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7  Neurotisches Handeln: Symbolisches Ausagieren 

Janov 1991

 

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Neurotiker bestehen aus zwei Selbsts. Das reale Selbst ist das leidende; das, das wir fühlen müssen, um real zu werden. Das andere Selbst — das irreale Selbst — ist der Komplize der Verdrängung und der Unterdrücker des realen Selbst. Es weiß nicht, was real ist, wendet sich der Magie, dem Mystischen und dem zu, was jenseits weltlichen Wissens liegt. Der Neurotiker ist für immer ein Opfer dessen, was jenseits seines Wissens liegt. Und er agiert diese Kräfte ständig aus. Er handelt in der Gegenwart, als wäre sie die Vergangenheit. Es ist ein ständiger Versuch, symbolisch die vergangenen Bedürfnisse und Traumata aufzulösen.

Symbolisches Ausagieren bedeutet, in der Gegenwart mit der Kraft des ursprünglichen unerfüllten Bedürfnisses zu handeln. Das irreale Selbst muß verschwommen bleiben und sich mit trivialen Strebungen und Abstraktionen zu schaffen machen, um keinen Schmerz zu fühlen.

Ich habe die Bedürfnisse eines Kindes erörtert und das, was es von seinen Eltern erwartet. Es erwartet, geliebt, völlig akzeptiert und gebilligt, beschützt, erwünscht und respektiert zu sein. Dies erwartet es, weil es normal ist und weil der menschlichen Beschaffenheit die Erfüllung dieser Bedürfnisse innewohnt. Das System weiß instinktiv, was es braucht, und ein erwachsener Elternteil, der mit seinen Gefühlen in Berührung ist, kennt diese Bedürfnisse ebenfalls instinktiv und erfüllt sie auch. Ein Erwachsener jedoch, der sich von seinen eigenen Bedürfnissen entfernt hat, ist nicht in der Lage, die Bedürfnisse seines Kindes zu erfüllen.

Das Kind hat keinen Grund, mangelnde Bedürfnisbefriedigung zu erwarten. Es kann sich nicht vorstellen, daß es auf dieser Erde unerwünscht und ein Unfall impulsgesteuerter Wollust ist. Es kann sich nicht vorstellen, daß es im Weg ist oder daß Babies versehentlich geboren werden. Traurigerweise aber lernt es dies unter Umständen bald genug aufgrund der Haltung seiner Eltern. Sie sind für das Kind die ganze Welt. Wenn sie es nicht lieben und anbeten, wenn sie es nicht billigen und so nehmen, wie es ist, wird es später Ersatz­erfüllungen suchen und danach streben, das auszugleichen, was es nie bekam. Das ist das Wesen dessen, was ich als »symbolisches Ausagieren« bezeichne.

  Die Welt als Elternersatz  

Im Falle eines Erwachsenen, dessen Bedürfnisse als Kind nicht erfüllt wurden, wird die Welt zu einem Ersatz für das, was die Eltern hätten tun sollen. Bedürfnisse müssen auf die eine oder andere Weise erfüllt werden, weil sie wesentlich sind für normales Wachstum und Überleben. Kinder in Institutionen beispielsweise, die ohne Liebe aufwachsen, entwickeln sich nicht mit der normalen Geschwindigkeit. Sie erkranken häufiger als normale Kinder, lernen langsam, und ihre körperliche Koordination ist schlechter. All dies liegt daran, daß sie in ihren frühesten Lebenstagen nicht im Arm gehalten, liebkost und mit Zuneigung behandelt wurden.

Das Problem besteht darin, daß Eltern nicht ersetzbar sind. 

Bedürfnisse müssen erfüllt werden, solange das Kind klein ist. Es braucht Zuwendung und Körperkontakt gleich nach der Geburt und in den ersten paar Lebenstagen. Dies ist für sein Überleben entscheidend. Alle Liebe eines Freundes oder einer Freundin in späteren Jahren kann niemals diesen frühen Mangel an Berührung ausgleichen. Weil das System immer versucht, das auszugleichen, was ihm fehlt, suchen das Kind und später der Erwachsene Ersatz­erfüllungen — symbolische Quellen der Befriedigung. Bedürftigkeit treibt an, und eine getriebene Person ist eine, die etwas braucht.

Ein Kind, das von geplagten Eltern nicht beachtet wird, wird später versuchen, Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Im erwachsenen Leben wird der Betreffende vielleicht als narzißtisch diagnostiziert, doch Tatsache ist, daß er ignoriert wurde. Ein Kind, das ignoriert wurde, fühlt sich vielleicht auch wertlos und meint, es habe niemandes Aufmerksamkeit verdient. Je nach den Umständen seines späteren Lebens agiert es sein Gefühl der Wertlosigkeit vielleicht aus, indem es in sozialen Situationen eine gewisse Schüchternheit an den Tag legt und anderen gegenüber zaghaft und furchtsam ist.

Einer meiner Patienten gab ein gutes Beispiel für das, was Ausagieren bedeutet:

Ich bemühte mich nie direkt um Liebe. Mädchen, die mich wählten und den ersten Schritt taten, als seien sie an mir interessiert, versetzten mich in Angst. Endlich, mit zweiundvierzig, war ich mit einem Mädchen zusammen, mit dem ich mich schon lange traf. Sie war die meiste Zeit distanziert und zeigte gelegentlich so etwas wie Zuneigung. Perfekt. Schließlich sagte sie zu mir, sie glaube, wir würden miteinander brechen, weil ich nicht der Mann ihres Lebens sei und auch nie sein würde. Ganz recht. Ich kämpfte wie ein Verrückter, damit sie mich wollte. Sofort schlug ich ihr vor, sie zu heiraten, und sie lehnte ab. Ich schrieb ihr und rief sie an und gab nicht auf... bis ich das Gefühl hatte... das naheliegendste aller Gefühle. Meine Mutter hat mich nie geliebt oder irgendwelche Zuneigung gezeigt. Endlich fand ich einen perfekten Ersatz, mit dem ich kämpfen konnte. Ich brauchte jemanden, der mich nicht liebte. Im Grunde bewirkte meine Mutter, daß ich mich nicht liebenswert fühlte. Mit jemandem zusammenzusein, der mich liebte, wäre gegen meine Natur gewesen.

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Neurotisches Verhalten ist eine Prophezeiung, die sich selbst erfüllt. Eine Frau fühlt sich wertlos und tut alles, um zu beweisen, daß sie es ist. Wenn sie mit anderen zusammen ist, benimmt sie sich, als existiere sie nicht. Dann wird sie auch behandelt, als existiere sie nicht, was das Problem verstärkt. Ihre geheime Hoffnung ist, daß die anderen ihre Angst und ihre Befürchtungen sehen und sie da herausholen. Das geschieht selten.

Es ist weder normal noch liegt es in der Ordnung der Dinge, schüchtern und scheu zu sein. Ein Mensch behält vielleicht alles für sich, weil er schon von klein an spürte, daß er mit seinen Eltern nicht über sich selbst reden konnte — sie hatten zuviel mit ihren eigenen Bedürfnissen zu tun. Er heiratet und hat Eheprobleme, weil seine Frau sich beklagt, er verschließe alles in sich und vertraue sich ihr nie an. Doch das ist nur in zweiter Linie ein Eheproblem. Wie so oft dreht sich das wirkliche Problem um Muster aus der Vergangenheit. In diesem Fall ist es einfach, die Ehefrau zu beraten und zu sagen: »Warum akzeptieren Sie ihn nicht, wie er ist? Vielleicht sollten Sie ihn aus sich herauslocken. Er ist eben einfach so.« Aber er ist nicht so. Er ist so gemacht worden, und das lag daran, daß er nicht geliebt wurde.

Ein solcher Mensch kann sich ändern, aber nicht, indem man ihn aus sich herauslockt. Er kann sich verändern, indem er sein ursprüngliches Bedürfnis fühlt, von seinen Eltern aus sich herausgelockt zu werden, ein Bedürfnis, das sagt: »Hört mir zu. Hört mich. Interessiert euch für mich. Ich bin euer Sohn. Liebt mich!« Das zu fühlen bedeutet, die Hoffnungslosigkeit kennenzulernen.

Hoffnungslosigkeit ist der Schlüssel zu Veränderung. Wenn er sich gestattet, das Bedürfnis nach Wertschätzung zu fühlen, wird er wieder von neuem entdecken, wie wenig seinen Eltern an ihm liegt. Alles für sich zu behalten ist das Mittel, den Schmerz fernzuhalten.

 

  Die Geburt des Ausagierens  

Ausagieren ist nicht unbedingt das Resultat eines einzigen Traumas. Oft entsteht es durch eine Serie sehr kleiner Traumata, die jahrelang anhalten und sich zu einer Bedeutung summieren wie etwa: »Sie wollen mich aus dem Weg haben. Keiner will mich. Ich gehöre nicht dazu.« Dies sind häufige Gefühle, die später zum Ausagieren führen. Eine Patientin muß sich zwanghaft irgend­welchen Organisationen anschließen.

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Unbewußt versuchte sie, den Schmerz zu verdecken, indem sie das Gefühl hatte, dazuzugehören, etwas, das sie als Kind nie empfunden hatte. Viele Mahlzeiten und Tischgespräche, von denen sie durch ihre Eltern ausgeschlossen wurde, viele Ausgänge, zu denen sie nicht mitgenommen wurde, ließen in ihr dieses Gefühl zurück.

Eine solche Person geht vielleicht zu einem Therapeuten, und der sagt: »Sie scheinen sich einer Menge Gruppen anzuschließen.« Die Patientin denkt nach: »Ja, das ist wahr. Wahrscheinlich brauche ich das Gefühl, ich gehörte dazu.« Das ist etwas anderes als das Wiedererleben der Qual, Abend um Abend bei der Mahlzeit übergangen zu werden und sich wie eine Aussätzige zu fühlen, weil die Eltern füreinander an erster Stelle stehen und die Kinder niemals zählen.

Auf dem Grunde vieler ausagierender Verhaltensweisen liegt Hoffnungs­losigkeit. Ich erinnere mich an einen radikalen Aktivisten, der sich ständig für die eine oder andere Sache engagierte, um die Welt zu verbessern. Das Gefühl, das er in der Therapie hatte, war: »Ich muß das Familienleben besser machen, oder ich sterbe.« Die Welt, die er außen schuf, war nur ein Ersatz für die bessere Welt, die er zu Hause brauchte. Der Kampf in der sozialen Welt war eine Methode, seine Hoffnungslosigkeit in Schach zu halten. Deshalb gab er trotz allen Verrats, der Korruption und Erniedrigung, die er in der Außenwelt sah, seinen Kampf als Aktivist niemals auf.

 

  Der Kampf: Wiedererschaffung der Prägung  

Symbole repräsentieren wirkliche Bedürfnisse. Darum lassen wir uns später mit Menschen ein, die unser frühes Leben wieder­erschaffen können. Man heiratet jemanden, der so kritisch ist wie der eigene Vater, und kämpft danach darum, symbolisch seine Zustimmung zu erringen.

Eine Frau, die das Gefühl von Abhängigkeit und Infantilität braucht, wird diese Abhängigkeit an anderen Menschen ausagieren. Sie wird von ihrem Partner erwarten, daß er sich um alles kümmert und sie bemuttert. Das wird er nicht tun, weil er eigene Bedürfnisse hat, und so kommt es zu Problemen.

Wenn eine Neurotikerin die Vergangenheit in all ihrer Qual fühlt, sagt sie vielleicht: »Weißt du, ich bin schon in Ordnung so, wie ich bin. Sie sind diejenigen, die nicht in Ordnung waren.« Bei der Suche nach Beziehungen wandte sie sich niemals direkt an jemanden, der sie sofort lieben und akzeptieren konnte. Ihre Geschichte bewirkte, daß sie sich mißbilligt fühlte. Indem sie einen Partner wählte, mit dem sie kämpfen konnte, schuf sie ein Symbol ihrer Vergangenheit. Wenn diese Frau einen Partner fände, der sie vorbehaltlos liebte, würde sie sich trotzdem angespannt und unbefriedigt fühlen.

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Wenn sie nämlich einen derart liebevollen Partner wählte, würde sie sich wirklich hoffnungslos fühlen, weil sie sich noch immer ungeliebt fühlen würde. Wenn man sich ungeliebt fühlt, dann ist das eben so. Es kann nicht übertüncht werden. Die Frau mußte um Liebe kämpfen, denn in dem Kampf liegt Hoffnung. Wenn man die totale Lieblosigkeit der Eltern wirklich fühlt, hört das symbolische Ausagieren auf.

Wird man mit fünf oder sechs Jahren abgelehnt und kritisiert, so behält man die Überzeugung zurück, man sei irgendwie grundlegend nicht in Ordnung. Kämpft man in der Gegenwart um Billigung, so ist man zumindest auf der richtigen Spur. Das Symbolische ist nur einen Schritt von der Realität entfernt. So benimmt sich beispielsweise eine Person sehr reizend und versucht, jedem zu gefallen, weil in diesem netten Verhalten die Hoffnung liegt, sich geliebt und akzeptiert zu fühlen. Dieses Verhalten geht in der Gegenwart weiter, weil man kein bißchen Mißbilligung mehr ertragen kann, das zu dieser Vergangenheit hinzukäme. Es hilft, jede Reaktion zu vermeiden, welche die schreckliche Verletzung aus der Kindheit wieder aufrühren konnte. Ganz gleich, wie oft diese Person erniedrigt und betrogen wird, die Freundlichkeit in ihr lebt fort. Das ist es, was für die Kontinuität der neurotischen Persönlichkeit sorgt.

Eltern setzen Kinder diesem Kampf aus, wenn sie sie nicht sie selbst sein lassen. Ständiges Niedermachen beispielsweise bewirkt, daß das Kind darum kämpft, in bezug auf sich selbst ein gutes Gefühl zu haben, und so kämpft es darum, geschätzt oder akzeptiert zu werden. Es versucht, die Lage zu normalisieren. Das kleine Kind weiß nicht, daß es nicht normal ist, abgewertet zu werden. Es wächst mit einem Defizit heran, dessen es sich nicht bewußt ist, und kämpft daher automatisch um Erfüllung. Wenn es jedoch früh lernt, daß dabei absolut nichts zu holen ist (und Kinder spüren das ohne jegliche Konzeptualisierung), gibt es keine Liebe, aber auch keinen Kampf.

Wenn Eltern das Kind also einfach ignorieren und ihm keine Möglichkeit zu kämpfen geben, eine Möglichkeit, neurotisch zu sein, um einen Abklatsch von Liebe zu spüren, wird das Kind leiden, chronisch ängstlich sein, ohne wirksame Abwehr­mechanismen heranwachsen und seinem Schmerz für immer näher sein; es wird jedoch keine tief systematisierte und kompakte Neurose haben. Kurz gesagt, es wird später Zugang zu seinem Selbst haben.

Wenn ein Elternteil ein Kind ablehnt (nur zu oft ist der Elternteil selbst ein Kind, dem es nicht paßt, sich wie ein Elternteil benehmen zu müssen, weil er sich lieber wie ein Kind benehmen würde) und ständig kritisch oder reizbar ist, erzeugt das im Kind ein neues Bedürfnis — ein Bedürfnis, so zu handeln, daß der Elternteil beschwichtigt wird.

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Das Kind hat so viel damit zu tun, dieses neue Bedürfnis auszuagieren, daß es die Berührung mit seinen wirklichen Bedürfnissen verliert — einfach deshalb geliebt zu werden, weil es lebt. Das Kind kann nicht länger es selbst sein oder wissen, wer es ist, weil es jetzt in einem verzweifelten Kampf steht, die Wut abzuwehren.

In der Therapie muß ein solcher Mensch zuerst das künstlich hergestellte Bedürfnis fühlen und kommt dann vielleicht Monate später an das wirkliche Gefühl und das wirkliche Bedürfnis heran —: Liebt mich!

Dieses Gefühl — liebt mich — ist es, das dem Menschen gestattet, wieder er selbst zu werden. Das ist das Grundbedürfnis, das vor langer Zeit verloren wurde und dem System endlich gestattet, sich selbst wieder in Ordnung zu bringen. Die Person wird also zuerst fühlen: »Bitte, seid nicht böse auf mich!« Und dann: »Liebt mich!« Der Prozeß des Wiedererlebens muß also in umgekehrter Reihenfolge ablaufen; in der Therapie kann man keine Schritte überspringen.

Das Verhalten des Kindes ist wie ein Radarsystem; die leiseste Hoffnung auf Liebe beim Elternteil wird das Kind veranlassen, so sein zu wollen, wie der Elternteil es braucht, damit er sich selbst ganz fühlen kann. So wird die Neurose fast genetisch von einer Generation an die andere weitergegeben. Unerfüllte Bedürfnisse der Eltern erlegen dem Kind Entbehrungen auf und produzieren bei ihm dieselben unerfüllten Bedürfnisse. Ein Vater mit Minder­wertigkeits­gefühlen empfindet sich nur dann als halbwegs tauglich, wenn er das Kind erniedrigt, damit er sich wenigstens einem Menschen überlegen fühlen kann; das Kind fühlt sich minderwertig und tut Jahrzehnte später das gleiche seinem Kind an. Sein Ausagieren ist unbewußt, weil auch das Bedürfnis unbewußt ist.

Ein weiteres schlichtes Ausagieren ist die Unfähigkeit, »nein« zu sagen. Wenn Eltern immer völligen Gehorsam verlangten und das Kind nie seinen eigenen Willen äußern durfte, dann wird es dieses Verhalten später fortsetzen, indem es sich keiner Forderung oder Bitte widersetzen kann. Es hat das Gefühl, sofort »ja« sagen zu müssen. Der Schmerz, um den es dabei geht, ist sehr einfach. Den eigenen Willen ausgedrückt zu haben bedeutete Bestrafung, Mißbilligung und Liebesentzug. Willfährigkeit wird zur Regel.

Eine Patientin hatte ein Kindermädchen, das sich während der ganzen frühen Kindheit um sie kümmerte. Ihre Mutter war ständig auf Reisen und eine rechte Jetsetterin. Vater und Mutter waren dauernd unterwegs. Die Tochter hatte schon sehr früh das Gefühl, sie sei »zweitrangig«. Und immer, wenn sie ihr Kindermädchen nach ihrer Mutter fragte, wurde sie verächtlich aufgefordert, »nicht so ein Baby« zu sein. Ihr ganzes Leben lang verlangte sie nicht nach dem, was sie wollte, und wählte immer das zweitbeste, weil sie sich zweitrangig fühlte. Wenn sie in ein Kleidergeschäft ging, wählte sie das Kleid, das sie eigentlich nicht wollte, und erschuf so immer wieder von neuem ihre Kindheit.

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Das zweitbeste zu bekommen war der Kampf, die Hoffnung am Leben zu erhalten, und dieser Kampf wiederum wurde von der Hoffnung genährt.

Eine anorektische Patientin hatte die folgende Einsicht: »Ich brauchte Liebe, nicht Nahrung. Anstelle von Zuneigung stopften sie mich mit Nahrung voll. Wenn ich heute esse, habe ich das Gefühl, daß etwas nicht stimmt. Ich bekomme nicht, was ich wirklich brauche, also lehnt mein Körper es ab, und ich übergebe mich. Ich hungere, um meine Hoffnung am Leben zu erhalten.« Unbewußt hatte sie das Gefühl, wenn sie äße, würde sie die Chance auf die wirkliche Sache verlieren. Sie hörte zu essen auf und magerte ab.

Eine Patientin, die ich behandelte, war von ihren Eltern im Stich gelassen und von den Großeltern aufgezogen worden. Das fühlte sich für sie immer falsch an, als habe sie nie ein richtige Zuhause gehabt. Sie brauchte ein richtiges Zuhause wie alle ihre Schulfreunde. Später hatte sie bei jeder Liebesbeziehung dieses »falsche« Gefühl und mußte sie abbrechen. Sie wollte einfach keinerlei Ersatz für das Zuhause akzeptieren, das sie als Kind nicht hatte. 

Zwanghaft agierte sie dieses Bedürfnis in der Gegenwart aus. Dieses Ausagieren war Ursache vieler ihrer erwachsenen Schmerzen, weil sie keine Beziehung aufrechterhalten konnte, so gut diese auch sein mochte. Sie stand unter dem Zwang, sie aufgrund des einen oder anderen Vorwands zu beenden. Sie hatte keine Ahnung, was sie ausagierte oder daß sie überhaupt ausagierte. Ironischerweise war das, was sie mit ihrem neurotischen Verhalten erreichen wollte — sich geliebt und zu Hause zu fühlen —, genau das, was sie daran hinderte, das zu bekommen, was sie sich wirklich wünschte — Liebe und ein Zuhause im Hier und Jetzt.

Ein anderer Patient von mir war im Alter von acht Jahren plötzlich in ein Waisenhaus geschickt worden. Danach kam er in viele verschiedene Pflegefamilien. Als er heranwuchs, ließ er sich niemals an einem Ort nieder, weil es nie der richtige war — der, den er früh im Leben verloren hatte. Seine Wanderlust basierte auf der unbewußten Hoffnung, ein wirkliches Zuhause zu finden. Doch das gelang ihm nicht. Er fühlte sich nie irgendwo heimisch (weil er es nicht war). In der Minute, in der er das Gefühl hatte, zu lange an einem Ort geblieben zu sein, mußte er aufbrechen und fortgehen.

 

   Die verborgene Bedeutung von Verhalten   

 

Symbolisches Ausagieren ist vermutlich so verschieden, wie es auch die Menschen sind. Die Person, die Geld ansammeln muß, wird schließlich reich, braucht aber noch mehr, um nicht herausfinden zu müssen, daß sie dadurch nichts erreicht hat. Geld wird zum Ersatz für Mangel an Liebe. Tatsächlich ist Geld häufig ein Liebesersatz.

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Wer im frühen Leben Entbehrungen erlitt, hat oft ein unmäßiges Bedürfnis nach Geld. Manche stehlen es einfach. Sie wollen etwas für nichts: Sie wollen sich geliebt fühlen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Stehlen ist ein Symbol für dieses Bedürfnis. 

Andere sind sexuell promisk, um den Mangel an Zuneigung und Berührung im frühen Leben auszugleichen. Auch das ist symbolisches Ausagieren. Was als einfaches, unkompliziertes Bedürfnis beginnt, kann in tausend verschiedenen Verzweigungen enden.

Ein junger Mann beispielsweise, der in frühem Alter seine Mutter verloren hatte, fühlte sich immer leicht unwohl. Er hatte etwas, das er als »Unbehagen« bezeichnete, und verbrachte sein erwachsenes Leben in einer Art »vager Erwartung«. Wenn er in Urlaub war, mußte er nach Hause eilen und seine Post durchsehen. Worauf wartete er? Wie sich herausstellte, wartete er auf einen Brief seiner Mutter. Bis er fühlte, wie tief er sie liebte, wußte er nicht, wie sehr er sie vermißte und wie unfähig er war, ihren Tod zu akzeptieren. Also richtete er sein Leben so ein, daß er auf fast alles wartete. Er schob all seine Freuden auf und wartete immer auf die richtige Nachricht. Er spielte zwanghaft Lotto und wartete auch hier auf die große Nachricht.

Diese arme Seele konnte sich nie entspannen; immer erwartete der Mann seine Mutter. Warten und die damit verbundene leichte Spannung waren wesentlich. Immer, wenn er etwas bekam, worauf er gewartet hatte, war er enttäuscht. Selbst sein neues Auto bedeutete ihm nichts. Es war nicht das, was er sich wirklich wünschte. Ist Enttäuschung über einen neuen Wagen neurotisch? In seinem Falle ja. Er fand natürlich Gründe dafür; die Lackierung war nicht richtig, der Rückspiegel war zu klein etc. Aber das waren nicht die wirklichen Gründe. Der Mann war in infantile Wünsche verstrickt. Als er seine Bedürfnisse endlich fühlte und erkannte, war er befreit. Er war von der Hoffnung befreit, denn die Hoffnung war in das Warten eingebettet.

Ich erinnere mich an die Behandlung eines Psychotherapeuten, der ein überaus tüchtiger Interviewer war. Sein ganzes Leben lang hatte er Leuten Fragen gestellt, weil es eine kritische Frage gab, die er nicht zu stellen wagte: »Wo ist meine Mami?« Sie starb plötzlich, als er fünf Jahre alt war. Niemand sagte ihm etwas, und er spürte, daß er nicht zuviel fragen durfte. Alles erschien ihm sehr geheimnisvoll. Also entwickelte er, obwohl er überhaupt nicht neurotisch wirkte, eine Fertigkeit, die ihn als Erwachsenen produktiv machte, aber in Wahrheit ein symbolisches Ausagieren war. Ich hätte diesen Schluß niemals ziehen können, wenn er nicht ein Gefühl gehabt hätte, das den Sinn seiner Handlungen aufdeckte. Man sieht also, daß Neurose als symbolisches Verhalten recht subtil sein kann und daß die Versuche, sie zu ermessen und freizulegen, ebenfalls subtil sein müssen.

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Ein Kind, das mit hinterhältigen, falschen Eltern aufwächst, hat vielleicht ein Bedürfnis zu vertrauen, damit es endlich das Gefühl hat, sich auf jemanden verlassen zu können. Im erwachsenen Leben setzt es sein Vertrauen in ungeeignete Personen, weil es so dringend vertrauen muß. Das Bedürfnis dominiert seine Realität und zwingt den Betreffenden, sich mit unzuverlässigen Menschen einzulassen. So beginnt der Kampf. Enttäuscht zu werden, wird als »deren Fehler« angesehen, und das ist er auch. Aber es ist auch das eigene Bedürfnis der Person, das die Enttäuschung konstelliert. Solange es nicht als das gefühlt wird, was es ist, wird es immer weiter bestehen. Man muß völlig verwundbar sein, um das Gefühl zu erleben, daß man den eigenen Eltern nicht trauen konnte und daß das frühe Leben unsicher und unstabil war. Erst dann wird die Gegenwart nicht mehr von dem alten Bedürfnis dominiert.

 

   Ausagieren der Geburt   

 

Symbolisches Ausagieren kann auch stattfinden, wenn man in einer Schlange steht und plötzlich ein Gefühl ungeheurer Ungeduld bekommt, fast einen Panikzustand. Dies kann analog sein zum Gefühl bei der Geburt, als man darauf wartete herauszukommen. Es kann auch eine zusammengesetzte Qualität haben, weil das Familienleben schrecklich war und die Person es wieder »nicht erwarten konnte, da herauszukommen«. 

Aus einem solchen Trauma kann eine ganze Geschichte von Fehlschlägen durch Ungeduld folgen, obwohl das Trauma bei der Geburt vielleicht nur Minuten dauerte. Die Fähigkeit, Dinge zu durchschauen, geduldig auf ein Ziel hinzuarbeiten, für ein langfristiges Vorhaben zu studieren, Beziehungen mit der Zeit zu entwickeln — all das kann beeinträchtigt werden durch die Unfähigkeit zu warten.

Natürlich ist nicht immer sofort erkennbar, daß eine Verhaltensform ein neurotisches, symbolisches Ausagieren darstellt. Für solche Dinge gibt es keine psychologischen Tests. Doch alles, was jemand tut, kann neurotisch sein oder auch nicht, je nach der Geschichte, die dahintersteht. Das ist etwas, das niemand anderer entscheiden kann. »Ist das neurotisch? Bin ich neurotisch?« kann man fragen, und niemand kann das wirklich beantworten. Das Individuum ist der einzige Archivar seiner Geschichte, und in dieser Geschichte liegt die Antwort.

Eine andere Patientin von mir, deren Therapie nur langsam voranging, schien die Gefühle nicht zu verstehen, die sie erlebte. Sie schien einfach dumm. Sie war verzweifelt. Dann hatte sie das Gefühl: »Ich will nichts wissen. Wissen war zu schmerzhaft. Ich habe mich so bemüht, die schmerzliche Wahrheit nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß sie mich nicht mochten.«

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Ihr Mangel an Neugier und ihre scheinbare Dummheit waren symbolisches Ausagieren. Schließlich konnte sie nicht einmal mehr die Nachrichten im Fernsehen anschauen oder die Zeitung lesen. Alles war zu schmerzhaft. Wissen bedeutete leiden; diese Gleichung bestimmte ihr Leben.

Selbst Verhalten, das ganz normal erscheint, kann trügerisch sein. Ein Mensch, der sich jugendlich verhält und voller Vitalität und Energie zu sein scheint, wie es bei einem Patienten der Fall war, agiert möglicherweise seine Weigerung aus, sich »seinem Alter entsprechend« zu benehmen. Er mußte jung bleiben, weil altersangemessenes Verhalten bedeutete, die Hoffnung auf die Liebe aufzugeben, die er als kleines Kind nicht bekommen hatte. »Ich werde erst erwachsen, wenn du mich liebst, Mama«, schien er unbewußt zu sagen.

Die Freudianische »Übertragung« ist nur ein weiteres symbolisches Ausagieren, bei dem alte Gefühle von den Eltern auf den Therapeuten übertragen werden. Es nutzt nichts, diese Übertragung zu analysieren und das Ausagieren mit dem Therapeuten zu verstehen; viel besser ist es, seine Quelle zu verstehen. Dann wird das Symbol von selbst vergehen. Es gibt Tausende von Geschehnissen mit vielen Gefühlen, bei denen das Ausagieren mitspielt. Die Leser können dazu ihre eigenen Beispiele anführen. Typisch beim Ausagieren ist, daß die Intensität des Verhaltens auf der Stärke des Bedürfnisses (dem Maß der Entbehrung) oder der Wertigkeit des Traumas beruht.

 

  Auflösung des Ausagierens  

 

Viele verschiedene Therapieformen befassen sich mit der Neurose und dem Ausagieren. Es gibt beispiels­weise eine Therapie, die sich »Direktives Tagträumen — Gelenkte Vorstellung« nennt und bei der der Therapeut für den Klienten Geschichten erfindet und ihn auf die Lösung zusteuern läßt. Man nimmt an, diese Symbolik löse neurotisches Verhalten, und das tut sie auch — symbolisch. Leider ändert sie nichts an dem zugrunde liegenden Bedürfnis und den Gefühlen. Ein Szenario könnte so aussehen: »Die Ehefrau ist kritisch. Der Boß läßt Sie nicht hochkommen. Stellen wir uns jetzt vor, wie Sie zu ihnen gehen und ihnen Bescheid sagen. Behaupten Sie sich! Aha, sehen Sie, Sie können es!« Ein schöner Traum; ein Zustand imaginärer Gesundheit.

Ausagieren, das funktioniert, ist eine effiziente Neurose. Funktioniert es nicht, handelt es sich um eine ineffiziente Neurose. Wenn das Ausagieren funktioniert, fühlen wir uns relativ wohl. Wenn nicht, sind wir wieder mit unserem Schmerz konfrontiert. Das ist der Moment, in dem jemand zu einem Therapeuten geht, um seine Neurose kurieren zu lassen. Gewöhnlich erhält er Medi­kamente, damit er sich besser fühlt. Wieder wirkt die Verdrängung, diesmal durch Medikamente herbeigeführt, und sorgt für die Fortsetzung des Ausagierens.

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Es ist nicht so, als gäbe es eine Persönlichkeit, die ausagiert. Ausagieren ist ein Teil der Persönlichkeit, und fast alles, was ein Neurotiker tut, ist ein Ausagieren. Das liegt daran, daß das ganze Verhalten von unerkannten Gefühlen gelenkt wird. Wie man sein Kinn hält, die Körperhaltung, wie man die Augen zusammenkneift, wie man spricht, handelt und geht, all das ist in diesem Spektrum enthalten. Nichts entgeht ihm, weil ihm nichts entgehen kann.

Die meisten konventionellen Therapien bieten Einsichten in das symbolische Ausagieren des Patienten. Der Therapeut muß gewöhnlich raten, welche genaue Motivation dahinterliegt. Bis der Patient fühlt, müssen beide raten. Weil das wissende Gehirn erst Millionen Jahre nach dem fühlenden Gehirn kam, können wir nicht erwarten, daß es Geheimnisse kennt, die in letzterem aufbewahrt sind. Tatsächlich haben wir einen Kortex entwickelt, um sie nicht zu kennen; sonst wären wir dauernd von Gefühlen überschwemmt. Wenn wir verstehen, daß wir ausagieren, sogar wenn wir verstehen, daß das neurotisch ist, ändert sich gar nichts. Es wäre die gleiche falsche Logik, als würden wir annehmen, wenn wir ein Virus verstünden, würde das die Infektion heilen. Nur zu oft jedoch wird das Verständnis eines Ausagierens selbst zum Ausagieren, zu einer Abwehr gegen das Fühlen. Auf diese Weise kann man die Bewegungen des Gesundwerdens vollführen, ohne daß der Schmerz einbezogen wird.

Der Neurotiker wählt gewöhnlich die Therapie, die seine Neurose stärkt; für einen Patienten, der seiner Geschichte beraubt ist, ist das eine Psycho­therapie ohne Wurzeln. Das irreale Selbst wählt seine Form des Ausagierens. Im Namen des Fortschritts befassen sich die meisten zeitgenössischen dynamischen Psycho­therapeuten mit dem irrealen Selbst, konzentrieren sich auf das Hier und Jetzt und stellen sich vor, sie hätten dem Patienten etwas Neues geboten. Das Problem war, daß sie sich jahrelang auf die Vergangenheit konzentriert haben, aber weil sie darüber geredet haben, statt sie wiederzubeleben, war alles umsonst. Das Problem war nicht die Konzentration auf die Vergangenheit, sondern die Art und Weise, wie man an diesen Brennpunkt heranging. Frei zu sein bedeutet, das reale Selbst freizusetzen.

Beten kann ein weiteres symbolisches Ausagieren sein. Wir beten um Schutz, Liebe und Fürsorge. Mit einer kleinen Veränderung könnten wir diese Anrufungen auch an frustrierende Eltern richten. Trotzdem dauert es manchmal viele Monate, bis Patienten auch nur anfangen können, ihre Eltern um das zu bitten  - von anflehen ganz zu schweigen -, worum sie jeden Tag zu Gott beten.

Der Grund ist einfach: In diesen Bedürfnissen liegt eine tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit — eine Hoffnungslosigkeit, mit der man sich sehr schwer konfrontieren kann.

Der Patient wird sagen: »Was nutzt das?« Sie können mich nicht lieben, weshalb also bitten? Es ist sicherer, Gott zu bitten.« Ob die Eltern lieben können oder nicht, spielt kaum eine Rolle. Das Bedürfnis bleibt, und wenn der Mensch seine Eltern um das bittet, was er braucht, ist der Schmerz da. Wenn solche Patienten ihre Eltern in der Therapie um Liebe anflehen, begegnen sie ihrer Hoffnungslosigkeit. Wie ein Patient es ausdrückt: »Das ursprüngliche, primäre Flehen und Bitten wurde zu Gebeten. In der Therapie wurde es wieder zu meiner Qual.«

Sobald wirkliche Bedürftigkeit einmal verdrängt und umgeleitet ist, werden wir notwendigerweise weniger direkt und mehr symbolisch. Das kann nicht anders sein. Deshalb haben fortgeschrittene Patienten der Primär­therapie direkte, nichtsymbolische Träume. Deshalb haben diejenigen, die ihre Bedürftigkeit und deren Schmerz gespürt haben, etwas Direktes an sich. Sie sind scharfsichtiger, weil sie die wichtigste Realität ihres Lebens wahrgenommen haben.

Neurose ist ein lebenslängliches Urteil, ein Gefängnis mit unsichtbaren Gitterstäben, das unsere Entscheidungen, Interessen und Alter­nativen eingrenzt. Wir sind für alle Zeit ihr hilfloses Opfer, bis wir fühlen.

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