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8  Geburtstrauma: Lebenslange Folgen der Geburt

 

Janov 1991

 

»Ich hatte gerade mein Geburts-Urerlebnis durchgemacht, und später fiel mir auf, daß der Schmerz, den mir die Stahlzange bereitete, und das Entsetzen der sich verkrampfenden Gewebe und Muskeln, die mich stundenlang ausgetrieben und geschüttelt und gestoßen und geknetet hatten in dem verzweifelten Versuch, mich auszustoßen, mich ins Leben zu werfen ... das alles entspricht so erstaunlich dem, was mit dem Embryo der menschlichen Spezies geschieht. Wir sind noch immer in der <Wehenschmerz>-Phase des überreifen Embryos, der um sein Lebensrecht kämpft. Und in diesem unglaublichen, kahlen, überheizten Therapieraum findet die GEBURT statt; nicht nur die dieses oder jenes Patienten, sondern einer neuen Spezies, die allmählich körperlich sichtbar wird. Es geht ganz langsam, Millimeter um Millimeter; der Säugling schreit und schreit, und er beginnt zu leben. Was immer da geboren wird, ist der ursprüngliche Elternteil des wahren und vollständigen menschlichen Produkts. Jeder einzelne von ihnen ist Adam und Eva ... der Anfang der Menschheit«.  --Eine Patientin--

 

  Neurose beginnt im Mutterleib  

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Einer der auffallendsten Aspekte der Prägung ist, daß sie vor der Empfängnis beginnen kann. Die fötale Umgebung ist ein Ort, der mit verunreinigenden Substanzen, Schadstoffen und ungesunden Chemikalien gefüllt sein kann. Dort ist das Leiden geräuschlos, der Schaden geheim, die Verletzung unsichtbar. Die Mutter kann ängstlich, reizbar und deprimiert sein, und all das wird chemisch weitergegeben und dringt in das System des Fötus ein. 

Die Mutter raucht vielleicht wie ein Schlot und kontaminiert ihr Baby. An der Universität von Oxford ist entdeckt worden, daß Babies im Mutterleib atmen; sie keuchen, seufzen und haben Schluckauf. Wenn die Mütter rauchen, hat das sofort Einfluß auf die Atmung des Babies. Man kann Babies im Mutterschoß keuchen sehen, was darauf hinweist, daß es ihnen an Sauerstoff mangelt. Außerdem können schlechte Eßge­wohnheiten der Mutter zu Fehlernährung und Verhungern führen.

Die ganze Umgebung des Fötus kann in der Tat unzulänglich sein, nicht anders als die eines vernachlässigten Fünfjährigen — nur daß man es weniger sieht.

Die gleichen biochemischen Veränderungen werden beim Fötus und beim Fünfjährigen auftreten, und der Schaden ist der gleiche. Der Unterschied liegt nur darin, daß der Fötus nicht nach Hause zur Mutter laufen kann, weil die Mutter eine Gefahr und das »Zuhause« bedrohlich ist. Der Fötus lernt also, daß die »Nachbarschaft« gefährlich ist.

Der Fötus lernt aus Erfahrung statt durch Worte. Ständig kommuniziert er auf chemische Weise mit der Mutter; wenn das Baby bereit ist, geboren zu werden, setzt es in der Tat bestimmte Hormone frei, die diese Bereitschaft signalisieren. Die Mutter ihrerseits schüttet ebenfalls Hormone aus, welche die Geburt erleichtern. Unter Streß jedoch funktionieren die Signale nicht richtig. Zu viele Streßhormone können das Immunsystem der Mutter und auch das Immunsystem des Babys verändern. Die Streßhormone können auch zu verstärkten Kontraktionen der Gebärmutter führen und so eine verfrühte Geburt auslösen.

Man könnte annehmen, daß eine Frühgeburt die Grundlage vieler späterer körperlicher Probleme ist; dabei sind diese Probleme tatsächlich eine Folge einer komplizierten Reaktionskette, die durch einen hohen Spiegel von Streßhormonen ausgelöst wird. Starker Streß der Mutter führt sowohl zu Frühgeburten als auch zu Schädigungen des Immunsystems, die später Krankheiten zur Folge haben. Auf diese Weise erzeugt die verborgene »Nachbarschaft« die Grundlage für spätere Hypoglykämie, Diabetes, Kolitis und sogar Krebs. Eine schlechte Zeit im Mutterleib kann entscheidender sein als eine schlechte Kindheit.

Während der neun Lebensmonate, die zur Geburt führen, ist das System am zerbrechlichsten und naivsten; daher ist der Einfluß des Traumas am größten. Nach zwölf Schwangerschaftswochen ist das fötale Nervensystem voll entwickelt und kann auf Traumata reagieren, diese kodieren und speichern. Diese Fähigkeit bedeutet, daß die Prägung sehr früh in der Fötalgeschichte beginnt und alle Systeme beeinflussen kann, vor allem jene, deren Organisation in den ersten Lebensmonaten beginnt.

Nachweise dafür, wie der Fötus leiden kann, ergaben Ultraschall­untersuchungen eines vierunddreißig Wochen alten Fötus; seine Augen waren zusammen­gekniffen und sein Mund weit offen, als würde er schreien. Wenn es tatsächlich ein Schrei war, so gab es gewiß niemanden, der ihn hörte.

Der Fötus denkt vielleicht nicht, aber nach Maßgabe seiner Fähigkeiten reagiert er zweifellos. Wenn es zu einem Trauma kommt, wenn die Mutter ängstlich oder deprimiert ist, wenn sie trinkt oder raucht, dann finden im Fötus physiologische Veränderungen statt, die weder gutartig noch vorübergehend sind. Die Spur, die sie hinterlassen, bezieht sich auf dauerhafte Veränderungen in Bereichen wie der Zellfunktion. Die Erinnerung wird durch diese Veränderungen in den verschiedenen Systemen »festgehalten«.

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Das Immunsystem kann also erschüttert und verändert werden, lange bevor wir das Licht der Welt erblicken. Die Immun­krankheit wird vielleicht erst Jahrzehnte später manifest. Es ist auch möglich, daß sie sich nie als offene Krankheit manifestiert, wenn die Kindheit gesund verläuft.

Nachweise dafür, daß die frühe Prägung die Physiologie verändert, finden sich in der Arbeit von Kandel über das Leben niederer Tiere.*  Seine Untersuchungen haben gezeigt, daß sowohl die Anzahl der Rezeptoren als auch der Spiegel der Neurotransmitter durch frühe Angsterfahrung dauerhaft verändert werden. Es gab tiefgreifende und permanente Veränderungen in der Stärke der Synapsen als Folge dieser Angst. Außerdem wurde festgestellt, daß eine Klasse von Tranquilizern, im wesentlichen Rezeptoren von Valium (Benzodiazepin) im Gehirn, infolge von Streß und Angst modifiziert werden. Die gegenwärtige Forschung weist unverkennbar darauf hin, daß möglicherweise sogar die eigentliche genetische Struktur der Zellen im Zentral­nervensystem durch frühe Prägungen verändert wird.

Wieder ist es nicht einfach so, daß infolge früher Erfahrung Veränderungen eintreten; vielmehr sind diese Veränderungen die Art und Weise, wie Erinnerung eingeprägt wird. Wenn die Erinnerungen wiederbelebt und mit dem Bewußtsein in Verbindung gebracht werden, werden diese Veränderungen rückgängig gemacht, und der Normalzustand wird wiederhergestellt. Der Neurotiker hat nicht nur einen anderen Körper, sondern auch ein anderes Gehirn. Jede Neurose­behandlung muß daher in der Lage sein, sich diesen Gehirn­veränderungen zuzuwenden. Liebevolles, liberales »Guttun« ist für eine Psycho­therapie nicht ausreichend. Mit Liebe beseitigt man keine Neurose.

Wir müssen die Vorstellung aufgeben, Erinnerung sei ein Synonym für das denkende Gehirn, sei das, was verbal wieder hervor­gerufen oder kognitiv erinnert werden kann. Jede Zelle des Körpers enthält Erinnerung. Deshalb sehen wir so große Veränderungen im Funktionieren der Zellen, nachdem die Prägung wiedererlebt und gelöst worden ist, und deshalb gibt es wichtige Veränderungen in der Gehirnfunktion und im Ausstoß von Hormonen. Dies gilt vor allem für das Wiedererleben präverbale Geschehnisse, bei denen keine Chance bestand, sie auf normale Weise zu erinnern. Wir dürfen daher bei der Erörterung von Immunfunktion und schwerer chronischer Krankheit niemals das Geburts­trauma und das vorgeburtliche Trauma vergessen.

* Kandel, R., <From Metapsychology to Molecular Biology: Exploration into the Nature of Anxiety> 1983, American Journal of Psychiatry 140:1277-1293.

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  Wie man schon im Mutterleib neurotisch ist  

Der Grund, warum wir die Fötalzeit berücksichtigen müssen, wenn wir über Krankheit diskutieren, liegt darin, daß die Fötalzeit Leben ist — neun Monate der entscheidendsten Existenzart, in der fast jedes Geschehen eine unauslöschliche Spur hinterläßt und die Grundlage für Neurosen gelegt wird. Man kann schon im Mutterleib neurotisch sein.

Sie brauchen nicht neurotisch zu handeln, um neurotisch zu sein. Solange genügend eingeprägter Schmerz und verschobene Funktionen vorhanden sind, liegt eine Neurose vor. Wenn die Verschiebung in den Fötalzellen und ihren Funktionen erfolgte statt in der »Psyche« und im Verhalten des kleinen Kindes, handelt es sich dennoch um die gleiche Neurose. Sie können also nicht auf sich und andere zeigen und entscheiden, ob eine Neurose vorliegt oder nicht. Deshalb sind psychologische Tests übrigens nicht ausreichend, um Neurosen festzustellen; sie können nur den psychologischen Aspekt messen. Wenn die vorherrschende Reaktion auf eingeprägten Schmerz körperlich ist, dann ist der psychologische Test unzulänglich und ungenau.

 

Aaron: 

»Mutter starb kurz nach meiner Geburt an Brustkrebs. Sie war schon krank, als sie mit mir schwanger war, und in tiefer Trauer um ihren Vater, der gerade gestorben war. Sie war mit einem wütenden, unbeherrschten Mann verheiratet, und sie stand unter großem Streß. Es muß sehr schwer für sie gewesen sein, in dieser Zeit ein Kind zu bekommen. Es wäre besser für mich gewesen, wenn sie sich nicht so bemüht hätten, mich am Leben zu erhalten, denn ich kam halbtot auf die Welt.

Ich bin ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, von kranken Eltern in ein krankes Land, in eine kranke Welt hineingeboren, wo ich nur ein Gesetz gekannt habe — Überleben. Alles, was ich in meinem ganzen Leben getan habe, war der Versuch zu überleben, nicht mehr. Ich habe nie mehr erwartet. Lange, bevor ich auf diese Welt kam, war ich in meiner Mutter gestorben. 

Das Versprechen, das jeder lebende Organismus fühlt, das ich auch einmal fühlte, das Versprechen, daß alles in Ordnung sei und sein würde, war bereits gebrochen. Denn dort drinnen, in meiner Mutter, war es nicht in Ordnung; tatsächlich war es alles andere als das. Sie war krank, litt an Krebs, Trauer und Wut. Meine Entwicklung in ihrem Leib war nicht normal, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Ich lebte in einer unfreundlichen Umgebung, die mich nicht in Ruhe lassen wollte. Ich habe immer gefühlt: <Ich muß hier heraus. Sonst wird etwas Schreckliches passieren.>  Das habe ich mein ganzes Leben lang gefühlt.«

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  Wie das Geburtstrauma das Gehirn verändert  

Dramatisch illustriert wird die Wirkung, die Erlebnisse einer schwangeren Mutter auf das Kind haben, in einer neueren Forschungs­arbeit von Marian Diamond. Bei ihren Tieruntersuchungen (die grundlegende Biologie ist bei Tieren und Menschen ungefähr die gleiche) stellte sie fest, daß eine stimulierende Umgebung für die werdende Mutter (in der die Tiere Spielzeug bekamen, mit dem sie sich beschäftigen konnten, und viel Freiheit hatten) das Gehirn ihrer Nachkommenschaft verändert. Der Kortex des Babies ist dicker, es lernt besser, und man könnte sagen, daß es intelligenter ist. Psychologische Erlebnisse der Mutter können die physische Struktur des Fötus verändern, den sie im Leib trägt. Was in der Psyche der Mutter vorgeht, kann das physische Gehirn des Kindes verändern.

Wenn die Mutter sich elend fühlt, spiegelt sich das in den Hormonen wider, die ihre Gefühle vermitteln. Die Streßhormone zeigen nicht nur Streß an, sondern bestimmen auch, wieviel Energie die Mutter haben wird, wieviel Zucker in ihrem Blut ist, wie sexuell sie ist, wie gut das Baby ausgetragen wird oder ob es zu einer Fehlgeburt kommen wird und schließlich auch, wie effizient ihr Immunsystem ist. Wir wissen, daß das Immunsystem desto schwächer ist, je höher der Streßpegel ist. Dies wird an den Fötus weitergegeben, der dann mit möglicherweise subtilen, subklinischen Immunmängeln oder Anfälligkeiten zur Welt kommt, die erst durch späteren Streß manifest werden.

Wie das Neugeborene auf ein Geburtstrauma reagiert, hängt von seiner früheren Umgebung ab. Wenn die Mutter ständig geraucht hat und es dem Fötus daher an Sauerstoff fehlte, kann ein der Mutter bei der Geburt gegebenes Anästhetikum das Neugeborene ernstlich beeinträchtigen, da es bereits anfällig für Sauerstoffmangel ist. Robert Bauer, der frühere Chef der Säuglingsforschung an der UCLA, fand Anästhetika im System Neugeborener. Sie waren lethargisch und saugten nicht sehr stark. Diese neugeborenen Babies wiesen eine Art Passivität auf.

Ich habe im Laufe der Jahre viele hundert Patienten verschiedene Arten von Geburtstraumata wiedererleben sehen. Diese Patienten aus ungefähr zwanzig Ländern haben gewisse Episoden wiedererlebt, die man nicht imitieren kann. Das zeigte sich beispielsweise an der Art, wie Füße und Zehen in bestimmten Positionen fixiert waren, ob es sich dabei um einen Japaner oder einen Schweden handelte, der etwas wiedererlebte. Wir haben während der Sitzung elektronische Messungen von Puls, Blutdruck, Körpertemperatur und Gehirnwellen durchgeführt und festgestellt, daß alle Werte ungeheuer ansteigen. In einigen Fällen verdoppelt sich die Amplitude der Gehirnwellen, der Puls steigt auf 200, der Blutdruck auf 220, die Temperatur binnen Minuten um zwei oder drei Grad — und all das bei Personen, die ziemlich still daliegen, aber ihre Erinnerung wiedererleben.

Eine solche Erinnerung hat eindeutig eine Kraft. Sie ist immer da, selbst wenn sie nicht ausgelöst wird. Ihre Prozesse liegen versteckt unter Schichten wirksamer Verdrängung, so daß das akute Ergebnis nicht sichtbar ist. Selbst wenn »oben« keine Bewußtheit besteht, zeigt die Immunreaktion verringerte Effizienz und verarbeitet den Schmerz ohne Wissen des Bewußtseins.

Die größten Streßreaktionen, die wir beobachtet und gemessen haben, treten während des Geburtstraumas auf. Da Streß und das Immunsystem wie ein Wippe funktionieren (wenn der Streß groß ist, ist die Immunfunktion gering, und umgekehrt), nehmen wir an, daß das Geburtstrauma eine tiefgreifende Wirkung auf das Immunsystem hat.

Über das Ausmaß des Drucks, den das Geburtstrauma erzeugt, können wir nur nachdenken, indem wir Patienten beobachten, die Erfahrungen wiedererleben. Es ist demütigend, wenn man erkennt, was der Körper unter einem ruhigen Äußeren für viele Jahre still aulbewahren kann. Diese Art von ungeheurem Schmerz in sich zu haben, ohne sich dessen bewußt zu sein, zeugt von der Stärke und Effizienz unseres Verdrängungssystems.

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Prototypen

 

Ursprungsprinzip des Prototyps  

Man hat festgestellt, daß frühe Erfahrung die neuralen Verbindungen »fixiert«, die lebenslänglich bestehen bleiben werden. Gewisse Erfahrungen stabilisieren und verstärken gewisse Verbindungen, während andere wegfallen. Was bleibt, sind diejenigen, die für das Überleben am entscheidendsten sind. Dies ist der Ursprung des Prototyps. Die fixierten Verbindungen, die ursprünglich das Überleben erleichterten, dauern aufgrund einer Art Entwicklungsprinzip der natürlichen Selektion an.

An jedem Tag des fötalen Lebens werden Hunderttausende von Nervenzellen gruppiert, spezialisiert und zu den Organen entwickelt, die sie werden sollen. Gewisse Zellen sind dazu bestimmt, Hirnzellen zu werden, andere werden zu Leber, Milz, zu Armen und so weiter. Wenn das System der Mutter toxisch ist, wenn sie unter Streß steht, absorbiert das System des Fötus die Toxine, und seine Physiologie wird dadurch verzerrt. Die zerbrechlichen neuen Zellen, die dabei sind, sich zu komplexen anatomischen Strukturen und komplizierten Verbindungen des neurologischen Netzwerks zu organisieren, sind während dieser Zeit besonders verwundbar.

Die neuere Forschung betont diesen Punkt. Ein Neurologe aus Arkansas, H. Stefan Bracha, berichtete, viele Fälle von Schizophrenie würden durch Traumata (insbesondere Sauerstoffmangel) im zweiten Drittel der Schwangerschaft verursacht (L. A. Times, 17. November 1991).

Festgestellt wurde dies durch die Untersuchung von vierundzwanzig identischen Zwillingspaaren, von denen nur jeweils ein Zwilling an psychotischen Symptomen litt. Die rationale Erklärung lautete, daß ein Zwilling psychosefrei war und daher die Chance einer genetischen Ursache geringer. Was Bracha feststellte, waren Abnormitäten an den Händen des betroffenen Zwillings, die bei dem normalen Zwilling nicht auftraten. Die Hände werden während des zweiten Schwangerschaftsdrittels gebildet, in dem sich auch kritische Hirnfunktionen entwickeln. Es sieht also so aus, als habe der psychotische Zwilling während dieser Periode irgendeine Art von Trauma erlitten, und zwar ein Trauma, das die physische Entwicklung zur gleichen Zeit beeinflußte, zu der es möglicherweise auch gewisse psychoneurologische Veränderungen hervorrief. Diese Abnormitäten manifestieren sich dann Jahre später als ausgeprägte Schizophrenie.

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Der Trauma-Zug:  Qual als permanente Fixierung 

 

Die Verzerrungen im Fötus, die bei einer Traumatisierung der Mutter entstehen, sind von Dauer. Sie bleiben als prototypische Verzerrungen bestehen. Der Schmerz, der die Geburt umgibt, wird als Prototyp (ein ursprüngliches Modell, nach dem etwas geformt wird) eingeprägt, der eine Vielzahl von damit zusammenhängenden Verhaltensmerkmalen beeinflußt. Prototypisches Verhalten bedeutet, daß ein bestimmtes Trauma, das in das sich entwickelnde Gehirn und die Physiologie eingeprägt wird, eine Art von Reaktion auf diesen Schmerz verursacht, die für immer als eingravierte Tendenz oder Muster bestehenbleiben wird, und zwar sowohl auf der physiologischen als auch auf der psychologischen Ebene. Die Einprägung sehr frühen Schmerzes bewirkt im System zwei wesentliche Veränderungen. Sie schafft einen »Behälter« von zurückgebliebener Spannung und lenkt und formt Verhalten und Physiologie auf bestimmte besondere Arten. Sowohl der Schmerz als auch das ganze Repertoire von Reaktionen und Abwehrmechanismen gegen diesen Schmerz werden gleichzeitig und zusammen eingeprägt.

So ist es beim Neugeborenen, das schwer anästhesiert wird, wenn die Anästhetikadosis der Mutter die Barriere der Plazenta durchdringt und dem System der Babies eine Dosis einflößt, die um mehr als das Hundertfache zu stark ist. Das Neugeborene wird plötzlich passiv und untüchtig, vielleicht sogar bewußtlos, und sowohl der Schmerz der Erfahrung als auch die folgende Reaktion der Passivität werden ihm als Prototyp eingeprägt, der sowohl Physiologie als auch Verhalten beeinflußt.

Der Prototyp wird wegen einer Erscheinung festgelegt, die ich als »Trauma-Zug« bezeichne. Der Trauma-Zug ist eine Metapher für die Abfolge von Ereignissen während der Geburt, die in einer bestimmten, charakteristischen Weise zu Ende geht. Ich habe beobachtet, daß die Art, auf die das Ende der Geburt als prototypische Reaktion eingeprägt wird, so ist, als würde der Körper schreien: »Schnitt... Ausdrucken!« Alles hängt vom Aufbruch von der Bahnhofsstation bei der Geburt ab. Wenn wir im falschen Zug sitzen, dann ist, um einen anderen Autor zu para-phrasieren, »jede Station, in der wir im Leben anhalten, die falsche«. Die Schienen, die ins Leben hinausführen, liegen buchstäblich hinter einer falschen Weiche, und wir befinden uns auf einer Neben­strecke und werden aus Gründen, die wir nicht verstehen, an einen Ort gebracht, den wir nicht kennen.

Die Reise gestattet kein Aussteigen, und wir können nichts tun, um aus dem Zug herauszukommen. Keiner weiß, wie man ihn anhält. Das Geheimnis liegt darin, bis an den Beginn der Fahrt zurückzugehen, damit wir einen deutlichen Weg finden können, der schon lange von Sand zugeweht ist.

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Wenn das Neugeborene während des Geburtsvorgangs unter Medikamenten steht und halbtot ist, fährt der Zug sehr langsam; er hat nicht viel Dampf, und er kommt nicht sehr weit. Wenn wir im Kampfmodus in die Welt hinausgeschickt werden, noch immer kämpfen und das erfolgreich tun, dann wird der Zug voranstürmen, Hindernisse überrennen und aggressiv den Weg freimachen, weil ihm reichlich Energie zur Verfügung steht. Für diejenigen, die den Zug im passiven Modus einer Geburt unter Drogen besteigen, muß der Energieausstoß verringert werden, damit sie am Leben bleiben; der Zug, in dem sie sitzen, flieht vor der Erinnerung an den nahen Tod. Wenn es auf dieser Strecke schwierig wird, ist der erste Gedanke der an völliges Aufgeben — Selbsttötung. Dies ist bei denen nicht der Fall, die aktiv geboren werden und immer damit beschäftigt sind, nach vorne zu schauen.

Ich habe das Phänomen »Schnitt... Ausdrucken!« am Ende des Trauma-Zuges erwähnt. Danach ist es, als habe irgendein Teufel die Kontrolle über uns übernommen. Deshalb können wir im Alter von fünfunddreißig und vierzig Jahren Alpträume haben, bei denen wir keine Luft mehr bekommen, erstickt werden, stranguliert werden — alle ursprünglichen Geburtsempfindungen. Das Unbewußte funktioniert nicht nach Lust und Laune; es erzeugt nicht aus irgendeiner diabolischen Stimmung heraus Alpträume. Es benutzt den Ursprung der Prägung, um Bilder und Empfindungen hervorzurufen, die uns ein Leben lang plagen.

Die Art, wie wir schließlich aus dem Geburtskanal austreten, das Ende des Trauma-Zuges, bestimmt in umfassender Weise die Tendenzen unserer Persönlichkeit. Wenn der Fötus während der Geburt unter schweren Medikamenten steht und nur zu atmen versuchen kann, besteht die eingeprägte lebensrettende Reaktion darin, passiv, resigniert, müßig und verzweifelt zu sein. Keine dieser Eigenschaften wird konzeptualisiert, denn die Werkzeuge hierzu entwickeln sich erst viel später. Das Trauma verändert jedoch die Physiologie, und diese Veränderung wird auf den höheren Ebenen des Bewußtseins nachgebildet. Sie wird im beginnenden Neokortex registriert. Deshalb haben wir erst Jahre später, wenn der Neokortex voll entwickelt ist, die Fähigkeit, das Gefühl zu benennen: Vergeblichkeit.

Was wir nicht benennen können, ist seine Quelle. Weil die Repräsentationen des frühen Traumas einem noch nicht vollentwickelten kortikalen Bewußtsein eingeprägt sind, ist das Ergebnis wie eine verblichene Fotokopie, die nahezu unleserlich ist. Nur Gefühle, die ins Bewußtsein gebracht werden, können die Botschaft wieder hervortreten lassen. Dennoch ist es die erneute Repräsentation, die Jahrzehnte später ein damit zusammenhängendes Fühlen erlaubt. Man folgt einfach den Gedanken der Vergeblichkeit und den Verzweiflungsgefühlen bis hinunter an ihre Wurzeln.

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Was der Trauma-Zug bewirkt, ist die Ausformung von Reaktionstendenzen, welche die Grundlage der Persönlichkeit bilden. Es wird also entweder verdrängende Tendenzen geben (wie bei obigem Trauma) oder expressive (wenn der Kampf um das Herauskommen erfolgreich endet). Wenn es später im Leben Konflikte oder Streß gibt, wird der Trauma-Zug wieder aufgerufen, da diese nicht länger nützlichen fremden Neuronen wegfallen. Darum wird bei jenen, die zum Zweck des Überlebens ihre Reaktionen auf ein Minimum begrenzen mußten, eine der späteren Reaktionen in flachem Atmen und einer Flachheit des Affekts bestehen. Die allgemeine spätere Tendenz ist, Dinge in sich festzuhalten.

Wenn ein solches Kind im Alter von drei Jahren in Erregung gerät, ist es kein Wunder, wenn es vielleicht die Luft anhält (eine Rekapitulation des ursprünglichen Traumas und die lebensrettende Reaktion). Später wird es bei Konflikten seine Gefühle für sich behalten. Dann wird jemand entdecken, daß diejenigen, die an Krebs erkranken, dazu neigen, ihre Gefühle für sich zu behalten. Man wird die betreffende Person therapieren, damit sie lernt, ihre Gefühle auszudrücken. Doch aller Ausdruck in der Therapie wird nichts an der Grundtendenz ändern, die im Trauma-Zug festgelegt ist. 

Das Zurückhalten (von Gefühlen) und die Entwicklung von Krebs als Verdrängungskrankheit sind Teil desselben Syndroms, das aus dem identischen frühen Ereignis hervorgeht. Allgemein ausgedrückt, sind Krebserkrankungen das Ergebnis repressiver Tendenzen, im Gegensatz zu Herzkrankheiten, die eher eine expressive Störung sind, deren Ursprung eine aktivere, aggressivere Trauma-Zug-Erfahrung ist. Die Tendenz zu repressivem oder expressivem Verhalten umfaßt jeden Aspekt unseres Seins.

 

Prototypen und Überleben 

Die prototypische Reaktion auf lebensgefährdende Ereignisse war ursprünglich nicht neurotisch. Sie wird erst neurotisch, wenn sie bis ins Erwachsenenalter anhält und nicht mehr mit der gegenwärtigen Realität übereinstimmt. Dann ist sie weder lebens­rettend noch angebracht. Die Verengung der Bronchien ist angemessen, wenn man bei der Geburt in Flüssigkeiten ertrinkt, doch das Asthma, das sie später im Leben als Reaktion auf einen Streit der Eltern erzeugt, ist nicht nur nicht-adaptiv, sondern kann lebensgefährlich sein. 

Im allgemeinen werden prototypische Reaktionen später in ihr Gegenteil verkehrt und damit selbstzerstörerisch, weil sie außerhalb des jeweiligen Kontexts stehen und nicht der gegenwärtigen äußeren Realität entsprechen. Aggressives, antreibendes Verhalten beispielsweise, das uns zu Beginn aus dem Geburtskanal herausbrachte, kann als eingeprägter Prototyp dafür sorgen, daß wir vorzeitig an Überarbeitung sterben.

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Wenn man jemanden, der lebenslänglich unter Klaustrophobie gelitten hat, bei einem Geburts-Urerlebnis beobachtet, wo er sich zerschmettert und erstickt fühlt, dann versteht man das ursprüngliche Entsetzen dieser Phobie. Man sieht sofort die Macht der unbewußten Prägung und das echte Gefühl der Todesangst. Eine solche Person kann durchaus der Typ sein, der sich später nicht »festlegen« läßt, der sich weder an zeitliche Verpflichtungen noch an irgendwelche Grenzen hält; alles Präzise vermeidet er. Wenn man jemanden sieht, der zu große Angst hat, um das Haus zu verlassen — jemanden, dessen Welt sich auf ein einziges Zimmer reduziert hat —, und dann beobachtet, wie er das Entsetzen beim Verlassen des Mutterleibs wiedererlebt, dann wird man Zeuge der Kraft, die hinter einer solchen Phobie steht.

Diejenigen, die sich in niemandes Hand geben wollen, die niemals die Autorität eines Chefs ertragen können, die keine Grenzen, Barrieren oder Einschränkungen wollen, agieren eine Prägung aus. Diese Prägung kann darauf basieren, daß sie bei der Geburt vollkommen hilflos und den Launen von Mutters Physiologie und Anatomie ausgeliefert waren. Unter solchen Umständen »lernt« man, daß man sterben kann, wenn das eigene Leben in den Händen von jemand anderem liegt. Das ist ein unbewußter Prozeß, der oft durch die späteren Lebensumstände verstärkt wird.

Prototypisches Verhalten ist die Erinnerung an die Anfänge der Neurose. Man kann den vielen Windungen der Neurose nachspüren und den Prototyp nur vernebeln. Die gesamte Superstruktur der Persönlichkeit basiert auf einem Prototyp, doch umgekehrt funktioniert das nie. Die Veränderung von Einstellungen, Symptomen oder Verhalten verändert niemals den Prototyp. Der Prototyp ist eine physiologische Tatsache und kein theoretisches Konstrukt.

Die Logik des Prototyps liegt in dem Phänomen selbst. Es erhellt, gibt Sinn und macht disparate Geschehnisse kohärent. Das Erleben des Prototyps gestattet einem fünfzigjährigen Menschen, sich endlich auszuruhen, weil er nicht mehr wie bei der Geburt etwas herbeiführen muß. Eine Einsicht, die auf dem Wiedererleben des frühen Ereignisses basiert, fühlt sich unmittelbar richtig an, weil die Repräsentation des Ereignisses auf höhrer Ebene zu greifen scheint. Diese Einsicht kann niemand anderer bieten, weil eine Einsicht nicht mehr ist als die Bewußtheit der oberen Ebene in bezug auf ein Gefühl, das mit den unteren Ebenen verbunden ist.

Es gibt zahllose Arten, wie das eingeprägte Trauma die Persönlichkeit formen kann. Nehmen Sie beispiels­weise ein Baby, das im Verlauf der Geburt gestoßen und geprellt, gedrückt und gequetscht wird — und all das ohne sichtbaren Grund, für das Baby jedenfalls. Eingeprägt wird dabei vielleicht eine Art Physiologie der Ungerechtigkeit; es ist ohne Grund verletzt worden.

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Diese zugrunde liegende Eigenschaft wird nur manifest, wenn das Gefühl in der späteren Kindheit verstärkt wird, wenn das Kind grundlos abgelehnt, nicht geliebt oder kritisiert wird. Dann mag ein bleibender Wunsch bestehen, die Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Das kleine Mädchen wird um die Jungfrau weinen, die verstoßen wurde, weil sie den falschen Mann liebte. Es wird sich für den Helden interessieren, der dem Pöbel Gerechtigkeit bringt. Kurz, die betreffende Person wird unbewußte Primärbedürfnisse in alle Geschehnisse der Umgebung einbringen. Als Erwachsene kann eine solche Person sehr kämpferisch handeln und vielleicht sogar Anwältin werden, um die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zu beseitigen. Doch die treibende, motivierende Kraft wird ein Gefühl der Ungerechtigkeit sein, das sie zuerst in der ursprünglichsten aller Erfahrungen erlebt hat — der Geburt — und das dann durch Kindheitsereignisse Form annahm.

Wir dürfen nicht vergessen, daß die Katastrophen, die einem zerbrechlichen Fötus oder Neugeborenen zustoßen, einem Organismus mit weit geöffnetem sensorischem Fenster passieren, der alle Impulse und allen Schmerz direkt empfängt und nichts zwischen sich und das Geschehen schieben kann. Das Neugeborene kann keinen Freund anrufen und ihm erzählen, wie ungerecht das war, was es erlebt hat. Es kann nicht vor Gericht gehen, sich Anwälte nehmen und versuchen, mittels eines angemessenen Urteils die Erfahrung zu berichtigen; es kann die Eltern nicht ins Gefängnis schicken; es kann nicht zum Kiosk gehen, ein Päckchen Zigaretten kaufen und sie rauchen, und es kann auch nicht an den Kühlschrank gehen und sich mit Essen trösten. Es leidet einfach. Wenn das Baby schreiend geboren wird, betrachten die Ärzte das als normal. Das schreiende Neugeborene schreit, weil es traumatisiert wurde. Schreien ist kein normales Resultat der Geburt.

Die Wurzeln, die Geburtsereignisse mit späteren Symptomen und Verhaltensweisen des Erwachsenen verbinden, sind oft labyrinthisch. Das Heimtückische an diesen Wurzeln ist die Ähnlichkeit mit einer Reise, die weit von der Heimat wegführt und bei der die Straße ausradiert wird, nachdem man sie befahren hat. Es gibt keine Erinnerung an den Ausgangspunkt und auch nicht daran, wie man in seine gegenwärtige Situation gekommen ist. Jahre später findet sich der Mensch in einer Arztpraxis wieder und klagt über Palpitationen, Angina, chronische Erschöpfung oder Bluthochdruck, deren Ursprünge ihm und dem Arzt vollkommen rätselhaft sind.

Unser Verhalten und unsere Symptome sind keine willkürlichen, sinnlichen Geschehnisse, sondern das Endergebnis einer Geschichte. Wenn wir historisch an die Entwicklung von Symptomen herangehen, sind wir so hilflos wie der Mensch, der die Straße hinter sich ausradiert hat. Symptome sind ein Endprodukt.

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Die Behandlung des Symptoms ist wertvoll und notwendig; man muß ein Magengeschwür behandeln wie die Schmerzen einer Migräne, aber wir dürfen Behandlung nicht mit Heilung verwechseln. Solange man sich nicht den verursachenden Quellen zuwendet, lindert man nur Symptome, und Symptome sind nicht dasselbe wie Krankheit. Sie sind nur die Mittel, mit denen sich die Krankheit manifestiert.

Die Funktion eines Symptoms besteht darin, die Energie der Prägung zu binden und zu absorbieren. Wenn man ein Symptom abrupt beseitigt, nimmt man der Person ein Ventil. Ein Patient, der zu uns kam, war in einer Klinik für Verhaltenstherapie wegen Impotenz behandelt worden. Nach einigen Monaten Therapie hatte man sein Problem einigermaßen erfolgreich in den Griff bekommen, und er brachte von Zeit zu Zeit eine Erektion zustande. Bald danach jedoch entwickelte er zwei andere Symptome — eine Art Narkolepsie, bei der er ständig einschlief, und Herpes. Die Beseitigung des Symptoms setzte ihn starkem Streß aus. Der Druck wanderte anderswohin, wie nicht anders zu erwarten. Nachweise hierfür findet man in der Arbeit Ronald Glazers von der Ohio State University, der zeigte, daß sogar der zusätzliche Streß eines Abschluß­examens ausreichte, um Herpes hervorzurufen. Manchmal kann die Psyche die Auswirkungen mit einem gut konstruierten Glaubenssystem auffangen; zu anderen Zeiten richtet sich die Energie gegen den Körper. Der Organismus ist immer ein kompensierendes System, das den inneren Druck ausgleicht, so gut es kann.

*

Die folgende Fallgeschichte eines Epileptikers macht obige Erläuterungen anschaulich. Mit seinen eigenen Worten erklärt dieser Patient die dramatische Auswirkung der Geburt und ihrer Wechselfälle auf das spätere Leben besser, als es jeder Fachmann könnte.

 

Bill

 

»Ich bin fast sicher, daß ich im Geburtskanal eine Gehirnerschütterung erlitt. Zuerst ging alles so glatt und rhythmisch, und dann, rumms, wurde die Gebärmutter hart und prallte auf meinen Kopf. Als Erwachsener hatte ich einen Autounfall und brach mir das Brustbein. Ich habe diesen Unfall wiedererlebt, als liefe ein Film ab, bis ich mir dessen, was geschah, völlig bewußt war, und zwar so sehr, daß es das Trauma meiner Geburt wieder hervorrief. Nach diesen Gefühlen begann ich rasch zu genesen, viel rascher als vorher. Irgendwie hat das Fühlen von Schmerz etwas mit der Heilung desselben Schmerzes zu tun.

Die Geburtsszene war, glaube ich, der Prototyp meiner Anfälle. Sie war wie die ersten Stadien des Sterbens ein Ergebnis hilfloser Anoxie. Das war der Situation absolut angemessen. Die Geburtsszenen, die ich wiedererlebt habe, waren um ein Vielfaches traumatischer als mein Unfall.

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Die vielen hundert Anfälle, die ich in meinem Leben hatte, waren einfach unbewußte Versuche, voll auf den ursprünglichen Todesschrecken durch den starken Sauerstoffmangel bei meiner Geburt zu reagieren. Kein Wunder, daß ich die Anfälle vorher auf der Zungenspitze spürte, ehe sie eintraten. Da war wirklich etwas. Ein Gefühl. Es ist kein Geheimnis, warum ich immer bewußtlos wurde, wenn ich zu erkennen begann, was es war. Gnädige Bewußtlosigkeit ersparte es mir, etwas zu wissen, das zu kennen und zu fühlen zuviel war.

In den letzten paar Wochen habe ich wiederholt gefühlt, wie ich wieder zu Bewußtsein kam, halb aus dem Geburtskanal ausgetreten, und zu atmen begann. In meinem Gefühl schien alles Gewalt und Zwietracht zu sein. Mit heftigem Schluckauf saugte ich Luft ein. Ich wand mich, um meine Arme und meinen Kopf zu befreien, doch die meiste Zeit lag ich einfach da und schnappte nach Luft. Ich saugte sie ein wie eine Flüssigkeit. Meine Schreie ertönten sporadisch als Würgen und Wimmern. Das elektrische Summen (das, wie ich glaube, mein erster Anfall war) trat mit meiner Geburt auf. Während ich Luft einsaugte, prickelte mein Körper (dasselbe Prickeln, das ich bei meinen Anfällen bekomme). Das ging dann in Todesqual, Erstickungsgefühle und Gehirn­erschütterung über. Ich habe mein ganzes Leben lang schlecht geschlafen. Meine Alpträume waren voll von diesen selben, frühen Empfindungen des Erstickens (Träume, in denen ich ertrank oder hohe Wellen mich am Atmen hinderten), und ich sehe, wie diese frühen Empfindungen immer versucht haben, herauszukommen und sich zu befreien. Ich hatte diese frühen Gefühle und Empfindungen tatsächlich im Schlaf. Ich wachte auf, ehe sie zu bewußt wurden. Ich konnte immer schwer einschlafen, weil dieselben Gefühle ständig in meinem Kopf rasten. Ich war voller Gedanken, die nicht aufhören wollten.

Da die Anfälle dem entsprachen, was ich wirklich fühlte, kamen sie mir nie sonderbar vor. Für einige Leute mögen sich diese Gefühle banal oder bizarr anhören, aber für mich sind sie die Erklärung dafür, wie ich mich an jedem Tag meines Lebens gefühlt habe. Die Empfindungen zerfallen buchstäblich und lösen sich auf, wenn ein Anfall beginnt; ein Schrei wird ein körperlicher Knoten im Hals, der Knoten zerbricht zu beweglichen Scherben wie ein zerbrochener Krug, zu etwas wie zerschmettertem Glas und dann zu einem feinen, verschwommenen elektrischen Summen. Das ist die vermittelnde Kraft für die Unmenge von Symptomen, die mich plagten.

Meine Symptome waren veränderlich wie ein Chamäleon. Wenn mir nicht die Arme weh taten, dann der Kopf. Wenn er es nicht war, dann war es der Bauch. Wenn mir nichts weh tat, bedeutete das, daß etwas Seltsames im Gange war. Bei solchen Anlässen verlor ich tagelang das Gleichgewicht.

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Die Symptome verschmolzen binnen Sekunden ineinander. Das macht es schwer zu unterscheiden, welche Symptome als »körperlich« zu beschreiben sind, denn die Panik konnte sich von Magenschmerzen auf einen Knoten hinter meinem rechten Auge verschieben und dann auf ein messerstichähnliches Gefühl zwischen den Schulterblättern.

Die Anfälle wurden erst manifest, als ich die Botschaft begriffen hatte, daß ich nicht um Hilfe rufen, mich beklagen oder irgend­welche Zeichen von Unvollkommenheit zeigen durfte. Wenn meine Mutter mir ins Gesicht schrie, konnte buchstäblich jede Reaktion gefährlich sein. Als ich mir mit sieben Jahren den Ellbogen anstieß und nicht aufschreien konnte, bekam ich einen Anfall. Nachdem ich gefragt worden war, ob meine Brüder und ich in ein Waisenhaus gehen sollten, hatte ich regelmäßig Anfälle.

Ich habe Probleme sowohl mit Kolitis als auch mit Verstopfung. Die beiden mögen scheinbar unvereinbar sein, aber so ist es. Alle meine Symptome wirken episodisch — zuerst behalte ich alles in mir, und dann... das alte prototypische Muster.

Meine Kopfschmerzen gingen mit meinen Geburtsgefühlen und dem Sauerstoffmangel weg. Ich glaube, ich hatte keine Möglichkeit, die angesammelten Gifte von mir zu geben; seither habe ich den Zwang, mich selbst auf die eine oder andere Weise zu läutern, entweder indem ich beichte oder indem ich Durchfall habe. Stagnation! Das ist das Wort. Ich kann sie nicht ausstehen. Macht mich verrückt. Etwas nicht zu bekommen, ist für mich dasselbe wie Stagnation oder Vergiftetwerden. Also war ich immer getrieben. Es ist eine Erleichterung, diese Impulse loszuwerden.

Ich konnte die rauhen Asphaltkörner an meiner Wange und Stirn fühlen. Der Schulhof war leer. Was war passiert? Ich setzte mich auf: Keiner brauchte mir zu sagen, daß ich ohnmächtig geworden war. Aber hier gab es keinen Auslöser — keinen angestoßenen Zeh, keinen harten Stoß, keinen Schnitt in den Finger. Wer wird ohne Grund ohnmächtig? Vielleicht war ich einfach nur sensibel. Meine Mutter sagte mir, ich hätte eine hyperaktive Phantasie. Aber ich hatte mir nichts vorgestellt! Etwas stimmte nicht mit mir, hatte nie gestimmt.

Als ich auf dem leeren Schulhof saß, nachdem ich ohnmächtig gewesen war, verschwanden diese Empfindungen aus meinem Gehirn wie der verklingende Saitenton eines Musikers. Während des Tages verlor ich momentweise den Faden, wenn ich etwas sagte. Ich hielt mitten im Satz inne. Ich starrte vor mich hin, als versetze mich das Fensterbrett in Trance. Ich sagte gerade... was? Ich konnte nur schwer atmen. Für lange Momente vergaß ich tatsächlich zu atmen und konnte dann nur schwer wieder anfangen ; ich ging an diese angeborene rhythmische Lust heran wie an ein logisches Problem. Wenn ich meine Brust so bewege und den Kopf zurücklege, kommt Luft herein. Schmerzen in Knien und Handgelenken.

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Irritierende Empfindungen in Rippen und Wirbelsäule. Ich fühlte mich, als winde sich eine Eidechse in meiner Brust. Wenn ich mich bewege, bewegt sie sich auch, und wenn ich stillhalte, spüre ich ihr Gewicht. Ich habe mich immer elend gefühlt.

Ich liebte das Bad. Ich wollte mich darin treiben lassen, mit Wasser bedeckt und gefüllt sein, aber nicht ertrinken. Eine Qualle... sie bestehen zu fünfundneunzig Prozent aus Wasser. Der Ozean auch. Reine Sinnlosigkeit. Ich wollte treiben. So habe ich mein ganzes Leben gelebt, alle Konsequenzen und keine Entscheidungen. Die Mathe-Zahlen schwammen in meinem Kopf, die hübschen Mädchen, mit denen ich nie reden konnte, die stimmlose, präverbale Leere, die sich breitmachte, wenn ich es versuchte, dieses Gefühl ohne Form, das Empfindungen nicht anrühren. Ich war immer getrennt von meinen Gefährten, von meiner Familie, abgeschirmt wie durch Plexiglas, das nur bei Katastrophen und kurz danach verschwand.

Zwischen mir und der Welt lag ein Kosmos, eine Kosmogonie von Schmerz. Empfindungen von Atemlosigkeit und Alleinsein, die ich nicht übermitteln konnte. Neil Young hat davon gesungen: <Das, was ich nie ausdrücke, läßt mich weiter nach einem Herzen aus Gold suchen, und ich werde alt.>  Im Hals verschluckte Emotionen — eine Flutwelle, ein Fluß. Eine richtige Collage. Alles schien auf mich zu strömen in diesem Augenblick im Badezimmer, als ich mein Gesicht im Spiegel anstarrte.

Im Übergang zum Tod sieht ein Mensch sein Leben. Alles ist erlaubt, kein Grund zu kämpfen. Das Zeugnis auf dem Sterbebett ist Gesetz. Woher in meinem vorstädtischen Mittelklasseleben war all das gekommen? Ich sah Stunden und Tage wie Sekunden. Und ich sah den Tod, als sei er eingetreten. Und immer der Schmerz: allein und nie, nie jemand, der half. Keiner weiß und keiner hört.

Was spielt es für eine Rolle, ob man Football spielt oder Wellen reitet, wenn der Mittelpunkt des eigenen Lebens korrodiert, von Tod und Elend zerfressen wird? Was spielt es für eine Rolle, wie es dazu kam, wessen Schuld es war? Es war schon da. Zu Beginn jedes Kampfes hatte ich schon verloren. Was hat es für einen Sinn, mit einer lebendigen Frau aus Fleisch und Blut zu schlafen? Irgendwann muß sie aufwachen und diesen kranken Mann — diesen Leichnam — zwischen ihren Beinen finden. Nicht böse, vielleicht mit guten Absichten, aber ein bißchen mitgenommen. Und was bedeuten Absichten bei einem sterbenden Mann? Wozu sind Entschuldigungen gut? Alles ist eitel. Nur ein Junge, der soviel braucht, daß es töricht erscheint, ihn als vollständigen Organismus zu bezeichnen. Und da, vor dem Spiegel, beide Hände im Waschbecken, stand ich dem Tod gegenüber.

Ich hatte Bände literarischer Meister ausgewählt, die für mich sprechen sollten... ich wollte so gerne leben. Plato, Rabelais, Miller und Nietzsche.

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Ich kam mit Marx, Darwin, Rimbaud und den Gründervätern an, aber am Ende erlag ich, unterwarf mich. Ich bat nicht mehr um Hilfe. Ich sprach nicht mit meiner Mutter. Wenn ich weinen mußte, tat ich es für mich allein an irgendeinem dunklen Ort. Ich verzichtete auf Sex, nette Gesellschaft und Tanzen. Ich bat nie um etwas — niemals eine Heimfahrt von der Schule mit einem Freund. Ich drängte mich nie auf. Niemand kümmerte sich je um mich.

Ich war mit Wissen geschlagen. Dostojewski schrieb in Aufzeichnungen aus einem Totenhaus seine Epilepsie der Tatsache zu, daß er >überbewußt< sei. Das Wissen verbrennt. Niemand. Für immer. Warum konnte nicht früher am Tag jemand zu mir kommen? Muß es immer bis an diesen Punkt gehen? Was macht weniger Mühe als ein freundliches Lächeln?

In meinen frühen Gefühlen bewegte ich die Hände durch die Luft und flehte meine Mutter an, mich auf die Vorderveranda hinaus­gehen zu lassen. Ich möchte die Sonne sehen, Mama... ich sterbe. Wieder und wieder Schreie, die das Blut gerinnen lassen und die Seele befriedigen. Ich wollte, daß sie einmal mit mir auf der Veranda saß, die Sonne, die frische Luft in sich aufnahm.

Alles verband sich zu Anfällen. Ich stolperte verwirrt und voller Schmerzen in das Primärinstitut. Ich würde reden und dann fühlen. Als die Gefühle näher kamen, kamen auch die Anfälle näher, aber ich konnte sie auf die wirklichen Empfindungen zurückführen und nicht bewußtlos werden. Mein Kopf rollte in schmerzhaften Krampten nach hinten. Meine Augen rollten in den Höhlen: idiotischer Schrecken, Tod, und dann pflegte der Therapeut zu sagen: >Sag das Gefühl! Es ist ein Gefühl. Sag es!< Meine Zunge wurde lebendig, und ich sagte nur: >Mama!< — >Ich kann es nicht aushalten!< Es gab niemanden auf dieser Welt, der mir half. Hilfe! schrie ich wieder und wieder.

Diese entsetzlichen Augenblicke meiner Säuglingszeit und Kindheit wurden in Fleisch und Blut in meinem System unsterblich gemacht und ständig wieder durchgespielt. Meine alten Anfälle waren nützliche Hilfsmittel, um mich aus unerträglichen Schmerzen herauszuholen. Jedes Stück der Erinnerung ein Ruf nach Freiheit, ein Ruf nach Heilung. Meine alten Schmerzen zogen wie Glassplitter durch meine Brust. Ich konnte die Nähe und Schwere eines Urerlebnisses danach abschätzen, wie stark die Empfindungen eines bevorstehenden Anfalls auf meiner Zunge und in meinen Eingeweiden waren. Jetzt hatte ich anstelle von Anfällen Krampfgefühle derselben Stärke. Ich hatte mein eigenes elektronisches Meßgerät. Ich konnte ausmachen, wo zwischen Anfall und Gefühl ich mich befand.

Je kleiner und geladener die Bruchstücke waren, desto schwerer kamen die magischen Worte, desto größer wurden die Abstände zwischen ihnen und desto näher war ich an einem Anfall. Dann brauchte ich mehr Anleitung in Richtung auf meine Gefühle. Bei fein verteilten Schmerzen könnten die Erinnerungen zuviel sein, zu auslaugend.

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Ich denke an Menschen, die diese Erfahrungen kennen, ohne sie zu lösen, Dali und Artaud; an Freuds Hysterikerinnen, deren Anfälle eine exakte Nachahmung (>Imitation<, nennt er sie) des Geburtsprozesses waren. Die Moral: Zusammenbruch und Heilung sind verschieden, selbst wenn die Heilung mit einer Art Zusammenbruch verbunden ist. Seit meinen Teenagerjahren konnte ich keinen Sex verlangen, meine orgasmischen Zuckungen wurden tatsächlich übertragen (Anfälle). Wer hat daran gedacht, Epileptikern Sex zu verschreiben?
Meines Wissens nur Shakespeare:
Jago: Der Feldherr stürzte jetzt in Krämpfen hin; dies ist seit gestern schon sein zweiter Anfall.
Cassio: So reib ihn um die Schläfe!

Ich weiß jetzt, warum die Empfindungen vor einem Anfall oft in meinem Glied beginnen. Beschneidung. Sollen sie doch mein Knie, mein Bein, irgend etwas anderes beschneiden! Irgend etwas! Himmel! Zerschnitten wie ein Weihnachtstruthahn. Das zweite Mal, als ich das fühlte, wurde ich für einen Monat Vegetarier. Niemand will seine Eier verlieren. Als ich die Beschreibung meiner Mutter hörte, hielt ich die Hände schützend über mein Geschlecht. Das soll eine zivilisierte Operation sein und keine Schlächterei. Aber stellen Sie sich das vor: Sie sind dreizehn. Ihr ganzer Penis ist geschwollen und bandagiert. Sie stöhnen und liegen im Bett, einen klebrigen Verband um das Glied, das juckt. Niemand kommt, und Sie kriegen Ausschlag. Alles ist wund. Ich wurde als Opfer liegengelassen wie ein verprügelter Betrunkener in einer Gasse. Meine Wunden eiterten, und ich schrie mit Leib und Seele um Hilfe, die niemals kam.

Die meisten Leute, die ich kannte, wunderten sich, warum ich sowenig ehrgeizig war. Warum nahm ich nicht den mir zustehenden Platz ein als Mitglied der betuchten oberen Mittelklasse der USA? Es hatte nichts mit Moral oder himmlischer Transzendenz zu tun. Ich >wußte< einfach, daß es keinen Zweck hatte.

Jedes der obigen Ereignisse trug zu meiner Epilepsie bei, jedes steigerte die Last des Schmerzes, verstärkte meine Gehirn­wellenaktivität und beschnitt die Möglichkeit zu Liebe, Sex, Wünschen und irgendeiner aktiven Reaktion. Es war zwecklos. Alle Dinge, die mir zustießen, hätten vermieden werden können, wenn meine Eltern nicht so in ihrer vorzeitlichen Zwei-Autos-in-jeder-Garage-Elternschaft verbarrikadiert gewesen wären. Ich hatte nichts mit ihren eigenen Bedürfnissen zu tun. Bedürfnisse müssen zwangsläufig erfüllt werden; ich hätte nie empfangen werden sollen, geschweige denn geboren.

Zum erstenmal wurde ich bei der Geburt im Mutterleib bewußtlos. Später im Leben, wenn ich mich hoffnungslos fühlte, reproduzierte ich meine ganze Anfalls-/Sterbeszene bis zu dem Punkt, daß ich mich in denselben Krämpfen wand.

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Jetzt komme ich aus Gefühlen heraus und spreche Einsichten aus; daher die Anfälle, daher die Stunden, in denen ich hoffnungslos auf ein mathematisches Problem starrte. Daher dies und daher das.

Man nennt Leute bewußtlos, die sich von verbalen Suggestionen beeinflussen lassen. Ganz gleich, welche Form die Anästhesie hat, auf irgendeiner Ebene fühlt der Körper Schmerz und Liebe. Es gibt Zubereitungen und Prozeduren, um Fühlen und schweigendes Klagen zu trennen; aber es gibt keine Droge, um die Wahrheit außer Kraft zu setzen. Wir alle blocken den Schmerz ab; Zellen ziehen sich von ihm zurück, Anwälte rationalisieren ihn, Lehrer wechseln das Thema. Es ist natürlich und gut, einer Sache auszuweichen, die uns schadet. Ich glaube, Schmerz allein motiviert Heilung. Für mich trifft das zu. Ich begann, meine Anfälle einzustellen, als ich fühlte, was bei der Geburt geschehen war.

Zahlreiche Ungeheilte sind Epileptiker. Ich war einer. Meine Anfallsreaktion war der Situation vollkommen angemessen. Die vielen hundert Anfälle, die folgten, waren nur halb-luzide Versuche, auf diesen ursprünglichen tödlichen Schrecken zu reagieren. So war es bei jedem psychosomatischen Symptom, das ich je hatte.

Verrückte erfinden ihr Leid nicht. Die ganze Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, die Krankheit und Amnesie... lauter Reaktionen auf einen Prototyp. Lauter ehrliche Versuche, gesund zu werden. Ich bin in den letzten paar Jahren wiederholt zum Ereignis meiner Geburt zurückgekehrt. Ich wundere mich nicht, daß ich bei der drohenden Bewußtwerdung eines solchen Geschehnisses bewußtlos zu werden pflegte.

Am Anfang war da nur der Mutterleib — der Garten Eden, der Kosmos. Der goldene Schoß, der Beistand und Nahrung gab, ein Paradies. Das war mein goldenes Zeitalter, ein Paradies, das ich nie vergaß. Dann zog sich die Gebärmutter zusammen, und ich konnte nicht atmen, und später hatte ich Migränen. Komisch, diese Geburtsgefühle. Wenn ich über sie hinweggehe, bekomme ich Migräne. Wenn ich sie zulasse, können sie sogar angenehm sein. Wie Janov sagt: >Ein Schmerz, der nicht weh tut.< Was passierte mit meiner Mutter? Sie sagte einmal, ihr Fruchtwasser sei zu Hause abgegangen. Ein anderes Mal sagte sie, sie sei in einem anderen Zimmer geblieben, als die Wehen anfingen, um >deinen Vater< nicht aufzuwecken. Sie fuhr erst im letzten Moment ins Krankenhaus, und fünfundvierzig Minuten später wurde ich geboren. Sie gaben ihr eine Demerol-Spritze. Was immer geschah, es war vollkommen unangemessen. Würden doch die Menschen dieser Welt — diese zivilisierten Leute — aufhören, Babys zu machen. Laßt es sein. Außer, wenn jeder Mutter während der Entbindung und danach Liebe garantiert ist. Wenn sie nicht in sterilen, zu hell erleuchteten Stationen auf einer Bahre herumgefahren wird, während ihr Mann in einem Wartezimmer auf und ab geht.

Wenn jemand ihr die Hand hält und ihr das Gefühl gibt, daß sie nicht allein ist auf dieser Welt. Falls das Krankenhaus das nicht gestattet, sucht euch ein anderes. Das Thema meines Lebens war <keine Luft>. Das sagte ich über Heilige und Ikonen, meine Schullehrer und Eltern; sie gaben mir keine Luft. All diese spröden Bastarde, die denken, ich lebte nach Regeln. Es hatte nie Sinn, mich anpassen zu wollen. Lebenslängliche Kopfschmerzen und Alpträume; das Gefühl, keine Luft zu bekommen, das sich über alle Zellen ausbreitet wie Tinte auf einem Löschblatt, das in mein tiefstes Inneres drang, in meine Lungen, die Knochen meiner Arme, meine Zehen. Es hatte keinen Sinn zu kämpfen; ich habe genug gekämpft für ein einziges Leben. Genug für ein ganzes Bataillon. Wenn ich masturbierte, tat ich so, als würde ich durch eine Tube Zahnpasta gequetscht.

Ich habe nie einen Finger gerührt, um irgend etwas zu bewirken. Ich wundere mich über das Wiedererleben, über die ganzen Gefühle dabei. Ich werde von unregelmäßigen Wellen geschüttelt. Magellan kann auf seiner Reise nicht mehr über das Wunder des Ganzen gestaunt haben. Ich bin nicht mehr im Mutterschoß. Die Teile meines Körpers haben ein Eigenleben bekommen. Es ist ein primitives, einfaches Leben wie das einer Kolonie von Schwämmen. Jetzt bin ich in meinem Gefühl endlich lebendig. Ein Leben der Qual ist zu Ende gegangen. Ich möchte leben, atmen, die Schönheit sehen, frei von dem dunklen Morast, in dem ich all diese Jahre gewohnt habe.«

170-171

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