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5  Alietta  

 Janov 1991

90-114

Die folgende Fallgeschichte legt alle Aspekte der Primärtherapie dar, die wir bislang erörtert haben. In diesem Tagebuch, das eine Patientin während der ersten drei Wochen der Behandlung führte, ist der Prozeß des Wiedererlebens sorgfältig und in lebhaften Schilderungen dokumentiert. Auf das Tagebuch folgten Über­legungen zu verschiedenen späteren Zeitpunkten, die den langfristigen Nutzen der Therapie veranschaulichen.

 

 

Sonntag, 10. Oktober

Ich bin jetzt in dem Hotelzimmer, in dem ich drei Wochen bleiben muß, ohne mit jemandem zu reden, fernzusehen, Zigaretten oder Gras zu rauchen, zu masturbieren oder irgendeine Art von Sex zu haben. Kurz, wo ich mich auf mich selbst konzentrieren soll.

Von morgen an werde ich jeden Vormittag meinen Therapeuten sehen. Ich bin sehr aufgeregt. Primärtherapie. Meine letzte Hoffnung in diesem Leben. Ich erwarte alles davon, von der Möglichkeit zu lieben bis zur Möglichkeit, geliebt zu werden, wenn ich jemand anderer werde — mein wirkliches Ich? —, bis zum Glück ...

Ich habe soeben fünf verrückte Monate hinter mir, die Kulmination des zunehmenden Wahnsinns, der mein Leben geworden ist. Ich war von einem perfekt funktionierenden Äußeren geschützt. »Deine einzige Verrücktheit besteht darin, überhaupt irgendeine Therapie zu machen.« Das ist der Eindruck, den meine Familie und meine Freunde haben. Ja, das Äußere ist gut darauf trainiert, anderen etwas vorzumachen. Nur ich in meinem Inneren weiß, wie total unglücklich, wie dicht am Rand des tiefsten Abgrunds, wie nahe am letzten Sturz ich bin.

Ich merke, daß mir immer kalt ist; meine Zähne sind fest zusammengebissen, wenn ich mich hinlege, wahrscheinlich auch, wenn ich stehe. Mein Körper ist tatsächlich steif. Ich wollte all das nie beachten, und plötzlich merke und fühle ich es, weil ich nichts anderes habe, woran ich denken kann. Ich mag diesen Moment erzwungener Einsamkeit, nach dem ich mich in den letzten Monaten so gesehnt habe, diesen Rückzug nach innen.

Wie wird es sein, eine »fühlende Person« zu sein? Ich zwinge mich zu dem Versuch, jetzt auf der Stelle zu <fühlen>, was immer es in mir zu fühlen gibt. Es ist seltsam, es brennt, es tut körperlich weh.... 

Ich habe das Gefühl, daß es schrecklich werden wird, in diese ganze Vergangenheit zurückzugehen (die jetzt vollkommen schwarz ist), weil mir schon die Kehle brennt, wenn ich nur daran denke... und ich fühle mich unwohl... ich erwarte, daß die ganze Reise faszinierend sein wird. Mary ist meine Therapeutin. Das gefällt mir nicht. Eine Frau. 

»Wie fühlst du dich?« - »Großartig. Wenn du willst, daß ich angespannt bin, dann schicke mich auf eine Party, nicht allein in ein Hotelzimmer. Daran bin ich gewöhnt. Es gefällt mir.« 

Ein paar Tränen bei wahllosen Erinnerungen, aber als sie mich auffordert, es »ihnen« zu sagen, kann ich nicht sprechen. Haben sie je wirklich mit mir geredet? Danach nichts, Schwärze. Ich fühle mich total blockiert. Ich gehe ziemlich enttäuscht weg. Ist das alles? Hier bin ich und versuche, in meiner Jugend herumzuwandern. Nun, ich bekomme nichts, ich bemühe mich... ein paar unwichtige Bilder. Werdet ihr mir helfen können, da durchzukommen? Ihr behauptet, das Heilmittel zu haben. Ich habe Angst. Was ist, wenn es nicht funktioniert?

 

Dienstag, 12. Oktober

Heute viele Tränen. Als ich ankam, sagte Art mir, wenn ich die Regeln der Therapie nicht befolgte, könnte ich nicht weiter­machen. Gestern am Ende der Sitzung habe ich zu Mary gesagt, wie gern ich jetzt eine gute Zigarette hätte. Entsetzen in ihrem Gesicht... aber ich habe keine angerührt, und heute bin ich überrascht und verwirrt über Arts Aggressivität. Ein Trick? Vermutlich, weil Mary während der Sitzung ein paarmal auf Arts Vorwurf zurückkommt und mich fragt, was ich gefühlt habe, als er mit mir sprach.

Heute war ich in Porto di... in unserem Sommerhaus, ging die Treppe hinunter, spielte mit diesem Ball. Sein Aufprallen habe ich jetzt so deutlich im Kopf. Es führt mich zu meiner totalen Einsamkeit als Kind, immer allein, und das läßt mich weinen. Ich war innerlich traurig. Es ist das erste Mal, daß ich merke, daß ich als Kind etwas gefühlt habe! Hinterher beruhige ich mich für eine Weile; während ich auf dem Boden liege, ist eine Erinnerung im Begriff hochzukommen, die ich abblocke. »Vertraue dir«, sagt Mary mit ganz leiser Stimme. »Was ist es?« »Ich bin nicht sicher... vor langer, langer Zeit hat Papa mich hart geschlagen. Jemand mußte ihm sagen: >Hör auf, du bringst sie um<, aber es ist so verschwommen, ich bin nicht sicher. Ich kann es nicht glauben... diese Szene bringt überhaupt kein Gefühl mit sich, und ich schäme mich ein bißchen, daß sie mir eingefallen ist.«

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»Was wolltest du von deinem Vater, Alietta?« fragte Mary. Es widerstrebt mir, die Frage zu beantworten. Die Antwort ist so offensichtlich.

»Nun, ich wollte, daß er...« Es ist nicht so einfach, mein Körper wird angespannt, ich verstumme, bin leer; dann kommt plötzlich ein lebhaftes Bild: Papa, der an seinem Schreibtisch schreibt, fast jeden Abend, sehr spät; ich sehe ihn so deutlich. Es ist erstaunlich. Ich bin neben ihm, und mein Kopf reicht nicht bis zur Schreibtischplatte. Ich sehe seine Hand über das Papier gleiten und mit seinem Füller in blauer Tinte schreiben. Es ist irgendwie magisch, und ich beobachte ihn, vollkommen reglos, ganz in Anspruch genommen von der Faszination seiner Hand. Mary fragt mich, was ich fühle, während ich ihn beobachte. »Nichts.«

»Was wolltest du von ihm?«
Schweigen... Ich habe das Gefühl, am Rand einer sehr hohen Klippe zu stehen, und will nicht springen.
Mary wartet eine Weile, mein Körper schwitzt, ich friere, dann höre ich sie leise sagen: »Was wolltest du von ihm, Alietta?« Diesmal springe ich auf, oder etwas in mir springt auf: das Gefühl. Ich breche in Tränen aus.

»Ich wollte, daß er mich berührt, mich in die Arme nimmt; ich fühle eine große Zärtlichkeit für ihn und den starken Wunsch, daß er mich zärtlich in die Arme nimmt und berührt.«

Mary sagt, ich solle ihn bitten, mich zu berühren, und ich gehe mit dem Fluß meines Verlangens. Ich bitte ihn, mit seinen Händen mein Haar und meinen Hals zu berühren. Das bringt viele Tränen, weil ich, während ich mein Bedürfnis nach seiner Zärtlichkeit fühle, seine Hand über das Papier fahren, mit einem Füller in blauer Tinte schreiben sehe, gleichgültig meinem Bedürfnis gegenüber. Nach der Sitzung bin ich sehr müde. Ich wußte nicht, daß ich so viele Tränen in meinem Tränentank hatte. Zurück im Motel. Ich schlafe ein wenig... ein wenig? Bis halb elf abends. Also praktisch den ganzen Tag. Da hat mein Körper sicher eine gute Abwehr. Ich habe nie so gut, so gesund, so ruhig geschlafen. Ich bin auch wirklich müde.

 

Mittwoch, 13. Oktober

Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich das aushalten kann. Ich hasse den Gedanken, jeden Tag irgendwo hinzugehen, um zu weinen und zu leiden und mich zu quälen. Heute ging ich zurück zum Tod meiner Schwester Flora. Ich weinte auch darüber, daß Papa endlos mit mir sprach, jahrelang, nach dem Mittag­essen, nach dem Abendessen, sein Garn spann, seinen verlorenen Träumen nachhing, zusammen­hang­loses Zeug redete, seinem unersättlichen Bedürfnis zu sprechen nachgab. Und ich hörte ihm zu, all diese Stunden, all diese Jahre.

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Mama mußte ihm sagen, er solle aufhören und mich zu Bett gehen lassen. Er hörte sie kaum und redete weiter, und ich hörte zu wie unter dem Bann einer Schlange, ohne ein Wort zu sagen. Das war die einzige Aufmerksamkeit, die er mir je gewährte, und sie war nicht einmal etwas, das er mir gab, denn er sprach nicht zu mir. Ich hätte ein Stein oder irgend jemand sein können. (Das tut weh und bringt mich tiefer in das Gefühl.) Er brauchte einfach ein Ohr. Ich war ein Objekt, ein Objekt, um sein Bedürfnis zu befriedigen. Er legte in mir, seiner »treuen Schülerin«, die Fundamente meines späteren Ausagierens, all der falschen Werte, die ich so viele Jahre lang hatte.

»Ich hasse das, hör auf, hör auf... hör auf zu reden, du machst mich verrückt, hör auf!«

Als ich auf Marys Empfehlung hin anfange, ihm das zu sagen, ist es schwierig; ich bin sehr verlegen. Es ist überaus schwierig. Wie könnte ich heute mit ihm reden? In meiner Jugend habe ich es nie getan. Die Einsicht, wie schwierig es ist, läßt mich erkennen, daß ich es tun muß, um die Blockierung zu lösen. Als ich es endlich tue, bringt es mich in eine überraschend starke Wut. Ich verliere in heftigem Zorn ein paar Sekunden die Kontrolle, und ich lasse etwas von dieser Verzweiflung heraus, die sich in so vielen Jahren in mir aufgebaut hat. Danach bin ich wild geworden, was mir gefällt (es fühlt sich gut an, wenn meine Gefühle sozusagen die Oberhand gewinnen), und alle möglichen auf der Hand liegenden Dinge, die ich vorher nicht verstanden habe, fallen mir ein.

Ich habe den Männern, mit denen ich zusammen war, immer intensiv zugehört, und sie alle waren Menschen mit Problemen, die stundenlang einen Zuhörer brauchten. Ich habe nie wirklich gewagt, ein Wort über mich selbst zu sagen, und ich fand sie immer »faszinierend« und liebte sie wegen ihrer Probleme. Faszinierend. Jetzt verstehe ich... ein Versuch, Liebe zu bekommen, indem ich ihnen gab, was sie brauchten. Und ich übernahm auch all die falschen Werte, die mein Vater hatte und die ich später als falsch erkannte. Mein Instinkt, etwas in mir, sagte mir, daß sie falsch waren. Wenn ich später, als ich älter war, nach Hause kam, stritt ich mit ihm darüber, versuchte, ihm zu zeigen, wie falsch sie waren. Aber irgendwie holten sie mich immer wieder ein; einige davon blieben immer in mir und hielten mich davon ab, völlig meinen eigenen Überzeugungen zu folgen. Er lebte in einem falschen Traum und leugnete die Teile der Realität, die er nicht mochte oder die ihn verletzten. Ein Teil dieses Traums ging auf mich über und nistete sich in mir ein. Ich spüre etwas davon, wie mich das verbogen hat, und meine Wut darüber.

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Nach der Sitzung bin ich erschöpft, aber irgendwie glücklich. Ich denke, daß ich heute mein erstes Urerlebnis hatte, weil es mich überwältigt hat, und ich habe eine Menge Dinge ganz klar verstanden; in der Sprache der Primärtherapie nennen sie das »Verbindungen« oder Einsichten. Ein kleines Stückchen des Vorhangs hat sich gehoben, ein winziges Stückchen, aber dennoch ein Stück.

Mary sagte mir, ich solle mir Five Easy Pieces ansehen, und zwar wegen einer Szene, von der ich ihr erzählt hatte, daß ich nicht darüber reden konnte, als ich sie voriges Jahr in New York gesehen hatte. Ich mußte das Theater bei der Szene verlassen, in der der »Held« nach jahrelanger Abwesenheit nach Hause zurückkommt. Er findet seinen Vater sehr alt geworden, im Rollstuhl, nicht mehr fähig zu sprechen. Der Held beginnt mit ihm zu reden, sagt ihm, wie sehr er sich wünscht, sie hätten eine bessere Kommunikation gehabt und sich näher gestanden, und wie sehr er ihn liebt. Ich mußte ganz schnell aus dem Theater gehen, weil ich in Tränen ausbrach und nicht wußte, was da passierte.

Es war der Beginn eines Urerlebnisses. Heute bin ich froh, daß das Stück nicht gespielt wird; ich habe Angst, es noch einmal zu sehen. Und es ist mir zu umständlich, auszugehen. Ich bin müde.

 

Donnerstag, 14. Oktober

Ein Junge am Pool gibt mir einen Joint. Er ist gar keine große Versuchung für mich, und es verstößt gegen alle Regeln der Therapie, ihn zu rauchen und mit dem Burschen zum Abendessen auszugehen, was ich tue. Ich fühle mich ganz high und gleichzeitig sehr schuldig und entscheide dann, daß es zu spät ist, es zu bereuen. Es ist wirklich nett. Ein paar Wochen später sehe ich, wie dumm und selbstzerstörerisch das war und wieviel Spannung es freisetzte. In meiner Sitzung kann ich mich nicht ernstlich auf etwas einlassen. Meine Psyche ist buchstäblich in alle Winde verstreut. Ich fühle mich innerlich trocken; meine Gedanken rasen vorbei; ich kann mich nicht konzentrieren. Was für eine Vergeudung. Ganz allein meine Schuld.

Als ich meine Sitzung verlasse, frustriert und wütend auf mich selbst, sehe ich zum erstenmal andere Primärpatienten, die wie ich in ihrer Isolation leiden. Ich sehe eine blonde, sehr ärgerlich aussehende, zähe und unnahbare Dame, die mir sehr groß vorkommt. Und zwei Männer — einer sieht ziemlich dumm und irgendwie nett aus, wie dumme Männer oft —, und der andere ist ein recht gutaussehender Blonder.

Manchmal wundere ich mich, was zum Teufel ich eigentlich hier mache. Bin ich das — in der Therapie der letzten Hoffnung? Schwer zu glauben. Wenn ich an mich selbst mit zwanzig denke — da gehörte mir die Welt. Ich fühlte mich obenauf; ich war sehr erfolgreich bei allem, was ich tat.

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Die Männer mochten mich, das Leben war leicht, interessant und machte Spaß. Nichts fiel mir schwer. Ich hatte eine Menge Freunde. Das war vor dem Absturz, bevor etwas in mir zu zerfallen begann, vor dem Trinken, vor den Drogen, vor den Selbstmord­versuchen und den Tagen im Koma. Ich hatte noch die Kraft, mich wieder zusammen­zunehmen, wieder zu funktionieren, ein lächelndes Gesicht aufzusetzen. »Alles bestens, Mama. Bloß, daß ich innerlich sterbe und nicht weiß, warum.«

 

Freitag, 15. Oktober

Heute ist endlich etwas passiert. Ich hatte wieder eine sehr gute Nacht. Als ich aufwache, erkenne ich diese Art halbes Weinen, das noch in meiner Brust ist. So habe ich als Kind geweint. Ein paar Tränen auf dem Weg ins Institut. Ich fühle mich nicht wirklich schlecht, aber irgendwie weiß ich, daß ich am Rande von etwas bin. Während ich auf dem roten Teppich liege und auf Mary warte, friere ich schrecklich. Es ist äußerst unangenehm; um dem zu entgehen, bewege ich mich und schaue mich um, ob etwa kalte Luft auf mich bläst. Es ist so stark, aber der Raum ist nicht ausgestattet, um mich zu überlisten. 

Dann kommt Mary herein. Wir sprechen über meine Lektüre von The Velveteen Rabbit. 
  »Hat es dir gefallen?« - »Ja, und ich habe zweimal geweint.« - »Ach, ja? Wann?« - »Als das Kaninchen so glücklich ist, daß es nicht schlafen kann, nachdem der Junge zu ihm gesagt hat, es sei real, weil er es liebe.« 

Darüber zu reden und etwas, das Mary sagt, lassen mich wieder heftig weinen. Ein Bild kommt mir in den Sinn: meine Tante, die für mich Klavier spielt. In dieser Erinnerung fällt mir auf, wie warmherzig und nett sie zu mir ist. Ich höre, wie ihre Fingernägel die Tasten des Klaviers berühren. Ich spüre ihre große Gegenwart hinter mir, und ich bin klein. Ich kann mich nicht erinnern, was Mary jedesmal sagte, um mich zu meinen Gefühlen zurückzubringen, aber ich breche wieder in Tränen aus, spreche über den Tod meiner Kusine, und ich friere wieder, mir ist schrecklich kalt. Mary sagt mir, ich solle diese Kälte fühlen. Ich fühle sie und bekomme furchtbare Angst! 

»Laß es zu, Alietta, laufe nicht davor weg!« »Leicht gesagt, ich habe solche Angst...« Schließlich komme ich in den Tod meiner Schwester Flora. Ich wußte nicht, daß ich sie so sehr liebte. Ich erinnere mich an diesen Moment, an den Tag, an dem sie begraben wurde, als sie den Sarg aus der Kirche trugen. Als er an mir vorbeikam, »sah« ich sie darin liegen, tot. Alles in mir sackte ab; ich drehte mich um und stolperte.

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Heute sehe ich sie wieder, und es ist erträglich. Das Gefühl, das mich straucheln ließ, kommt mit erschreck­ender Kraft hoch. Es ist: »Verlaß mich nicht. Bitte, verlaß mich nicht.« Wieder der Sturm: Ich weine, mein Körper zieht sich zusammen, als wolle er sich vor dem zu intensiven Schmerz schützen. Ich leide, ich weine. »Verlaß mich nicht.« Das Gefühl gewinnt die Oberhand.

Während ich weine, wird mir klar, daß ich mein ganzes Leben lang Menschen verlassen habe, hauptsächlich Männer, weil ich Angst hatte, sie würden mich verlassen. Als ich mich ausruhe, steigen Bilder von der Wüste in mir auf. Die Sahara, die ich so liebe, die mich immer so stark anzog. Ich beschreibe Mary, was ich dabei empfinde, und sage ihr, was die Wüste mir bedeutet und wie stark ich mich mit ihr identifiziere. Das erinnert mich daran, wie ich zum erstenmal LSD nahm. Ich fing an, einem Freund von mir die Wüste zu beschreiben. Er erzählte mir später, wie eindrucksvoll meine Beschreibung war und daß er die seltsame Faszination spürte, welche die Sahara für mich hatte. Es wurde ein totaler Todestrip, ein furchtbarer Alptraum. Anscheinend ist jedesmal, wenn ich mich auf den Tod konzentriere, die Wüste damit verbunden.

Ich weiß nicht wie, aber dann fiel mir Flora ein, wie sie mir an dem Morgen in Rom ihre Träume erzählte. Plötzlich bin ich wieder im Haus meiner Kindheit, das ich zum erstenmal wiedersehe, seit ich es vor fünfzehn Jahren verlassen habe. Ich spüre das Bedürfnis nach dieser Art halbem Weinen, das meine Mutter so verrückt machte. Ich fange damit an, und es entwickelt sich zu Geschrei, vermischt mit Wut. Ich höre Mama sagen: »Sei still, oder ich gebe dir etwas, worüber du weinen kannst.« Meine Wut steigt, und ich fange an, die Kontrolle über mein Schreien zu verlieren.

Ich bin tief in mir selbst. Ich schreie »Mama« und weine. Ich spüre ein Verlangen in meinen Beinen; sie fühlen sich schwer an, und trotzdem möchte ich sie bewegen, mit ihnen treten. Ich fange an, das zu tun, wenn auch ein bißchen verlegen. Da bin ich im Zimmer meiner Kindheit, weinend in meinem Bett, und keiner kommt. Wut, Wut, das ist alles, was ich jetzt fühle. »Warum kommt keiner? Ich bin klein, und ich will, daß jemand kommt.«

In fünf Monaten Psychotherapie in New York habe ich mich an nichts aus meiner Jugend oder frühen Jugend erinnert, und hier kommen innerhalb von fünf Tagen so viele Dinge zurück. Wenn sie hochkommen, kündigt sich das gewöhnlich dadurch an, daß mein Herz schneller schlägt. Ich halte den Atem an und konzentriere mich auf jedes Bild, das aufsteigt. Nur eine Sache bleibt nebelhaft, etwas hinter dem Fenster, das ich nicht sehen konnte, von dem ich aber sicher bin, daß es da ist. Später am Tag, angekündigt durch Herzklopfen, dämmerte es mir... ein Babybett, ein rosa Babybett.

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Jetzt sage ich es Mary, und das Babybett ist kein bloßes Babybett mehr. Es ist ein Baby darin... mein Bruder?

Ich erinnere mich an dieses Bettchen; das Baby darin... bin ich. Meine Mutter hat die Decke mit Klipsen befestigt, damit ich mich nicht bewegen kann. Meine Beine fühlen sich wie gefesselt an. Ich kann sie nicht bewegen ; ich hasse das. Ich sehe sie auf mich zukommen. Ich bin schweißgebadet. Sie nimmt mich auf den Arm und legt mich auf ihr Bett, um mich zu wickeln. Sie ist riesig. Ihr Gesicht ist über mir. Sie sieht so jung aus; ich habe mich nie zuvor so an sie erinnert. Gott, ich liebe sie.

Tränen treten mir in die Augen. Mama. Ich spüre stark ein immenses und mächtiges Verlangen danach, daß sie mich hält. Meine Tränen trocknen; ich kann nicht mehr sprechen. Ich sehe sie mit einem ganz kleinen Säugling in den Armen, und sie ist sehr groß. Mein Herz rast. Ich bin dieses Kind mit diesem starken und ungeheuer machtvollen Verlangen, daß sie mich hält. Ich möchte ihre Wange und ihren Hals ganz nahe spüren. Aller Widerstand in mir bricht zusammen. »Bitte, Mama, nimm mich in die Arme, oder ich sterbe.« Die Tränen strömen. Ich liege zusammengekrümmt, verloren in meiner Bedürftigkeit, mir ist nicht bewußt, wie lange es dauert. Dann trocknen meine Tränen langsam. Als ich sprechen will, stelle ich fest, daß ich es nicht kann. Ich bin ein Säugling.

Ich sehe mich in einer Windel, klein, an ihre Brust gedrückt, mich an ihr festklammernd wie eine Muschel. Ich fühle, was ein Säugling fühlt. Es ist seltsam. Ich brauche es so sehr, sie zu fühlen oder mein Bedürfnis nach ihr zu fühlen. Das ist so eine neue Empfindung für mich. Offenbar habe ich sie einmal erlebt, außer wenn ich damals nie zugelassen habe, daß ich sie mit all ihrer Macht erlebte. Jetzt ist das Gefühl, das ich habe, so: »Es fühlt sich an, als sei es kein neues Gefühl, aber ich fühle es zum erstenmal.« Ich liege in einer kindlichen Stellung, etwas zuckend, und ich trete und schlage mit der Hand auf den Boden. Ich bin als einzige überrascht von diesen Bewegungen, die mein Körper machen will und macht. Als ich mich beruhigt habe, lege ich mich wieder auf den Rücken; meine Beine sind nicht mehr in Blei gesperrt.
Mary: »Wie fühlen sich deine Beine an?«
»Jetzt gut.«

Sie lächelt, ich auch, und mein Lächeln macht mich plötzlich unglaublich high. Ich fühle mich leicht und glücklich und breche in Freude und Lachen aus.

»Ich habe es geschafft. Wir haben diesen schrecklichen Widerstand gebrochen, von dem ich glaubte, wir würden ihn nie überwinden. Ich bin weit zurückgegangen, ich kann es schaffen.«

Ich fühle mich großartig. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich mich so gefühlt, nie, und es ist phantastisch. Ich FÜHLE. Das ist nur ein Anfang, aber ich habe keine Zweifel mehr an der Therapie oder an der Möglichkeit, daß ich es schaffen werde.

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 Ich weiß, daß es richtig ist. Meine Beine, die vorher so tot und schwer waren, wollen sich auf einmal bewegen, wollen tanzen. Mein ganzer Körper möchte freigelassen werden, um eine neue Leichtigkeit zu feiern, etwas in mir, das lebendig wird, und es gewinnt unwiderstehlich die Oberhand über mich und läßt mich vor Hochgefühl lachen.

Adieu, düsterer Kummer! Ich fühle mich so toll. Als ich das Institut verlassen habe, stoße ich einen lauten Indianerschrei aus, der einige Amerikaner auf der Straße überrascht. Heute reden viele Leute mit mir. Mein Glück leuchtet; ich fühle es, es ist ein großartiger Tag, ich habe Flügel, ich habe Hoffnung... Acht Uhr dreißig abends. Ich liege im Bett.

Ständig passieren so viele Dinge. Ich erinnere mich gerade an diese Krämpfe, die ich in den Beinen habe. Es sind die »Wachstums­krämpfe«, die ich als Kind hatte. Ich erinnere mich auch, wie Mama sie abends mit Kampfer einrieb, um die Schmerzen zu lindern, und wie sie das Zimmer verließ, ohne mich zu küssen, froh, ihre Tagesmühen hinter sich zu haben.

Heute abend zum erstenmal Gruppensitzung. Es ist wirklich seltsam, dieser riesige Raum fast ohne Licht, wo die Leute sich einfach auf den Boden legen und anfangen, in ihre Gefühle zu gehen.

Einer von ihnen, Mike R., legt sich mit einer Babyflasche hin, und ich sehe, wie er daran saugt. Unwillkürlich wünsche ich mir, daß mir im Laufe der Therapie so etwas nicht passiert, weil ich es ein bißchen lächerlich finde, was, wie ich weiß, bedeutet, daß ich Angst habe. Es macht mir viel Spaß, das für eine Weile zu beobachten, aber später, als viele Leute stöhnen, schreien, mit ihren Eltern reden und all das, finde ich es schön und bewegend.

All diese Menschen leiden und werden wiedergeboren und geheilt durch ihren Schmerz, und daran ist nichts Lächerliches. Es ist nur sehr seltsam. In gewisser Weise läßt es mich fühlen, wie krank ich bin und wieviel freier diese Leute sind. Ich hoffe, das wird mir helfen, weniger Verlegenheit bezüglich meiner eigenen Gefühle zu empfinden, und daß ich eines Tages fähig sein werde, alle möglichen extravaganten Dinge zu tun, wenn meine Gefühle es verlangen. Ja, ich versuche, mich selbst zu beruhigen, weil ich tatsächlich ängstlich bin.

Ich habe ein Primärerlebnis gehabt, und das ist der »unheimliche Schrei«, der auf dem Buchdeckel erwähnt ist — der, den ich so gern ausgestoßen hätte, als ich versuchte, die Therapie allein zu machen.

Heute abend rufe ich: »Mama!« Ich möchte sie bei mir haben, und nach ihr zu verlangen tut sehr weh. Ein Impuls läßt mich den Raum verlassen, wie eine Gefangene aus dem Gefängnis geht, mit einer ungeheuren Erleichterung und dem Gefühl, ich würde nie wieder hineingehen können.

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Ich sitze draußen auf dem Korridor, als Lenny, den ich gern mag, zu mir kommt und sagt, ich solle zurückgehen.

»Natürlich ist es beim erstenmal schwierig. Aber du mußt zurückgehen. Wenn du das nicht kannst, ist das ein Gefühl von dir. Versuche zu fühlen, warum du nicht bleiben kannst; fühle das. Es wird dich für eine Weile beschäftigen, und wer weiß, vielleicht bringt dich das in etwas hinein.« Er lächelt ein kindliches Lächeln.

Ich gehe also zurück in die Hölle, und ich spüre ein Gefühl, ein altes. Ich will hinaus, ich hasse alle, ich kann genausowenig im Raum bleiben, wie ich als Kind zu Hause bleiben wollte. Seit ich fünf Jahre alt war, lief ich dauernd weg. Ich erinnere mich jetzt, wie unglücklich ich war, wie verzweifelt. Wie traurig es für ein kleines Mädchen war, so zu fühlen. Ich bin dauernd von zu Hause weggelaufen, genau, wie ich mein Leben lang um die Welt gelaufen bin, wie ein Komet, nie wirklich irgendwo geblieben bin, damit ich nicht fühlen mußte, daß mich zu Hause keiner liebte und auch sonst nirgends auf der Welt. Nach zwei Stunden Gruppen­sitzung will ich nicht mehr weglaufen. Das Licht kommt zurück. Sie warten darauf, daß ein Junge mit dem fertig wird, worin er gerade ist, was etwas Tiefes zu sein scheint. Dann setzen Marc und Joshua sich auf zwei Stühle.

Die Leute liegen oder sitzen auf dem Boden oder weinen oder tun, was sie sonst gerade fühlen. Sie fangen an, das zu sagen, was sie sagen müssen, um ihre Gefühle zu beenden oder in ein Gefühl hineinzukommen. Es ist sehr interessant, die ganze Sache zu beobachten.

Während jemand spricht, sind alle still, und die meisten sehen zu, bis auf die, die gerade in ihren eigenen Primärerlebnissen sind. Manchmal kann man den Sprechenden nicht verstehen, weil jemand weint oder plötzlich ein lauter Schrei ertönt und ein Körper sich in heftiger Qual windet oder jemand durch den Raum geht und schreit: »Ich hasse dich, ich will dich umbringen« und sich auf den Punchingsack stürzt und sagt: »Ich weiß nicht, wer ich bin und was ich will.« (Wenn das Gefühl hochkommt, können die Patienten sich die Zeit nehmen, die Handschuhe anzuziehen, und dann können sie wirklich ihre Wut hervorbrechen lassen und sie äußern.)

Ich war nie in irgendeiner Therapie oder Gruppe dieser Art, und sie zu beobachten ist einfach phänomenal für mich. Wie können diese Menschen so frei sein und den Mut haben, all das zu sagen? Ich bin erstaunt, noch mehr als vorher, als die Gruppe im Dunkeln war. Ein Bursche erzählt der Gruppe, wie er von seinem Vater gefesselt wurde und stundenlang zusehen mußte, wie dieser eine Peitsche anfertigte. Es fällt ihm sehr schwer zu sprechen. Es ist offensichtlich, daß die Erinnerung an die ganze Szene hochkommt, während er redet, und er ist völlig in das Gefühl versunken. »Er schnitzt den Peitschengriff und zeigt ihn uns.« Ich bemerke, daß die meisten Patienten Tränen in den Augen haben. Ich selbst auch.

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Abend

Während ich mich zum Zubettgehen fertigmache, sehe ich Bilder von unserem Sommerhaus. Ich sehe die Gesichter meiner Brüder und meiner Schwester und anderer Kinder und Christina, die damals meine Freundin war. Ich habe seit dreißig Jahren nicht mehr an sie gedacht. Unsere Eltern waren sehr befreundet; sie stand dem Leben viel offener gegenüber als ich. Ihre Sexualität entwickelte sich sehr früh, und sie ließ mich diesen geheimen Teil meiner selbst entdecken, von dem sie meinte, er verdiene mehr Aufmerksamkeit, als ich ihm bisher erwiesen hatte. So steckten wir am Strand Muscheln in unsere »Muschel« und fanden das sehr hübsch. Es ist lustig, sich daran zu erinnern. Wir waren so jung und süß, und während ich an diese Kinderspiele denke, schlafe ich lächelnd und lachend ein. Für wie lange?

 

Dienstag, 21. Oktober

»Heute war die Sitzung großartig«, sagt Mary. Ich durchlief Szenen am Strand, wo ich mich vage auf dem Hintern durch den Stand rutschen sah und mich in diesem elenden Zustand elend fühlte.

Dann tat mir etwas wirklich weh, als ich mich erinnerte, wie Papa meinen Bruder Joe schrecklich verhauen hat. Ich habe das ganz stark wiedererlebt, mitsamt meinem Gefühl der Hilflosigkeit, dem Wunsch, Papa zu sagen, er solle aufhören, und auch mit meiner Angst vor ihm. Ich sah ihn als Riesen, außer Kontrolle, etwa wie Jupiter, der seine gigantische Kraft an einer Fliege ausläßt. Ich war ganz da und erlebte wieder die Furcht, er werde meinen kleinen Bruder töten. Dieser ganze Gefühlsaufruhr kocht in mir, und ich erkenne durch den Schmerz des Primärerlebnisses das ganze schlimme, schlimme Übel, das Papa uns zugefügt hat, indem er uns nicht liebte. (Das ist für mich jetzt ziemlich offensichtlich, wirklich zum erstenmal.)

Als der Sturm vorbei ist, sehe ich mich, wie ich meinen Bruder in den Armen halte, wir beide allein am Strand, und fühle, wie sehr ich ihn beschützen wollte. Sie gegen uns. Ich erkenne auch, daß ich mein ganzes Leben lang versucht habe, meinen Vater glücklich zu machen und zu sein, wie er Joe haben wollte — mit anderen Worten, sein Sohn zu sein. Ich hatte solche Angst vor seiner ungeheuren und gewalttätigen Wut, und ich dachte, auf diese Weise würde er mich vielleicht endlich akzeptieren.

Papa gab mir das Gefühl, als Frau sei ich automatisch eingeschränkt. Ich mußte ihm beweisen, daß ich das nicht war, und ihn auf seinem eigenen Terrain schlagen. Vielleicht würde ich dann etwas bedeuten, wie ein Mann sein, das Leben eines Mannes führen.

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Das war mein Ziel — mir selbst zu beweisen, daß ich etwas für mich tun konnte. Das glaubte ich damals. Tatsächlich habe ich nur erbärmlich ausagiert und noch immer versucht, Papa dazu zu bringen, mich zu lieben. Mary erklärt mir, daß der Primärprozeß wie eine Welle ist, die sich nach und nach entfaltet, die Menschen die Vergangenheit fühlen und wiedererleben läßt, dem Rhythmus des Körpers folgt und allmählich alles enthüllt.

 

Freitag, 24. Oktober

Gestern abend wollte ich niederknien und mit Papa reden, ihn um Verzeihung bitten für all die schrecklichen Dinge, die ich gesagt habe und in den Primärerlebnissen wieder sagen werde. Ich wußte, das Knien würde etwas bewirken. Kaum hatte ich es getan, brach ich in Tränen aus und spürte den Schmerz von Papas Tod und fing an, mit ihm zu reden.

Mary läßt sich die Geschichte von Papas Tod vor vier oder fünf Jahren erzählen. Es ist schwer. Mein ganzer Körper zittert und bebt heftig.

Ich sehe, wie Papas Sarg weggetragen wird. Ich sehe mich selbst zusehen ... die Welle, die Verzweiflung, die ich damals so gut zurückgehalten habe... ein ungeheurer Schrei. »Papa, geh nicht... geh nicht... bitte, verlaß mich nicht... verlaß mich nicht... ich liebe dich.« Es tut sehr weh, und der Schmerz nimmt noch zu. Ich kann es nicht aushallen. Es tut zu weh. Ich schreie, weil der Schmerz zu stark ist; es ist entsetzlich.

Ich gebe den Versuch auf, mich zu fassen, aber es ist »offen«. Etwas im Zementsystem meiner Abwehr ist aufgebrochen, und durch den Spalt brennen das Feuer und dann die Realität. Die Dämonen, die ich so lange gefesselt und niedergehalten und ignoriert habe, sprengen endlich den Deckel, befreien sich und verlassen mich. Mein Körper will seinen Anteil, und ich beschließe, ihn tun zu lassen, was immer er tun will. Er hatte bei mir vorher nie irgendeine Autonomie. Mir ist bewußt, was mein Körper anscheinend tun möchte. Eigentlich nichts Besonderes, aber in meinem Alter am Daumen zu lutschen, vor jemandem, den ich erst seit ein paar Tagen kenne, ist noch immer schwierig. Meine Beine scheinen gefesselt zu sein. Ich kann sie wirklich nicht bewegen. Seltsam. Ich merke, daß ich sie während sämtlicher Sitzungen nie geöffnet habe. Mein Körper hält sich an sich selbst fest. Ich versuche, die übereinander­geschlagenen Beine zu lösen, und kann es nicht. Das macht mir angst. Ich weine sehr kindlich. Noch immer bin ich nicht an die seltsamen Geräusche gewöhnt, die aus mir heraus­kommen, und ich bin mir ihrer zu bewußt, um sie wirklich herauszulassen. Das Daumenlutschen tut gut, aber ich bin zu müde. Allmählich beruhige ich mich. Ich fühle mich leer und erschöpft nach dem großen Tornado.

101


Ich bin verblüfft über die Qual, die mein ganzes Selbst durchmacht und die unausweichlich ist, wenn sie einmal begonnen hat. Mein Gesicht ist schwer gezeichnet, und meine Haut ist ein Chaos. Es ist ein Erdbeben, das mich erschüttert hat. Gestern abend erinnerte ich mich, wie ich Papa meine erste Zeichnung zeigte mit all ihren Farben und meinem Stolz darauf. Er wußte nicht, was er damit anfangen sollte. Er lächelte mich vage, gleichgültig und höflich an, »sehr gut, Kleine«, und versank gleich wieder in seinen Tagträumen. Ich zeichnete nie wieder etwas, ich zeigte ihm nie wieder etwas. Ich zeigte keinem mehr irgend etwas.

Ich bat ihn auch nicht, sich für mich zu interessieren. Ich wollte nicht mit seiner Gleichgültigkeit konfrontiert werden. Alle außer mir waren gut genug. Deshalb bringt es mich so aus der Fassung, wenn jemand, den ich liebe, das, was ich brauche, jemand anderem gibt. Es läßt all die alten Gefühle hochkommen. Ich nannte das Unsicherheit. Das tat auch der Psychoanalytiker. Offenbar ist es aber komplizierter. Es ist meine eigene, spezifische Erfahrung, keine typische Unsicherheit, die jeder haben könnte, nur ich kann entdecken, was meine Vergangenheit ist und sie verstehen, niemand sonst.

Und ich verstehe jeden Tag so viel. Meine Eltern sagten immer: »Wenn du weinen willst, weine in deinem Zimmer. Du bist nicht interessant, wenn du weinst; du langweilst uns.« Richtig, ich setzte also ein tapferes Lächeln auf und ging so durch das Leben, nur wurde mein Lächeln trauriger und trauriger. Ich durfte keine Gefühle haben, weil sie meine Eltern langweilten. Ich mußte sie verstecken, sie nach und nach abtöten, um akzeptiert zu werden. Ich mußte den lebendigen Teil meiner selbst abtöten, den fühlenden Teil, als Preis dafür, daß sie mich akzeptierten. Bei dieser Erkenntnis fühle ich einen vernichtenden Schmerz. Wieder ein Stück desselben Puzzles, oder sollte ich sagen, derselben Gefühle?

Dann wird mein Körper auf einmal rastlos; etwas kommt hoch, das mir nicht gefallen wird. Ich werde wütend — fötale Stellung und kindliches Weinen. Ich komme noch immer nicht darüber hinweg, mich so weinen zu hören; ich weiß nicht genau, was das ist. Ich fühle mich sehr eigenartig.

Die Spannung, die ich in den letzten Wochen einige Male gespürt habe, dehnt meine Schultern und setzt sich in meinem Genick fest. Mein Kopf schiebt, schiebt, ich weiß nicht, was. Meine Beine sind voller Gefühle. Sie helfen beim Schieben mit. Ich bin im Dunklen, in einer seltsamen Atmosphäre. Ich weiß nicht, was vor sich geht. Ich schiebe weiter. Die Beleuchtung ist merkwürdig. Ich bin im Mutterschoß. Ich will heraus. Sobald der Gedanke kommt, weise ich ihn zurück. Das kann nicht sein. Die Idee ist zu verrückt. Ich schlage mit dem Kopf gegen die Wand und schiebe wie wahnsinnig. Mary scheint es überhaupt nicht verrückt zu finden; sie ist nicht einmal überrascht — als sei das die normalste Sache der Welt. Nun, mein Fassungsvermögen übersteigt sie jedenfalls.

102


Heute abend ist es, als käme ein langsamer Tod über mich. Der Tod. Ich war immer davon besessen. Die Angst, im Dunkeln allein zu sein, ist noch da. Ich bin allein, ich war immer allein, ich werde es allein nie schaffen, ich brauche Hilfe. Ich habe solche Angst. Es ist, als würde ich sterben, wenn mir keiner hilft, wenn niemand kommt. Ich bin ganz still, ich wage mich nicht zu bewegen, und langsam spüre ich, wie ich unwiderstehlich in eine ungeheure Schläfrigkeit falle. Ein Teil von mir gerät völlig in Panik. Ich muß aufstehen und Hilfe holen. Jemand muß kommen, oder ich werde sterben. Aber ich bewege mich nicht. Mein Körper verweigert die kleinste Regung. Ich fühle mich unter Drogen gesetzt und werde sterben. Ich versuche , tief Luft zu holen, und stelle fest, daß ich nicht atmen kann. Die Panik wächst und mit ihr mein Bedürfnis zu atmen. Ich versuche, den Mund zu öffnen, ich fühle, wie er sich in einem lautlosen Schrei verzerrt. Ich bekomme keine Luft, und ich ersticke, bis ich fühle, wie ich in ein schwarzes Loch falle. »Wo bist du, Mama? Ich brauche deine Hilfe. Ich sterbe.« Ich habe keine Ahnung, wie lange ich in diesem narkoleptischen Zustand blieb. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor.

Plötzlich fühle ich von irgendwo weit in meinem Inneren her das überwältigende Bedürfnis, mich zu bewegen, auch Angst davor, das Bedürfnis zu schreien, mich aus diesem Tod herauszuschütteln. Etwas in mir weigert sich zu sterben. Ein Teil von mir, noch immer lebendig, wächst. Ich muß all meine Willenskraft zusammennehmen. Es ist ein physisches Bedürfnis. Ich muß mich bewegen, ich muß da heraus. Ich muß heraus.

Während ich mich zwinge, mich zu bewegen, diese unglaublich machtvolle Lethargie abzuschütteln, stoße ich einen unmenschlichen Schrei aus, und mein Körper beginnt sich sprunghaft zu bewegen. Ich fange an zu treten, mein Rücken wölbt sich heftig, jeder Teil meines Körpers schmerzt, er spannt sich an, um mich schieben zu lassen, in eigenartigen Bewegungen zu kriechen, die ich nicht verstehe und in keiner Weise kontrollieren kann. Ich muß es nur mit aller Kraft tun. Es ist äußerst schwer, aber ich muß es tun. Ich schiebe, ich winde mich, ich würge. Ich kann nicht atmen. Wieder sterbe ich .Wieder falle ich in den komaähnlichen Zustand, und wieder holt diese kleine Flamme mich da heraus. Während ich noch schob und zu atmen versuchte, fühlte ich plötzlich, daß ich es schaffte. Ich konnte atmen ; ich konnte die Augen aufmachen. Aus meinem tiefsten Inneren stieg eine Explosion von erstaunlicher Intensität auf, überflutete mich und wuchs zu unerwarteter Seligkeit. Ich habe es geschafft. Ich habe es geschafft. Ich lebe. Und plötzlich ein Blitz. Ich bin geboren!

Die Freude war überwältigend. Ich lachte. Ich spürte, wie das Blut rasch durch meinen Körper strömte. Jeder Teil von mir wollte sich bewegen, sich dehnen, springen, die unglaubliche Freude äußern, die ich jetzt fühlte. Sie wurde zu reiner Ekstase, der Ekstase, einfach am Leben zu sein. Ich lachte allein in meinem dunklen Zimmer und erkannte, daß ich mich nie zuvor so gefühlt hatte.

103


Konnte Lebendigsein sich so anfühlen? Wie phantastisch. Ein paar Tränen bei der Erkenntnis, daß es so für mich noch nie gewesen war. Ich hatte nur Schmerz gefühlt, niemals Freude, aber nun war sie da, und ich wollte mehr davon. Eine neue Sucht zu leben fing an. Es war phantastisch. Ich war erschöpft, und trotzdem wollte ich auf und ab springen, meinen Körper spüren, der sich bewegte und tanzte. Ich war endlich geboren. Die Einsichten begannen zu strömen. Ja, meine Geburt, ganz unverkennbar.

Die Agonie des Todes, der Kampf, geboren zu werden, und schließlich das Heraustreten in diese Welt, ganz allein, ohne Hilfe, nur aufgrund meiner Entschlossenheit, nicht zu sterben. Die gleiche Entschlossenheit hat mich das Schlimmste überleben lassen und mich auf der Suche nach etwas gehalten, das mich retten könnte. Sie hat mich in die Therapie geführt, und hier bin wieder ich die einzige, die es schaffen und mich selbst retten kann. Ich weiß jetzt, daß ich es schaffen werde. Ich mußte den Schoß meiner Mutter verlassen, in dem ich gefangengehalten wurde und zu lange Zeit langsam erstickte. Ich mußte aus der Kontrolle ihres Körpers herauskommen. Ich mußte mein Zuhause verlassen, weil ich die ständige Kontrolle nicht ertragen konnte, der ich unterworfen war, die Strenge einer katholischen, bürgerlichen Erziehung. Ich mußte fähig sein, zu tun, was ich wollte, weil ich sonst sterben würde. Und das Kind, das ich war, ist tatsächlich in all diesen Jahren der Repression und des Mangels an Liebe gestorben. Aber jetzt werde ich es zurückbekommen, und Alietta wird wieder leben. Ich fragte meine Mutter später, was bei meiner Geburt geschehen sei. Zuerst erinnerte sie sich nicht, dann gab sie die Tatsache zu, daß man ihr Drogen gegeben hatte, damit sie sich entspannte, denn ich konnte nicht herauskommen.

 

Gruppe

Der Mann mit der Peitsche, Raoul, erklärt, wie er ständig von seinem Vater gedemütigt wurde. Er entschuldigt sich dauernd. Er hört nicht auf zu reden und scheint einige Schwierigkeiten zu haben, in sein Gefühl hineinzukommen. Er sagt, er habe eine Peitsche angefertigt und mitgebracht. Er zeigt sie uns. Bernard streckt die Hand aus und nimmt sie auf eine sehr bedrohliche Weise. Ich sehe fasziniert zu. Dieser Ort ist voller Überraschungen. Raoul sieht Bernard ängstlich an wie ein kleines, erschrockenes Kind. Plötzlich tut Bernard, der sehr groß ist, als werde er Raoul schlagen, und statt ihn zu berühren, peitscht er sehr hart die Wand. Alles geht sehr schnell. Noch in der gleichen Sekunde hat Raoul auf dem Fußboden ein tiefes Primärerlebnis, und fast alle im Raum drücken die Nasen in den Teppich. »Bitte, Daddy, bitte, schlag mich nicht.«

104


Die Erinnerung an meinen sehr ernsthaften Selbstmordversuch und den Schmerz, den mein Ex-Mann mir damals bereitete, kommt zurück. Ich hatte ihn verlassen, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Als ich es tat, war es eigentlich keine rationale Entscheidung. Eine mächtige Kraft in mir hatte die Kontrolle übernommen und sorgte dafür, daß ich Distanz zwischen ihn und mich legte. Ich hatte mir ein eigenes Apartment gemietet. Ich mußte es einfach tun. Aber warum? Ich habe nie wirklich verstanden, woher diese Kraft kam, ihn zu verlassen, aber sie war unwiderstehlich — als hinge mein Leben davon ab. Ich mußte einen endgültigen Abstand zwischen mich und die Quelle meines Schmerzes legen (ihn), wenn ich überleben wollte. Während mir diese Worte durch den Kopf gehen, verstehe ich sie plötzlich. Seine total kontrollierende Haltung weckte wieder das Gefühl, das ich jetzt kenne: die Unmöglichkeit, mich kontrollieren zu lassen, Geburt, unerträglicher Schmerz, Hilflosigkeit, Tod.

Alles, was ich tun konnte, war, vor der offensichtlichen Quelle von Ablehnung und Schmerz wegzulaufen. Als ich unter der Trennung litt, legte ich Abstand zwischen mich und mich selbst, mich und meinen Schmerz. Ich nahm eine Überdosis Tabletten. Daran war nichts Dramatisches. Ich hinterließ für niemanden eine Nachricht, ich wollte einfach für alle Zeit schlafen. Das Leben war nicht lebenswert, wenn ich so fühlen mußte. Ich erinnere mich an diese traurigen Tage. Ich wurde mit höchster Geschwindigkeit in einem Krankenwagen durch Roms überfüllte Straßen gefahren, und zwar am dritten Tag meines Komas. Ich habe keine Erinnerung daran, doch seit damals kann ich keine Krankenwagensirene mehr hören, ohne in Tränen auszubrechen. Heute schluchze ich leise: »Ich habe versucht, mich zu töten, weil ihr mich nicht geliebt habt.«

 

Die Halloween-Party

Jemand erzählte mir, daß Janov jedes Jahr eine Halloween-Party gibt, bei der wir uns alle verkleiden sollen, um auszudrücken, wie wir uns wirklich fühlen oder was wir zu sein hoffen. Das ist sicher die schwerste Rolle meines Lebens. Es ist wie Fellini. Ich habe ein Gefühl, als würde ich halluzinieren. Als ich den Raum betrete, werde ich an der Tür von etwas begrüßt, das ich hasse - einem Skelett. Es ist aus Papier, aber es ist wie die, die ich als Kind sah, und das reichte, um mir Todesangst einzujagen. Ein weiteres hängt von der Decke.

John ist in der Ecke, aber er weiß nicht, wie er sich kostümieren soll. Er wickelt sich in viele Meter Silberpapier, steht auf und sagt: »Ich war eine Maschine zum Geldverdienen. Das ist ein gutes Bild von mir.« Dann hat er das Gefühl, nichts als eine Geldmaschine zu sein, statt für das geliebt zu werden, was er war.

105


Heute abend habe ich nicht den geringsten Wunsch zu fühlen. Ich bin fasziniert, die Menschheit so zu sehen, wie sie wirklich ist. Ich will keine Sekunde verpassen. Da hängt jemand an einem riesigen Kreuz in der Ecke. Ich höre, daß er ein ehemaliger Priester ist. Ein anderer Geistlicher reißt Seiten aus der Bibel und wirft sie überall herum. Dabei trägt er seine übliche Kleidung. Es ist ein anrührender und eindrucksvoller Anblick, eine Art grotesker Realismus. Es gibt Patienten in Windeln, die an Flaschen saugen. Ein anderer riesiger Bursche hat seine Windeln mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Ein schönes Mädchen trägt ein weißes Gewand wie ein Engel mit Flügeln und Federn. Sie zieht Kleenextücher aus einer Schachtel, aber mit ganz unengelhafter Wut, und denkt, man habe sie immer gezwungen, ein Engel zu sein, obwohl sie sich nicht wirklich so fühlte. Da ist eine Ballerina, die früh im Leben zu Ballettstunden gezwungen wurde und die mit viel Wut und Groll tanzt.

Ein Mann ist in Ketten gekommen. Er ist nackt, und er ist wirklich Prometheus. Ich frage mich dauernd, wie er es geschafft hat, seine Hände und Füße aneinanderzuketten. Da ist ein Tennisspieler, komplett mit Schläger und Augenschirm, der erzählt, daß er in seinem ganzen erwachsenen Leben ein Transvestit war und wie er sich immer gewünscht hat, seine Mutter möge irgendein Gefühl zeigen. Da gibt es einen Burschen im Matrosenanzug neben einem nackten Mädchen, die immer Angst hatte, ihren Körper zu zeigen. Aber jetzt zeigt sie ihn. Inzwischen schreit ein anderer nackter Mann, der eine Erektion hat: »Es ist nicht schmutzig, Mama! Es ist nicht schmutzig! Das bin nur ich!«

Ein anderer Mann trägt Gefängniskluft und schleppt einen schweren Plastikball mit sich herum, und eine Frau sitzt mit einer kleinen roten Puppe in den Armen da und spricht in Babysprache mit ihr. Inzwischen verläuft die Gruppensitzung wie üblich, Leute stehen auf und sprechen über ihre Kostüme und was sie bedeuten, fallen auf den Fußboden und schreien. Es scheint ein absolutes Chaos zu sein.

Ich kann die Nach-Gruppe gar nicht erwarten, wenn Art seinen Stuhl nimmt und die Action wirklich losgeht.

Die Gefühle hinter einigen Kostümen sind ziemlich offensichtlich und führen den Betreffenden gleich hinein. Da gibt es eine Dame in Krankenschwesterntracht, die ihren hypochondrischen Vater ihr Leben lang pflegte und sehr wütend war über all seine Forderungen und darüber, daß sie ihm ihr ganzes Leben geopfert und niemals geheiratet hatte. Ihre Wut war unglaublich. Ein anderes Mädchen in einem sehr sexy Kostüm sagt, sie sei immer sexuell verführerisch gewesen, obwohl sie darunter noch ihre Windeln trug und nur ein Baby war, das Liebe brauchte und gehalten werden wollte.

»Dieses Mädchen war eine Waise«, sagt Janov mit sehr leiser Stimme (die Art von Stimme, bei der man gleich in seine Arme springen und sich den ganzen Winter hineinkuscheln möchte). »Sie ist in Ordnung. Ihr alle erkennt euch in ihr wieder, weil ihr Waisenkinder mit Eltern seid.«

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Ich weine jetzt heftig, aber ich will aufhören, weil ich nichts von der »Show« verpassen möchte. Art fragt George, warum er Ketten trägt, und George sagt: »Weil ich meinen Schmerz nie zeigen konnte. Ich konnte mich nie äußern. Ich fühlte mich so gefesselt, weil sie mich und meine Bedürfnisse mißverstanden.« Er weint und wimmert. Nachdem George das Schreien und Weinen hinter sich gelassen hat, kniet Art nieder und löst seine Fesseln. Das ist ein schönes Symbol der Entdeckung.

 

Danach kommt ein Mädchen, Rebecca, die ein Engelskostüm trägt. Art fragt sie nach dem Grund. Sie schaut zu Boden und antwortet nicht, wie ein trotziges Kind. Dann beginnt sie zu reden. Wir alle hören angespannt und in vollkommener Stille zu. Was sie sagt, ist so indirekt. Ich kann fühlen, wie alle ihre Worte durch den Schirm ihres Schmerzes gehen. Sie macht nur Umwege. Sie hört sich an wie eine Maschine, die nicht in Ordnung ist. Es ist erschreckend. Mein Herz zieht sich zusammen, während ich ihr zuhöre. Endlich erreicht sie am Ende ihres endlosen Monologs die Wunde. »Ich mußte immer ein Engel sein. Ich hatte so artig und wohlerzogen zu sein, daß ich nie wütend oder böse sein oder irgend etwas sagen durfte, das auch nur ein wenig unpassend war.« 

Und dann fällt sie in einem Wutanfall zu Boden, schlägt um sich und schreit. »Ich hasse das, was ihr mir angetan habt! Ich hasse euch! Ich hasse, was ihr mir angetan habt! Ich hasse jeden!« Ihre Flügel schlagen, und sie windet sich in ihrem brennenden Haß auf dem Boden. Während sie schreit, steht ein Mann auf. Ich kann nur raten, daß er ein Mann ist, weil er ein sehr grünes Kleid trägt. Er hat eine Perücke auf und sieht fremd aus. Ich erkenne ihn nicht. Sein Geständnis ist schmerzhaft. Er ist homosexuell, und es war schwer für ihn, in einem Kleid zu kommen. Er sagte, er habe auf der Institutstoilette zweimal masturbiert, ehe er in die Gruppe kam. Er hatte solche Angst, weil er wußte, daß er all das würde sagen müssen. Und wenn er Angst hat, masturbiert er. Langsam beginnt er sich vor uns allen zu entkleiden. Ich sehe fasziniert zu. Was er versuchte, war, sich von einer Frau in einen Mann zu verwandeln, während er mit einer Babystimme nach seiner Mama rief.

In der Ecke ist eine Frau, die ihr ganzes Leben lang ein hilfloses Kind geblieben ist, und sie trägt ein kleines Babykleid. Das war die einzige Art, wie sie die anderen dazu bringen konnte, sich um sie zu kümmern — zuerst ihre Mutter, dann ihren Ehemann. Ein Bursche ist jetzt nackt, weil er die Nadel für seine Windel verloren hat. Ein anderer trägt einen Computer und sagt, sein ganzes Leben sei er eine Maschine gewesen, die mechanisch sehr gut funktionierte, aber nie etwas fühlte. Die Ballerina tanzt mit einer Freiheit, die sie nie zuvor gekannt hat, weil sie immer so nervös und angstvoll war. Sie ist wirklich anmutig.

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Und dann schreit sie ihre Eltern an: »Schaut auf meinen häßlichen Körper! Schaut auf meinen häßlichen Körper! Ich habe immer versucht, ihn zu verstecken, ich haßte mich selbst so sehr. Aber schaut mich jetzt an, denn das ist alles, was ich bin. Wenn ich euch nicht gefalle, habe ich Pech gehabt. Ich bin, was ich bin.« Und sie lächelt und lächelt. Die ganze Sache erinnerte mich an Marat-Sade. Dieser Abend scheint über jede Vorstellungskraft hinauszugehen. Ich werde ihn für alle Zeit im Gedächtnis behalten.

 

Samstag, 1. November: Letzter Tag der drei Wochen

Mein neues Primärtherapie-Leben ist schön organisiert, nachdem nun die Zeit im Motel vorbei ist. Ich werde mir mit meiner Freundin Arlene ein Haus teilen. Es sieht so aus, als müßten wir länger in LA bleiben, als ich gedacht hatte. Ich dachte, die Therapie würde drei Wochen dauern! Meine Primärerlebnisse sind sehr stark. Ich bin sehr wütend oder habe das Gefühl, ich würde verrückt, wie gestern abend. Sie sind schwer und voller Gefühle und Schluchzen. Ich werde eine Weile davon überwältigt, und dann, »puff«, ist es vorbei. Ich mag es, wenn es sich so aufrollt. Ich öffne mich mehr und mehr. Der Schlamm ergießt sich aus mir, und ich fühle mich innerlich sauberer. In der Gruppe gestern abend hatte ich dieses schreckliche Gefühl, total verkorkst zu sein, und ich dachte: »Tötet mich nicht. Bitte, ihr bringt mich um. Nicht mich. Hört auf.« Ich leide zutiefst und fühle, wie unmöglich es ist, daran etwas zu ändern. Das Gefühl dessen, was mir angetan wurde, zerdrückt mich. Ich fühle, daß mein ganzes Leben, jede einzelne Minute, ein Alptraum war. Ich fühle es, zum erstenmal, wie ich es nie gefühlt habe. Welche Ironie, daß mein Leben von außen so schön aussah.

Als ich gestern abend das Elend meines Lebens spürte, fühlte ich wieder, daß Papa mich immer klein gemacht hat, wirklich zu einem Nichts. Ich existierte nicht, und deshalb habe ich mir alles versagt. Ich bin nichts, denn so haben sie mich behandelt. Das erklärt, warum ich in letzter Zeit immer unsicherer geworden bin. Ich kann nicht glauben, daß irgend jemand mich lieben könnte, denn tief unten in meinem Inneren fühle ich mich wirklich sehr klein, zurückgewiesen, schlecht und uninteressant. Nicht liebens­wert.

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Montag, 3. November

Ich sehe Papas Augen. Sie ängstigen mich zutiefst. Ich fühle meine Angst jetzt sehr gut. Ich habe wirklich Angst vor ihm. Könnte das meine Einstellung zu Männern beeinflußt haben? Ich tat immer kühl, aber ich hatte wirklich buchstäblich Angst vor ihnen. Jetzt denke ich über das Desaster meines Lebens nach. Jede Einsicht zeigt meine Krankheit und wie tief sie ist. Habe ich überhaupt noch irgendeine Freiheit in mir, ich selbst zu sein, oder bin ich völlig durch den Schmerz programmiert? Eines ist sicher: Dreißig Jahre meines Lebens sind verloren.

Nachdem ich diese entsetzliche Realität gespürt habe, ruhe ich mich aus und denke über die drei Wochen nach. Sie haben mein Leben bereits verändert, aus vielen Gründen. Der offensichtlichste ist der, daß ich jetzt dem Primärprozeß vertraue. Bei mir hat er stattgefunden, und das ist eine große Erleichterung. Aber die Angst, daß das alles aufhört, nachdem ich nun allein bin, ist hartnäckig. Später werde ich durch Primärerlebnisse von der Geburt entdecken, daß es ein »großes« Gefühl für mich ist, das mehr zur Vergangenheit als zur Gegenwart gehört. Im Augenblick bestaune ich ehrfürchtig alles, was geschehen ist. Ich fühle mich erhoben und gequält von der Realität, die ich in mir entdeckt habe — erhoben, weil meine Fähigkeit, Schmerz zu fühlen, Hoffnung bedeutet. Ich habe gesehen, wie es wirkt; ich habe es erkannt. Was da endlich auftaucht, bin ich, und das fühlt sich gut an. Es ist, als müßten diese kleinen Stücke meiner Vergangenheit, meiner Gefühle, meiner Erinnerungen mir bewußt sein, damit ich vollständig sein - oder werden - kann. Es gefällt mir, all diese Stücke meiner selbst nach und nach aus der totalen Dunkelheit zu ziehen, wo sie so lange lagen. Das Erstaunliche ist, daß alles da ist, in der Qual des Schmerzes, und darauf wartet, daß ich es wieder­entdecke.

Wie machtvoll, wie quälend der Schmerz ist. Ich hätte mir das nicht vorstellen können, und ich glaube, daß niemand es sich vorstellen kann, der ihn nicht gefühlt hat. Diese Macht muß einen Einfluß ausüben, wenn sie verdrängt wird. Mir scheint, daß mein ganzes Sein von diesen Erinnerungen abhängt, diesen ungeheuren Bedürfnissen, dem immensen Schmerz. Es ist schlimmer, als ich dachte... und besser. Ich ermesse jetzt die Größe der Katastrophe, aber ich habe auch Hoffnung. Eines Tages werde ich wieder ein Leben haben. Diesmal liegt es nur an mir. Diese drei Wochen waren die faszinierendsten meines Lebens. Und jetzt muß ich den Rest des Weges zurücklegen. Wie tief, wie lange, wie weit muß ich gehen?

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Fünf Jahre später

 

Nun sind fünf Jahre unerwarteter Qual und großer Freude vergangen. Zeit, um zurückzuschauen. Ich nehme an, das Hauptereignis meiner Therapie und meines Lebens ist meine Geburt. Und das ist natürlich eine ziemliche Überraschung. Absolut verblüffend, daß dieses ferne Geschehen die Quelle ist von allem, was ich tue, allem, was ich bin. Es ist der Dreh- und Angelpunkt der grund­legenden Tendenzen meiner Persönlichkeit.

Das Szenario, das ich auswendig kenne, lief an einem sehr unfreundlichen Novembertag während des Krieges ab. Meine Mutter sollte entbinden. Sie war nicht bereit, sich zu öffnen, aber ich war bereit, geboren zu werden. Wie ich später erfuhr, wird das Signal zur Geburt vom Baby gegeben, wenn es dazu bereit ist. Also muß ich genau das getan haben, aber meine Mutter war nicht bereit, sich zu öffnen. Etwas in ihrem Körper kämpfte gegen den natürlichen Vorgang an. Wollte sie dieses Baby nicht? 

Was immer der Grund war, er beeinflußte mein ganzes Leben. Als das Signal zur Geburt gegeben wurde und alle meine Regungen auf dieses Ziel gerichtet waren, begann ich, mich im Geburtskanal abwärts zu bewegen, und alles war gut. Ich hätte hinausgehen sollen, aber ich konnte nicht, und ich begann zu ersticken. Sehr lange. Vielleicht hat es in Wirklichkeit nur kurze Zeit gedauert, aber in meinen Primärerlebnissen fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Also erstickte ich und begann langsam zu sterben, geriet bis an den Rand des Todes. In einem letzten Aufwallen von Überlebenswillen versuchte mein Körper verzweifelt, herauszukommen, etwas Luft zu bekommen und dieses unerträgliche Gefühl von Ersticken und nahem Tod zum Verschwinden zu bringen. Mein Überlebensinstinkt nahm die Form einer ungeheuren Wut an, die mich mit aller Energie verzweifelt drängen ließ, geboren zu werden. Wieder erlitt ich eine Niederlage und war dem Erstickungstod nahe. Wieder die Wut, es zu schaffen, herauszukommen, und wieder eine Niederlage.

Endlich wurde ich geboren, schon verändert durch die Erfahrung. Ich wurde mit großen Streifen über die Stirn geboren, rot vor Wut und offensichtlich zornig. Die Hebamme warnte meine Mutter, uns stünden schwierige Zeiten bevor. Sie hätte nie so ein wütendes Baby gesehen. Sie sollte recht behalten. Man konnte mir nichts sagen. Mein totales Mißtrauen gegen meine Umgebung ließ mich jeden Befehl und jeden Zwang verweigern. Mein Bedürfnis nach Freiheit war zu jeder Zeit die Hauptkraft hinter meinen Handlungen. Das führte zu Schwierigkeiten mit meinen Eltern, Lehrern und jedem, der versuchte, mich zu beugen. Ich konnte keinerlei Eingriff in meine Willensfreiheit ertragen, weil das Tod bedeutete. Es war ungeheuer stark.

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Als ich meinen Mann verließ, war die übermächtige Kraft, die mich dazu trieb, Abstand zwischen ihn und mich zu legen, die Kraft der Geburt. Er schloß mich in seine Gesetze ein, und das konnte ich nicht aushalten. Ich mußte gehen. Ich hatte damals keine Ahnung, was diese Kraft war, die mich drängte, ihn zu verlassen, aber ich mußte es tun.

Die andere Facette dieser Umstände war die Tatsache, daß nichts mich aufhalten konnte. Jedes schwerwiegende Hindernis mußte überwunden werden. Ich mußte es schaffen. Ich konnte nie das Gefühl ertragen, festzusitzen oder hilflos zu sein. Wenn es so war, hatte ich buchstäblich den Eindruck, verrückt zu werden; die Erinnerung an die Todesnähe begann dann aufzusteigen - von der ich nichts wußte -, und ich mußte es schaffen. Um solche Gefühle zu vermeiden, steckte ich meine ganze Kraft in alles, was ich tat, und war daher erfolgreich.

Ich konstellierte die Einsamkeit, in der ich lebte, die Unmöglichkeit von Bindung. Ich vermied jedes Anzeichen von Abhängigkeit, weil Abhängigkeit wie bei meiner Geburt (von meiner Mutter) Todesgefahr bedeutete. Das Bedürfnis nach Freiheit war der andere Aspekt. Ich würde nie wieder in jemandes Macht sein. Nie wieder würde ich jemandem ausgeliefert sein. So war ich immer mein eigener Boss, voll für mich selbst verantwortlich. Wenn es nicht so war, stieg sofort das Gefühl der Todesnähe auf und teilte sich in Form unglaublich heftiger Migränen mit. Jedesmal, wenn ein Hindernis sein häßliches Haupt erhob, bekam ich eine Migräne. Darunter litt ich zwanzig Jahre lang, und ich hatte keine Ahnung, woher sie kamen. Jetzt kann ich sie loswerden, indem ich das Geburtsgefühl des Feststeckens wiedererlebe, den völligen Mangel an Sauerstoff, die Todesnähe. Nach jedem dieser Gefühle, die wiederzuerleben sehr hart ist, kann ich spüren, wie meine Migräne nachläßt und verschwindet. Jetzt weiß ich, woher sie kommt und was dagegen zu tun ist.

Das Gefühl äußerster Einsamkeit war die andere mächtige Triebkraft hinter meinem Verhalten. Meine Mutter half mir nicht, geboren zu werden, und daraus lernte ich, daß niemand da sein würde, wenn ich ihn brauchte, und daß ich mich nur auf mich selbst verlassen und von keinem Hilfe erwarten durfte. Auch das verstärkte die Einsamkeit meines Lebens. Ich konnte nie meine Probleme mit jemandem teilen, mich verwundbar zeigen oder um irgend etwas bitten.

Meine Mutter wollte nicht wirklich, daß ich geboren wurde, und das gab mir das Gefühl, zutiefst unerwünscht zu sein. Dieses Gefühl wurde später verstärkt durch all die Momente in meiner Jugend, in der sie und mein Vater mir das Gefühl gaben, sie wollten mich nicht um sich haben. Sie freuten sich nicht an meiner Gegenwart, meiner Gesellschaft oder der bloßen Tatsache, daß ich am Leben war. Sie gaben mir das Gefühl, meine schiere Existenz sei ein Fehler und alle wären viel besser daran gewesen, wenn ich nicht geboren worden wäre.

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So fühlte ich mich ungeliebt und dachte, alles sei meine Schuld. Warum liebten sie mich nicht? Was stimmte nicht mit mir? Unbewußt haßte ich mich selbst dafür, daß ich nicht geliebt wurde. Ich war ein Monster. Warum sonst soviel Haß und Gewalt gegen mich? Warum diese unmenschliche Behandlung? Ich war weniger wert als ein Hund. Ich konnte mich selbst nicht lieben, weil ich so schlecht war. Das ließ mich jedem mißtrauen, der mich wollte oder liebte. Daß ich von meinen Eltern nicht geliebt worden war, stellte sicher, daß mich nie jemand lieben würde. Ich konnte es einfach nicht akzeptieren. Das machte mich auch unfähig, Liebe zu geben. Und doch war alles, was ich mir im Leben wünschte, geliebt zu werden und zu lieben. Was für eine traurige Ironie.

Die andere mächtige Kraft in meinem Leben, über die ich keine Kontrolle hatte, war das ständige Bedürfnis »herauszukommen«, besonders, wenn etwas schief ging. Diese Grundtendenzen waren natürlich nicht bewußt. Sie bildeten meine »Persönlichkeit«. Ich war ein schwieriges Kind, unabhängig, stark, eine Einzelgängerin. Ich ließ mich nicht so formen, wie sie mich haben wollten.

Der Rest meiner Kindheit verstärkte diese Grundtendenzen nur: der Mangel an wirklichem Interesse bei meinen Eltern, der totale Mangel an wirklicher Liebe. Sie sprachen nicht mit mir. Obwohl mein Vater stundenlang auf mich einredete, sprach er in Wirklich­keit mit sich selbst. Sie beachteten meine Schmerzen oder Bedürfnisse niemals. Und ich hielt sie auf Distanz. Also lief ich weg. Ich mußte heraus. Immer, wenn etwas schief ging, lief ich weg. Ich konnte nicht mit ihnen kommunizieren. Ich blieb für mich. Ich bat niemals um irgend etwas.

Alles, worauf ich hoffte, war, so schnell wie möglich aus meiner Familie herauszukommen. Das schaffte ich. Sie waren nur froh, mich loszuwerden, als ich fünfzehn war. Ich mußte hinaus und mein Leben in meine eigenen Hände nehmen. Keine Macht über mich. Meine Freiheit war in Sicht. Ich würde dafür sorgen, daß ich sie nie wieder verlor. Dauernd packte ich die Koffer, sooft ein Liebhaber oder Freund seine Macht über mich behauptete. Am Ende wurde sogar hier meine Toleranz immer dünner und dünner. Ich packte ständig meine Koffer und reiste um den Planeten. Das letzte Mal tat ich es, um in die Therapie zu kommen.

Die andere völlig »entlegene« Folge meiner Geburt waren meine Selbsttötungs­versuche. Wenn das Verlassen einer Situation nicht mehr ausreichte, um den Schmerz niederzuhalten, wenn Abstand zwischen der Quelle des Schmerzes und mir nicht mehr genug war, legte ich Abstand zwischen mich selbst und meinen Schmerz. Ich versuchte, mich zu töten. Die Geburtserinnerung hatte mich gelehrt, daß nach Qual, Ersticken und Todesnähe der Tod selbst ein Ende der Agonie bedeutete, in der ich mich befand. Diese Gleichung blieb in meinem System. Wann immer die Situation hoffnungslos schien, wann immer ich keine Kontrolle mehr hatte und das Leiden unerträglich war, war Selbsttötung der naheliegende Ausweg.

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Tatsächlich war es der wiedererweckte Schmerz, der mich in diese Richtung trieb, und die letzte Lösung, die ich suchte, war die mit der Geburtserfahrung verbundene. Mein ganzes Leben wurde davon bestimmt, und ich hatte nicht nur keine Ahnung davon, sondern war auch vollkommen machtlos, etwas dagegen zu tun.

 

Fünfzehn Jahre später

Die Einsichten sind tiefer und vollständiger geworden. Nach so langer Zeit bin ich immer noch erstaunt über die Macht des Primärerlebnisses. Noch immer habe ich hin und wieder eines, aber der Schmerz ist endlich gewichen. Ich brauche diese Erfahrung nicht so oft zu fühlen. Nur wenn das Leben irgendeinen alten, unbeendeten Schmerz aufbringt, muß ich es fühlen. Das kommt jetzt sehr selten vor. Das Fühlen bringt immer Klarheit und Vereinfachung, und ich kann jetzt mit der Realität und der Gegenwart umgehen und nicht mehr mit der Vergangenheit.

Mein Leben ist jetzt sehr geordnet. Ich bin nicht mehr der Sohn meines Vaters. Ich bin nicht mehr die ehrgeizige Geschäftsfrau. Ich bin nicht mehr hinter dem Erfolg her, sondern nur nach der Erfüllung meines realen Selbst. Mein reales Selbst hat jetzt das Kommando; mein Leben ist viel schlichter. Ich habe endlich Liebe gefunden, und ich bin fähig, zu lieben und geliebt zu werden. Ich bin jetzt Künstlerin. Das hätte ich von Anfang an werden sollen, denn es gibt mir große Befriedigung und Frieden. Das ist mein reales Ich. Ich schlafe gut (ich litt immer unter Schlaflosigkeit), ich esse besser, ich trinke nicht und bin auch nicht mehr von Rauschmitteln abhängig. Ich bin ganz allgemein viel gesünder. Früher hatte ich Infektionen, Blutungen, und oft war etwas mit mir nicht in Ordnung. Meine Sehkraft verschlechterte sich rasch. Nach zwei Wochen Therapie hatte ich meine Brille verloren und lebte zwei Wochen ohne sie, ehe ich merkte, daß ich sie nicht mehr hatte.

Jetzt sind Jahre vergangen, und das Alter hat mich eingeholt. Ich bin viel weicher, man kann leicht mit mir auskommen, und ich bin viel offener und herzlicher. Ich gehe sogar zu Parties, obwohl ich das noch immer nicht sonderlich gern mag. Aber es ist nicht mehr die quälende Erfahrung, die es früher war, und sehr oft genieße ich es richtig. Es ist leichter, mit Leuten zusammen zu sein. Ich laufe nicht weg, sondern bleibe und fühle die Gefühle. Ich höre gern Musik und ziehe Blumen. Ich genieße mehr Stabilität und verbringe mein Leben nicht in Flugzeugen.

Mein Sexualleben ist normal. Jahrelang mußte ich Geburts-Primärerlebnisse haben, ehe ich einen Orgasmus erleben konnte, weil mein Körper durch den Geburtsschmerz so versperrt war, daß der Schmerz immer den Vorrang vor der Lust hatte.

Ich sehe entspannter aus, weil so viel Spannung mich endgültig verlassen hat. Meine Träume sind nicht mehr symbolisch. Wenn sie schmerzhaft sind, brauche ich nur zu dem in ihnen enthaltenen Gefühl zurückzugehen und es zu erreichen.

Ich glaube, ich habe bekommen, was ich von der Primärtherapie erwartete, und noch mehr. Ich weiß, wer ich bin und was ich bin. Ich bin mir selbst kein Rätsel mehr. Tatsächlich bin ich nicht sicher, ob ich noch ein Unbewußtes habe. So viel ist an die Oberfläche gekommen und bewußt geworden und geblieben. Das ist eine große Erleichterung. Mein Leben ist in Ordnung. All diese Jahre des Schmerzes haben sich ausgezahlt. Ich bin endlich glücklich.

113-114

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