, die bestimmen, welche Art von Symptomen die Person hat und welche Art von Verhalten zu erwarten ist. Im Kapitel über die Psyche werden wir mehr über diese Ebenen und ihre Funktionsweise erfahren.

Die Patienten gehen heute tiefer in das Unbewußte als früher, und wir wissen viel mehr über dieses Unbewußte und darüber, wie gefährlich oder freundlich es ist. Wir wissen, welche frühen Schmerzen zu gefährlich sind, um sie zu fühlen, und welche nicht. Wir wissen, wie man Patienten in Bereiche lenkt, von denen sie nicht überwältigt werden. Unsere heutigen Techniken sind um Lichtjahre weiter als vor Jahrzehnten. Neue Informationen über Endorphine haben uns im Bereich des Schmerzes vieles erklärt, und ich hoffe, davon werden auch die Leser dieses Buches profitieren.

Als ich anfing, wurde uns gesagt, eine Person könne unmöglich ihre eigene Geburt noch einmal durchleben, weil das Nerven­system zu diesem Zeitpunkt noch nicht reif genug gewesen sei, um brauchbare Erinnerungen aufzuzeichnen. Aufgrund dieser Fehlinformation habe ich das Ereignis der Geburt jahrelang außer acht gelassen. Wir wissen jetzt, daß das Geburtstrauma tatsächlich im Nervensystem kodiert und gespeichert ist. 

Um meine Entdeckungen herum hat sich eine ganze Schar von »Wieder­geburtlern« gebildet und betreibt die gefährlichste Art von Scharlatanerie.

Mit Sicherheit wissen wir heute mehr darüber, wie frühe Geschehnisse sich uns tatsächlich einprägen; ich werde dieses Thema ausführlich erörtern. Die frühe Umgebung und der Einfluß des frühen Geschehens verlassen uns nämlich nie mehr. Sie bleiben zeitlebens in unser System eingespeichert. Zum Glück haben wir eine Methode vervollkommnet, diese Prägungen zu verändern — Prägungen, welche die Funktion zahlreicher Organsysteme ernsthaft beeinträchtigen.

Nachdem ich jede denkbare Form sexueller Abweichung gesehen habe, bin ich nun auch in der Lage, das zu diskutieren, was hinter sexuellen Störungen liegt. 

Wir werden sehen, daß tiefgreifende Sexualprobleme der Sexualerziehung und -fehlerziehung oft zeitlich vorangehen und daß die Lösung dieser Probleme sich aus der Bewältigung dieser sehr frühen Ereignisse ergibt, die ihrer Natur nach nichts mit Sex zu tun haben. 

Das soll nicht heißen, daß schlechte Sexualerziehung nicht zu den Problemen beiträgt. Es gibt jedoch andere, nie zuvor berücksichtigte Kräfte, die eine Rolle spielen.

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Fast jede Arbeit über Streß diskutiert das Thema in Begriffen der Gegenwart: Ehestreß, Berufsstreß etc. Was ich hier erörtern werde, ist ein Streßfaktor, der uns eingeprägt ist, uns nie verläßt und uns ständig unter enormen Druck setzt. Ganz gleich, wie ruhig die Umgebung ist, in der wir leben, diese Art von Streß richtet Verwüstungen an. Sie bringt uns weit vor der Zeit um, und deshalb ist es so wichtig, daß wir sie verstehen. Dies gilt um so mehr, als nur wenige von uns sich ihrer Existenz oder ihrer Macht bewußt sind. Sie hat die Wucht eines Vorschlag­hammers, den wir nicht erkennen, und zwar aufgrund von Verdrängung.

Zusammengefaßt lauteten die vier grundlegenden Prinzipien, die ich in meinem ersten Buch umriß, folgendermaßen:

  1. Schmerz liegt im Kern seelischer und körperlicher Krankheit — Schmerz, der von Traumata und uner­füll­ten Bedürfnissen herrührt.

  2. Es gibt drei verschiedene Bewußtseinsebenen, die mit diesem Schmerz umgehen.

  3. Frühe Traumata hinterlassen im System eine dauerhafte Prägung.

  4. Es ist möglich, diese eingeprägten Erinnerungen erneut zu durchleben und Neurose und physische Krank­heit aufzulösen.

 

Das vorliegende Buch handelt davon, was mit diesen ursprünglichen Entdeckungen geschehen ist, manchmal mit den Worten meiner Patienten, manchmal mit meinen eigenen. Ich habe es schon früher gesagt: Neurose ist eine Krankheit des Fühlens. Fühlen ist das Problem der heutigen Zeit. Wieder und wieder begegnen wir Leuten, die nicht fühlen, die dem Leben nicht viel abgewinnen können und glauben, die ganze Existenz sei grau und langweilig. Für sie trifft das auch zu, denn ihr verdrängter Schmerz hält sie in ständiger Suche nach Magie, nach einem Glaubenssystem, das ihr Leben automatisch in etwas Sinnvolles verwandeln wird. Das Beste, was ich anbieten kann, ist, jemanden in sich selbst zu verwandeln. Ich glaube nicht, daß in diesem Leben mehr zu haben ist. Es gibt nichts, das besser heilt und Krankheiten verhütet, als das Fühlen.

Auf den folgenden Seiten werden wir eine Reise ins Unbewußte antreten. Wir werden jene unterirdischen Gänge untersuchen, die uns aus der Dunkelheit und zu Wohlbefinden und Gesundheit führen. Wir wissen, daß es einen Weg gibt, Krankheit zu verstehen und zu verhüten. Unser Ansatz ist eine radikale Abwendung von der konventionellen Psychotherapie und keine Fünfzig-Minuten-Stunde mehr. Gefühle bestimmen, wie lange die Therapie dauert. Die Macht liegt nicht mehr in den Händen des Arztes. Der Patient, der fühlt, weiß immer mehr als der Arzt über sich selbst und darüber, was therapeutisch für ihn am besten ist. Es geht nicht mehr um von weisen Männern dominierte Einsichten. Die Einsichten stammen von dem Patienten, der fühlt.

Wir sind uns bewußt, daß Neurose nicht durch Mangel an Einsichten verursacht und auch nicht dadurch gelöst wird, indem man diese Einsichten herbeiführt.

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Unser Ansatz besteht nicht darin, die Abwehrmechanismen zu stärken oder ein »Ego« aufzubauen. Die Therapie beinhaltet vielmehr die Durch­dringung der Abwehrmechanismen. Nur zu oft verwechseln wir ein starkes Abwehrsystem mit Normal-Sein. Im Gegenteil, ein starkes Abwehrsystem bedeutet eine potente Neurose, die gut abgespalten, aber dennoch vorhanden ist.

Der Widerspruch liegt darin, daß der starke, gut abgekapselte Neurotiker in seiner Gesellschaft oft überaus erfolgreich funktioniert. Bis er mit siebenund­fünfzig einen Herzinfarkt erleidet, wirkt er »wohlauf«. Die verborgenen Kräfte brauchen Zeit, um ihren Schaden anzurichten. Diejenigen, die sich ihres frühen Schmerzes entledigen, sind ebenfalls produktiv, und zwar auf gute und effiziente Weise. Aber sie sind nicht mehr getrieben; Arbeit ist für sie keine Entladung von Spannung mehr. Sie ist etwas Positives. Der Neurotiker ist produktiv und hält sich beschäftigt, um seine Vergangenheit daran zu hindern, störend in die Gegenwart einzudringen. Um der Gesundheit willen besteht unsere Aufgabe jedoch eher darin, uns in unsere Geschichte zu stürzen, an die Quelle unserer Probleme zu gehen, statt unser ganzes Leben damit zu verbringen, sie zu lindern.

Die Primärtherapie unterscheidet sich von anderen Therapien insofern, als wir uns nicht darum bemühen, die Abwehr­mecha­nismen zu stärken, damit die Leute funktionieren können. Wir betrachten Abwehr­mechanismen als abnorm und als Zeichen von Pathologie. Das soll nicht heißen, daß sie keine Funktion hätten. Sie haben durchaus eine Funktion und sind überaus wichtig, wenn der frühe Schmerz so überwältigend ist, daß er die Integrität des Systems bedroht. Doch sie sind auch ein Bollwerk gegen das reale Selbst. Wir streben danach, Menschen real zu machen, nicht unseren eigenen Vorurteilen entsprechend, sondern der Realität folgend, die in jedem einzelnen von uns vorhanden ist. Tränen tragen dazu bei, die Grenzen des Unbewußten aufzulösen. Deshalb glaube ich, daß eine Therapie ohne Tränen, eine Neurose ohne Fühlen, in der Tat niemals wirksam sein kann.

Wir wissen, was im Unbewußten liegt. Nachdem wir zu seinen Antipoden hinabgestiegen sind, sehen wir, daß es nicht von Es-Kräften, Dämonen oder geheimnisvollen Schattenmächten bewohnt ist. Tatsächlich hat es nichts Mystisches an sich. Es ist die Lagerstätte der schweren Traumata unseres Lebens, nicht mehr und nicht weniger. Unsere Aufgabe besteht darin, das Unbewußte bewußt zu machen. Danach ist nicht mehr viel zu tun. Wir brauchen keinen besonderen Fachjargon und keine esoterischen Diagnose­kriterien, um Menschen zu beschreiben, die einfach nicht geliebt wurden, die in ihrem Leben sehr wenig bekamen und die leiden. Besser ist es, wenn man beschreibt, woher dieses Leid kommt, welche Grundbedürfnisse erfüllt werden müssen. Vor allem anderen wollen wir lernen, wie man Leid lindert. Alles andere ist für mich belanglos.

Es erfordert ziemlich viel Zeit, eine Neurose zu lösen. Sie ist im Laufe von Jahren langsam und stetig gewachsen und läßt sich nicht durch irgendwelche magischen Seminare oder Wochenendvorträge beseitigen. Wir gleiten ohne ein Wimmern in die Neurose und entwickeln Symptome, die geheimnisvoll wirken. Nichts Dramatischeres scheint geschehen zu sein, aber plötzlich sind wir krank. Unsere eigene Realität hat uns umgeworfen. Unser Schmerz ist schließlich greifbar, unsere Selbsttäuschung verheerend geworden.

Weil die Primärtherapie mein Leben und das Leben Tausender von Individuen verändert hat, hoffe ich, daß die Bekanntschaft mit ihr auch für diejenigen etwas verändert wird, die dieses Buch lesen. Während Wissenschaftler über die letzten Beweise für die Ursache dieser oder jener Krankheit nachgrübeln, gibt es viele, die an jedem Tag ihres Lebens unsägliche Qualen erleiden. 

Forschung ist eine Notwendigkeit für Wissen­schaft­ler, aber ein Luxus für die leidende Menschheit, die nicht auf endgültige statistische Beweise warten kann. Für diese Menschen kann das Warten eine tödliche Krankheit sein. Wir brauchen nicht zu warten, um zu fühlen. Wir haben Mittel, Leuten zu helfen, fühlende menschliche Wesen zu werden. Unsere Gefühle haben auf ihre Chance gewartet. Machen wir uns selbst dieses Geschenk.

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Arthur Janov

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