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9  Der Geburts-Prototyp und die spätere Persönlichkeit

 

Janov 1991

 

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Wenn Sie einverstanden sind, dann stellen Sie sich einmal vor, Sie sind neun Monate alt, liegen bequem im Dunkeln, gemütlich, warm und sicher, und plötzlich werden Sie ohne jeden Grund grob durchgeschüttelt, Ihr Kopf und Ihr Körper werden in einen engen Raum gepreßt, und man verabreicht Ihnen eine schwere Droge. Sie müssen all Ihren Verstand zusammennehmen, um den Versuch zu machen, dem zu entkommen. 

Sie beginnen zu würgen und bekommen keine Luft mehr, weil Flüssigkeiten in Ihr System eindringen. Wenn Sie schließlich herauskommen, kaum fähig zu atmen, finden Sie sich in einem kalten, kahlen Raum wieder; ein Riese erscheint, hält Sie an den Füßen hoch, schlägt Sie kräftig genug, um Sie vor Schmerzen schreien zu lassen, und legt Sie dann ganz allein irgendwo in einen Kasten, wo Ihnen helles Licht in die Augen scheint. Willkommen in der Welt. Sie sind gerade geboren worden.

Das Geburtstrauma ist mit Sicherheit eines der Weltwunder. Obwohl es die Zivilisation antreibt, wird es nie entdeckt. Wenn jemand darauf hinweist, wird er oder sie zum Ausgestoßenen. Es ist ein Teil der allgemeinen »Verschwörung des Unbewußten«. Millionen sterben daran, aber niemand kann sagen, was »es« ist. Warum gibt es diesen Alptraum? Was macht er da? Wie ist er überhaupt in uns hinein­gekommen?

    Sympathetischer und parasympathetischer Modus   

Weiter oben sprachen wir über den Geburts-Prototyp — den Entwurf einer Persönlichkeit, der im Laufe einer traumatischen Geburt eingeprägt wird. Die tiefgreifende Folge des Prototyps ist, daß er die erste Determinante der Persönlichkeit ist. Sobald diese Persönlichkeit einmal geformt ist, haben wir ein System, das die Welt so konstruiert, daß sie seinem Stoffwechsel entspricht, und einen Stoffwechsel, der vom Prototyp kontrolliert wird. 

Danach erschafft die Psyche eine Welt, die veränderte Stoffwechsel­vorgänge, die zuvor in Gang gesetzt wurden, rationalisieren kann. Es ist ein konstanter Versuch, die gegenwärtigen Reaktionen rational erscheinen zu lassen, die dem frühen Trauma angemessen waren. Wenn das Trauma uns angetrieben hat, dann erschaffen wir eine erwachsene Welt voller Aktivität und Geschäftigkeit.

Die Natur des Geburtstraumas schiebt jene, die es erleben, mit ihrem System lebenslänglich in eine von zwei Hauptrichtungen auf das zu, was ich als sympathetischen und parasympathetischen Modus bezeichne. Beide sind vom Hypothalamus gesteuerte Arten der Stoffwechsel­regulierung, und beide werden von einem anderen Aspekt des autonomen Nervensystems kontrolliert. Der sympathetische Modus bringt das System in Schwung, dehnt es aus, mobilisiert und aktiviert es; der para­sympathetische Modus bewahrt, beruhigt, kühlt und heilt.

Betrachten wir die beiden genauer. 

Das sympathetische System ist das Arbeitspferd: Es alarmiert und weckt, erhöht den Aktivitäts­pegel aller Organsysteme, steigert die Körpertemperatur und verstärkt Vitalfunktionen wie Herzschlag und Blutdruck. Es steigert die Urinproduktion, erzeugt Darmkrämpfe und wühlt die Eingeweide auf; es reguliert die periphere Durchblutung, so daß in Angstsituationen Hände und Füße kalt und das Gesicht blaß werden. Dieses System löst die Sekretion von Steroiden oder Streßhormonen aus. Es bewirkt nervöses Schwitzen, trockenen Mund, hohe Muskelspannung, angespanntes Gesicht und angespannte Kiefer und eine höhere Stimme, und es ist der Vermittler impulsiven Verhaltens. Es sorgt dafür, daß unsere Konzentration eher nach außen gerichtet ist, als daß wir reflektieren.

Das parasympathetische System ist der Energiesparer. Es dominiert beim Fühlen, mein Tiefschlaf und in der Entspannung. Man nennt es auch das anabolische System, weil es reparieren hilft. Es dehnt die Blutgefäße aus, so daß die Haut warm ist und Augen und Mund feucht. Es trägt dazu bei, die Muskeln zu entspannen und die Stimme tiefer zu machen.

Parasympathetische Reaktionen überwiegen bei Ruhe, Erholung, Genesung und vor allem beim Fühlen. In einer therapeutischen Sitzung können wir die radikale Verschiebung von sympathetischem auf parasympathetisches Funktionieren beobachten, wenn der Patient in ein Gefühl fällt. Puls, Körpertemperatur, Herzschlag und bestimmte Gehirnwellenmuster gehen alle steil nach oben (sympathetischer Modus), bis die Person nicht mehr abwehrt und zu fühlen beginnt. Dann erfolgt ein Übergang zum para­sympathetischen System, wenn alle diese Zeichen unter ihre anfänglichen Werte absinken. Dann wissen wir, daß der Betreffende in ein Gefühl eingetaucht ist.

Die Merkmale, welche die Dimension von Parasympathikus/Sympathikus ausmachen, sind überaus komplex und bewegen sich an einem kontinuierlichen Spektrum entlang. Jeder ist eine einzigartige Mischung aus diesen Merkmalen. Obwohl die Merkmale normal verteilt sind, gehören bestimmte Personen eher diesem oder jenem Ende des Spektrums an. Ganz reine Typen sind in der Tat selten, da jeder von uns eine Kombination aus beidem ist. Bei einer wirklich gesunden Person besteht ein angemessenes Gleichgewicht zwischen beiden Polen. Dieses Gleichgewicht kann jedoch durch frühe Traumata gestört sein, die bis auf das Leben im Mutterleib zurückgehen, so daß der eine oder der andere Modus in gewisser Weise lebenslänglich dominiert.

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Die Bedeutung des sympathetischen/parasympathetischen Modells liegt darin, daß es uns eine biologische Basis für das Verständnis der einheitlichen Beziehung zwischen Persönlichkeit, physiologischer Entwicklung und späterer Krankheit bietet. Damit können wir Abstraktionen und Metaphern hinter uns lassen. Wir brauchen nicht mehr über die Kraft des Es als Kern der Persönlichkeits­entwicklung zu reden. Statt dessen können wir über die genaue Art sprechen, wie das Gehirn und das Nervensystem auf Lebensereignisse reagieren und diese kodieren, und zeigen, wie diese Reaktionen zu physiologischen und psychologischen Zuständen wurden.

 

  Die Prägung des Trauma-Zuges   

 

Wie endet das Geburtstrauma? Befindet sich das Neugeborene im sympathetischen oder im para­sympath­etischen Modus? Endete das Trauma, während der Kampf noch im Gange war? Endete es nach stundenlanger Qual oder natürlich und glatt? Kam das Baby noch kämpfend auf die Welt, oder kam es heraus, nachdem es jeden Kampf schon lange verloren hatte? Hat es aufzugeben gelernt? Oder hat es gelernt, trotz der Hindernisse weiter zu kämpfen? Gab es eine zu große Dosis Anästhetika? Eine Sturzgeburt? Übermäßig langandauernde Wehen? Verließ das Baby den Trauma-Zug halbtot durch Medikamente, mußte es mit Eiswasser, weiteren Medikamenten oder Schlägen wiederbelebt werden? Wurde das Baby durch Kaiserschnitt auf die Welt gebracht? 

Diese frühesten, lebensrettenden Reaktionen sind eingeprägt und werden in zukünftigen Streßsituationen wieder und wieder benutzt, weil sie das sind, was das System in seiner ersten großen Krise auf Leben und Tod tat, um zu überleben.

Der Geburtsmodus hilft, die Arten von Krankheit zu bestimmen, an denen wir später leiden. Wenn bei der Geburt ein Syndrom aus Kampf und Versagen vorliegt, bei dem trotz aller Anstrengungen die Geburt nach einer ungeheuren Bemühung nicht leicht vonstatten ging, dann werden gewisse physiologische Prozesse und ein Gefühl der Verzweiflung eingeprägt. Weil mit der Geburt assoziierte Traumata sofort verdrängt werden und tief im Unbewußten verbleiben, unzugänglich und nicht wahrnehmbar, können sie im Laufe der Jahrzehnte allmählich anwachsen und schließlich in einer katastrophalen Krankheit kulminieren. Der Prototyp bestimmt möglicherweise nicht nur die Grenze unseres Verhaltens, sondern auch die Gestaltung unserer Physiologie. Er bestimmt, ob unser allgemeiner Persönlichkeitstyp schwerfällig oder hyperaktiv ist.

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Wenn das Geburtstrauma von der Art ist, daß das Neugeborene keine Alternativen hat, wenn es nichts tun kann, um seinen Zustand zu verändern, beispielsweise weil es von der Nabelschnur erdrosselt wird, dann dominiert das parasympathetische System. Aggressivität wäre lebensbedrohend. 

Die systematische Reaktion ist dann eine Reaktion der Niederlage und Verzweiflung. Paradoxerweise ist Aufgeben ein Teil der Überlebens­bemühung. Kämpfen und Gegenwehr wären lebensgefährlich. Der Parasympathetiker wird derjenige sein, der später im Leben unter Immunerkrankungen leidet, weil die grundlegenden prototypischen Tendenzen solche des Zurück- und Für-sich-Behaltens sind, mit einem Wort: solche der Verdrängung. Damit einher geht außerdem eine tiefe Verzweiflung. Da ich festgestellt habe, daß das Immunsystem Gefühle verarbeitet, werden wir dort das Gefühl der Niederlage finden (die wirkliche Bedeutung der Psychosomatik, bei der die Psyche und das Zellgewebe einander überschneiden), nicht als bewußte Erfahrung, sondern in Form einer verringerten Funktion der Immunzellen; die Zellen folgen jetzt dem Persönlichkeitstyp und funktionieren auf weniger aggressive und aktive Weise.

Im Gegensatz dazu stehen bei der sympathetischen Persönlichkeit alle Signale auf »los«. Die Mutter, die angespannt und verschlossen war und ihr Baby nicht freigeben konnte, hatte einen Fötus, der um sein Leben kämpfte. Die Prägung durch diesen Kampf bleibt bestehen, so daß der Mensch später antreibend, ehrgeizig, Hindernissen gegenüber achtlos oder gleichgültig, optimistisch (denn der Ausgang der Geburt war in der Tat günstig), rastlos, drängend, aggressiv, nie verzweifelnd, nie deprimiert und niemals geschlagen ist. Er ist ein Kandidat für einen Herzinfarkt, nicht für Krebs. Wenn er verzweifelt wäre, hätte er zu kämpfen aufgehört, und das hätte den Tod bedeutet. Also gehört Verzweiflung nicht zu seinem Vokabular. Im erwachsenen Leben gibt er nie auf. Er kämpft weiter, ganz gleich, wie die Chancen stehen.

Der sympathetische Typ »rast die Straßen entlang«. Er spart nicht Energie wie der parasympathetische Typ, sondern verbrennt sie. Am Ende jedoch »geht ihm der Treibstoff aus«. Sein Puls und seine Körpertemperatur sind höher. Er hat mehr Interesse an Sex, weil alle Impulse nach oben und außen gehen. Er agiert aus. Der parasympathetische Typ agiert nach innen. Der Sympathetiker befindet sich im expressiven Modus, während der Parasympathetiker zurückhält, niederhält, in sich verschließt.

Wenn es einen zentralen Unterschied zwischen den beiden Typen gibt, dann den, daß der Sympathetiker gelernt hat, daß er versuchen muß zu überleben, während der Parasympathetiker gelernt hat, daß er nicht versuchen darf zu überleben. Um es anders auszudrücken: Für den ersteren bedeutet der Versuch Leben; für den letzteren bedeutet er Tod (weil ernsthafte Aktivität während seiner Geburt tödlich gewesen wäre).

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Alle späteren Kindheitstraumata werden nur die durch das Geburtstrauma hervorgerufenen Grundgefühle verstärken. So gibt der Parasympathetiker unter geringfügig ungünstigen Umständen sein Streben nach Liebe auf, während der Sympathetiker es fast immer weiter versucht. Der Para-sympathetiker gibt dem Leben gegenüber viel schneller auf als der Sympathetiker, und die Wahrscheinlichkeit, daß er Pläne zu Ende bringt, ist geringer, denn etwas nicht zu Ende zu bringen vermeidet die katastrophale Vergeblichkeit, die mit der Endphase des ursprünglichen Traumas verbunden war. Er sieht rascher den Tod als Erleichterung an, weil er das war; deshalb neigt er viel eher zur Selbsttötung. Der Parasympathetiker kämpft gegen ungünstige Umstände, aber in dem Augenblick, in dem er spürt, daß er überwältigt ist, gibt er auf. Die Dialektik seiner Behandlung ist die: Ehe er fühlen kann, daß er es wirklich schaffen kann, muß er das tiefe Gefühl wiedererleben: »Ich kann es nicht schaffen.«

Philip war in vieler Hinsicht typisch für die sympathetische Persönlichkeit.

 

 

Philip

»Meine Geburt war ein langer, achtzehnstündiger Kampf. Ich hatte das Gefühl, es gäbe keinen Ausweg, aber ich konnte nicht aufhören zu kämpfen, denn das hätte bedeutet, niemals herauszukommen. Das lange Warten frustrierte und ängstigte mich, da ich nicht wußte, was vor sich ging.

Ich kam wütend auf die Welt. Mein Kopf war bei der Geburt verformt und hatte Druckstellen, und ich hatte immer leichte Schmerzen im Hals und im oberen Torso. Ich fürchtete mich stets vor körperlichen Verletzungen, aber ich trieb dennoch Sport, um Aufmerksamkeit zu erringen. Doch aufgrund meiner Angst, (wieder) verletzt zu werden, war ich kein guter Sportler.

Ich schlug als Kind mit dem Kopf gegen die Wand und schaukelte in meinem Bettchen. Heute weiß ich, daß das daran lag, weil ich mir von Anfang an den Kopf anschlagen mußte, um herauszukommen. Immer, wenn ich frustriert war, griff ich einfach auf das zurück, was ich ursprünglich getan hatte, um Erleichterung und Freiheit zu finden. Damit dieses Kopfschlagen aufhörte, wurde ich mit einer Schlinge unter dem Kopf festgebunden, um meinen Kopf zu fixieren, so daß ich ihn mir nicht anschlagen konnte. So mußte ich immer wieder den ursprünglichen Schmerz meiner Geburt durchleben, am Kopf festgehalten zu werden. Mein ganzes Leben lang hatte ich Schmerzen in den Gelenken, vermutlich von meinen Versuchen, mich zu befreien. Vom Alter von dreiund­vierzig Jahren an wurde ich wegen rheumatoider Arthritis behandelt.

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Es gab auch Sitzungen, in denen ich meine Gefühle wiedererlebte und den Eindruck hatte, eine Hand packe mein Gesicht und drücke zwei Finger in meine Augenhöhlen. Nachdem ich diesen Schmerz einmal gefühlt hatte, verschwanden die Kopfschmerzen, die ich lebenslänglich unmittelbar über den Augen gehabt hatte. Wenn ich jetzt gelegentlich Kopfschmerzen bekomme, weiß ich, daß Gefühle hochkommen; und wenn ich sie fühle, vergeht der Schmerz.

Mein Eheleben war verrückt. Ich fühlte mich immer >angebunden< und wollte frei sein, aber ich wollte auch nicht allein sein (weil ich gleich nach der Geburt verängstigt und alleingelassen worden war). In einem dunklen Zimmer allein zu Bett zu gehen war immer schmerzlich, und ich wehrte mich stets dagegen. Ich mußte trinken, um einschlafen zu können. Dieses ursprüngliche Alleinsein muß in mir eine entsetzliche Erinnerung hinterlassen haben, die ich nie überwand. Jetzt kann ich mich eines guten Nachtschlafs erfreuen, und jeder, der Schlafprobleme hatte, weiß, was für ein Segen das ist. Es ist so schön, aufzuwachen und den Morgen zu genießen.«

*

 

Verzweiflung: die Wurzel von Krankheit

Der Parasympathetiker hat gekämpft und ist von unüberwindlichen Hindernissen besiegt worden. Er oder sie entwickelt eine »Was nützt das schon?«-Einstellung, weil das Erleben so war. Wenn das Immunsystem reden könnte, würde es genau dasselbe sagen. Es ist also nicht so vital und kampfbereit; es verzweifelt aufseine eigene Weise. Für den Sympathetiker bedeutet der Kampf um das, was er brauchte. Überleben. Jedes spätere Hindernis wird diesen Kampf wieder auslösen. Für den Para­sympathetiker bedeutete Kampf Tod. Wenn die Mutter einen großen Tumor hatte und das Baby nicht herauskommen konnte, wird das gleiche Gefühl der Konfrontation mit unüberwindlichen Hindernissen eintreten. Selbst später im Leben, wenn die Hindernisse nicht so unüberwindlich sind, wird er auf Ereignisse in dieser Weise reagieren, nicht nur psychisch, sondern auch physiologisch.

Die Bedingungen für Selbsttötungsgedanken des Parasympathetikers sind ein genaues Duplikat der Geburt — er ist sehr erregt, sieht keinen Ausweg, bemüht sich vergeblich und gibt auf. Die Einprägung von Tod, Verzweiflung und Niederlage ist überall im Parasympathetiker und bahnt den Weg für spätere katastrophale Erkrankungen. Sie ist nämlich jetzt ein Teil der Physiologie, genau wie die Tuschekörnchen, von denen ich weiter oben sprach. Schädliche Stimuli werden Teil der Physiologie der Amöbe. Und sie werden Teil von uns, erstens, um sie unschädlich zu machen, und zweitens, um sie zu speichern, bis sie gefühlt und integriert werden können.

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Der Parasympathetiker versucht in seiner allgemein düsteren und verzweifelten Einstellung heute eine Realität zu bestätigen, die einmal war. Das ist das Streben der Psyche, äußerlich real zu machen, was in Wirklichkeit nur innerlich existiert. Es ist also wie bei jeder Neurose ein Versuch, Kohärenz, Kohäsion und Harmonie zu erreichen, wenn auch eine neurotische Harmonie. Was den Parasympathetiker schließlich umbringt, sind die Ereignisse, die das Gefühl entstehen ließen: »Nichts, was ich tue, wird gut genug sein, ich verdiene es wirklich nicht, am Leben zu sein.«

Wenn das Leben im Mutterleib für den Parasympathetiker traumatisch war, dann bedeutet Veränderung Unheil. Die proto­typische Erfahrung diktiert eine konservative, vorsichtige Persönlichkeit, die sich vor abruptem Wandel in acht nimmt, ihre Pläne nicht leicht ändern kann und alles vorhersehen muß. Wenn wir später entdecken, daß Konservatismus mit einer bestimmten Krankheit assoziiert ist, wäre das keine Überraschung. Das soll nicht heißen, Konservatismus verursache Krankheit. Es ist einfach so, daß beide auf den gleichen eingeprägten Reaktionen basieren.

Unter Streß ist der Parasympathetiker wenig aktiv und neigt zu niedrigem Blutdruck, langsamem Puls, niedriger Körper­temperatur und niedriger Schilddrüsenfunktion. Das Positive dabei ist, daß der Parasympathetiker, wenn er katastrophale Krankheiten wie Krebs vermeiden kann, wahrscheinlich den Sympathetiker überlebt, einfach aufgrund seines niedrigeren Stoffwechsels (wenn wir davon ausgehen, daß er ein einigermaßen gesundes Leben geführt hat).

Der Parasympathetiker wirkt insgesamt ziemlich schwerfällig. Er spricht langsam und manchmal mit Mühe. Seine Gedanken werden sorgfältig gemessen und gewogen.

Der Parasympathetiker war dem Tod nahe, als er ins Leben trat, und hatte keine Möglichkeit zu kämpfen. (Die Angst davor, sich zu lebendig, überschäumend und froh zu fühlen, kann aus diesem Paradigma stammen — auf Leben folgt Verhängnis.) Es gibt nicht das »Kämpfe und siege« wie beim Sympathetiker. Der Kampf wird vielmehr sehr schnell beendet, wenn beispielsweise massive Anästhesie das System durchdringt, bewußtlos macht und an den Rand des Todes bringt. Hier heißt es: »Kämpfe und scheitere.« Wenn später Hindernisse auftreten, neigt der Mensch zum Aufgeben, weil er keine Erfahrung mit Zähigkeit und Erfolg hat. Sein Pessimismus wird stärker sein als alle späteren Ermutigungen. Sein vorsichtiger, strenger, konservativer Ansatz, bei dem hinter jeder Entscheidung mögliche Katastrophen warten, mag für einen Buchhalter geeignet sein, aber er wird ihn nicht befähigen, die nötigen Schritte zu unternehmen, um ein Projekt auf vitale, energische Weise zu Ende zu bringen.

Ein solcher Mensch sieht ein Verhängnis voraus, das bereits eingetreten ist, dessen er sich aber nicht bewußt ist. Er erblickt Hoffnungslosigkeit überall. Er starrt seiner Vergangenheit ins Gesicht und kennt sie nicht. Das ist das Schlüsselelement für katastrophale Erkrankungen. Es ist der Grund, warum Tiere, die gefangen sind und keinen Ausweg haben, krank werden. Ihre Situation war hoffnungslos.

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  Kein Ausgang für den Neurotiker  

Der Parasympathetiker sitzt in einem abgedunkelten Zug, dessen Fenster fest verschlossen sind, dessen Abteile voneinander isoliert sind und der kein wirkliches Ziel und keine wirkliche Richtung hat. So fühlt er sich: allein im Dunkeln, eingesperrt, verloren, ohne Optionen oder Alternativen, geschlagen. Der Zug fährt auf sein unentrinnbares Schicksal zu. Er ist zum »Zug der Qual« geworden, den man bei der Geburt besteigt und der keine Ausgangstüren hat, weil ursprünglich auch keine da waren. Der Parasympathetiker ist sich seines Schmerzes fast immer mehr bewußt als der Sympathetiker.

Ich erinnere mich an eine Frau, die das parasympathetische Gefühl beschrieb wie den Aufenthalt in einer Art Kokon — einer harten Schale, aus der sie sich nicht befreien konnte. Sie war ein zweitgeborener Zwilling, hatte Schwierigkeiten mit dem Herauskommen und kam sich lebenslänglich so vor, als stecke sie fest. Nachdem sie das gefühlt hatte, sagte sie: »Jetzt kann ich mich bewegen und frei sein.« Die meiste Zeit ihres Lebens war sie Gefangene einer düsteren Stimmung, die sie ständig umgab. Sie sagte, sie fühle sich wie ein »übel zugerichtetes Durcheinander«, das nie eine Lebenschance hatte.

Vor einiger Zeit hatte ich Schwierigkeiten mit einem jungen Therapeuten, der seinen Patienten gegenüber zu aggressiv und antreibend war und sie zwang, zu schnell voranzugehen. Alle Ermahnungen waren vergeblich, bis er das Gefühl fühlte: »Wenn ich festzusitzen glaube und nicht weiß, was ich tun soll, dann dränge ich voran.« So einfach war das: Seine Geburtsgefühle hatten sich störend bemerkbar gemacht. Victoria ist ein Beispiel für einen Parasympathetiker.

*

 

Victoria

»Neulich morgens wachte ich auf und hatte das Gefühl, alles sei zuviel für mich; selbst der Gedanke, aufzustehen, um Frühstück zu machen oder Besorgungen für den Tag zu erledigen, war zuviel. Ich fühlte mich von allem so überwältigt, daß ich nicht aus dem Bett aufstehen konnte. Ich wollte weinen und versuchte, mit dem Gefühl in Berührung zu kommen. Das erste, was ich sagte, war: <Das ist alles zuviel für mich: Ich kann es einfach nicht.>

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Dann weinte ich eine Weile, und während ich weinte, fiel mir ein, was ich in der Nacht geträumt hatte. Mein Mann und ich waren in Ferien, und wir übernachteten in Motels draußen auf dem Land. Wenn wir die Zimmer betraten, bekam ich immer das Gefühl, dort lauere eine Gefahr — nichts Spezifisches, nur ein sehr subtiles Gefühl von Gefahr, jemand oder etwas werde uns verletzen. Es war, als liege jemand auf der Lauer und warte auf uns — ein Gefühl bevorstehenden Unheils.

Während ich über den Traum weinte, erinnerte ich mich, wie schrecklich ängstlich ich mein ganzes Leben lang war — ich schaute in meinem Schlafzimmer jeden Abend unter das Bett, in den Schrank und unter den Stoffbehang des Frisiertischs, und ich ließ im Zimmer eine Lampe brennen (noch im Alter von einundzwanzig Jahren). Trotzdem lag ich steif im Bett und wartete darauf, daß jemand käme und mich packe und verletze. 

Dieses Gefühl führte zu Szenen mit meiner Mutter, bei denen sie, wenn mein Vater auf Geschäftsreise war, aus Krawatten ein Seil knüpfte, damit wir aus dem ersten Stock klettern könnten, falls jemand käme, um uns zu ermorden. Sie stellte auch einen Stapel alter Teller auf den Tisch am Fenster, damit man sie auf den Zementboden werfen könne, um den Farmmanager zu wecken, falls der Mörder die Telefonkabel durchschnitt. Dann verschloß sie die Schlaf­zimmertür, und wir (Mama, mein Bruder und ich) schliefen zusammen in diesem Zimmer. Ich war immer so erschrocken; wenn Mama so ängstlich war, mußte es da draußen etwas so Großes und Erschreckendes geben, daß es uns wirklich umbringen könnte. Sie erschien mir so groß, und wenn sie Angst hatte, wer konnte uns da beschützen? Ich konnte es gar nicht erwarten, daß mein Vater wieder nach Hause kam und ein gewisses Gefühl der Sicherheit brachte. Meine Mutter war so eine hysterische Person, sie hatte Angst vor allem — Autoritätsfiguren, Geld, der Welt im allgemeinen —, als sei alles >da draußen< potentiell gefährlich und verletzend. Ihre Furcht war sehr ansteckend.

Während ich über all die Dinge weinte, vor denen ich mich als Kind gefürchtet hatte, kam ich zu einem Geburtsgefühl, bei dem ich nicht atmen konnte, und dem Gefühl gleich nach der Geburt, als man mich alleinließ. Meine Mutter äußerte während der Entbindung ihre Angst und Panik, indem sie unkontrolliert schrie und mit dem Kopf gegen den Bettpfosten schlug. Ihr Entsetzen ging auf mich über, und nach der Geburt wurde die Angst noch dadurch verstärkt, daß man mich alleinließ, während ich doch offensichtlich Trost und Zuwendung brauchte. Ich wußte damals nicht, ob jemals jemand zu mir kommen würde; ich hatte ein Gefühl von Zeitlosigkeit und ewiger Einsamkeit. Mein Vater sagte, als er durch die Glasscheibe im Krankenhaus schaute, hätte ich am lautesten geschrien, und er hätte mich leicht aus dem Geschrei aller anderen Babies herausgehört.

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Dieses Gefühl beschreibt sehr treffend, warum ich an Neues immer mit der sofortigen und allumfassenden Reaktion herangehe: <Nein, das kann ich nicht. Ich bin nicht bereit.> Meine erste Erfahrung mit >Neuem< war vollkommen erschreckend: Meine Mutter half mir wegen ihrer eigenen Angst und Panik nicht, auf die Welt zu kommen, und nachdem ich da war, nahm mich niemand in den Arm. Während ich heranwuchs, verstärkte meine Mutter diese ursprünglichen Ängste, die ich hatte, mit all ihren realen und imaginären Ängsten ständig weiter.

Was auch die neue Situation sein mag, vor der ich stehe, so gut ich auch dafür qualifiziert bin, ich habe immer das Gefühl, es nicht zu können. Das überträgt sich sogar auf Anlässe, bei denen ich etwas gut mache, von dem ich weiß, daß ich es kann. Jetzt verstehe ich den Grund dafür. Neue Dinge zu tun konfrontiert mich mit meinen Geburts- und Kindheitsgefühlen des Alleinseins. Wenn dieses Gefühl hochkommt, meine ich, überhaupt nichts zu können, trotz aller Beweise des Gegenteils und obwohl Leute mir sagen, ich könne es sehr wohl.

Dieses Bedürfnis nach Bestätigung, die mich nie wirklich bestätigen kann, ist sehr früher Schmerz, der sein häßliches Haupt erhebt. Der Grund, warum keine wahren Worte mich bestätigen und mir dieses Gefühl nehmen können, ist der, daß es ein Geburtsgefühl ist, und für Geburtsgefühle gibt es keine Worte. Es scheint, als hätte ich ein Kerngefühl von Angst und Unsicherheit, das eines meiner zentralsten Gefühle ist. Mein Therapeut sagte einmal, wenn ich in diesem Zustand sei und nach Bestätigung verlange, sei es, als strecke ich in allen Richtungen die Hände aus, aber nichts, was gesagt werde, könne mir diese Bestätigung geben. Er hat so recht; ich fühle mich, als falle ich in den leeren Raum und niemand sei da, um mich aufzufangen. Mein Verstand beschäftigt sich zwanghaft mit allen Problemen, die ich gerade habe, und versucht sie zu verstehen, wo es nichts zu verstehen gibt. Selbst wenn ich begriffen habe, wie ein Fehler zu korrigieren ist, bin ich noch immer nicht zufrieden und denke zwanghaft weiter daran.

Worte der Bestätigung helfen nicht; die zwanghafte Besorgnis hört erst auf, wenn ich das ursprüngliche Gefühl fühle. Deshalb habe ich immer gesagt, das Fühlen eines Geburtsgefühls sei mir willkommen, denn die psychische Qual, die ich bei meinen zwanghaften Sorgen empfinde, ist für mich die wirkliche Tortur, nicht das traumatische Gefühl. Ich fühle mich wirklich wiederbelebt, wenn ich eine Gefühlsverbindung herstellen kann, weil ich weiß, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis ich Frieden finden kann. Mein ganzes Leben lang habe ich gesagt: >Ich möchte mich nur ausruhen.< Mein Körper ruht nie. Ich bin ständig wachsam, reaktionsschnell wie kaum jemand, und nur nach einem Geburtsgefühl fühle ich mich wirklich entspannt und gesund. Dieser Wunsch, mich >auszuruhen<, ist also sowohl eine physische als auch eine emotionale Feststellung.

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Nachdem ich all das zu Ende gefühlt hatte, konnte ich es gar nicht erwarten, den Tag zu beginnen, und machte eifrig all meine Besorgungen. Das Verhängnis hatte sich entfernt. Tatsächlich reparierte ich sogar einen Spiegel in meinem Badezimmer, mit dessen heruntergekommenem Zustand ich vier Jahre lang gelebt hatte. Ein Innenarchitekt hatte mir gesagt, er sei nicht zu reparieren, und ich hatte sein Urteil einfach hingenommen. Jetzt befragte ich in einem Farbengeschäft einige Leute und stellte fest, daß es doch eine Möglichkeit gab, ihn wieder herzurichten. In der Vergangen­heit hätte ich das nie getan; ich hätte das Urteil des Fachmanns als unumstößliche Tatsache akzeptiert. Jetzt sehe ich, daß Fühlen mich von der Einengung meiner Vorstellungskraft befreit, die mich an allen Formen kreativen Schaffens gehindert hat. Ehe ich fühlte, war anscheinend alles zuviel für mich; nachdem ich jetzt fühle, bin ich frei, alles zu tun, was ich will, und zwar mühelos.«

*

 

Obiger Fall zeigt, was ich mit »Steigerung« meine; es soll heißen, daß das Geburtstrauma durch sehr ähnliche spätere Erlebnisse mit der Familie verstärkt wurde. Die Patientin hatte eine erschreckende Geburt, war nach der Geburt allein und verängstigt und hatte später eine Mutter, die ebenfalls ständig hysterisch und ängstlich war, was sich auf sie übertrug.

Ich erinnere mich auch an den Fall eines Mädchens, dessen Geburt von der Krankenschwester verhindert worden war, bis der Arzt eintraf. Sie konnte kämpfen, wie sie wollte, da war eine Hand, die dafür sorgte, daß sie nicht herauskam. Ihre Vitalfunktionen während des Wiedererlebens stiegen steil an, bis sie einen kritischen Punkt erreichten, an dem sie den Kampf aufzugeben schien. Der Druck auf das System war an diesem Punkt nahezu tödlich. Zusätzlich hierzu empfand sie ein Gefühl von Vergeblichkeit und Verzweiflung — die Grundlage für spätere schwere Erkrankungen. Dies ist ein fast reines Beispiel für das Syndrom des Kämpfens und Scheiterns, das später oft zu Störungen wie manisch-depressiven Zuständen führt; zuerst sind alle Systeme hektisch und manisch aktiv, dann folgen Erschöpfung und das Scheitern des Kampfes (Depression).

Die oben erwähnte junge Frau hatte im College viele Kurse zu belegen, und obwohl sie versuchte, Schritt zu halten, stellte sie fest, daß sie zurückfiel. Die gegenwärtige Situation ließ die Vergangenheit wieder hochkommen, und alles wurde zuviel für sie. Sie gab auf. Dann verfiel sie in eine tiefe Depression. Keiner kannte den Grund. Die Klinik des Colleges diagnostizierte bei ihr eine Form der Geisteskrankheit, nämlich »schwere endogene Depression«. Endogen bedeutete in diesem Falle: »Wir wissen nicht, woher diese Depression kommt, aber sie scheint aus keinem erkennbaren Grund von innen zu kommen.«

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Die Auflösung ihrer tiefen Verzweiflung und Depression erforderte die Reaktivierung und das Wieder­erleben ihres frühen Kampfes auf Leben und Tod, zu dem all diese bis an die lebensgefährliche Grenze getriebenen Vitalfunktionen gehörten. Übrigens waren es diese Zeichen, die uns verrieten, daß sie unverkennbar in eine alte Erinnerung eingeschlossen war. Hier tritt wieder die Dialektik zutage: Sie war deprimiert, weil ihr gegenwärtiges Leben eine frühe, unbewußte Prägung in Gang brachte, die eine Depression erzeugte; um das Problem zu bessern, mußten wir die vergangene Erinnerung wieder wachrufen, diesmal bewußt, um sie zu lösen. Dieselbe Erinnerung, aber ein anderer Ausgang.

Nach dem Gefühl, als die Vitalfunktionen sich wieder normalisierten, begannen die Einsichten. Sie konnte sehen, wie ihr Körper auch bei den geringsten Widrigkeiten die Erinnerung an unüberwindliche Hindernisse reaktivierte. Sie reagierte, indem sie zusammenbrach und aufgab. Ebenso wichtig war, daß die Lösung der Erinnerung ihre Durchblutung, ihren Muskeltonus und ihren Hormonausstoß so veränderte, daß ihre ganze körperliche Erscheinung sich veränderte, einschließlich der Beschaffenheit ihrer Haare und ihres Teints.

Wenn Hoffnungslosigkeit gefühlt wird, ist sie nicht verdrängt. Schwere Krankheit wird durch das Verdrängen von Hoffnungs­losigkeit erzeugt, nicht durch das Erleben. Wenn man jedoch die Hoffnungslosigkeit sehr früh fühlt, kann das den Tod bedeuten. Wählen Sie also Ihre Waffen. Sie können als Baby sterben, weil Sie katastrophale Verzweiflung fühlen, oder Sie können sie verdrängen und später daran sterben.

Ich bin sicher, wenn ich jemandem sagen würde, er habe mit fünfzig Jahren Krebs bekommen wegen etwas, das bei seiner Geburt geschah, dann wäre er skeptisch, zynisch und ungläubig. Wie kann man an etwas glauben, das man nicht sehen, fühlen, riechen oder berühren kann? Es ist, als wolle man jemanden auffordern, an die Zahnsteinkobolde zu glauben.

 

Das Ausagieren des Geburtstraumas

 

Das Ausagieren des Geburts-Prototyps ist nicht leicht zu verstehen. Ausagieren ist die Essenz des neurotischen Lebens und in vieler Hinsicht das, was wir früher als Neurose beschrieben. Blicken wir zurück: Jedes frühe Gefühl wird auf anderen Ebenen gesteigert und repräsentiert.

Kindheitsereignisse bringen nicht unbedingt so sehr andere Gefühle als vielmehr Ausarbeitungen der früheren Gefühle. Das Bedürfnis, herausgezogen zu werden, zu kommunizieren, Zeit zu bekommen, Freiheit zu erhalten — all das gehört zu den Geburts­ereignissen der ersten Linie. Das Gefühl, unerwünscht und wertlos zu sein und ignoriert zu werden, ist auf ähnliche Weise Teil dieser Ausarbeitung und Steigerung. Fast alles, was wir im erwachsenen Leben tun, ist eine Replik der frühen Prägungen; ich habe das als »Ausagieren« beschrieben.

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Die Frage ist: »Warum agieren wir ständig den gesteigerten Geburts-Prototyp aus?« Weshalb wollen wir ständig, daß uns keine Hindernisse im Weg stehen? Warum sind wir ängstlich, wenn wir in einer langen Schlange warten? Warum wählen wir jene, die uns das Leben schwermachen? Warum sind wir bei jeder neuen Begegnung ängstlich und fürchten uns so vor Veränderung? Warum haben wir Angst, wenn sich jemand an uns klammert? Wir duplizieren immer wieder die frühere traumatische Umgebung und leben unablässig in der Gegenwart die Vergangenheit. Warum?

Erstens, weil das frühere Ereignis nie gefühlt und daher verdrängt wurde und eine Restspannung zurückgelassen hat, die abgearbeitet und freigesetzt werden muß. Sie muß ständig entladen werden, damit Homöostase oder Gleichgewicht besteht. Einfaches Tappen mit Händen oder Füßen ist eine Form der Entladung. Ständiges Reden und Sex sind andere Formen. Die Person muß genügend überschüssige Spannung entladen, um das System zu normalisieren, um es auf eine Ebene optimalen Wohlbefindens zu bringen. 

Zweitens bildet die ganze Palette, welche die Prägung umgibt — das auslösende Gefühl und die Abwehr, das Gefühl selbst und die körperlichen Reaktionen —, eine »Gestalt«, die zum Zweck der Heilung ständig in die Gegenwart übertragen wird. Das ist ein Versuch, zu Bewältigung und Lösung zu gelangen, wenn auch ein symbolischer. Das Ausagieren ist also ein Versuch, das frühere Trauma wiederzuerschaffen, hoffentlich mit anderem Ausgang. Doch weil es ursprünglich keinen anderen Schluß gab, gelingt es uns nur, die genauen Umstände mit demselben Ausgang wiederzuerschaffen. Wir erzeugen also ständig Löcher, um heraus­zuklettern. Wir fangen an, Erfolg zu haben, und tun dann etwas, um unser Scheitern zu sichern (analog zum verstärkten oder gesteigerten Geburtsvorgang). Oder wir haben es beinahe geschafft und geben dann auf. Wir können keinerlei Einschränkung oder Zwang ertragen. Wir lassen alles unfertig stehen, weil Vollendung (ursprünglich) Unheil bedeutet, etc.

Drittens sichert das Ausagieren, daß der Inhalt der Prägung unbewußt bleibt, denn es läßt den Brennpunkt der Aufmerksamkeit in der Gegenwart bleiben und unterstützt damit die Kräfte der Verdrängung. Die Schlüsselfunktion des Ausagierens besteht also darin, uns nicht merken zu lassen, daß wir ausagieren. Wir agieren ein altes Gefühl aus, doch das Ausagieren selbst macht uns glauben, es sei in der Gegenwart. Wenn wir eine Person isolieren und ihr ihre üblichen Abwehrmechanismen nehmen, kommen die alten Gefühle sofort hoch. Jemand, der plötzlich krank wird und nicht ausagieren kann, ist in seine Vergangenheit geworfen und beginnt, sich ängstlich und angespannt zu fühlen, gewöhnlich, ohne den Grund dafür zu kennen.

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Paradoxerweise agieren wir also aus, um die Vergangenheit gleichzeitig lebendig und tot zu halten. Wir setzen die Vergangenheit in der Gegenwart fort und verdrängen den wirklichen Zusammenhang, damit er das Bewußtsein nicht fragmentiert. Volles Bewußtsein, erinnern Sie sich, kann Tod bedeuten. Um zu einer Lösung zu kommen, ist Bewußtsein nötig, doch im primären Sinne bedeutet es Desintegration.

Das Ausagieren impliziert Hoffnung, weil beim ursprünglichen Trauma fast immer tiefe Hoffnungslosigkeit besteht. Wir wiederholen frühere Geburtsmuster wieder und wieder, weil wir physiologisch in jeder neuen oder fremden Situation wiederholen müssen, was uns das Leben rettete. Das ist keine Wahl, die wir treffen, sondern geschieht automatisch. Der Versuch, das Ausagieren zu verändern, ist in der Tat ein Versuch, Geschichte auszuradieren, und das ist nicht so leicht möglich.

Der entscheidende Grund, warum wir die Umgebung der Vergangenheit in der Gegenwart duplizieren, ist, daß die alte Umgebung in Gehirn und Körper die ganze Zeit in ihrer genauen Form existiert. Wir reagieren darauf, weil sie da ist, und wir tun, was wir tun müssen, um einen ständigen Zustand von Gehirn und Körper kohärent und rational zu machen. Wir bleiben in Bewegung und machen uns zu schaffen, weil wir fühlen, daß wir die Erregung konstanter Aktion lieben, weil Bewegung unbewußt Leben und keine Bewegung Tod bedeutet. Wir fühlen den ursprünglichen Zusammenhang nie, weil wir in Bewegung bleiben. Ans Haus gefesselt zu sein würde bedeuten, den realen Gefühlen und damit schrecklicher Angst nahezukommen.

Die Wertigkeit der Prägung ist die Stärke des Ausagierens, und obwohl Kindheitsaspekte dabei sind, kann das Ausagieren (d.h. neurotisches Verhalten) nicht voll gelöst werden, bis seine Grundlage, die tief und fern im Unbewußten liegt, ebenfalls gelöst ist. Man kann die Kraft des Ausagierens mildern, indem man Dinge fühlt, die in der Kindheit geschahen, aber das Ausagieren bleibt. Es wird nur stärkere Reize brauchen, um in Gang zu kommen. Wenn die Traumata der tiefsten Ebene wiedererlebt und gelöst sind, können wir sagen, daß die Neurose vorüber ist.

Bedeutet all das, daß keine Erfahrung, nicht einmal eine intensive therapeutische Erfahrung, die Neurose verändern kann? Ja, genau das bedeutet es; denn keine Erfahrung kann die Schale der Verdrängung durchdringen, unter der eine Umgebung von ungeheurer Größenordnung lebt. Die innere Prägung ist eine ständige Umgebung, auf die wir als erstes reagieren. Sie dominiert jede andere Erfahrung. Wenn die neue Erfahrung nicht lebensbedrohlich ist und nicht früh im Leben eintritt und eine neue Art von Reaktion erfordert, gibt es nichts, was an der Neurose etwas ändern kann — es sei denn, die Verdrängung wird aufgehoben und die Prägung freigesetzt.

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Das neurotische Ausagieren wurde ja als Reaktion auf ein Ereignis der Todesnähe geschaffen. Solange kein anderes Ereignis stark genug ist und früh genug eintritt, bleibt der erste Überlebensmechanismus, den wir erlernen, die erste Zuflucht der Abwehr.

 

Verstärkung des Prototyps 

 

Die Primärtherapie dreht sich nicht nur um die Geburt. Die Geburt setzt die Neurose in Gang. Sie gibt ihr ihre Richtung. Gewiß wird eine wohltuende oder auch nur unterstützende und liebevolle Umgebung den Einfluß von vorgeburtlichen und Geburts­traumata mildern. Ein Parasympathetiker, der in einem kalten, strengen, lieblosen Zuhause aufwächst, leidet unter verstärktem Schmerz. Aufgrund des allgemeinen Persönlichkeitsprototyps wird er so reagieren, daß er noch eher aufgibt.

Wenn die Eltern des sympathetischen Kindes schwach und ineffizient sind und das Kind aggressiv und fordernd ist und damit durchkommt, dann wird es noch kämpferischer, noch selbstbehauptender, noch aggressiver, und das wird sich auszahlen. Diese Tendenzen werden noch weiter verstärkt.

Warum bekommen »reizende« Leute Krebs? 

Weil sie ihre eigenen Bedürfnisse weitgehend aufgegeben haben. Sie geben anderen nach und versuchen, in jeder nur möglichen Weise zu gefallen, um wenigstens den Anschein von Liebe zu bekommen. Sie werden sehr harmlose, unschädliche, biegsame und genügsame Menschen. Wenn dies durch die Art von Schule verstärkt wird, die repressive Eltern wahrscheinlich wählen (etwa militärisch oder religiös geprägte Schulen), dann wird das Kind noch mehr verdrängen. Es hat nahezu überhaupt keine Chance. Bis es zehn Jahre alt ist, ist es ein stark verdrängendes Individuum. Es ist auch ein Kandidat für Depression und Immunerkrankungen. Der junge Körper hat die Ressourcen, um dagegen viele, viele Jahre lang anzukämpfen, doch wenn er älter wird, scheitert der Widerstand.

Ein normalisiertes Gleichgewicht zwischen sympathetischem und parasympathetischem Funktionieren ist wichtig für die Gesundheit. Wenn die Patienten mit der Zeit ihren Schmerz wiedererleben und ihren Stoffwechsel dadurch normalisieren, weisen sie eine bessere Gesundheit und ein ausgewogeneres System auf. Das geschieht nicht durch einen Willensakt, sondern automatisch. Das System funktioniert wieder »richtig«. Emotional gestörte Personen sind häufig als »mental unausgewogen« bezeichnet worden, und wir verstehen jetzt den Grund dafür.

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Maryanne

»Soweit ich zurückdenken kann, war ich deprimiert. In der Schule war ich immer zurückgezogen, hatte nie viele Freunde, empfand nie viel Freude an irgend etwas und besaß nie viel Energie. Mein Vater verließ meine Mutter, als ich sechs Jahre alt war, wegen einer anderen Frau. Sie hatten zwei Kinder, und irgendwie vergaß er mich. Er ließ mich mit einer verrückten Mutter zurück, mit der ich überhaupt nicht reden konnte. Es sieht so aus, als hätte ich mein Leben lang darauf gewartet, daß mein Vater zurückkehrt, und wäre mit einer Depression herumgelaufen, weil ich spürte, daß er nicht zurückkehren würde.

Bei der Hochzeit meiner Schwester fiel ich in eine tiefe Depression, weil mein Vater kam. Ich hatte ihn seit drei Jahren nicht gesehen, und er begrüßte mich kaum. Da wußte ich, daß alles vorbei war. Ich fühlte, wie hoffnungslos es ist. Ich hatte nie jemanden, zu dem ich mit meinen Gefühlen hätte gehen können, also behielt ich sie mein Leben lang für mich. Je mehr ich sie herauslasse, je mehr ich meinen Daddy bitte zurückzukommen, desto besser fühle ich mich allmählich.

Ich glaube, ich war von Beginn meines Lebens an deprimiert. Ich wurde zurückgehalten, weil sie den Arzt nicht finden konnten, als ich auf die Welt kam, und seither habe ich immer gespürt, wie vergeblich es ist, sich zu bemühen. Mein Puls war zeitlebens extrem niedrig (etwa 45), und ich glaube, das gehört zu meiner Energielosigkeit. Ich fand es anstrengend, irgendwo hinzugehen, als müsse ich meinen Körper herumschleppen. Ich glaube, alles hat sich verschlossen, als ich nicht herauskommen konnte, und irgendwie hat die Erschöpfung, die ich beim Geburtskampf fühlte, mich nie wieder verlassen. Diese Erschöpfung und Verschlossenheit ließen mich einfach aufgeben, als mein Vater wegging. Ich nehme an, daß ich wütend war, aber das habe ich nie geäußert; es hatte ja keinen Zweck, er würde nicht zurückkommen. <Es hat ja keinen Zweck> wurde zu meinem Lebensthema.«

 

 

Der Sympathetiker als Optimist

Der erwachsene Sympathetiker ist eindeutig ein Optimist. Das ist er seit dem Tag seiner Geburt, und er hat Gründe dafür. Man könnte sagen, daß Optimismus entweder Krebs verhindert oder, wenn Krebs einmal aufgetreten ist, dazu beiträgt, einen Rückgang der Symptome zu bewirken. Tatsächlich jedoch handelt es sich nicht einfach um eine optimistische Einstellung, sondern vielmehr um eine optimistische Physiologie. Optimismus ist der psychologische Aspekt einer ganzen aggressiv-selbst-behauptenden Physiologie. Die Zellen behaupten sich auf ihre eigene Weise und sind optimistisch.

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Auch sie arbeiten hart, sind erfolgsorientiert und energiegeladen, und zusammen bilden sie eine spezifische Art von Persönlichkeit. All diese verschiedenen physischen und psychischen Reaktionen sind Verzweigungen des Prototyps. Antrieb, Bewegung und anschließender Erfolg sind die Kennzeichen des Prototyps. Julie ist eine Sympathetikerin, die diese Merkmale aufweist.

 

Julie

»Als ich in Los Angeles war, konnte ich es nicht erwarten herauszukommen. Ich fühlte mich ganz überwältigt von der Situation, in der ich mich befand — meine Arbeit und mein Privatleben —, also konnte ich nur daran denken, durch eine Reise wegzukommen. Doch als ich die Reise schließlich antrat, hatte ich weiter das Gefühl, ich müsse von dort fort, wo ich war — genau wie in Los Angeles. Zuerst trat ein Gefühl der Erleichterung ein, wenn ich irgendwo ankam, weil ich tatsächlich das Gefühl ausagiert hatte und weggegangen war. Doch wenn ich kurze Zeit an einem Ort gewesen war, kam das Gefühl wieder hoch, und ich konnte nur noch an Abreise denken. Also fuhr ich zum nächsten Ort, und nach kurzer Zeit kam das Gefühl wieder auf, und ich wollte weiterfahren.

Das Gefühl ist das, was ich bei der Geburt hatte, und es besagt: >Ich muß hier heraus.< Es ist ein schrecklich zwingendes Gefühl, das mich antreibt. Ich möchte einfach von Ort zu Ort reisen, um diesem unangenehmen Gefühl zu entkommen.

Gestern war ich in einem Reisebüro und habe eine Fahrkarte gekauft, was bedeutete, daß ich weiterzog, und ich hatte ein starkes Gefühl der Erleichterung. Doch als ich nach Hause kam, wurde mir klar: >So, das habe ich erledigte und dann kam das Gefühl wieder hoch. Es scheint, ich kann nichts tun, um dieses Gefühl loszuwerden, außer, es zu fühlen. In der Minute, in der ich an einen neuen Ort komme, geht es mir für eine kleine Weile gut. Und wenn ich mich dann an diesem neuen Ort eingerichtet habe und die Routine beginnt, treibt es mich weiterzuziehen.

Das gleiche gilt für jede Art von Routinejob; deshalb habe ich immer alles vermieden, was nach Routine schmeckte. In der Routine ist keine Bewegung. Eine Routine ist eine tote Umgebung, und so muß es im Mutterschoß sein, ehe man den Drang bekommt, geboren zu werden. Ich habe das Gefühl, daß Parasympathetiker wahrscheinlich viel besser auf Routine reagieren, weil sie Veränderung nicht so sehr mögen; für sie ist vielleicht die Veränderung die Gefahr. Für mich war keine Veränderung die Gefahr.

Es geht darum: Wenn Sie vor etwas weglaufen, ist es immer da, wenn Sie zurückkommen, und tatsächlich ist es auch da, wenn Sie hinkommen.

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Je mehr ich mich bewege, desto mehr bewegt sich das Gefühl mit mir. Ich bin sicher, wenn ich mich weiter so hätte antreiben lassen, dann hätte ich in sehr jungen Jahren einen Herzinfarkt bekommen und wäre zusammengebrochen.

Der Druck ist tatsächlich eine physische Empfindung. Vermutlich bin ich in mancher Hinsicht unbewußt, aber der Druck ist mir ganz bestimmt bewußt. Es ist, als sei man in seinem eigenen Körper getrieben; deswegen kann ich niemals stillsitzen. Ich muß immer irgend etwas tun. In der Küche stehe ich auf, tue dies, tue das, bin immer in Bewegung. Ich nehme an, Bewegung bedeutete für mich Leben; zumindest bedeutete sie Überleben. Das Schreckliche an meiner Situation ist, daß ich Frieden nicht aushallen kann. Frieden wird zu Routine. In mir herrscht so viel Turbulenz, daß ich ausgehen und irgendwo hinfahren muß, um Frieden zu finden. Der einzige Frieden, den ich anscheinend kenne, ist Bewegung, daher kann ich mich nie entspannen und einfach ausruhen.«

*

 

Manisch-depressives Syndrom: die Ursprünge der zyklischen Persönlichkeit

 

Die manisch-depressive Neurose ist eines der Rätsel, die so unergründlich geworden sind, daß man sie dem genetischen Bereich zugeschlagen hat — man schreibt sie ererbten Merkmalen zu, gegen die der Kranke nur Drogen wie etwa Lithium einnehmen kann. Es mag einige genetische Faktoren geben, aber meine Erfahrung mit der erfolgreichen Behandlung dieses Problems hat mich dazu geführt, daran zu zweifeln.

Ich glaube, daß das manisch-depressive Syndrom (starke Schwankungen von manischer Erregung bis zu tiefster Depression) sich von einem grundlegenden Prototyp langandauernden Kampfes bis fast zum Erfolg und dann erbärmlichen Scheitern des Kampfes bei der Geburt ableitet. Ein häufiges Beispiel ist der Kampf gegen einen Tumor, um herauszukommen, und der darauf erfolgende Kaiserschnitt. Oder das Baby wird während der Wehen von einer Krankenschwester zurückgehalten, die auf das Eintreffen des Arztes wartet. Diese Art von Geburt erzeugt die Prägung einer zyklischen Persönlichkeit. Der Unterschied zwischen diesem Problem und der typischen parasympathetischen Reaktion ist nur ein Unterschied im Grad und in der Dauer der Kampfperiode — Phase eins. Der Manisch-Depressive hat bei der Geburt länger gekämpft, ehe die Katastrophe eintrat. Der depressive Para­sympathetiker hatte keine Gelegenheit zu einer längeren aktiv-manischen Phase.

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Später im Leben, vor allem wenn das Leben hart und voller Streß ist, schaltet sich der zyklische Prototyp ein. Zuerst läßt sich der Betroffene auf wilde Kämpfe ein, ist unkontrolliert impulsiv, hat zahllose Ideen, ergeht sich in Einkaufsorgien und schreibt Unmengen Schecks aus, tippt Hunderte von Manuskriptseiten etc., und dann verfällt er in äußerste Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Energiemangel und das Gefühl: »Was hat das für einen Sinn?« Beide Phasen sind Aspekte derselben Prägung. Sie spiegeln exakt das wider, was beim Geburtskampf vor sich ging. In der ersten Phase haben wir Aktivität, Kampf und Hoffnung, und die Person läuft verzweifelt vor der Möglichkeit des Todes davon. Die zweite Phase ist die Berührung des Todes und das Entsetzen bei dieser Erfahrung. Wie es einer dieser Patienten ausdrückte: »Ich fürchte immer, mich zu gut zu fühlen, weil darauf Unheil folgt. Ich bekomme milde Angst, wenn ich mich großartig fühle.« Ein anderer Patient drückte die gleiche Befürchtung anders aus: »Ich bemühe und bemühe mich, und dann wird alles zu Scheiße.«

Weil die Prägung letztlich eine Serie von elektrischen Impulsen ist, ist manische Impulsivität eine elektrische Überlastung, welche die Person hierhin und dahin und überallhin treibt. Diese massierten elektrischen Ladungen zu einer Zeit, als der zerebrale Kortex noch nicht voll ausgebildet war, bringen die Person später dazu, die Kontrolle zu verlieren. In der manischen Phase gibt es eine Ausbreitung von Ideen, die hierhin und dorthin springen, weil kein kohäsiver Neokortex da ist, um sie zu beherrschen. Die Tatsache, daß ständig massiver Schmerz der ersten Linie hochkommt, läßt den Aufbau einer ausreichend starken kortikalen Psyche nicht zu. Manchmal hat der Betreffende das Glück, ein Glaubenssystem zu entwickeln, das die Ideenflucht im Zaum hält. Tatsächlich besteht die Funktion eines Glaubenssystems (vor allem eines mystischen) darin, die Fragmentierung zu strukturieren. Dieses Glaubenssystem ist notwendigerweise unflexibel und Tatsachen unzugänglich, weil es dazu gebraucht wird, eine randalierende Kraft unter Kontrolle zu halten. In diesem Sinne sind Illusionen eine Medizin gegen das Fühlen.

Wenn die manische Person in der ersten Phase ihre Energie verbraucht und nichts damit erreicht (wie es ursprünglich war), gleitet sie in die depressive Phase. Jetzt ist sie in Berührung mit der Prägung, vor der sie eigentlich davonlief. Der Tod steht jetzt unmittelbar bevor. Die Person empfindet Verzweiflung, Vergeblichkeit und Depression.

Ich wiederhole, der Grund, warum die Geburtsprägung alle späteren Reaktionen formt, liegt darin, daß es sich um einen Kampf auf Leben und Tod handelt, der stattfindet, bevor das Kind das Licht der Welt erblickt hat, und das ist eine Überlebens­erinnerung.

Der manisch Depressive unterscheidet sich vom gewöhnlichen Depressiven darin, daß er unfähig ist, kontinuierlich zurückzuhalten und zu verdrängen. Bei Depressiven liegt eine globale Verdrängung vor, und diese ist wirksam; die Primärkräfte werden nicht freigesetzt. Was die Depression charakterisiert, ist ja in der Tat das Fehlen von Ventilen.

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Das manisch-depressive Syndrom ist dem sehr ähnlich, was im Schlafzyklus geschieht; zuerst rasen die Gedanken, und man kann nicht einschlafen, dann kommt es zum Tiefschlaf, der durch tiefe Verdrängung gekennzeichnet ist; danach läßt die Verdrängung nach, und man erreicht die Traumebene mit Erregung, heftigem Herumwerfen und wilden Träumen.

Das manisch-depressive Syndrom war deshalb so rätselhaft, weil seine Wurzeln so weit in der Vergangenheit liegen und so unsichtbar und unbekannt waren, daß Vererbung die einzige logische Schlußfolgerung zu sein schien. Die manisch Depressiven, die ich gesehen habe, hatten fast ausnahmslos die Art von Geburtstrauma, die ich beschrieben habe. Dieses Leiden ist heilbar.

Es gibt nur eine Neurose — Hunderte von Manifestationen, aber eine Grundursache —, nämlich den eingeprägten Schmerz.

*

 

Marie

»Ich bin eine Frau von fünfundzwanzig Jahren. Jahrelang nahm ich eine Aufgabe nach der anderen in Angriff; ich war überzeugt, ich sei <auserwählt>, große Projekte zu übernehmen, welche die Lebensbedingungen um mich herum verbessern oder mich zu einem besseren Menschen machen würden. >Etwas mit meinem Leben anzufangen war ein verrückter, getriebener Kreuzzug, den ich als Kind begann und auf subtilere Arten bis ins Erwachsenenalter hinein fortsetzte.

In der High-School hatte ich Ämter in allen Organisationen inne, denen ich angehören konnte; ich schrieb Leitartikel für Zeitungen, um eine <gute Staatsbürgerin> zu sein. Um auch <musisch> zu sein, lernte ich Klavierspielen, Singen und Tanzen. Im College wurde ich Feministin, Mystikerin und Organisatorin einer revolutionären Theatergruppe, um >die Aufklärung zu fördern<.

Die meisten meiner Projekte schlugen fehl. Selbst wenn sie Erfolg hatten, war ich am Schluß immer deprimiert, weil ich niemals zufrieden war. Ich wußte, daß ich Zyklen großer Aktivität durchlebte, gefolgt von Perioden der Depression, Panik oder Krankheit. Je offenkundiger dies wurde, desto mehr merkte ich, daß ich keine Kontrolle über mein Leben hatte und nie in der Lage sein würde, etwas zu tun, das ich mir wünschte, bis ich aufhören könnte, mich zu wiederholen. All dies verlief nach dem Vorbild meiner Geburt — große Aktivität — geringer Erfolg — Rückfall in die Verzweiflung, der Wunsch, aufzugeben, und dann erneute Versuche.«

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Jesse

»Ich habe das Gefühl, endlich die Ursprünge mehrerer meiner Symptome herausgefunden zu haben, darunter Schwindelgefühle, Nasenverstopfung und Bronchitis. Mit der Beseitigung dieser Symptome habe ich schließlich entdeckt, warum ich dauernd zögere und zurückstecke. Ich hatte immer das Gefühl, daß es einfacher ist, Dinge zu erledigen, indem man brav ist und geduldig wartet. Ich glaube, seit meiner Geburt hatte ich immer Angst vor jedem Konflikt, der entstehen würde, wenn ich mich selbst behauptete.

Ich war ein erstgeborenes Kind, und meine Mutter sagte mir, meine Geburt habe lange gedauert. Meine Geburt begann gegen elf Uhr nachts. Meine Mutter sagte, sie sei sehr schläfrig gewesen (offenbar stand sie unter Medikamenten), und die Kranken­schwester habe sie dauernd aufwecken müssen, um ihr zu sagen, sie solle pressen. Es ist nicht überraschend, daß ich das Gefühl habe, von Beginn meines Lebens an nie viel Hilfe von meiner Mutter bekommen zu haben, und daß ich deshalb schon während der Geburt meine Versuche aufgab. Seither habe ich anscheinend immer darauf gewartet, daß etwas geschieht. Jetzt, da ich meine Geburt gefühlt habe, sieht es so aus, als sei Warten die einzige Alternative gewesen, die ich hatte, wenn ich nicht voranstürmen und den Schmerz fühlen wollte, keine Hilfe zu bekommen. Mein erstes neurotisches Abschalten erfolgte schon vor meiner Geburt.

Gewöhnlich führen mich aufkommende spezifische Symptome zu meinen Gefühlen. Einmal arbeitete ich in einem hohen Bürogebäude von dreißig Stockwerken und hatte in verschiedenen Etagen Besorgungen zu erledigen, wozu ich den Aufzug benutzte. In Aufzügen hatte ich mich immer unwohl gefühlt, aber jetzt wurden diese Gefühle überwältigend. Ich stellte mir den finsteren Schacht unter dem Aufzug vor und hatte große Angst, bis auf den Grund abzustürzen. Ich fürchtete mich so, der Aufzug werde kaputtgehen, daß mir schwindlig und übel wurde und ich mich an den Seitenwänden festhalten mußte.

Ich begann zu fühlen, daß die Angst von anderswo kam. Eines Tages in der Therapie fing ich an, mich so allein zu fühlen, als ich mich erinnerte, wie mein Vater mich in einer Nervenheilanstalt zurückließ, als ich zwanzig war, und wie verrückt mich das machte. Das Gefühl ging weiter zurück bis in die Zeit, als ich ein Baby war und vor Entsetzen schrie. Mein Körper war steif und ungelenk, als drücke auch er das Entsetzen aus. Ich fing an zu fühlen, wie ich rückwärts in eine schwarze Leere fiel. Das war die erschreckendste Empfindung, die ich jemals hatte. Ich war benommen und völlig desorientiert, und ich schrie und weinte, bis das Gefühl endlich nachließ.

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Während des Fühlens waren meine Beine über meinem Kopf, und als ich aufhörte, waren sie auf halber Höhe der Wand, und ich lag praktisch mit dem Kopf nach unten. Da wußte ich, was das für ein Gefühl war. Nachdem ich geboren war, hielt mich jemand an den Füßen hoch, und dann erkannte ich plötzlich, daß meine Angst im Aufzug dasselbe Gefühl war.

Interessant ist, daß ich ein paar Monate später etwas leicht Verändertes zu fühlen begann. Eine Drüse an meinem Hals schwoll derartig an und schmerzte, daß ich eine Notambulanz aufsuchen mußte. Der Arzt wußte nicht, woher die Schwellung kam, aber eine Woche später begann ich mich wie ein winziges Baby zu fühlen, und ich erlebte wieder, wie ich Flüssigkeit im Hals hatte, die mich erstickte. Ich schrie und schrie und würgte; etwas war in meinem Hals, das dort nicht hingehörte, und dann verschwand der geheimnisvolle Knoten.

Ich hatte immer eine verstopfte Nase, bis ich fühlte, wie ich bei der Geburt zu atmen versucht hatte. Jetzt kann ich zum erstenmal in meinem Bett liegen und einfach atmen und die Empfindung genießen, daß Luft in meine Lungen strömt. Meine lebenslängliche Nasenverstopfung ist verschwunden, meine Bronchitis ebenfalls.

Ich weiß jetzt, warum ich in Streßzeiten meines Lebens (als mein Bruder starb und mein Vater das Haus verließ beispielsweise) sofort einen Anfall von Bronchitis bekam. Ich vermute, diese Erfahrungen lösten ein altes Geburtstrauma aus, bei dem ich mich bemühte, mit all dieser Flüssigkeit in meiner Luftröhre nicht zu sterben.«

 

  Leslie  

 

»Ich betrachte mich selbst als Nachtmenschen. Ich hasse den Tag mit seinem starken Licht. Gewöhnlich stehe ich morgens so spät wie möglich auf und gehe sehr spät zu Bett, um möglichst viele Nachtstunden zu genießen. Jeder Tag beginnt auf die gleiche Weise. Das Aufwachen am Morgen ist der schlimmste Moment des Tages. Jeden Morgen geht es mir sehr schlecht, und ich fühle mich wehrlos, weil ich den langen Kampf vor mir habe, den Tag herumzubringen und endlich den Abend zu erreichen, von dem ich weiß, daß es mir dann besser geht. Während der Tag vergeht, schwindet das Unbehagen mehr und mehr. Wenn dann endlich die Nacht kommt, fühle ich mich wirklich wohl und sicher. Zur Schlafenszeit erreiche ich einen Gipfel — der Moment, in dem ich in mein Bett schlüpfe und seine Wärme und Sicherheit spüre, erfüllt mich mit solcher Freude, daß ich sie am ganzen Körper fühle. Dann bin ich sehr entspannt und sinke in den Schlaf des Vergessens.

Ich wußte nie, warum jeder Tag meines Lebens so begann, oder auch nur, daß daran irgend etwas Ungewöhnliches war, bis ich einige Geburtsgefühle hatte und mir bewußter wurde, wie ungeheuer die Prägung durch meine Geburt mein Alltagsleben beeinflußt. Was ich fühlte, war ein langer und qualvoller Kampf. Unglaublicher Druck zerquetschte meinen Hals und meinen Rücken.

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Meine Mutter wollte mir in keiner Weise helfen. Ich steckte in ihr fest und konnte nur auf mich selbst zählen, um heraus­zukommen und zu leben. So tat ich die ganze Arbeit selbst, ich schob und schob mehrere Stunden lang, bis ich völlig erschöpft war. An diesem Punkt gab ich auf, weil ich weiter nichts tun konnte und vor Erschöpfung halbtot war.

Schließlich kam ich lebend heraus. Ich werde mich immer an dieses eine Gefühl erinnern, wie ich auf dem Rücken liege, am Daumen lutsche und langsam einschlafe. Der Kampf ist vorüber. Ich habe es geschafft! Ich bin draußen, und ich lebe. Ich bin in Sicherheit, und jetzt kann ich mich entspannen und einschlafen und alles vergessen! Der Augenblick fühlte sich so gut an!

Ich durchlebe also jeden Tag genau das gleiche, was ich bei meiner Geburt erlebte. Am Morgen steht der Kampf noch bevor; meine Geburt beginnt, und ich fürchte mich. Je näher ich dem Augenblick komme, in dem ich mich entspannen und einschlafen kann, desto besser und sicherer fühle ich mich. Wenn der Abend kommt und die Schlafengehenszeit sich nähert, fühle ich mich immer entspannter und sicherer. Und ich habe auch mehr und mehr das Gefühl, ich selbst zu sein. Später wurde dieses Muster durch die Tatsache verstärkt, daß mein Vater jeden Abend vor dem Schlafengehen meiner Schwester und mir eine volle halbe Stunde seiner wertvollen Zeit widmete, mit uns spielte und uns Geschichten erzählte. Das war die einzige halbe Stunde des Tages, in der er sich um uns kümmerte, und wir freuten uns jeden Tag sehr darauf.

All das machte mich zu einem Nachtmenschen. Es ist wirklich verblüffend, daß meine Geburtserfahrung so einen großen Einfluß auf mein Alltagsleben hat und auch darauf, wie ich auf Schmerz reagiere. Wenn ich von Schmerz überwältigt werde, werde ich deprimiert und erschöpft. Ich habe dann nur einen Wunsch — ins Bett zu kommen und ihn auszuschlafen!«

 

   Über Depression   

 

Depressionen scheinen heutzutage noch weiter verbreitet zu sein als Angst. Ebenso verbreitet ist der Gebrauch antidepressiver Medikamente zu ihrer Behandlung. Die Hauptdebatte dreht sich gegenwärtig darum, wie man dieses Monstrum unterwirft und unter Kontrolle bringt. Die beiden gegnerischen Lager sind die Gesprächstherapien, zu denen auch die Einsichts­gruppen gehören, und die Vertreter der medikamentösen Behandlungsweise.

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Im Augenblick sieht es so aus, als habe letztere Gruppe gewonnen, da einige Studien zeigen, daß Medikamente allein zur Behandlung von Depressionen ebenso wirksam sind wie eine Gesprächstherapie. Tatsächlich gab es einen berühmten Prozeß, Osheroff gegen Chestnut Lodge, um die Weigerung der Klinik, dem Patienten Medikamente anzubieten.

Die Symptome der Depression sind im großen und ganzen die Symptome des Parasympathetikers: Lethargie, Mangel an Interesse an allem, Unfähigkeit, dem, was dem Betreffenden geschieht, einen Sinn zu geben, Schlaflosigkeit, Gefühle von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, mühsame Bewegungen und flacher, mühsamer Atem, Verlust von Energie, Appetit und Sexualtrieb, Gedanken der Sinnlosigkeit, ein Gefühl, keine Optionen und Alternative zu haben, und Beschäftigung mit Tod und Selbsttötung.

Depression ist keine Krankheit, es sei denn, Sie betrachten Verdrängung als Krankheit; es handelt sich nämlich um das subjektive Empfinden, daß die Verdrängung gegen eine Mischung aufkommender früher Gefühle am Werk ist. Verdrängung raubt Energie und macht alles zu einer riesigen Aufgabe, so daß es eine echte Anstrengung ist, auch nur zu sprechen oder den Arm zu heben. Was verdrängt wird, sind genau die Gefühle, die fast in jedem Parasympathetiker bestehen — Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Resignation, Vergeblichkeit —, die Symptome der Depression. Depression ist also Verdrängung, die auf eine Ebene gehoben ist, in der sie subjektiv wahrgenommen wird. Da ist dieses Gefühl der »Schwere«. Normalerweise arbeitet das Abwehr­system so mühelos, daß man das Wirken der Verdrängung nicht fühlt. Erst wenn äußere Hoffnungen enttäuscht werden (Verlust des Arbeitsplatzes, des Partners etc.), ruft die Hoffnungs­losigkeit eine Resonanz beim gleichen Gefühl aus der Vergangen­heit hervor, und das erzeugt die Depression.

Die Prägung, die diese Resonanz gewöhnlich gibt, ist das Geburtstrauma plus einer lieblosen und hoffnungslosen Kindheit. Wie ich zuvor schon erklärte, ist das Geburtstrauma von einer bestimmten Art — Kampf und Scheitern —, die eine Prägung hinterläßt mit der Tendenz: »Was hat es für einen Sinn, es zu versuchen? Es wird nichts Gutes dabei herauskommen« etc. Der Grund, warum der Depressive Sinnlosigkeit empfindet, ist, daß Fühlen Sinn ist; sonst wären wir Roboter. Was wir fühlen, gibt den Geschehnissen Sinn; wenn man stark verdrängt, erscheint alles sinnlos. Verdrängung verbraucht viel Energie, um die Hoffnungs­losigkeit niederzuhalten, aber man braucht Energie für den Sexualtrieb oder jeden anderen Trieb.

Depressive Sympathetiker habe ich selten gesehen. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, vor ihren Gefühlen wegzulaufen. Ihre Verdrängung ist nicht so total und global wie die des Parasympathetikers. Sie konnten bei der Geburt kämpfen, um heraus­zukommen. Es gab Alternativen.

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Keine Alternativen gibt es, wenn eine massive Dosis Anästhetika in das System des Neugeborenen eindringt und es vollkommen abschaltet, wie das beim Parasympathetiker oft der Fall ist. Der Sympathetiker wird nur dann depressiv (und gewöhnlich ängstlich), wenn er nicht ausagieren kann, wenn jede einzelne Alternative erschöpft ist, wenn er nicht weitermachen und sich beschäftigen kann, wenn all sein Flehen seine Freundin nicht zurückbringt. Doch schon bald kehrt seine Hoffnung zurück.

Es gibt einen gewissen Unterschied zwischen einer Depression, die durch den Verlust eines Partners ausgelöst wird, der mit jemand anderem fortgeht, und der chronischen Depression. Dieser Unterschied liegt darin, daß die allgemeinen Lebensumstände des chronisch Depressiven ziemlich hoffnungslos sind, keine Liebe, keine besonderen Interessen, wenige Freunde, wenn er überhaupt welche hat, ein uninteressanter Job etc. Die Person verweilt in diesen Lebensumständen, weil sie vielleicht das Geburtstrauma ausagiert, steckengeblieben zu sein. In jedem Fall scheint die Hoffnungslosigkeit dauernd dazusein.

Bei jemandem, dessen Partner ihn verlassen hat, finden die gegenwärtige Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit einen Widerhall in der Vergangenheit. Wenn das nicht so wäre, gäbe es sicherlich Trauer, Tränen und Kummer, aber keine chronische, endlose Depression. Depression tritt ein, wenn man nicht die realen Gefühle fühlt. Wenn man also einigermaßen normal ist und reagieren kann, wird man traurig sein, aber nicht depessiv. »Traurigkeit« ist ein Gefühl, Depression nicht. Depression besteht aus zu vielen Gefühlen, die alle gleichzeitig ins Bewußtsein treten wollen. Das Gefühl, keine Optionen oder Alternativen zu haben, ist gewöhnlich von dem frühen Geburtstrauma abgeleitet, bei dem es keine Optionen gab, keine Möglichkeiten, sich anders zu verhalten, weil jedes Verhalten lebensgefährlich hätte sein können. Ein Mangel an Alternativen in der Gegenwart wird also dieses alte Gefühl wieder aufleben lassen und die Depression verschlimmern.

Gegenwärtig wird Depression bevorzugt mit Imipramin behandelt, das den Schmerz beruhigt und das System gegen die Verdrängung aktiviert. So kann eine Psychologin, welche die Depression und ihre Behandlung untersucht, Ellen Frank von der Pittsburg School of Medicine, schreiben: »Die Dosis des Antidepressivums, die Sie gesund macht, hält Sie auch gesund« (Science News, 26. Januar 1991, S. 57).

Wieder die Vorstellung, daß Unterdrücken das gleiche ist wie Heilen. Der Beweis? »Von 53 Teilnehmern (an der Studie), die weiter Imipramin nahmen, blieben 41 während der ganzen drei Jahre frei von Depression« (S. 57).

Außerdem wurde festgestellt, daß interpersonale Therapie plus medikamentöser Behandlung nicht wirklich vorteilhafter war als die Medikamente allein.

Ist die Psychiatrie zum verlängerten Arm der Chemiekonzerne geworden? Vielleicht unwissentlich, denn ihre Behandlungsweise ist die, die gegenwärtig das Feld dominiert. Wo ist das »Warum«, das wir hören müssen?

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Warum sind Sie depressiv? Was ist das in Wirklichkeit? Woher kommt es? Medikamente unterdrücken nicht nur das Bedürfnis, diese Fragen zu stellen, sondern auch die Geschichte des Patienten, in der die Antwort liegt.

Interpersonale Therapie kann bei einer tiefen Depression nur selten wirksam sein, denn tiefe Depression ist tiefe Verdrängung, und das bedeutet die Notwendigkeit, Ereignisse wiederzuerleben, die tief unten im Nervensystem liegen, sehr frühe und dem Bewußtsein ferne Ereignisse.

In der kognitiven Schule der Psychotherapie herrscht die Vorstellung, der Depressive sei in selbstvernichtenden Gedanken befangen und müsse diese Denkmuster ändern. Ja, das stimmt; es gibt selbstvernichtende Gedanken. »Ich bin nichts wert. Ich kann nichts tun.« Doch diese Gedanken haben eine Grundlage; sie hängen nicht einfach in der Luft und müssen durch neue Gedanken ersetzt werden. Sie sind an inneren Realitäten verankert, zu denen man Zugang finden muß. Und außerdem, wo und was ist dieses »Selbst«, das man vernichtet? Und welches Selbst führt die Vernichtung aus? Gibt es also zwei Selbsts?

Das reale Selbst ist das, das die schrecklichen Traumata erlitten hat und aufgrund früher Erfahrungen des realen Lebens leidet und sich hoffnungslos und ungeliebt fühlt. Es schickt dann Botschaften an das denkende Zentrum, welches nun glaubt, nicht geliebt zu werden, selbst wenn der Betreffende eine Ehefrau und Kinder hat, die ihm völlig ergeben sind. Gerald Tarlow, Assistant Clinical Professor am Department of Psychiatrie, UCLA, schreibt: »Wir müssen den Leuten also beibringen, verzerrte Gedanken zu erkennen. Solange sie das nicht tun, können sie sich nicht ändern« (L. A. Weekly, 8.-14.April 1988). Und er fährt fort: »Der zweite Schritt besteht darin, auf die verzerrten Gedanken zurückzukommen, sie sich anzusehen und eine Alternative zu finden, die rationaler ist.« Derartige — kognitive — Lösungen kommen gewöhnlich von Menschen, die glauben, man könne sich durch Denken von seinen Problemen befreien.

Wir wollen eines klarstellen: Die Gedanken des Depressiven sind nicht verzerrt. Sie kommen direkt aus tiefsitzenden Prägungen und stimmen mit der Realität überein. Das Problem ist, daß sie nicht mit der gegenwärtigen äußeren Realität übereinstimmen. Wie ich schon sagte, liegt das daran, daß die innere Realität immer die Oberhand über die äußere hat. Die Schwierigkeit besteht natürlich darin, diese tiefsitzende Realität aufzuspüren, gegenwärtige Einstellungen und Gedanken an ihrer Grundlage festzumachen und so das Problem zu lösen. Diese innere Realität kann jahrzehntelange Erfahrung repräsentieren, die immer dieselben Gefühle verstärkt hat: »Keiner will mich. Ich bin im Weg. Sie hassen mich.«

Ja, es trifft zu, daß man den Depressiven ermutigen, ermahnen, ihm Alternativen aufzeigen, ihn aktivieren und motivieren kann, und das hilft; aber man kämpft gegen den Prototyp.

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Er wird nach und nach in die Depression zurückfallen. Der Prototyp sagt in seiner speziellen physiolog­ischen Sprache, die noch keine Worte hat (da sie oft von der Geburt herrührt): »Ich bin vom Kampf erschöpft. Ich will mich nur ausruhen. Ich will nicht aufstehen und mich aufmachen. Ich kann keine Alternativen sehen. Der Tod ist die einzige Lösung für mein Problem« (und so war es auch). Wenn man das prototypische Trauma fühlt, ist man auf dem Weg zu einer Lösung der Depression. Das und das Fühlen der ganzen Lieblosigkeit, Härte und exzessiven Disziplin in der eigenen Familie sowie der Ausdruck all dieser seit Jahren unterdrückten Gefühle werden die Depression aufhellen und schließlich nach Monaten des Wiedererlebens dauerhaft lösen.

Das Fühlen jeglichen Gefühls also mildert die Last der Depression, weil es die Verdrängung verringert. Es handelt sich nicht, wie Freud meinte, um Feindseligkeit, die gegen das Selbst gerichtet wird, sondern um viele Gefühle, die ausgedrückt werden müssen. Natürlich hilft es, wenn Wut geäußert wird, aber das ist noch nicht alles. Das Ausdrücken von Traurigkeit ist genauso wichtig, und die Lösung bringt schließlich das Fühlen von unentäußerbaren Bedürfnissen. Wut ist gewöhnlich eine Verkleidung dieser Bedürftigkeit und kann als solche keine volle Lösung herbeiführen. »Seid nett zu mir! Haltet mich! Gebt mir keine Befehle! Schätzt mich, ich bin euer Sohn! Laßt mich ich selbst sein. Wollt mich. Ich bin euer Fleisch und Blut. Laßt mich äußern, wie ich mich fühle!« — das sind Bedürfnisse. Wenn all das gefühlt wird, ist die Depression kein Rätsel mehr.

 

 

  Susan  

 

»Und hast du dennoch bekommen, was du von diesem Leben wolltest?
Ja, das habe ich.
Und was wolltest du?
Mich geliebt nennen können, mich auf Erden geliebt fühlen.«
   Raymond Carver

Ich kann mich an keine Zeit meiner Kindheit erinnern, in der ich jemals glücklich und sorglos und offen für die Welt gewesen wäre. In der Schule und unter anderen Kindern war ich so zurückgezogen, daß ich buchstäblich stumm war. Ich konnte keinerlei Interaktion in Gang bringen. So viele Ereignisse in meiner Kindheit machten mich zu einem stillen, niedergeschlagenen, heimat­losen Kind.

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Alles begann mit einer langwierigen Geburt (28 Stunden Wehen), bei der ich nichts tun konnte, um die Sache zu beschleunigen. Nach dieser Tortur wurde ich endlich von einer Mutter geboren, die körperlich für mich völlig unzugänglich war; nichts, was ich tat, konnte sie veranlassen, zu mir zu kommen, mich in den Arm zu nehmen und mich zu beruhigen. Für mich ist Depression gleichbedeutend mit >keine Mutter<. Meine >trüben Stimmungen< beginnen sich jetzt zu bessern, da ich genau dies fühle: Ich brauche Mutter, Mutter ist nicht da. Meine Mutter brachte es nicht fertig, für mich dazusein, ganz gleich, wie sehr ich sie brauchte. Ihr Bedürfnis nach mir war immer vorherrschend, und ich hatte keine andere Wahl, als vom Beginn meines Lebens an ihrem Bedürfnis zu entsprechen. Meine Mutter fand die Schwangerschaft wunderbar. Ich glaube, für sie repräsentierte sie die völlige Einverleibung eines anderen Individuums, völligen Besitz und Kontrolle. Vielleicht war das die einzige Zeit in ihrem ganzen Leben, in der sie das Gefühl hatte, jemanden zu haben. Natürlich wollte sie mich nicht herauslassen. Sie gab erst nach, als der Arzt ihr schließlich sagte, er werde einen Kaiserschnitt durchführen. Und siehe da, eine halbe Stunde später war ich auf der Welt!

Ich kann mir nur vorstellen, daß ich verängstigt zur Welt kam und verzweifelt Trost brauchte. Statt dessen wurde ich von meiner Mutter getrennt und alle vier Stunden zum Füttern zu ihr gebracht. Dieses >Füttern< war zweifellos eine noch größere Qual für mich, denn meine Mutter hatte keine Milch, aber sie wollte sich dem Krankenhauspersonal zuliebe für drei oder vier Tage als stillende Mutter gebärden. Der äußere Anschein war ihr immer sehr wichtig. Sie brauchte Menschen, die dachten, sie sei eine musterhafte Mutter. All das war Schauspielerei, Lächeln und Posieren für die Kameras, für das Publikum; da war ich also, verzweifelt nach Milch schreiend, nach Kontakt hungernd, und sie spielte ihre Rolle, unzugänglich und unberührt von meiner Qual. Ich hatte keine andere Wahl, als für sie zu existieren und von Anfang an ihren Bedürfnissen zu entsprechen. Da haben Sie das Rezept für Depression: keine Chance auf der Welt, irgend etwas für mich zu bekommen; schiere Vergeblichkeit. Die ersten beiden Wochen zu Hause mit einer Kinderschwester, die mich nach Stundenplan fütterte, waren die Glasur auf dem Kuchen.

Photos von mir als Kind zeigen eine sehr sorgenvolle, ernsthafte Beherrschung. Ich glaubte nie, meine Eltern seien für mich da, denn das waren sie nicht. Es geht die Legende, mein Vater habe das Krankenhaus verlassen, als ich geboren war, sei nach Hause gegangen und habe wie betäubt den Rasen gesprengt, weil ich unglücklicherweise das falsche Geschlecht hatte. Aber ich schweife ab. Ich will nur sagen, daß es auf beiden Seiten meiner Familie eine lange Vorgeschichte von Misogynie gab und ich deshalb einiges auszuhalten hatte, angefangen mit einem abwesenden Vater, der nur am Rande in Erscheinung trat.

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Ich lernte schnell, meine Bedürfnisse überhaupt nicht zu äußern. Als Kleinkind überließ ich meine Windeln meinem neugeborenen Bruder und schlief von dieser Nacht an trocken. Ich hatte diese Art stärkster Willenskraft bei allem, was ich tat. Es war immer eine Sache auf Leben und Tod. Ich konnte Zurück­weisung und Hoffnungslosigkeit nicht ertragen, also mußte ich einfach Laufen und Sprechen lernen und alle sogenannten Entwicklungsschritte pünktlich absolvieren. Ich glaube, ich kämpfte ständig gegen meine >Prägung< durch Tod und Sterben an. Selbst mein >Übergangsobjekt<, ein Plüschtier — ein Hund, den ich >Bowie< nannte —, wurde mir von beiden Eltern weggenommen. Ich lernte sehr früh, daß ich kein Recht hatte, irgend jemanden oder irgend etwas zu brauchen.

Als kleines Kind betete ich meinen Vater an und verehrte ihn, obwohl er mich von Anfang an verspottete und lächerlich machte. Da ich wußte, daß meine Mutter völlig unzugänglich und verrückt war, versuchte ich mit aller Macht, etwas von meinem Vater zu bekommen. Zumindest näherte er sich mir, um mir etwas über die Welt beizubringen. Aber er lachte immer auf meine Kosten. Er fand es komisch, daß ich ein Baby war, das nichts von Sprache, Logik und so weiter wußte. Ich erinnere mich, wie ich ganz allein in einem Zimmer in meinem Laufstall saß, und zwar in einem Alter, in dem ich kaum mehr konnte als mich aufsetzen. Er kam in den Raum und warf ein paar Bücher in den Laufstall und sagte: >Da. Lies.< Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging weg (natürlich). Ich war viel zu klein, um lesen zu können. Es war verheerend.

Liebe konnte ich von meinem Vater nie bekommen. Er war kalt und lieblos. Er hob mich mechanisch hoch, um mich ins Auto zu setzen, und mein Herz schwoll vor Hoffnung, bei seiner Berührung etwas zu bekommen. Das geschah nie. Ich erinnere mich an viele Anlässe, bei denen ich mich verzweifelt bemühte, meinem Vater irgendeine Fertigkeit vorzuführen (etwa meine Schnürsenkel zu binden oder die Uhr zu lesen), aber es gelang mir beim ersten Mal nie so wie erwartet, und bald wurde er ärgerlich und ließ mich angewidert stehen. Intimität oder bloße Nähe macht mich noch immer ganz nervös. Ich habe das Gefühl, etwas tun zu müssen, das ich nicht kann; ich muß einfach etwas tun, und es gibt nichts zu tun. Nichts, was ich tun könnte, könnte bewirken, daß meine Eltern mich lieben. Diese Vorfälle waren Rekapitulationen meiner Geburtserfahrung, wo das Leben selbst davon abhing, etwas zu tun, das man nicht tun konnte.

Nach sechs elenden Jahren, in denen meine Eltern sich täglich gestritten hatten, versetzte mir mein Vater den endgültigen Schlag, indem er das Haus verließ, ohne sich zu verabschieden. Sein Fortgehen gab mir den Rest. Ich hatte niemanden mehr, um den ich mich bemühen konnte. Und ich durfte meine Bedürftigkeit und mein Verlustgefühl niemals äußern, weil meine Mutter immer verbittert war und mich nicht mich selbst sein lassen konnte.

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Ich fühlte mich voll und ganz verantwortlich für den Weggang meines Vaters. Ich fühlte mich vollkommen und verbrieft unliebenswert. Ich konnte tatsächlich nichts tun, um die Geschichte umzuschreiben. Mit sechs Jahren war für mich alles vorbei. Ich konnte niemals geliebt werden. Das war nicht mehr möglich. Und doch mußte ich weiter versuchen, Liebe zu bekommen, wie ich hatte versuchen müssen, geboren zu werden. Depression fühlt sich an wie Hoffnungslosigkeit, die durch meinen ganzen Körper sickert.

Meine Geschichte machte mich zu einem Menschen, der sich nur wohlfühlt, wenn er allein ist. Die Gegenwart einer anderen Person macht mich schrecklich nervös. Der Kontakt bringt alle meine alten Bedürfnisse in einem Strom wieder hervor — die äußerste Zurückweisung durch meine Mutter bei meiner Geburt und die endgültige Zurückweisung durch meinen Vater im Alter von sechs Jahren — und dazu noch alle Verletzungen und Wunden, die zwischen und nach jenen Jahren kamen. Als ich noch ein Kind war, kam ein Zeitpunkt, wo ich die Katzen lieber aus meinem Zimmer aussperrte, als sie bei mir schlafen zu lassen. Ich lebte allmählich so, daß ich Liebe verweigerte. Ich konnte mir nicht vorstellen, geliebt zu werden. Kein lebendes Wesen konnte mich mehr trösten. Ich konnte die Gegenwart keines anderen lebenden Wesens mehr ertragen, weil ich Zuwendung so verzweifelt nötig gehabt und nie bekommen hatte. Selbst heute, mit einunddreißig, kann ich noch nicht einschlafen, wenn jemand neben mir liegt. Das ist eine Überstimulation und bringt unvorstellbaren Schmerz mit sich.

Aufgrund meiner Kindheit ist unerwiderte Liebe die einzige Art von Liebe, die ich kenne. Jetzt, da ich eine Liebesbeziehung habe, kommt so viel Schmerz aus der Vergangenheit an die Oberfläche. Kürzlich wurde mir klar, daß ich immer versuche, Liebe zu bekommen. Jedes Wort, jede Geste, alles, was ich tue, dreht sich darum, Liebe zu bekommen. Ich weiß nicht und kann nicht wissen, wie ich mich geliebt fühlen soll; ich weiß nur, wie man nach Liebe sucht. Geliebt zu werden bringt gegenwärtig nur den Schmerz wieder hoch, überhaupt nie geliebt worden zu sein. In meinen Gefühlen suche ich nach dem Licht, nach dem Guten, nach dem glücklichen Ende. Das ist nirgends zu finden, und ich kann nichts weiter tun als sein Fehlen spüren. Manchmal fühle ich das Bedürfnis nach den Brüsten meiner Mutter, weil sie mir völlig vorenthalten wurden. Ich hatte die Einsicht, daß ich das Gefühl habe, für mich sei kein Platz auf der Welt, weil ich keinen Platz an ihrem Körper hatte, keinen Platz bei ihr.

Es gibt auch das überwältigende Gefühl, daß alles gegen mich ist, und das muß von meiner Erfahrung bei der Geburt kommen, als ich mich nicht bewegen konnte. Infolgedessen kann ich mir nicht vorstellen, daß jemals Jemand auf meiner Seite sein und sich wünschen könnte, daß ich lebe. Ich komme zu der Überzeugung, daß ich sogar meiner Therapeutin unsympathisch bin und daß sie nicht will, daß ich fühle, daß sie sich meiner Selbstwerdung widersetzt, wie es mein Vater und meine Mutter taten.

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Wenn ich die Berührung mit der Wahrheit verliere, daß meine Therapeutin und mein Freund nicht meine Feinde sind, ist das ein Anzeichen für die Kraft des hochkommenden Schmerzes. Ich bin noch nicht an einem Punkt meiner Therapie, wo ich einen klaren und kristallinen Bericht über Depression geben kann. In meinem Fall ist offensichtlich, daß ich bei meiner Geburt buchstäblich kein Ventil hatte, da meine Mutter mich nicht herauslassen wollte. Man raubte mir jede Unterstützung und jedes Wohlbehagen, denn es gab keine Milch und buchstäblich niemanden für mich. Überdies konnte ich auf diese ganze Not nicht reagieren, wie sehr ich das auch wollte und brauchte, denn ich saß fest, und ich war hilflos. 

Als Baby und als kleines Kind konnte ich nicht auf das Geschrei und die Streitereien und das Türenknallen reagieren. Ich war nicht sicher in den Armen meiner Mutter; ich wurde nicht fest und warm gehalten. Man kümmerte sich nicht um mich, wenn ich krank war, sogar als ich aufgrund einer Lungen­entzündung im Delirium lag oder mit zwei gebrochenen Knochen im Bein auf dem Fußboden. Meine Mutter war nicht zu mobilisieren, mir zu helfen. Ich mußte nachts lange aufbleiben, um für sie zu arbeiten und Entscheidungen zu treffen. Wie hätte ich je meine Bedürfnisse ausdrücken sollen? Selbst Bedürfnisse auf Leben und Tod trafen auf taube Ohren. Hoffnungslosigkeit. Nutzlosigkeit. Für meine Mutter war ich nur ein >narzißtisches Objekt<. Was soll ein Mädchen da machen?

Ich war auch hilflos, wenn mein Vater mich festhielt und mich gewaltsam kitzelte, trotz meiner Schreie und meines Entsetzens. Und ich war hilflos, wenn ich Zeugin der vorübergehenden psychotischen Episoden meiner Mutter wurde, bei denen sie wie eine Verrückte auf dem Kriegspfad schreiend durch das Haus stapfte oder überall ihr Menstruationsblut verströmte und rief: >Schau dir das an! Schau dir das an!< Meine Mutter war als Person mit ihren Posen und ihrer überwältigenden Bedürftigkeit so aufdringlich, daß für mich überhaupt kein Raum blieb, um als eigene Person zu existieren. Sie pflegte sogar in mein Zimmer zu kommen, sich auf mein Bett zu legen und alle viere von sich zu strecken (sexuelles Zeug — sie berührte sich selbst und entblößte ihre Genitalien). Es gab keinen Platz, an dem ich sein durfte — keine Chance, ich selbst zu sein.

Für mich ist es in der Therapie der Schlüssel, nach meinen Impulsen zu handeln. Ich nehme an, daß Depressive alles andere sind als impulsiv, denn Depressive wie ich handeln eher nach innen, als daß sie >ausagieren<. Ich muß also die Arme nach meinem Vater ausstrecken, der immer fortgehen wollte, nach der Brust greifen, die für mich leer war, meinem Körper gestatten, Bewegungen zu probieren, wo er völlig festsaß und geschwächt war. Es ist ein heikler Wechsel zwischen Zeiten, in denen ich kämpfen und protestieren und jammern und flehen muß, und anderen, in denen ich nachgeben und den Versuch aufgeben und reglos daliegen muß.

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Warum Depression? Ein Nachtrag

 

Das Ausmaß an Schmerz, das ich bei dem Versuch erlebte, geboren zu werden, war ungeheuer. Mein ganzer Körper mußte an der Verdrängung des Schmerzes dieser Krise teilnehmen. Ich begann die Therapie damit, daß meine Vitalfunktionen steil abfielen und damit zeigten, wie stark die Verdrängung bei mir am Werk war: ein Puls von 40 und ein so niedriger Blutdruck, daß Krankenschwestern nach einem Kommentar über mein >Sportlerherz< fragten, ob ich Ohnmachtsanfälle habe. Mein Körper ist depressiv, weil ich in meiner Prägung feststecke, immer im Leerlauf zu funktionieren. Je müder ich werde, desto schwerer fällt es mir, langsamer zu treten, weil bei meiner Geburt die Wehen länger als einen Tag dauerten und ich zunehmend müder wurde und immer weniger Energie für die harte Aufgabe hatte, geboren zu werden, die ja noch vor mir lag. Erschöpfung ist für mich das Signal, daß ich weitermachen und noch härter arbeiten muß. Ich kann nichts dagegen tun, und ich kann nicht aufhören, es zu versuchen.

Mein ganzes Leben lang war ich unfähig, auszuruhen und den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Es gab keine liebevollen Arme, die mich hielten und in den Schlaf wiegten. Ich brauchte meine Mutter, sie sollte wach und auf der Hut sein, damit ich mich entspannen und gehenlassen konnte. Aber sie war es nicht, und so konnte ich das auch nicht tun. Wenn ich müde wurde, wurde ich zunehmend verzweifelt und hektisch. Mein ganzes Leben lang wurde ich von Schlaflosigkeit geplagt. Ganz gleich, welche Mengen Schlaftabletten, Wein oder Antidepressiva ich zu mir nehme, nichts kann mich außer Gefecht setzen, wenn ich in diesem enervierten Zustand bin. 

Je erschöpfter ich bin, desto heftiger wehre ich mich gegen das Ausruhen, was wohl gleichbedeutend damit ist, daß ich bei der Geburt erlebe, daß ich es nicht schaffe. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ich nachts gut schlafe, bin ich hinterher ängstlich, weil die gesteigerte Energie mich wieder an den Anfang des Geburtsvorgangs zurückwirft, in die Phase, bevor ich steckenblieb. Es ist klar, daß Müdigkeit (Niedergeschlagenheit, Depression) buchstäblich meine Existenz­weise ist. Ich hatte keine Wahl, als gar nichts zu tun, um bei der Geburt zu überleben, während verzweifelt etwas getan werden mußte. Ich wurde zu einem Kind, das nicht zu reagieren geneigt war, denn Reagieren hatte nicht funktioniert, funktionierte nicht, wurde auf jedem Schritt des Weges ignoriert und verboten.

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Mein ganzes Entsetzen und meine Verletztheit mußten in meinem Inneren bleiben; die äußeren Anzeichen dafür wurden wirksam ausgelöscht.

Man darf nicht vergessen, daß meine Mutter jemand war, der schauspielerte, ständig überreagierte und täglich Wut- und Tobsuchts­anfälle hatte. Es gab keinen Raum für mich, um in diesem Haushalt, wo ihre unablässigen Tiraden die Luft erfüllten, auch nur einen hörbaren Laut von mir zu geben. Außerdem entsetzten mich ihre unkontrollierten Wutanfälle und verstärkten meine Tendenz, das Leben im Griff zu behalten, indem ich still, ruhig und leise war. Wenn meine Mutter ein kreischender Irrwisch war, wollte ich so etwas sein wie eine Seeanemone, ein leichtes Ziel, aber eines, das Stößen und Schmerzen standhält, indem es sie einfach absorbiert. Alles, was ich von Anfang an tun konnte, war, einfach stillzuliegen und es in mich aufzunehmen. Das definiert auch die Depression, wie sie für mich in meinem Leben funktioniert hat.

Was kann ich noch sagen? Ich glaube wirklich an diese Therapie, da das Fühlen mich tatsächlich lebendig werden läßt. Meine Augen werden hell, mein Lächeln unverkennbar, meine Stimme voll und reich. Früher war ich vollkommen verschlossen, fast ein Zombie, der herumstolperte, ich funktionierte im Leerlauf und hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich mich um mich selbst kümmern könnte, da sich nie jemand um mich gekümmert hatte. Ich pflegte mich zu sorgen und zu quälen und mich ständig selbst zu schelten. Ich habe genug von meinem Schmerz gefühlt, um tatsächlich Vorfreude empfinden zu können; mit anderen Worten, ich kann mich auf bevorstehende Ereignisse freuen, statt jeden Augenblick meiner Existenz zu fürchten. Noch immer habe ich die Tendenz, mich zu bemühen, für jedermann alles Mögliche zu sein, aber wenn ich aufhöre und die darunterliegende Vergeblichkeit spüre — daß meine Eltern so, wie ich war, nichts mit mir zu tun haben wollten —, dann geht meine lebenslange Depression buchstäblich in Dunst auf. Wenn ich fühle, daß ich nicht geboren werden kann, keine Milch, nicht die Liebe bekommen kann, die ich brauche, dann brauche ich nicht länger ohne die Fähigkeit zu leben, das zu fühlen. Es nicht fühlen zu können ist das, was so deprimierend ist.«

*

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Die Vorhersagbarkeit von Neurosen

 

Der Prototyp trägt dazu bei, uns berechenbar zu machen. Er erklärt eine Fülle von Verhaltensweisen und Symptomen, die, wenn man sie insgesamt betrachtet, Aspekte der gleichen frühen Erfahrung zu sein scheinen. Ich habe beispielsweise die Beobachtung gemacht, daß die Art und Weise, wie wir jeden Tag aufstehen, genau dem entspricht, wie wir bei der Geburt zum erstenmal der Welt begegneten. Jeden Tag erschaffen wir in der Art, wie wir aufwachen, unsere Geburt wieder. Der Parasympathetiker begegnet jedem Tag, als sei er gerade aus einer Betäubung erwacht. Er schläft länger, kann sich kaum aus dem Bett aufraffen und kommt viel später am Tag in Schwung. Er ist ein Nachtmensch.

Der Sympathetiker springt aus dem Bett und ist für den Tag bereit. Er wird viel schneller wach und bewußt als der Parasympathetiker. Der Sympathetiker begegnet jedem neuen Tag, als habe er gerade fünf Tassen Kaffee und eine Dosis Amphetamine zu sich genommen. Mit anderen Worten, der Sympathetiker ist noch immer sehr elektrisiert, wie er es bei seiner Geburt war, und der Parasympathetiker ist wie in einer Art Nebel, ebenfalls wie bei der Geburt. Das ist einer der Gründe, warum eines der Kennzeichen des parasympathetischen Zustandes Verwirrung ist. Der Parasympathetiker weiß nie genau, was er will, weiß nie genau, was er bestellen soll, bis er sieht, was alle anderen bestellen, weiß nie genau, was er mit seinem Leben anfangen soll. Wenn wir das charakteristische Verhalten und die Persönlichkeit unserer Patienten untersucht haben, können wir recht gut darauf schließen, welche Art von Geburt sie erlebt haben. Wenn man umgekehrt die Details der Geburt eines Menschen kennt, kann man recht genau vorhersagen, welcher Art von Persönlichkeit man begegnen wird.

 

Michael

»Es war der Tag, ehe ich die Therapie verlassen würde. Ich fing an, Gefühle darüber zu haben, wie sicher ich mich immer in diesem Raum gefühlt hatte, und ich weinte, weil ich nicht gehen wollte. Und dann begann mir eine neue, seltsame Sache zu passieren. Es war, als würde alles schwarz und still, und ich war zu einem Ball zusammengerollt, fast ohne Bewußtsein. Dieses sichere Gefühl setzte einen höllischen Prozeß in Gang. Ich schien im Mutterschoß zu sein, und meine bevorstehende Abreise löste den Vorgang meiner Geburt aus. Es war eine entsetzliche Folge von Ereignissen, die qualvoll schmerzten; beim Versuch, da heraus­zukommen, holperte und scheuerte alles.

Jetzt ist mir klar, warum ich immer solche Angst habe, etwas zu verlassen, einschließlich des Primärinstituts. Das Institut war ein Ort gewesen, an dem ich mich ruhig, sicher und verstanden fühlte, und das Fortgehen löste eine schreckliche Angst aus, etwas Katastrophales werde geschehen. Ich erkannte nicht, daß die Katastrophe bereits passiert war. Nachdem ich dieses Gefühl gehabt hatte, wurde mir klar, daß der Abschied nicht sehr schwer sein und ich leicht würde fortgehen können. 

Ich bin jetzt in einer Weise entspannt, die mir vorher wahrscheinlich nicht möglich war. Ich kann gar nicht genug das gute Gefühl betonen, das ich habe, weil ich zum erstenmal in meinem Leben Ruhe und Gelassenheit empfunden habe. Ich habe den Eindruck, ich hätte nicht sehr lange gelebt, wenn ich dauernd so viel Druck mit mir herumgetragen hätte.«

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   Jennifer   

 

»Langsam fange ich an (nach sechzehn Monaten Therapie), ein Gefühl zu fühlen, von dem ich glaube, daß es mein Leben beherrscht und die Grundlage meiner Neurose ist. Es ist das Gefühl, ständig um mein Leben kämpfen zu müssen — dauernd kämpfen zu müssen, um am Leben zu bleiben. Für mich ist es gegenwärtige Realität, in meinem Alltagsleben kämpfen zu müssen, nur um auf meinen beiden eigenen Füßen stehenzubleiben. Meine >natürliche< (besser gesagt: neurotische) Neigung ist, einfach aufzugeben und nicht zu kämpfen. So war es für mich immer. Der Zyklus läuft so ab: kämpfen, nichts erreichen, aufgeben, sterben wollen, nicht sterben wollen, beschließen, nicht zu sterben, wieder kämpfen, wieder nichts erreichen, und so weiter. Der Zyklus geht immer so weiter. Hand in Hand damit geht das Gefühl, daß es keine Rolle spielt, was ich tue — ich erreiche nichts, also warum es versuchen, warum kämpfen? Ich könnte ebensogut aufgeben und sterben. Aber ich will verzweifelt leben.

Je mehr ich mich in der Gegenwart um mich selbst kümmere, desto stärker empfinde ich dieses Gefühl. Wenn ich mich um mich selbst kümmere, fühle ich, wie schwer mein Alleinsein ist und daß keiner da ist, der mir hilft. Mein Leben in Ordnung zu bringen bedeutet, jetzt wirklich in der Gegenwart zu leben und das Gefühl, um mein Leben kämpfen zu müssen, als altes Gefühl zu empfinden.

In das Gefühl, um mein Leben zu kämpfen, komme ich nicht weiter zurück als bis zu meinem ersten Lebensjahr (abgesehen von einem leichten Geburtsgefühl, das ich hatte und von dem ich später sprechen werde). Ich fühle, daß ich in meinem Bettchen liege und nur auf meine Mutter warte. Ich warte und warte und warte, aber sie kommt nicht. Und dabei habe ich solches Verlangen nach ihr. Nachdem ich eine Weile gewartet habe, bekomme ich allmählich keine Luft mehr, ich würge und atme schwer und habe das Gefühl, ich würde sterben, wenn sie nicht zu mir kommt.

Ich fühle mich so leer, und ich brauche etwas. Ich brauche meine Mutter. Ich brauche Fürsorge. Ich empfinde dieses Gefühl bruch­stückweise zu verschiedenen Zeiten. Oft geschieht das, wenn eine Migräne beginnt. Zu anderen Zeiten kommt es nach einem Orgasmus beim Geschlechtsverkehr.

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Meist ist das Gefühl um so stärker, je stärker der Orgasmus war. Es scheint, als bringe Lust sofort Schmerz mit sich. Oft merke ich, daß ich mich selbst daran hindere, den Orgasmus voll zu genießen, weil danach so häufig der Schmerz kommt.

Ich glaube, mein Leben ist noch immer nicht in so guter Form, daß ich den äußersten Schmerz dieses Gefühls empfinden könnte. Meistens bedrückt mich die Migräne und sagt mir, daß mein Schmerz da ist.

Das Stadium, in dem ich mich gegenwärtig befinde, ist also große Wut, weil ich es mein ganzes Leben lang so schwer hatte. Ich hasse die Tatsache, daß ich kämpfen muß, um zu leben. Als ich neulich aufwachte, hatte ich binnen fünfzehn Minuten etwas, das ich >Wutkopfschmerzen< nenne. Es sitzt in meiner linken Schläfe, im Auge, im Nacken und in der Schulter. Es ist ein ähnlicher Schmerz wie die Migräne, die ich auf der rechten Seite bekomme, aber etwas weniger intensiv. Die ersten Gedanken, die mir in den Sinn kommen, lauten: >Nun ist es schon wieder soweit, wieder muß ich mich durch einen Tag kämpfen.< Ich bin noch wütender, seit ich in der Karibik in Urlaub war und drei wundervolle Tage erlebt habe, in denen ich nicht kämpfen mußte. Ich habe einfach gelebt. Und ich habe gemerkt, was ich mein ganzes Leben lang vermißt habe. Ich glaube, sobald ich einmal hinter diesen ungeheuren Zorn komme, werde ich tiefer in das Gefühl hineinkommen und mich seiner Lösung nähern.

Unter dem Gefühl, um mein Leben kämpfen zu müssen, liegt ein anderes Gefühl, das ich nur schwach erlebt habe. Ich bin in das Gefühl zurückgekommen, bei meiner Geburt steckenzubleiben. Ich muß kämpfen, um mich aus dem Geburtskanal zu befreien. Endlich ist mein Kopf draußen, aber der Rest kann nicht heraus. Dieses Gefühl ist meinem Leben so ähnlich: Mein Kopf ist draußen — immer und immer denke ich —, aber alles übrige ist nicht aktiv. Mein Körper fühlt sich nicht verbunden an. Ich lebe so oft in meinem Kopf und habe erst neuerdings angefangen, meinen Körper als Teil von mir zu fühlen.

Zurück zu dem Geburtsgefühl. Ich fühle mich steckengeblieben, und mein Hals tut weh. Er tut sogar jetzt weh, während ich dies schreibe. Es fühlt sich an, als ziehe etwas an meinem Hals, und es tut sehr weh. Mein Kopf schwingt von einer Seite zur anderen, und meine Stimme bringt ein leises Wimmern großer Angst hervor. Wieder kämpfe ich um mein Leben, und es fühlt sich an, als gäbe es keine Hilfe. Ich muß sogar allein auf die Welt kommen. Meine Mutter hilft mir nicht heraus. Das war eine Konstante in meinem ganzen Leben, von Anfang an — keine Hilfe, allein kämpfen müssen.«

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Warum sind sehr frühe Traumata so bestimmend für die Persönlichkeit? Zunächst einmal ist dies nicht einfach eine Theorie über die Auswirkungen der Traumata. Wir haben die Effekte des Geburtstraumas gemessen, sowohl während des Wiedererlebens als auch später. Wir haben alle möglichen ernsthaften Erkrankungen rückgängig gemacht, nachdem Patienten diese früheren Ereignisse wieder­erlebt hatten (für Forschungsdaten siehe mein Buch Primal Man).

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Judy

»Mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl, mein Leben entglitte mir. Ich habe auch versucht, es wegzuwerfen. Mit vierzehn machte ich mir Sorgen, eine alte Jungfer von fünfzehn zu werden, und darum heiratete ich mit neunzehn. Dann machte ich mir Sorgen, eine ältliche Zweiundzwanzigjährige zu werden, bevor wir uns ein Baby leisten konnten. Ich bekam mein erstes Kind mit einundzwanzig. Wir konnten uns die Kleine nicht leisten. Wir konnten uns den kleinen Sarg nicht leisten, in dem sie beerdigt wurde. Ich fürchtete mich davor, dreißig und vierzig zu werden. Dank der Primärtherapie mache ich mir um die Fünfzig keine Sorgen. Ich weine zwar über die Jahre, die mir gestohlen wurden, aber ich gerate nicht in Panik.

Zweimal habe ich versucht, Selbsttötung zu begehen. Und ich bin noch immer suizidal, aber auf eine passive Weise, etwa, wenn ich am Strand im prickelnden Sonnenschein liege, zart gestreichelt von mit dem Wind herangewehter salziger Gischt, und denke, was für ein schöner Tag zum Sterben das wäre. So schön, an einem Tag zu sterben, an dem ich mich wohl fühle...

Ich habe einen großen Kopf. Meine Mutter war kaum einssechzig groß und brachte ein Kind von elf Pfund zur Welt, und zwar nach so langen Wehen, daß wir beide beinahe gestorben wären; ich weiß, daß ich fast gestorben wäre. Ich wollte aufgeben, aber ich konnte nicht. Ich bin fast in der Flüssigkeit ertrunken, die mich eingehüllt hatte. Ich erstickte, während mein Kopf gegen das Becken meiner Mutter stieß. Davon habe ich die Schmerzen in Hals, Kopf und Schulter — Schmerzen, die manchmal meine Arme bis in die Fingerspitzen prickeln lassen. Sogar mein Kreuz tut mir weh. Die Autopsie, die bei meiner Mutter durchgeführt wurde, nachdem sie an einer Abtreibung starb, ergab ein gesprungenes Becken, das sich nach meiner Geburt nie wieder ganz schloß. Ihre Familie erinnert sich, daß sie nach meiner Geburt >komisch< ging. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, nachdem ich geboren war, bis sie überhaupt wieder gehen konnte.

Ich kam schließlich aus eigener Kraft auf die Welt; niemand war für mich da; niemand war für mich da. Alles, was ich hatte, war meine arme, bewußtlose Mutter. Ich war am Leben, und ich hatte nichts. Ich fühle mich oft hoffnungslos. Wenn der Tunnel mit dem Tageslicht am Ende nur eine Metapher ist, warum weine ich dann, während ich diese Worte schreibe?«

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Chris

 

»Ich hatte erst kürzlich Geburtsgefühle, aber sie scheinen mir viel zu erklären. Ich habe einen Blick auf die Antworten auf eine Menge Fragen erhascht, die ich mir in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren gestellt habe. Ich fange an zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Meine Geburt erfolgte per Kaiserschnitt, und meine Mutter erzählt mir, ich hätte nicht herauskommen wollen. Ich denke, ich fühle, daß ich mein Bestes tat und mich nach Kräften bemühte, geboren zu werden, aber meine Mutter verkrampfte sich und hielt mich zurück. Ich muß mich so sehr bemüht haben, daß ich wohl fast gestorben wäre. Weil ich weiß, wie meine Mutter ist, bin ich sicher, daß sich ihr Körper aus Angst und Furcht verkrampfte.

Mir fiel immer alles schwer. Die kleinsten Aufgaben überwältigten mich oft (und tun es manchmal noch immer). Körperliche Dinge sind immer extrem schwierig. Mein Körper schmerzt sehr leicht und erholt sich nur langsam von physischen Belastungen. Mir wird sehr leicht heiß. Dann schwitze ich übermäßig, und das hasse ich. Ich habe das Gefühl, daß mein Körper schon schwer genug arbeitet, um einfach das Alltagsleben zu bewältigen. Wenn ich vor einer Aufgabe stehe, dann strenge ich mich physisch und mental an, um es einfach >zu schaffen<. (Vielleicht habe ich mich nie ganz davon erholt, geboren worden zu sein.) Ich näßte bis zum Alter von vierzehn Jahren jede Nacht ins Bett. Ich verstand nie, wieso ich das tat oder warum meine Mutter mich deswegen demütigte.

Mein Körper hat sich immer schwach, angespannt und müde angefühlt. Ich glaube, ich stecke ständig in Geburtsgefühlen fest; darum habe ich keine Energie, irgend etwas anderes zu tun. Es gab Zeiten, in denen ich mich fühlte wie ein alter Mann, ein alter, verbrauchter Mann, der bereit war, aufzugeben und zu sterben. Ich glaube, ich wäre bei der Geburt beinahe gestorben. Ich hatte einige Träume, in denen ich plötzlich vor dem sicheren Tod stand. Gewöhnlich falle ich in diesen Träumen, und das Gefühl überwältigt mich so, daß ich mit wild klopfendem Herzen aufwache und sicher bin, daß das, was mir im Traum passierte, wirklich und real ist.

Wenn ich meine Geburt fühle, kämpfe ich schmerzhaft darum herauszukommen. Diesen Schmerz kann ich nur lindern, indem ich mir vor Qual die Seele aus dem Hals schreie. Ich winde mich, trete um mich und dränge meinen Körper mit dem Kopf voran gegen die Wand, und meine Wirbelsäule bäumt sich gegen den Schmerz auf und verkrampft sich. Ich weiß jetzt, warum mein Hals und mein Rücken immer so steif und angespannt sind.

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Als ich noch klein war, träumte ich oft, jemand sitze auf meiner Brust. Der Druck auf der Brust kommt gelegentlich zurück, und dann weiß ich, daß der Geburts­schmerz hochkommt. Ich dachte früher, ich hätte ein Magengeschwür oder so etwas — der Schmerz war so stark.

Ich weiß noch, daß ich mir als Teenager in der High-School immer wünschte, ich könnte alles noch einmal von vorne beginnen: Unterricht, Schultage, Aufgaben, Schuljahre, Beziehungen zu Mitschülern — mein ganzes Leben! Ich wünschte mir, es dann richtig machen zu können. Diese Hoffnung war das einzige, was mich aufrecht hielt. Instinktiv wußte ich, daß bessere Eltern und bessere Lebensumstände alles ganz anders gemacht hätten. Unbewußt hielt ich an dieser Einstellung fest, und mein elendes Leben war zum Versagen verurteilt. Alles, was ich zu tun versuchte, scheiterte kläglich. Ein Punkt kam, da gab ich sogar die Versuche auf, weil ich immer mit demselben Ergebnis rechnete. Die Geschichte meines Lebens basiert auf meinem Anfang. Meine Geburt war schwer — mein ganzes Leben war schwer

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Das Erstaunliche an prototypischem Verhalten ist, daß es so dauerhaft ist. Es sieht aus, als machten die dazwischenliegenden Jahre, die Jahrzehnte, nicht den geringsten Unterschied. Es setzt sich fröhlich fort und diktiert das Verhalten, als gäbe es überhaupt keine anderen Erfahrungen. Verändert Erfahrung die Menschen? Wenn der Prototyp einmal festgelegt ist, scheint Erfahrung keinen signifikanten Einfluß mehr zu haben. Entweder mildert es die Potenz des Prototyps leicht ab oder verstärkt sie — aber zu irgendeiner tiefen Veränderung kommt es selten.

Wenn es ein kollektives Massenunbewußtes gäbe, wie Jung vorgeschlagen hat, dann würde es mit Sicher­heit auf das Geburts­trauma zurückgehen. Die Geburt und die Traumata im Mutterleib sind die unsicht­barsten, schädlichsten und am meisten Unbewußtheit erzeugenden Ereignisse. Was im Unbewußten liegt, ist eine Realität, die schwer wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu verstehen ist, aber es ist die durchdringendste Tatsache unseres Lebens. 

Die Plage der allgemeinen Unbewußtheit hat zu katastrophalen Krankheiten wie Krebs, Herzkrankheit und Geistes­krankheit geführt. Jetzt gibt es etwas, was wir dagegen tun können.

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