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Teil 1   Warum wir krank werden  

 Arthur Janov 1991

1  Die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse

 

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Die Welt hat einen Nervenzusammenbruch. Die Menschen sind reizbar, aggressiv, angespannt und ängst­lich. Die Neurose ist auf dem Vormarsch. Sie galoppiert in vollem Tempo voran, und keiner scheint zu wissen, was sich abspielt oder warum. 

Vor allem scheint niemand zu wissen, wie man diesen unerbitt­lichen Marsch in die Zerstörung aufhalten kann. Jahr um Jahr gibt es mehr Krank­heiten, mehr Selbstmorde, mehr Gewalt, mehr Alkohol­ismus und Drogensucht. Die Welt fällt an den Rändern auseinander. Valium ist der Leim, der sie zusamm­en­hält.

Im vorliegenden Buch werde ich mich mit dieser Massenneurose befassen, um zu sehen, ob wir feststellen können, warum wir und unsere Freunde emotional zusammen­brechen, warum wir krank, unglücklich und depressiv sind, warum die Gesellschaft so gefühl­los und gleichgültig wirkt.

Ich werde Argumente für das anführen, was ich für die Heilung von der Neurose halte. Um das tun zu können, werden wir die Bausteine unter­suchen müssen, welche die Grundstruktur der Neurose bilden. Später werde ich über die Amöbe Alvin und ihr »psychologisches« Verhalten sprechen. 

Außerdem werde ich das an eine Lokomotive erinnernde Atmen eines Mannes diskutieren, der bei der Geburt an Sauerstoffmangel litt. Das volle Verständnis dieser beiden Faktoren wird wesentlich zur Erhellung dessen beitragen, worum es bei der menschlichen Neurose geht.

Das Substrat der Neurose wird immer zum grundlegenden Bedürfnis zurückkehren. Wir werden dem unerfüllt­en Bedürfnis nachspüren, wie es sich seinen Weg durch das Labyrinth des Körpers bahnt, sich dabei verkleidet und verwandelt, zuerst in Schmerz, dann aufgrund von Verdrängung in Phobien, Zwänge, Depression, Bluthoch­druck, Spannung, Angst und, ja, sogar Krebs. Wir werden den Exodus des unerfüllten Bedürfnisses verfolgen, wenn es sich aus einem einfachen Kindheits­zustand in deformiertes erwachsenes Verhalten verwandelt, einschließlich Perversionen, Fehlwahrnehmungen und paranoider Ideen.

Unsere Suche wird methodisch, systematisch, unermüdlich und schließlich, wie ich hoffe, lohnend sein. Wir werden unser Streben nicht aufgeben, bis die Natur der Neurose aufgedeckt und, was wichtiger ist, bis die Natur der Heilung verstanden ist. Wenn wir das Fühlen von Bedürfnissen verfolgen, werden wir unaus­weich­lich auf dem Friedhof der Neurose landen, wo der Kindheitsschmerz zuletzt begraben liegt. Betrachten wir zuerst die grundlegenden Bedürfnisse.

Es scheint, als vermißten wir alle etwas und bemühten uns, das zu bekommen, was wir verpaßt zu haben glauben. Was wir zu wollen scheinen, ist einfach »mehr«. So viele von uns suchen nach einem Ausweg und sind verloren und von der Welt verwirrt. Es scheint, daß emotionale Entbehrung ein Erbe geworden ist, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Das Erbe emotionaler Entbehrung scheint aus irgendeinem Grunde sicherer und unentrinnbarer als das Erbe der Augenfarbe oder der Mundform.

Man fragt sich, warum eine Generation die emotionalen und physischen Bedürfnisse ihrer Nachkommenschaft nicht erfüllen kann. Warum wird die Entbehrung, die sie selbst erlitten hat, an die eigenen Kinder weitergegeben, Teil eines Zyklus, der zweifellos schon vor der Zeit unserer Großeltern begann? Unsere Großeltern, von denen viele im vorigen Jahrhundert oder am Anfang dieses Jahrhunderts geboren wurden, litten nicht nur selbst unter emotionalen Entbehrungen, sondern hatten auch nur ein begrenztes Verständnis für die Bedürfnisse von Kindern. Es war noch nicht allgemein bekannt, daß kleine Kinder viel getragen und liebkost werden müssen, und auch nicht, daß Kinder Gefühle haben, die nach Ausdruck verlangen. Man erwartete vielmehr von Kindern, daß sie sich artig betrugen und gehorchten. Gefühle waren das letzte, das man verstanden oder respektiert hätte.

 

   Unsere Bedürfnisse und ihre Erfüllung  

Noch heute herrscht Verwirrung in bezug auf unsere Bedürfnisse und die Art, nach ihrer Erfüllung zu streben. Die Folge dieser Verwirrung sind Unglück, Frustration und ein wachsender Pessimismus. Nur zu oft hegen wir zynische Gefühle gegeneinander, bis wir zu einer aggressiven Gruppe von Misanthropen werden. Unsere Bedürfnisse sind von klein an vernachlässigt worden, nicht nur durch eine lieblose Gesellschaft, in der jeder sich nur um sich selbst kümmert, sondern durch Eltern, die noch immer nicht wissen, was Kinder brauchen, um richtig aufzuwachsen. Eltern scheinen nur Disziplin und Kampf zu kennen. Sie wollen Kinder mit Charakter, aber was sie bekommen, sind Neurotiker. Das ist die Schuld von allen und keinem. Es scheint Teil der conditio humana zu sein. Aber so ist es nicht. Ich denke, wir müssen mehr über die Bedürfnisse und den Schmerz erfahren, zu dem es kommt, wenn sie nicht erfüllt werden.

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Wir alle werden als Masse von Bedürfnissen in diese Welt hineingeboren. Die Anfänge unseres Lebens werden vollkommen beherrscht von Bedürfnissen, die fest in unserem System »verdrahtet« sind. Unsere ersten Bedürfnisse sind rein physische — nach Nahrung, Sicherheit und Behaglichkeit. Später haben wir emotionale Bedürfnisse nach Zuneigung, Verständnis und Respekt vor unseren Gefühlen. Schließlich tauchen intellektuelle Bedürfnisse nach Wissen und Verstehen auf. Die Rolle der Liebe ist entscheidend. Liebe ist eine wesentliche Qualität bei der Erfüllung von Bedürfnissen auf jeder Entwicklungsebene, und sie ist in der Befriedigung aller Bedürfnisse enthalten. Wenn ein Mensch einem anderen Bedürfnisse erfüllt, darf das keine mechanische Übung sein, sondern muß in echtem Gefühl wurzeln. 

 

    Liebe: Ein grundlegender Faktor bei allen Bedürfnissen  

 

Vor allem anderen besteht ein durchdringendes Bedürfnis, geliebt zu werden. Wenn wir Kinder sind, muß jedes neue Bedürfnis in unserer Entwicklung erfüllt werden, damit wir uns geliebt fühlen. Liebe ist nicht etwas, das über der Befriedigung von Bedürfnissen steht, sondern in dieser Befriedigung enthalten ist. Das ist es, was Liebe für ein Kind bedeutet. Liebe besteht nicht einfach aus Worten, die wir zu einem Kind sagen, etwa wenn wir äußern: »Du weißt, daß wir dich lieben«, während wir ihm gleichzeitig wirkliche Liebe vorenthalten, indem wir das Kind nicht berühren. Liebe bedeutet zuerst einmal das Verständnis dieser Bedürfnisse und dann ihre Erfüllung.

Sehr früh im Leben, solange wir noch im Mutterschoß sind, bedeutet Liebe, daß der Mutter genug an ihrem Baby liegt, um sich richtig zu ernähren, um den Streß in ihrem Leben zu verringern, um weder zu rauchen noch zu trinken und ein möglichst gesundes Leben zu führen. Schon vor der Empfängnis eines Kindes bedeutet Liebe, daß sie sich auf das Baby vorbereitet, daß die Geburt eines Kindes wirklich etwas ist, das sie will und plant, kein Unfall, der sie enttäuscht. Ihre Enttäuschung, falls sie existiert, wird einen Weg in das System das Babys finden und Verheerungen anrichten. Liebe bedeutet, daß sie aus den richtigen Gründen ein Baby bekommt, daß es jemand ist, den sie lieben und dem sie etwas geben kann, kein Objekt, das sie benutzt, um eine Ehe zusammen­zuhalten, oder das sie aus einem anderen irrealen Grund hervorbringt.

Liebe bedeutet eine angemessene Geburt, eine Geburt ohne Drogen, wo immer das möglich ist, eine natürliche Geburt, die dem Baby jede Chance im Leben gibt. Eine Mutter kann nicht ihr Baby lieben, wissen, wie schädlich Betäubungsmittel sind, und sich dann mit Medikamenten vollstopfen, um die Entbindung leichter zu machen. 

Ein Baby wird auch dann nicht geliebt, wenn es sich nicht auf natürliche Weise entwickeln darf, sondern nach dem Zeitplan eines Arztes durch Kaiserschnitt auf die Welt gebracht wird.

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Liebe bedeutet, daß das Kind gleich nach der Geburt bei seiner Mutter ist und nicht allein gelassen wird, wo es sich erschreckt, einsam und entfremdet fühlt. Diese Minuten und Stunden nach der Geburt sind entscheidend wichtig für die normale Entwicklung. Das Baby muß häufigen physischen Kontakt mit seinen Eltern haben. Ein großer Teil des Gehirns ist für Berührung zuständig; sie ist also eindeutig wichtig. Es ist unvorstellbar, ein Kind zu lieben und es dann unmittelbar nach der Geburt einer Schwester oder einem Kindermädchen zu überlassen.

Die Berührung, die es empfängt, muß liebevoll, fürsorglich und zärtlich sein, nicht etwas, das von einer bezahlten Angestellten oberflächlich, grob und hastig erledigt wird. Berührung ist im frühen Leben von entscheid­ender Wichtigkeit. Wenn es nicht genug davon bekommt, wird das Baby für den Rest seines Lebens unter diesem Mangel leiden. Wenn die Mutter angespannt ist und nie begriffen hat, wie bedürftig ein Baby ist, wird sie ungeduldig sein. Wenn der Vater mehrmals in der Nacht für das Baby aufsteht und dann morgens zur Arbeit gehen muß, wird er vielleicht reizbar. Er ist oft unfähig, die Art von Vater zu sein, die das Baby braucht. Ein Baby versteht Vaters Arbeit nicht; es versteht nur seine eigenen Bedürfnisse.

 

  Emotionale Bedürfnisse des sich entwickelnden Kindes  

 

Bei seiner Entwicklung muß das Kind es selbst sein dürfen. Das bedeutet, daß sich das Tempo nach ihm richtet und nach niemandem sonst. Das Kind muß gehen und sprechen, wenn es ihm gemäß ist, und nicht, wenn ein Elternteil, der ein kluges, fortgeschrittenes Kind braucht, dies für richtig hält. Das Kind kann nicht geliebt werden, wenn es gezwungen wird, schneller als in seinem eigenen Tempo zu lernen.

Nach einer Weile hat das Kind eine neue Gruppe von emotionalen Bedürfnissen, die über die physischen hinausgehen. Es braucht nicht nur Berührung, wie für den Rest seines Lebens, sondern auch Freiheit, seine Gefühle zu äußern — wütend zu sein, negativ zu sein, »nein« zu sagen und nicht sofort gehorchen zu müssen, wenn jemand ihm einen Befehl erteilt. Kurz gesagt, seine Gefühle müssen respektiert werden. Es muß ihm gestattet sein, nicht nur Zuneigung zu empfangen, sondern, was ebenso wichtig ist, sie auch zu geben. Es muß spontan umarmen und küssen dürfen, ohne beiseite geschoben zu werden. Eine gute Geburt und viel körperliche Zuwendung bringen dem Kind große Vorteile im Sinne des Schmerzvermeidens und späteren Normalseins.

Zu den emotionalen Bedürfnissen eines Kindes gehört auch die Möglichkeit, über Gefühle den Eltern gegenüber ohne Angst vor Mißbilligung oder Verdammung sprechen zu können. Ein Kind muß sagen dürfen »Ich habe Angst«, ohne beschämt zu werden. 

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Es muß sagen dürfen »Ich mag Onkel Hans nicht«, ohne daß man es wegen seiner Gefühle bestraft. Wenn einem Kind diese Dinge nicht erlaubt sind, lernt es, sich nicht zu äußern, alles in sich zu verschließen, bis es den Zugang zu seinen wahren Gefühlen verliert.

Das kleine Kind ist seiner Umgebung gegenüber sehr sensibel. Es braucht nicht viel, um seine natürlichen Bestrebungen zu verändern. Es lernt, bevor es spricht. Es kann verstehen, daß es nicht jedesmal, wenn es das will, auf Vaters Schoß klettern oder Mutters Beine packen kann. Es braucht nur ein oder zwei strenge Verweise, um diese natürlichen Tendenzen abzulenken. Bald lernt es, physische Liebe für irgendeine Art von Billigung von seilen seiner Eltern aufzugeben. Es lernt, daß es nicht geliebt werden kann, wann es das will, sondern nur, wenn seine Eltern beschließen, ihm Liebe zu gewähren.

Es lernt auch, nicht um das zu bitten, was es will. Wenn ein Elternteil es nötig hat, sich wichtig oder klug zu fühlen, wird das Kind zur Dienstbarkeit gezwungen. So wird der Vater, der alles wissen muß, es nicht ertragen, von seinen Kindern heraus­gefordert zu werden. Sie werden bald klein beigeben. Sie werden bald lernen, ihn nur anzusprechen, wenn er das Bedürfnis hat, angesprochen und gehört zu werden, ein Bedürfnis, das seinen Ursprung in seiner eigenen Kindheit hat.

Kinder lernen instinktiv, was sie brauchen, um im Leben zurechtzukommen. Das ist eine automatische Reaktion. Die depressive Mutter macht das Kind zu jemandem, der sie aufheitern muß, weil es eine normale, glückliche, lächelnde Mutter braucht. Ich muß betonen: Was immer schiefläuft, das Kind, das keinen Bezugsrahmen hat, dessen Eltern für es die Welt sind, denkt, es sei seine Schuld. Es kämpft darum, seine Eltern zu dem zu machen, wozu deren eigene Eltern sie nicht machen konnten — zu geliebten menschlichen Wesen. Es bemüht sich, ihnen das Gefühl zu geben, wichtig, erwünscht, respektiert, attraktiv, geliebt oder klug zu sein, was immer sie brauchen. Wenn der Elternteil als Kind nie Freunde gewinnen konnte, dann wird sein eigenes Kind sein Freund sein müssen.

Ein Kind braucht nicht nur das, was auf der Hand liegt — Obdach, richtige Ernährung und medizinische Versorgung —, sondern auch Stabilität, Routine und eine ruhige Umgebung. Zwei Eltern, die sich dauernd streiten, beeinträchtigen natürlich die Erfüllung dieser Bedürfnisse. Etwas für sein Kind zu empfinden bedeutet nicht nur Füttern, Kleiden und Obdach geben, was zu viele Eltern als summum bonum der Kindererziehung ansehen. Es besteht vielmehr darin, dem Kind das Gefühl zu geben, daß es erwünscht, geliebt und um seiner selbst willen akzeptiert ist. Wenn ein Elternteil sagt, er habe hart gearbeitet, um die Familie zu versorgen, und sie dabei ignoriert, dann hat er wahrscheinlich alles getan, nur nicht das gegeben, was zur Kindererziehung wesentlich ist — Liebe. 

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Wie viele von uns hätten sich mit einer etwas weniger eleganten Behausung und weniger Schnitzeln auf dem Tisch begnügt, wenn wir dafür das Gefühl totaler Zuneigung hätten bekommen können?

Das Kind hat auch das Bedürfnis, als Person verstanden zu werden. Das bedeutet, daß sowohl seine Fehler als auch seine Vorzüge ehrlich anerkannt werden müssen. Wenn es Lernschwächen hat, müssen die Eltern das akzeptieren und das Kind nicht antreiben, um so selbst in einem guten Licht dazustehen. Es bedeutet, daß die Wünsche, Interessen und Wahlen des Kindes respektiert werden müssen. Ein zartes Kind wird kein Footballspieler werden, und ein kleines Mädchen kann nicht der Junge sein, den Papa sich gewünscht hatte. Liebe bedeutet, dem Kind zuzuhören und nicht wegzulaufen, wenn es etwas zu sagen hat. Sie bedeutet, es in dem zu unterstützen, was es mit seinem Leben tun möchte. Sie bedeutet, seine Ängste und Befürchtungen, seinen Zorn und seine Wutanfälle zu verstehen. Sie bedeutet nicht, um des äußeren Eindrucks willen alles zu unterdrücken. Sie bedeutet, Zeit für das Kind zu haben, Zeit, um seinen Beschwerden, Ängsten und Hoffnungen zuzuhören. 

 

 

  Die Bedeutung von Freiheit  

 

Ein Kind braucht Freiheit, nicht nur des Ausdrucks, sondern auch der Bewegung. Ein Kind muß Dinge erforschen und seiner Neugier folgen dürfen, ohne an jeder Wegbiegung angehalten zu werden. Nur zu oft halten Eltern Kinder an zu kurzer Leine. Jede Bewegung des Kindes wird kontrolliert. Jede Straße, die es erforscht, wird eingegrenzt. Bald fühlen Kinder sich eingeengt und engen sich infolgedessen allmählich selbst ein. Sie verlieren ihre natürliche, großzügige Neugier. Sie verlieren ihren Enthusiasmus und ihre Spontaneität. Eltern, denen die eigene Spontaneität ausgetrieben wurde, haben das vergessen. Das Kind, das dauernd wegen seines Elans getadelt und gedämpft wird, wird aufhören, emotional und spontan zu sein. Später, wenn es Zeit zu reagieren ist, hat es vielleicht ein sehr unglückliches Sexualleben. 

 

Ein Kind muß sagen können »Halt mich fest, Mami«, ohne zu zögern und das Gefühl zu haben, von einer Mutter zurückgestoßen zu werden, die Nähe nicht ertragen kann. Das Kind weiß niemals, daß Mutter mit der Zuwendung ein Problem hat (da sie selbst nicht genug bekam), sondern stellt sich immer vor, etwas mit ihm selbst sei nicht in Ordnung. Dann kommt es zu den Gefühlen, nichts wert und nicht liebenswürdig zu sein. Eltern müssen sich wirklich für das Kind interessieren und dürfen sich nicht durch ihren eigenen Mangel an Erfüllung davon ablenken lassen.

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  Das freie Fließen der Liebe  

 

Wenn echte Liebe und Interesse für das Kind als anderes menschliches Wesen bestehen, folgen alle Interaktionen einem natürlichen Fluß. Dann kann das Kind frei sagen, was es im Sinn hat, und wird verstanden. Es kann seine Gedanken über die Welt, seine Freunde, die Schule oder sonst etwas aussprechen und dafür respektiert statt ignoriert werden. Es braucht das Gefühl, daß man ihm zuhört, weil es das Bedürfnis hat, sich zu äußern. Es braucht kein ständiges »Laß mich jetzt in Ruhe. Siehst du nicht, daß ich zu tun habe?«

Alles oben Erwähnte ist nicht so schwierig, wenn es von jemandem kommt, der sein Kind wirklich will und liebt und nicht unter einer Menge eigener unerfüllter Bedürfnisse leidet. Unerfüllte Bedürfnisse werden bald auf das Kind übertragen. Es ist sehr schwierig, die emotionalen Bedürfnisse eines Kindes zu befriedigen, wenn das Kind nicht erwünscht ist. Ein zu großer Teil des elterlichen Verhaltens wird vom Kind als »so tun als ob« wahrgenommen. Kinder lassen sich nie täuschen. Von Geburt an sind sie reines Gefühl, und sie haben ein Gespür für jede Nuance im Ausdruck ihrer Eltern.

Es mag banal scheinen, wenn ich sage, daß Kinder menschliche Wesen sind und das brauchen, was wir alle brauchen. Aber es gibt viele Eltern, die ihren Kindern sagen, sie liebten sie, ohne ihnen je zu zeigen, daß sie das tun, und die sich dann einbilden, sie hätten ihre Aufgabe erfüllt. Stellen Sie sich vor. Sie sagten Ihrem Freund, Ihrem Ehemann, Ihrer Freundin, Ihrer Frau, Sie liebten sie, ohne sie jemals zu berühren. Sie könnten kaum erwarten, daß die anderen tatsächlich Liebe in Ihrem Verhalten wahrnähmen.

Liebe ist das Hauptgegenmittel gegen Neurosen. Ihr Fehlen ist das zentrale Ingrediens, um das herum Neurosen wachsen. Gewöhnlich sind es die subtilen Dinge, die emotionale Krankheiten erklären, die kleinen Nuancen der Gefühle, nicht die Handlungen selbst. Man kann von einem Elternteil im Arm gehalten werden, der extrem angespannt ist, und diese Berührung verursacht dem Kind Unbehagen. Man kann auch von einem Elternteil gehalten werden, der ruhig, entspannt und liebevoll ist.

Aufgrund der Analogie zu einer liebevollen, erwachsenen Sexualbeziehung ist das leicht zu verstehen. Natürlich macht man die beste Erfahrung mit jemandem, der kein angespanntes Wrack ist. Ohne die sexuelle Komponente sind die Prinzipien für die Liebe zu Kindern die gleichen — volle Konzentration auf das Kind, physische Aufmerksamkeit, viel Zeit, keine anderen Ablenkungen; das Kind soll in solchen Momenten das ganze Universum sein.

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Wenn Bedürfnisse unbefriedigt bleiben   

 

Wenn Bedürfnisse nicht befriedigt werden, leidet das Kind unglücklicherweise nicht nur in dem betreff­enden Augenblick, sondern für den Rest seines Lebens. Es gibt einen Zeitplan der Bedürfnisse; manche können nur zu dieser bestimmten Zeit und zu keiner anderen erfüllt werden. Ein Neugeborenes braucht gleich nach der Geburt die unmittelbare Nähe seiner Mutter. Diese ersten Stunden sind entscheidend. Wenn es nicht dazu kommt, wird für alle Zeit Schmerz entstehen. Nichts, was das Kind oder der Erwachsene später tut, kann diese Entbehrung ungeschehen machen.

Es nutzt nichts, wenn ein Elternteil sich später für all die Entbehrungen entschuldigt, die er seinem Kind auferlegt hat. Die Verletzung ist da und wird durch die Bitte um Verzeihung nicht beseitigt. Man beseitigt ein Bedürfnis nicht mit einer Entschuldigung. Seine Kraft ist gigantisch. Die Verletzung ist gespeichert. Einem egozentrischen Elternteil, der sein Kind früh im Leben im Stich läßt, kann nicht vergeben werden, ganz gleich, wie sehr beide sich das später wünschen mögen. Der Mangel an Erfüllung ist eine Realität. Der geschiedene Elternteil, der sein Kind kaum sieht, kann nicht in den Teenagerjahren des Kindes plötzlich erscheinen und erwarten, er könne einen neuen Anfang machen. Es gibt eine Bürde von Verletzungen, die das Kind zuerst fühlen muß. Das hat mit Vergebung nichts zu tun; die ist bedeutungslos. Doch das Fühlen von Bedürftigkeit, Verletzung und Groll schafft vielleicht einige der Trümmer aus dem Weg, so daß irgendeine Beziehung zwischen Elternteil und Kind möglich ist.

Fühlen bedeutet, zurückzugehen und die genauen Bedürfnisse des Säuglings und Kindes zu spüren. Die damalige Sehnsucht zu spüren, gehalten zu werden. Den frühen Groll zu spüren, das Bedürfnis, angehört, nicht kritisiert, auf Reisen mitgenommen zu werden, sich zugehörig zu fühlen, dazuzugehören etc. Es bedeutet, das ganze Selbst zu erleben, und das bedeutet auch, den durch die ursprüngliche Entbehrung hervorgerufenen Schmerz zu fühlen. 

 

  Die Realität von Bedürfnissen  

 

Was ich hier erörtere, sind nicht bloß Gedanken. Wir haben diese Bedürfnisse mit all ihren Qualen bei Patienten gesehen, denen sie nicht erfüllt wurden. Gewisse sogenannte »Bedürfnisse« jedoch sind irreal. Ich habe nie ein reales Bedürfnis nach Prestige oder Ruhm bei Patienten auf dem Fußboden meiner Klinik gesehen, außer als Ersatz für andere Bedürfnisse, die real waren.

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Die Bedürfnisse, die ich besprochen habe, sind nicht mehr als das Ergebnis meiner Beobachtungen, entdeckt in den Appellen menschlicher Wesen, die mit ihrer Kindheit und Säuglingszeit in Berührung waren. Diese Bedürfnisse sind weder metaphorisch noch konzeptionell. Sie sind grundlegende biologische Realitäten. Wenn sie empfunden werden, verändert sich die Biologie, der sie entspringen, bis hinunter auf die Zellebene, einschließlich der Nervenzellen des Gehirns. Gefühlsregungen zu durchleben oder in Abreaktion oder Katharsis zu schluchzen wird diese Veränderungen nicht beeinflussen. Grundlegende Veränderungen müssen immer grundlegende Bedürfnisse einbeziehen. Erfüllung stabilisiert das System.

Was ist mit Armut? Ist eine angemessene Umgebung kein Grundbedürfnis? Ja und nein. Liebe hat bei der Vermeidung von Neurosen immer die Priorität. Doch das Leben unter erbärmlichen Umständen hat sicherlich einen Einfluß auf die Entwicklung. Es gibt ein Bedürfnis, Kleider, Obdach und den materiellen Komfort zu besitzen, den andere haben. Doch wenn ein Patient in der Therapie auf dem Boden liegt und seine nackte Bedürftigkeit offenbart, wird selten über materielle Bequemlichkeiten geweint. Das Leben in einer armen Umgebung erzeugt nur dann ein Minderwertigkeitsgefühl, wenn die anderen emotionalen Faktoren fehlen. Kurz gesagt, Armut ist ein Faktor bei der Krankheit, aber meiner Erfahrung nach ist er nicht besonders wichtig. Ich hatte Armut immer für einen bedeutenderen Faktor gehalten. Doch der Patient entscheidet, was wichtig ist, nicht ich.

In der Primärtherapie suggerieren wir den Patienten keine Bedürfnisse. Am Anfang wissen wir nie genau, worin sie bestehen. Der Patient fühlt sie, und diese Gefühlsbedürfnisse werden offengelegt. 

 

 

  Die Entstehung von Ersatzbedürfnissen  

 

Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, treten Ersatz- oder Sekundärbedürfnisse an ihre Stelle. Wenn ein neurotischer Elternteil sein Kind neurotisch behandelt, so erzeugt er in dem Kind neue Bedürfnisse, die nicht biologisch begründet, sondern abgeleitet sind. Eine Mutter, die ihr Kind dominieren muß und das Kind daher passiv und schwach macht, erzeugt in dem Kind ein »Bedürfnis«, im erwachsenen Leben entweder einen Partner zu dominieren oder, je nach den übrigen Lebensumständen, einen dominierenden Ehepartner zu finden. Man heiratet eine kontrollierende Person, um weiterhin abhängig zu handeln. Ein Kind, das abgelehnt oder ignoriert wurde, wächst möglicherweise mit dem Bedürfnis heran, berühmt zu werden. Das ist ganz offensichtlich kein biologisches Kindheitsbedürfnis.

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Das sogenannte Bedürfnis nach Selbstwertgefühl beispielsweise ist kein Grundbedürfnis. Ein geliebtes Kind fühlt sich erwünscht und wertvoll. Es verbringt sein erwachsenes Leben nicht mit dem Versuch, sein Ego aufzublasen oder sich wichtig vorzukommen. Es war wichtig für die einzigen Menschen, die zählten, als es ein Baby war — seine Eltern. Für diese unwichtig zu sein bedeutet, ein »geringes Selbstwertgefühl« zu haben.

Nicht geliebt zu werden gibt uns das Gefühl, nicht anziehend zu sein — daher das Empfinden »Ich konnte sie nicht zu mir hinziehen«. Der spätere Kampf besteht dann darin, auf alle Leute anziehend zu wirken, ungeachtet dessen, ob sie wirklich für das eigene Leben wichtig sind oder nicht. Das neurotische Bedürfnis, ständig seines guten Aussehens versichert zu werden, kommt dann zustande, wenn man sich selbst in seiner Haut nicht wohl fühlt. Das Kind baut seinen Wert in jedem Sinne auf der Liebe der Eltern auf. Sich geliebt zu fühlen gestattet ihm, seinen Wert auf sich selbst zu begründen.

Geringes Selbstwertgefühl wird nicht mit dem Versuch behandelt, der Person ein Gefühl von Wert zu geben, und auch nicht mit Übungen, um das Ego aufzublasen. Ganz im Gegenteil. Die Behandlung besteht darin, daß man das verheerende Gefühl zuläßt, nicht erwünscht oder gewollt zu sein. So kann man sehen, daß die Unfähigkeit zu lieben das Problem der Eltern war und nicht die Folge eines dem Kind innewohn­enden Makels. Dies kann nur dann Zustandekommen, wenn man aufhört, gegen das Bedürfnis ständiger Rückversicherung anzukämpfen, und den Mangel an Liebe bis in die tiefsten Tiefen fühlt.

 

 Ersatzbedürfnisse werden neurotisch  

 

Ein neurotischer Elternteil erzeugt in seinem Kind neurotische Bedürfnisse. Ein Kind, auf das nicht reagiert wird, weil seine Eltern lieblos sind, wächst zu einem Erwachsenen heran, der das Bedürfnis hat, von anderen emotionale Reaktionen zu erhalten. Es braucht Reaktionen. Das Gefühl ist: »Schaut mich an. Nehmt zur Kenntnis, daß ich lebendig bin. Nehmt zur Kenntnis, daß ich existiere.«

Später, als Erwachsener, versucht das Kind, das keine Reaktionen erhielt, vielleicht, sich dramatisch zu benehmen, um ein »Star« zu werden. Oder es redet unablässig, um Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Es übertreibt und dramatisiert, um andere zu einer Reaktion zu provozieren. Manchmal geht eine solche Person zum Psychiater, und die Diagnose lautet, sie leide an »primärem Narzißmus«. 

Doch so kompliziert muß die Sache nicht sein. Der Mensch brauchte einfach eine gewisse grundlegende Aufmerksamkeit, um er selbst sein zu können. Die Situation ist auch nicht durch aktuelle Erfüllung allein zu lösen. 

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Wenn aktuelle Erfüllung die eigenen Gefühle verändern könnte, dann würden die Filmschauspieler, die ich sehe und die mehr als ihren Anteil an Vergötterung bekommen haben, sich nicht als völlig wertlose menschliche Wesen fühlen.

Ein Elternteil, der sein Kind ohne Wärme behandelt, erzeugt in ihm vielleicht ein Bedürfnis, sich später mit kalten, eisigen Menschen zu umgeben. Nun bestehen nämlich eine erlernte Furcht vor Wärme und ein neues Bedürfnis, anderen nicht nahe­zukommen und pseudo-unabhängig zu sein. »Ich brauche niemand anderen. Ich bin glücklich in meiner Isolation.« Jetzt liegt ein »Bedürfnis, allein zu sein« vor, weil das Zusammen­sein mit anderen (im frühen Leben den Eltern) Schmerz bedeutet. Kein normaler Mensch freut sich, die ganze Zeit allein zu sein.

Wenn Menschen in ihrer Kindheit Entbehrungen auferlegt werden, wachsen sie heran, ohne den Unterschied zwischen Liebe und Bedürftigkeit richtig erkennen zu können. Sie neigen dazu, sich in jemanden zu »verlieben«, der ihre Bedürfnisse befriedigen kann. Die Frau, die infantilisiert wurde, wird sich in einen dominierenden und kontrollierenden Mann »verlieben«, damit sie weiterhin das Baby sein kann, zu dem ihre Eltern sie gemacht haben. Der Mann, dessen Eltern emotionslos waren und der seine Gefühle und seine Wärme unterdrückt hat, wird keine offene, warmherzige Partnerin suchen, sondern eher jemanden, der so reserviert ist wie seine Eltern. Dann beginnt der Kampf darum, diese Partnerin warmherzig und liebevoll zu »machen«.

Die Frau, die nie einen Vater hatte, wird sich in einen älteren Mann »verlieben« und ihn zu dem machen, was sie braucht. Sie wird von ihm erwarten, daß er alles sein soll, was ihr Vater nicht war. Sie sieht den Mann nicht als das, was er ist, genau wie sie ihre Eltern nie als die sah, die sie waren. Das ist ein sicheres Rezept für eine baldige Scheidung.

Muß sie lernen, andere Erwartungen zu haben? Keineswegs. Ihre Erwartungen sind real. Das Problem besteht darin, daß sie diese Bedürfnisse im Zusammenhang und in den Begriffen der realen Person fühlen muß, die sie will — ihres Vaters. Dann wird sie sehen, was sie sehen muß, nämlich ihre Bedürfnisse. Wir blicken nie über unsere Bedürfnisse hinaus, ganz gleich, wie klug wir sind. Wir können nie weiser sein als unsere ungefühlten Bedürfnisse, und wir können auch nicht mehr wahrnehmen, als unsere Bedürfnisse erlauben. Ungefühlte Bedürfnisse machen uns in spezifischen, relevanten Bereichen dumm. Wir nehmen eine andere Person nicht realistisch wahr, weil unsere unerfüllten Bedürfnisse sofort über die Realität dieser Person gelegt werden. Wir sehen immer zuerst unsere Bedürfnisse. Deshalb sind sie unsere primäre Realität; alles andere ist sekundär.

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  Die Auflösung neurotischer Bedürfnisse  

 

Das Grundbedürfnis des Neurotikers ist Auflösung. Der Neurotiker muß seine frühen Bedürfnisse auflösen, damit er nicht für den Rest seiner Tage darin »steckenbleibt«. Wenn er diese Auflösung nicht erreicht, wird er mit fünfzig genau das gleiche Bedürfnis haben wie mit fünf, und es wird ebenso stark sein. Nichts, das im späteren Leben geschieht, kann diese Stärke auch nur um ein Jota verringern. 

Sobald die alten Bedürfnisse einmal gefühlt werden, wenn die Person in ihre Kindheit zurückkehren und ihr damaliges Leben noch einmal erfahren kann, verblassen die abgeleiteten Symbole — wie das Bedürfnis nach Macht, Prestige und Ruhm. Solange die symbolischen Bedürfnisse weiterbestehen, wird die Lebensenergie, die Freud als »Libido« bezeichnete, in diese Bedürfnisse kanalisiert. Der Mensch wird nach Macht streben (weil er in seiner Kindheit total kontrolliert wurde und keine Macht über sich selbst hatte) und mit Sex nicht viel im Sinn haben. Die Energie, die in Beziehungen fließen sollte, wird nun in das Streben nach Symbolen abgeleitet.

Denken Sie daran: Zuerst gibt es Bedürftigkeit und dann »das Bedürfnis nach«. Ganz gleich, was »das Bedürfnis nach« ist — Sex, Geld, Macht, Überzeugungen —, zuerst und vor allem ist es eine primäre, reine Bedürftigkeit.

Wenn jemand über seine symbolischen Bedürfnisse sprechen und anfangen kann, seine realen Bedürfnisse zu fühlen, kommt es oft zu einer überwältigenden Traurigkeit — einer Traurigkeit über die Verschwendung all dieser Energie und Zeit, über die Verschwendung des Lebens. Es ist eine resignierte Traurigkeit: »Ich werde es ihnen nie recht machen, ganz gleich, was ich tue.« Dann sind der Antrieb und der Traum vorüber. Es ist an der Zeit, in das reale Leben hinabzusteigen.

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