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  Teil 2    Die Formen der Neurose  

  10  Streß, Angst und Spannung:  Krankheitssymptome

Janov 1991

 

213-228

Streß, Angst und Spannung haben viel gemeinsam. Tatsächlich ist Angst die Schlüsselform des Streß in unserem Leben; und Spannung ist das, was wir mit der Angst machen. Auf der phylogenetischen Skala kommt Angst lange vor Spannung, ist primitiver und entstammt einem anderen Bereich des Gehirns. Gibt es normale Angst? Brauchen wir ein bißchen Angst, um im Leben Erfolg zu haben? Wir werden diese Symptome und ihre Ursprünge aus einer von der konventionellen Auffassung ziemlich verschiedenen Perspektive untersuchen. 

  Was ist Streß?  

Heute wird viel über Streß diskutiert. Streß am Arbeitsplatz, Ehestreß, Elternstreß und finanzieller Streß werden sowohl in populären Zeitschriften als auch in wissenschaftlichen Journalen ausführlich behandelt. Leider wird der Streß selbst selten definiert. Wenn wir den Ausdruck Streß verwenden, beziehen wir uns gewöhnlich auf etwas, das uns »nervös« macht oder unter Druck setzt. Streß ist wirklich eine Seele-Körper-Reaktion auf Ereignisse, die Unruhe auslösen und einen Menschen in Alarm­zustand versetzen.

Hans Selye, eine Autorität auf dem Gebiet des Streß, hat drei verschiedene Stadien der Streßreaktion identifiziert:
(1) Alarm, (2) Widerstand und (3) Erschöpfung. 

Im Alarmstadium erkennt ein Mensch den Streß und das, was ihn zu verursachen scheint, und bereitet sich darauf vor zu handeln, entweder zu kämpfen oder zu fliehen (die wohlbekannte Kampf- oder Fluchtreaktion). An diesem Punkte werden viele der vertrauten Streß­anzeichen erlebt. Reizbarkeit und Übererregtheit, Herzpochen, Mund­trockenheit, Zittern und Zähne­knirschen sind solche Anzeichen. Menschen unter Streß erschrecken leicht. Sie leiden an Schlaf­losigkeit, Schweiß­ausbrüchen, dem Drang, häufig zu urinieren, Diarrhöe und Verdauungs­störungen, Muskel­schmerzen im Nacken und im unteren Rücken. Und das ist nur der Anfang der Liste. Der Schaden, der dem Körper im ersten Stadium des Streß zugefügt wird, läßt sich reparieren. Doch der Schmerz, der mit dem Alarmstadium assoziiert ist, kann wie jedes andere Trauma eine Prägung schaffen.


Wenn der Streß anhält, geht die Streßreaktion über den Widerstand hinaus in die Erschöpfung. Jetzt kann der Körper den Schaden nicht mehr reparieren, und es kommt mit einiger Wahrscheinlichkeit zu chronischen, mit dem Streß zusammenhängenden Störungen. Die langfristig schädlichen Aspekte von Streß werden von der medizinischen Forschung ständig weiter erforscht. So scheint beispielsweise Streß heutzutage eine Rolle bei erhöhten Cholesterin­spiegeln zu spielen. Streß hemmt auch die Immunfunktionen, erhöht die Anfälligkeit für von Viren ausgelöste Krankheiten und erleichtert die Tumorentwicklung — Themen, auf die wir im Kontext unserer Diskussion von Krankheit und Immun­system zurückkommen werden.

   Die Kampf- oder Fluchtreaktion  

Die Streßreaktion von Kampf oder Flucht im ersten Stadium ist ein Versuch, das Überleben zu sichern. Sie macht das System »kampfbereit«. Wenn der Kampf möglich ist, erfolgt die Reaktion in Form von Aggression. Wenn kein Kampf möglich ist, wird die Reaktions­weise aus Flucht, Angst und Ausweichen bestehen.

Selten diskutiert und noch seltener verstanden wird der primäre innere Streß, der dem System zu jeder Zeit innewohnt — der andauernde Streß eingeprägten Schmerzes. Eingeprägter Schmerz kann den Körper selbst dann im Alarmzustand halten, wenn es dazu keine äußeren Gründe gibt. Der Spiegel der Streßhormone kann ansteigen, zusammen mit Blutdruck, Körpertemperatur und Herzschlag. Die Immunüberwachung ist geschwächt. Das System reagiert auf ein Ereignis aus der Vergangenheit, als trage es sich in der Gegenwart zu. Und auf ganz reale Weise ist das ja auch der Fall.

Nehmen wir an, die winzige Schwester sei Zeugin, wie Papa dem älteren Bruder eine heftige Tracht Prügel verabreicht. Das nicht artikulierte Gefühl: »Papa ist gewalttätig«, »Papa kann töten«, »Papa kann mich töten, wenn ich aus der Reihe tanze.« Danach wird es ständig Angst und Befürchtungen geben, vor allem Angst vor dem Vater, den das Baby als gewalttätige Bedrohung empfindet.

An diesem Punkt treten Schleusensystem und Verdrängung in Aktion. Noradrenalinwege informieren das gesamte Gehirn über die Notwendigkeit, angesichts dieser Streßreaktion tätig zu werden. Serotonin, eine weitere Klasse von hemmenden Neurosekreten, sowie Endorphine schalten sich ein und versuchen den Schmerz niederzuhalten. Nun steht der betreffende Mensch unter eingeprägtem Streß. Das Außen ist zum Innen geworden. Die Furcht vor Papa und seiner Gewalttätigkeit vergeht nicht, und zwar weil der Schrecken so groß ist und weil Papa selbst ebenfalls dableibt. Er ist jeden Tag anwesend und erinnert die betreffende Person daran, daß sie nicht aus der Reihe tanzen darf, ihre Gefühle verbergen und passiv gehorchen muß.

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Wenn im Leben des Babys genügend erschreckende Situationen vorkommen, wenn Papa seine Gewalttätigkeit wirklich gegen das Kind wendet und Mutter schwach und dem Baby keine Unterstützung ist, dann können die verdrängenden Transmitter ihre Aufgabe nicht wirksam erledigen, und das Baby wird zu einem nervösen, ängstlichen Kind, das sich vor fast allem fürchtet. Ein solches Kind leidet unter dem, was wir weiter oben als »unzulängliches Schleusensystem« bezeichnet haben, nämlich einer defekten Verdrängung.

Streß bedeutet, daß das System sozusagen belagert wird, sei es mittels des Angriffs eines Hundes, eines Tadels von der Mutter oder zu vieler Impfungen zu gleicher Zeit. Der Körper wird sich auf Kampf oder Flucht vorbereiten, und alle seine Untersysteme werden für diese Eventualität einen Gang zulegen. Der Hund, der uns beißt, der starke Verkehr, der bewirkt, daß wir uns verspäten, und der autoritäre Lehrer sind vorübergehende Stressoren, von denen wir uns relativ schnell erholen. Selbst ein Streßfaktor wie ein unangenehmer Arbeitsplatz dauert wahrscheinlich nicht länger als ein paar Monate an. Doch ein Lehrer beispielsweise, der streng und unnachgiebig ist, wenn wir mit sechs Jahren die erste Klasse besuchen, kann einen dauerhaften, streßgeladenen Einfluß hinterlassen. Wenn das Kind nicht die Mittel hat, mit dieser Art von traumatischem Streß fertig zu werden, erhält es wahrscheinlich eine Prägung, die sich auf alles spätere Lernen auswirkt.

Das Prinzip, daß gegenwärtiger Streß eingeprägten früheren Streß mobilisiert, wurde in unserem obigen Beispiel der Frau, die zu viele Impfungen gleichzeitig erhielt, deutlich gezeigt. Ihr Körper entwickelte regelmäßig ein Fieber, dessen Grundlage ein lange vergangener Angriff war. Die Impfungen weckten die Prägung des Traumas wieder auf, das wiedererlebt werden mußte; die ursprüngliche Situation mußte erneut durchlebt werden, als der Körper wieder versuchte, sie zu meistern.

So wirkt das Trauma. Es zwingt uns, es unser Leben lang auf die eine oder andere Weise zu bewältigen. Einer unserer Patienten war zum Beispiel ein Effektenmakler, der zwanghaft und riskant auf dem Wertpapiermarkt spielte, selbst wenn er dazu nicht über ausreichende Finanzmittel verfügte. Er mußte gewinnen, und das versuchte er sogar dann, wenn die Chancen gegen ihn standen. Unbewußt war Verlust für ihn gleichbedeutend mit Tod. Sein zwanghaftes Spielen war für ihn einfach ein symbolischer Ersatz für seine frühere Prägung — die Erfahrung der Todesnähe bei der Geburt, begleitet von der gleichen Panik und Hektik, die jetzt sein spekulatives Verhalten kennzeichnete. Dieses Spielen setzte nicht ihn unter Streß, sondern er setzte das Spielen unter Streß.

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Für ein Mädchen kann der Verlust eines Freundes eine Katastrophe sein, wenn es mit sechs Jahren seinen Vater verloren hat. Das Abwehrsystem kann mit dieser doppelten Streßlast nicht mehr fertig werden, und es gelingt ihm nicht, den Schmerz niederzuhalten. Die Folge ist aktive Angst, Spannung, Depression, eine Unfähigkeit, sich zu konzentrieren und zu funktionieren, und ganz allgemein ein Zusammenbruch der normalen Persönlichkeit.

Gegenwärtiger Streß allein hat selten einen so starken Einfluß, es sei denn, er ist so außergewöhnlich stark, daß man ihn mit der lebenslangen Macht von eingeprägtem Streß gleichsetzen kann. Wenn ein Erwachsener beispielsweise bei einem Autounfall seine gesamte Familie verlieren würde, wäre dieses Ereignis überwältigend und könnte ihn unter die Art von chronischem Streß setzen, von der ich hier rede. Wenn die eigene Kindheitsgeschichte eher harmlos ist, ist es unwahrscheinlich, daß irgendein gegen­wärtiger erwachsener Streß zu einem Zusammenbruch des Systems in die Neurose führen würde.

Schmerz ist der wichtigste Streßfaktor. Nicht jeder Streß besteht aus Schmerz; doch zweifellos ist jeder Schmerz ein Streß. Ein Erwachsener, der tief in das Gefühl äußerster Hoffnungslosigkeit oder stetiger Ungeliebtheit eingetaucht ist, befindet sich in großer Gefahr. Das liegt daran, daß für ein sehr kleines Kind Liebe Leben bedeutet. Kinder können nicht einfach weitermachen, wenn sie sich im Alter von drei oder vier Jahren gehaßt oder ungeliebt fühlen. Wenn diese Wahrheiten in das Bewußtsein einzudringen drohen, wird alles gegen sie mobilisiert. Unter diesen Bedingungen ist es absolut erforderlich, unbewußt zu bleiben.

 

   Das Streßsyndrom   

Die meisten von uns können im Alltagsleben funktionieren, wenn sie es nur mit dem Schmerz ihres früheren Stresses zu tun haben. Sie tun dies, indem sie rauchen, trinken. Beruhigungsmittel einnehmen und dergleichen. Wenn aber etwas Verheerendes in der Gegenwart einen Widerhall bei etwas aus unserer Vergangenheit erzeugt, dann leiden wir unter dem »Streßsyndrom«. Dann wird uns empfohlen, wir sollten unseren Ehepartner oder unseren Arbeitsplatz verlassen und in eine andere Stadt gehen, weil die gegenwärtige Situation als einzige Ursache des Zusammenbruchs angesehen wird. In Wirklichkeit aber hat die gegenwärtige Situation eine Wertigkeit von vielleicht drei, verglichen mit der Wertigkeit zehn des ursprünglichen Traumas.

Eingeprägter Streß ist die heimtückischste Form von Streß, weil er ungreifbar ist. Man kann ihn nicht sehen, riechen oder fühlen. Man kann ihn nicht in irgendeiner einzelnen Zelle aufzeigen oder finden. Er lebt sein Leben, indem er ständig wie Termiten an unseren Grundlagen nagt und die Stützbalken unseres Hauses zerstört, so daß wir uns einbilden, alles sei in Ordnung, bis die Stützbalken in sich zusammen­brechen.

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Menschen, die krank sind, sehen krank aus. Sie sehen deshalb krank aus, weil sie unter dem Streß eines Virus, einer Bakterie, eines Tumors oder einer anderen Belastung des Systems stehen. Krankes Aussehen ist ein Teil des Streßsyndroms. Neurotiker können ebenfalls krank aussehen, doch aus einem anderen Grund. Sie werden nicht von Viren heimgesucht, sondern von Schmerz. Betrachten Sie folgendes Beispiel: 

 

  Herzkrank: Roseanne  

 

»Früher überfielen mich schreckliche Angstanfälle. Seit dem Alter von fünfzehn Jahren habe ich in der fürchterlichen Angst gelebt, eine Herzattacke zu bekommen. Jedesmal, wenn ich diese Angstanfälle hatte, geriet ich in Panik, begann mich schwach zu fühlen und zu schwitzen, wurde bleich und fiel manchmal in Ohnmacht.

Es gibt keine Worte, um die Einsamkeit und Hilflosigkeit zu beschreiben, die ich in solchen Augenblicken empfand. Ich hatte das Gefühl, für mich gebe es keine Hoffnung mehr. Ich war zum Leiden bestimmt. Diese Anfälle wurden zum Symbol meiner Hoffnungs­losigkeit.

Jetzt habe ich keine Anfälle mehr, und der Grund dafür ist einfach. Ich baue keine überwältigende Angst und Streß mehr auf. Wenn mir heute etwas wehtut, weine ich oder werde wütend. Ich reagiere darauf und lasse es heraus, statt es wie früher in mir zu verschließen. Meine Brust war wie ein Dampfkochtopf. Meine ungeäußerten Gefühle schufen darin soviel Druck, daß ich tatsächlich die Symptome eines Herzanfalls erlebte. Alle diese Gefühle in mir, die herauswollten, die gegen meine Brust drückten und mich fühlen ließen: <Ich werde sterben... ohne Liebe.>  

Jetzt lasse ich den Strom heraus. Es hat so gut getan, über meinen Vater zu weinen — das Bedürfnis, daß er mit mir spricht, mich berührt, mir hilft, alles Dinge, die ich entbehrt habe. Jedes Mal, wenn ich über meine Bedürfnisse weine, komme ich mehr in Berührung mit mir selbst und werde weniger angespannt. Es hört sich seltsam an, aber tatsächlich hilft das Fühlen des Schmerzes mir dabei, den Streß, die Belastung und die schreckliche Angst in meinem Leben zu verringern.«

*

  Die Natur der Angst   

Während die Streßreaktion ein Gefühl ist, ständig unter Druck zu stehen, ist Angst eine unmittelbare, diffuse, lähmende Furcht, die Erwartung irgendeiner bevorstehenden Gefahr und ein Gefühl, selbst die kleinsten Dinge nicht bewältigen zu können. Die Angst ist das akutere, unmittelbarere und quälendere Gefühl.

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Die Symptome der Angst sind klar. Da ist das schreckliche amorphe Gefühl namenloser Bedrohung, ein Empfinden bevor­stehenden Unheils, verbunden mit rasendem Herzklopfen. Außerdem herrscht ein wackeliges, zittriges Gefühl, begleitet von chronischer Schlaflosigkeit. Vielleicht hat man »Kribbeln im Magen«, Erstickungsgefühle und das Empfinden, zerdrückt zu werden. Oft denkt man auch, man werde verrückt. Das System ist vollkommen elektrisiert, und nichts scheint es zu beruhigen.

Obwohl Angst der zentrale Brennpunkt vieler Psychotherapien ist, ist sie das vielleicht am wenigsten verstandene psychiatrische Phänomen. Carol Tavris schreibt in <Science Digest> (Februar 1986, S. 46), mit Angst verbundene Störungen seien »das heute vielleicht verbreitetste Problem der psychischen Gesundheit in den Vereinigten Staaten«. Das <National Institute for Mental Health> glaubt, Angst sei für Frauen das psychische Problem Nummer eins, für Männer stehe es an zweiter Stelle. Das Auftreten von Angst hat eindeutig epidemische Ausmaße angenommen.

Anscheinend wissen die Heilberufe über die Angst mit einiger Sicherheit nur, daß man sie mit Beruhigungs- und Schmerzmitteln lindern kann. Dies ist ein klarer Hinweis darauf, daß Angst irgendwie mit Schmerz verbunden ist.

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit der Frage des physiologischen Charakters der Angst zuwenden, stellen wir fest, daß die neuere Forschung einige interessante Hinweise geliefert hat. Schiere, panische Angst scheint an mehreren Stellen tief in der Neuraxis organisiert zu werden, einschließlich des oben erwähnten locus ceruleus. Wir glauben, daß auch frühe Traumata tief im Hirnstamm registriert werden. Elektronische Stimulierung des locus ceruleus erzeugt etwas, das nach einer verstärkten Angstattacke aussieht — schiere, namenlose, unbeschreibliche, panische Angst. Es ist ein Zustand ohne Worte.

Angst ist ein instinktiver Überlebensmechanismus. Sie ist eine Form panischen Schreckens, für den es in der Gegenwart keinen rationalen Stimulus gibt. Sie kommt eindeutig aus der Vergangenheit, oft ohne Vorwarnung. Die Frage ist: »Was ist sie?« Um die Angst zu verstehen, müssen wir rasch noch einmal die frühen Prägungen betrachten.

Angst ist in erster Linie eine Eingeweidereaktion, die das Herz, die Lungen, den Darm, den Magen und den Urinaltrakt einbezieht. Diese Organe sind als Mittellinien­reaktionen bekannt und reifen während der Entwicklung im Mutterleib als erste. Geschehnisse im Mutterleib und während der Geburt werden in dem Nervensystem registriert, das diese inneren Organe kontrolliert. Das heißt, daß wir mit dem adäquatesten zur Verfügung stehenden Nervensystem reagieren, wenn ein Trauma eintritt. Was während des Lebens im Mutterleib verfügbar und adäquat ist, ist das Nervensystem der Mittellinie, also die erste Linie.

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Daß die typischen Angstreaktionen frühe Reaktionen sind, wissen wir aufgrund von Eingeweidereaktionen wie »Kribbeln« im Magen, Atemschwierigkeiten, Palpitationen, dem Bedürfnis, häufig zu urinieren, Schwindelgefühlen, Diarrhöe und Hyper­ventilation.

Angst ist ein Phänomen der ersten Linie. Sie beginnt ihre Existenz als Reaktion auf reale Ereignisse, die lebensbedrohlich waren. Sie fühlt sich genauso an wie das, was der Fötus und das Neugeborene ursprüng­lich erleben. Sie ist global und namenlos, weil Fötus und Neugeborenes nicht über Worte verfügen. Gepaart ist sie mit einem Gefühl bevorstehenden Verhängnisses. Angst ist nichts weiter als die präzise Reaktion auf das jetzt gefilterte frühe Trauma.

Angst ist eher eine Eigenschaft des Sympathetiker, der den mobilisierenden Aspekt der frühen Prägung fühlt, während man Depressionen häufiger beim Parasympathetiker findet. Wie ich gezeigt habe, ist Depression das Ergebnis globaler, massiver Verdrängung, bei der die Endorphinspiegel anfangs hoch sind und dann »verbraucht« werden, wenn die Depression fortdauert. Das resultiert aus dem Abblocken des Schmerzes, wogegen Angst der panische Schrecken ist, der zu einer wilden Flucht vor der Möglichkeit des Todes führt. Daher fühlt der Sympathetiker die Angst, wenn er nicht ausagieren oder sich zu schaffen machen kann und eingesperrt ist. 

Der Parasympathetiker fühlt Angst, wenn die Verdrängung zu versagen beginnt und er in direktem Kontakt mit bitterster Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ist. Wie ich schon sagte, wird der Parasympathetiker ängstlich, wenn er mit einem Bürokraten konfrontiert ist, der sein Leben kontrolliert, wo er den strengen Regeln und Vorschriften nicht entgehen kann, wo er total in der Hand eines anderen ist, wo völlige Hilflosigkeit an der Tagesordnung ist. Oder er bekommt Angst, wenn er nach draußen gehen, sich behaupten, sich einer Menschenmenge stellen, seine Bedürfnisse aussprechen muß etc. Nichts von all dem macht den Sympathetiker ängstlich; er bekommt eher Angst, wenn er das nicht tun soll.

Ob Angst im späteren Leben auftritt, hängt von drei Faktoren ab: (1) wenn die Lebenserfahrung so schädigend ist, daß das gesamte Abwehrsystem mangelhaft ist und die frühe panische Angst nicht abblocken kann; (2) wenn eine Person Drogen nimmt wie etwa LSD, die ein kohärentes Funktionieren der dritten Linie stören, so daß die Abwehrmechanismen die gleiche panische Angst nicht zurückhalten können, und (3) wenn etwas in der Gegenwart einen starken Widerhall bei einem ursprünglichen Gefühl erzeugt (wie beispielsweise einer ursprünglichen verzweifelten Hilflosigkeit).

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Der ängstliche Mensch sieht Unheil voraus. Dieses Unheil lauert jetzt als Prägung auf ihn, weil der Mensch keine Kenntnis von der Erinnerung hat und nicht begreift, worunter er leidet. Das Unheil ist alte Geschichte. Eines ist sicher: Das gegenwärtige Gefühl hat immer irgendwo einen Ursprung. Wir müssen ihn nur finden.

Angst ist ein Überlebensmechanismus, weil sie das System warnt und gegen eine wahrgenommene Bedrohung zum Handeln mobilisiert. Der panische Schrecken, der die Basis der Angst ist, ist immer da. Doch nur, wenn das Abwehrsystem geschwächt ist, kann er gelegentlich an die Oberfläche treten. Deshalb sind einige schmerzstillende Medikamente in der Lage, Angst wirksam zu bewältigen.

Was diese Drogen im großen und ganzen bewirken, ist eine Veränderung der Fähigkeit der Neuronen, Schmerz­botschaften an höhere Zentren weiterzugeben. Gewöhnlich beeinflussen sie das retikulare aktivierende System tief unten im Gehirn, das die Aufgabe hat, bei Gefahr das gesamte Gehirn zu alarmieren (worauf wir gleich zurückkommen). Die Drogen fangen die Botschaft ab, und so wird die Psyche nicht mit Impulsen überflutet, über die sie keine Kontrolle hat. Die Drogen beeinflussen die niedrigeren Zentren, haben jedoch auch eine tiefgreifende Wirkung auf Denkprozesse; auch daher wissen wir, woher die Kraft kommt, welche die kortikale, denkende Psyche antreibt.

Eine weitere Möglichkeit, etwas über die Quelle von Gedankenflucht, bizarren Ideen und verzerrten Denkmustern zu erfahren, bietet sich, wenn der Patient diese sehr frühen Traumata wiedererlebt; dann hören alle diese Symptome automatisch auf, und damit verschwinden auch die periodischen, plötzlichen Angstanfälle, die den Betreffenden jahrelang geplagt haben.

Wenn in unserer Therapie frühe Schmerzen zum Bewußtsein aufsteigen, kommt es fast immer zu einem Angstanfall. Dabei richtet sich die panische Angst gegen das Bewußtsein. Frühes bewußtes Verbinden bedeutete, die volle, unsägliche Angst zu fühlen. Deshalb kommt es, wenn Gefühle im Aufsteigen sind und einen Angstzustand erzeugen, oft zu einem Herzschlag von über 200, der Blutdruck steigt ebenfalls auf über 200, und Anzeichen weisen darauf hin, daß der Organismus sich in großer Gefahr befindet.

Ein Neugeborenes, das von der Nabelschnur stranguliert wird, hat panische Angst. Es versteht nicht, sondern fühlt nur diesen Schrecken. Es reagiert mit den Möglichkeiten, die es hat. Das Herz rast, die Temperatur steigt, ebenso die Hormonausschüttung; all das sehen wir, wenn wir in unserer Therapie den Deckel der Verdrängung anheben. Das ist ein Angstzustand. Daher wissen wir, was Angst ist und woher sie kommt.

Zum Zeitpunkt des Traumas ist die ganze Angst freischwebend; sie wird weder begrifflich gefaßt noch verstanden. Es gab keine Abwehr­möglichkeiten dagegen. Gleich dahinter stand der Tod.

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Später können wir mit unserer Fähigkeit, zu bündeln und zu symbolisieren, die Angst kanalisieren. Das kann zu einer Phobie werden — einer gebündelten Angstattacke. Nur zu oft wird die Phobie dann behandelt, als sei sie das eigentliche Problem.

In den Vereinigten Staaten gibt es zahlreiche Kliniken, die Phobien behandeln. Eine Phobie ist ein Problem, das man kontrollieren kann, indem man die Situation vermeidet. Und diese gegenwärtige Situation ist fast immer ein Symbol für das ursprüngliche Trauma. So ist etwa die Angst vor Aufzügen (die Angst, eingesperrt, zerschmettert, zerquetscht zu werden, zu wenig Luft zu bekommen, nicht nach draußen sehen zu können etc.) eine Art, ein ursprüngliches Trauma symbolisch zu manipulieren. Gewöhnlich ist das die raison d'etre von Phobien.

Ein sehr traumatischer Geburtsvorgang mit langen Wegen kann sich in Form einer Angst zeigen, jeden bequemen Platz zu verlassen; daher die spätere Phobie vor dem Verlassen des eigenen Hauses. Es ist eine Furcht, »nach draußen zu gehen«. Der Gedanke, das Haus zu verlassen, läßt die phobische Person reagieren, als berühre man mit einer Elektrode den locus ceruleus.

Im Alltagsleben wird diese Art phobischer Angst mit kleinen, kaum wahrnehmbaren Mitteln kontrolliert. Man geht beispielsweise nicht aus, um Leute zu treffen, probiert keine neuen Dinge aus, verläßt nicht die Situation, in der man sich befindet — sei es ein Job oder eine Ehe —, ganz gleich wie schmerzhaft das ist. Dies liegt daran, daß unbewußt mit dem Gehen mehr Schmerz verbunden ist als mit dem Bleiben. Gehen löst das ursprüngliche Primärereignis mit all seiner panischen Angst wieder aus. Kontaktarmut kann ein Aspekt desselben Problems sein.

Einmal behandelte ich einen Jetpiloten wegen einer Phobie, die er in Wolkenbänken entwickelte. Wenn er sich mental in die Wolken zurückversetzte, bekam er panische Angst. Er konnte keine Bewegung spüren. Er verbrachte Stunden und Stunden damit, ein Geburtstrauma wiederzuerleben, wo die Unfähigkeit, sich zu bewegen (durch einen Tumor im Geburtskanal war ihm der Weg versperrt), Tod bedeutete. Wolkenbänke lösten einfach diese alte Angst wieder aus.

Man hätte seine panische Angst monatelang analysieren können, ohne auf ihre wirkliche Ursache zu kommen. Seine Geburt wurde ihm gegenüber nie erwähnt (wer hätte sich das träumen lassen?), doch die Technik, ihn mental wieder in die Wolkenbänke zurückzuversetzen, löste ein frühes Gefühl aus, das reine Angst war. Als er sich dieser Angst ganz überließ, fühlte er auch wieder das ursprüngliche Entsetzen.

Man sollte eine Phobie ebensowenig als Ding an sich behandeln wie einen Traum. Die Geschichte im Traum ist die Art der Psyche, die Angst zu erklären. Künstler benutzen Bilder, um ihre Ängste zu malen. Das gleiche gilt für Phobien. Wichtig ist jedoch, daß man versteht, daß das Gefühl bei einem Traum oder einer Phobie immer richtig ist. Die Geschichte ist symbolisch. Man muß dem Gefühl nachgehen und nicht dem scheinbaren Brennpunkt.

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   Angst, Verdrängung und das Abwehrsystem  

 

Die frühen, subkortikalen Gehirnmechanismen sind mit den Ursprüngen der Angst verbunden, doch der Neokortex liefert deren Einschätzung und Bewußtheit. Wenn er nicht wäre, wären unsere Reaktionen sowohl auf Angst als auch auf Streß rein instinktiv. So aber haben wir die Fähigkeit, die Gefahrensignale abzublocken und zu handeln, als seien wir nicht in Gefahr. Wenn wir uns gegen die Angst verschließen, verlieren wir die Fähigkeit zu fühlen, und damit verlieren wir etwas von unserer Menschlichkeit.

Angst ist ein Gefahrensignal. Sie ist in sich nicht neurotisch. Es gibt keine »Angstneurose«. Es handelt sich um eine angemessene Angst, die mit einer Erinnerung verbunden ist. Wenn diese Erinnerung dem Bewußtsein zu nahe kommt, tut das auch die Angst, und dann werden primitive Abwehrmechanismen der Eingeweide mobilisiert. Tatsächlich ist das Fühlen von Angst das Gegenteil einer Neurose. Es ist das Empfinden des tatsächlichen Schreckens, aber außerhalb seines Zusammenhangs. Wenn man die panische Angst wieder in ihren ursprünglichen Kontext stellt, löst sie sich.

Wie wir sehen, hat Angst eine doppelte Funktion. Sie warnt und ist gleichzeitig die Eingeweidekomponente des frühen Schreckens.

Wenn der gemeinsame Schmerz durch gegenwärtigen Streß und vergangene Prägung zu groß ist, erschöpfen sich die Vorräte an Serotonin und Endorphin, und wir erleben die Angst unmittelbar und bewußt. Dies warnt uns davor, daß unsere Abwehr­mechanismen zerfallen. Das Signal lautet: »Nimm eine Pille, um den Endorphinvorrat aufzufüllen.«

Es gibt Hilfssysteme, die uns davor schützen, Angst zu fühlen. Was wir als Neurose kennen, besteht weitgehend aus diesen Abwehrmechanismen. Spezifischer ausgedrückt, tragen diese Hilfssysteme dazu bei, Schmerzverdrängung und Schleusen zu stärken. Die meisten Menschen können ihre panische Angst gewöhnlich in Schubladen unterteilen und tief unten in der Neuraxis halten. Sie brauchen nicht dauernd daran zu denken. Der ängstliche Mensch jedoch hat diese Fähigkeit verloren. Sein Lagerhaus ist voll und noch einiges mehr. Die Angst wandert, findet Ventile und wird kanalisiert. Inzwischen ist sie für den Leidenden das schlimmste aller Gefühle, weil er nicht weiß, woher sie kommt, was sie ist oder wie er sie abstellen kann. Er fühlt sich einfach die meiste Zeit schrecklich.

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Diejenigen, die nicht gut verdrängen, werden manchmal als »Angstneurotiker« bezeichnet. Dabei verstehen sie sich eben nicht gut darauf, neurotisch zu sein. Wenn Sie ein gut verdrängendes Individuum nehmen und ihm eine Naloxoninjektion verabreichen, ein Gegenmittel gegen den inneren Schmerztöter Endorphin, bekommt es sofort Angst. Naloxon erzeugt die Angst nicht. Es macht den Schleusungs­vorgang rückgängig und erlaubt uns, das zu fühlen, was bereits da ist.

All dies weist darauf hin, daß das System dazu tendiert, in seinen normalen Zustand — Angst und Schrecken — zurückzukehren, sobald der Verdrängungsprozeß geschwächt ist. Den Ängstlichen muß man nicht auf seine Angst aufmerksam machen. Sie dringt ständig in sein Bewußtsein ein. Das Problem besteht darin, ihn unbewußt zu machen — die Angst zu kappen und für eine Weile abzustellen — oder ihn bewußt zu machen, indem man die Angst Stückchen für Stückchen zuläßt, um sie zu lösen.

 

  Was löst Angst aus?  

Oft ist ein Stimulus in der Gegenwart nötig, um die alte Prägung und ihre Angst zu wecken. Zu anderen Zeiten ist kein Reiz erforderlich. Dies geschieht, wenn das Leben eines Menschen ungewöhnlich schwer ist, wenn ein Kind keine Abwehr­mechanismen entwickeln konnte, um sich zu schützen. Es geschieht auch, wenn jemand Drogen genommen hat — wie Marihuana, Haschisch oder LSD —, welche die psychologischen Abwehr­mechanismen stören. Der chronische Gebrauch solcher Drogen schwächt das Schleusensystem im Gehirn und läßt das Aufkommen von Erinnerungen zu, die gewöhnlich tief verdrängt sind.

Ich habe einen Vietnam-Veteranen gesehen, der fünfzehn Jahre nach dem Krieg unter chronischen Angst­zuständen litt. Auf dem Schlachtfeld war er dem Tode nahe, eine Erfahrung, die Erinnerungen daran weckte, wie er im Alter von einem Jahr beinahe in einer Badewanne ertrunken war. Nach dem Krieg nahm er mindestens fünfzigmal LSD ein. Daraufhin hatte sein System nicht mehr die Mittel, sich gegen seine kombinierten Ängste zu wehren, die ständig durchsickerten.

Er war für eine Kriegsneurose empfänglich, weil sie den Widerhall eines vergangenen Ereignisses erzeugte. Das bedeutet nicht, daß der Krieg selbst keine Wirkung hat. Doch nicht jeder, der an einem Krieg teilnimmt, leidet ebenso. Je mehr der Krieg eine Resonanz vergangener lebensbedrohlicher Geschehnisse weckt, desto höher der Preis, den er fordert. Ein Krieg kann uns noch lange nachher zittrig und nervös machen, aber er bildet keine neue Neurose aus.

Wir dürfen die kritischen Perioden nicht vergessen. Traumata während dieser Perioden formen im allgemeinen die Persönlichkeit. Ein schweres Trauma, das später erfolgt, kann uns für eine Weile ängstlich machen, aber es wird kaum eine neue Neurose erzeugen.

Es gibt beispielsweise die Vorstellung, Hollywood und sein Druck zerstörten manche Schauspielerinnen. Ich halte es für viel wahrscheinlicher, daß zerstörte Menschen diese Umgebung suchen, weil ihr Bedürfnis so groß ist, daß nur Millionen es erfüllen können. Die Atmosphäre dient dazu, ihre Neurosen zu verstärken.

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  Angst und Zwangsneurose  

 

Wir alle haben schon von dem Mann gehört, der sich vierzigmal am Tag die Hände waschen muß; jemand anderer kann nicht auf die Fugen zwischen den Pflastersteinen treten; wieder ein anderer muß zwangzigmal am Tag die Schlösser in seinem Haus überprüfen. All dies sind Beispiele für Zwangsneurosen. Es handelt sich um wiederholte Verhaltensweisen, über die scheinbar keine Kontrolle besteht.

In Wirklichkeit ist Zwanghaftigkeit keine besondere Kategorie der Neurose. Sie ist nur die Art, wie sie sich manifestiert. Jede Neurose ist zwanghaft in dem Sinne, daß wir unser Leben lang immer wieder gewisse Muster wiederholen, ohne daß wir sie unter Kontrolle haben. Der Raucher raucht täglich und den ganzen Tag über alle vierzig Minuten eine Zigarette. Die Nymphomanin oder der Satyr ist ständig auf der Suche nach einem Sexualpartner. Jemand ist immer schüchtern, ganz gleich, wie die Umstände sind. Der Unterschied liegt darin, daß diese Verhaltensweisen sich über die Zeit verteilen und nicht die kontrollierten, ritualistischen und kurzlebigen Verhaltensweisen des Zwanghaften sind.

Dem Zwanghaften ist es gelungen, ein gut umschriebenes Verhalten zu finden, ebenso wie der sexuell Perverse ein Ritual gefunden hat, das ihm Erleichterung verschafft. Das Ritual hängt von zwei Faktoren ab. Der erste sind die Lebensumstände — vielleicht die Erziehung durch eine fanatische Mutter, die darauf bestand, daß die Kinder sich die Hände waschen, nachdem sie den Hund, die Tür, den Stuhl etc. berührt haben. Der zweite Faktor ist der, daß das Ritual ein Grundgefühl wiedergeben muß, z.B. das Gefühl, schmutzig zu sein (im weitesten Sinne des Wortes), und das Bedürfnis, sich ständig sauber zu fühlen. Ein Zwang, der »bleibt«, ist einer, dem es gelingt, das Spannungsniveau zu verringern. Wenn Sie sich unsicher und ängstlich fühlen, prüfen Sie die Schlösser, und dadurch haben Sie weniger Angst. Wenn die Angst steigt, prüfen Sie die Schlösser immer häufiger. Die sichtbare Angst ist die vor Eindringlingen. Die reale Angst ist die, bei Eltern aufgewachsen zu sein, die Ihnen nie ein Gefühl von Sicherheit gaben.

Um die Zwanghaftigkeit zu verstehen, müssen wir auf die Tatsache zurückkommen, daß sehr frühe Traumata nicht nur in der niedrigen Neuraxis registriert sind, sondern auch dazu tendieren, ständig zum Bewußtsein zu drängen, um gelindert und gelöst zu werden.

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Wir versuchen immer, normal zu sein. Eine der aktivierenden Schlüsselstrukturen im Hirnstamm heißt retikulares Aktivierungssystem. Dieses Bewachungs- oder Alarmsystem sammelt alle sensorischen Eingaben, sowohl von außen als auch von den Prägungen, und schickt sie an den Kortex, zunächst über das Limbische System. Bis sie im Limbischen System ankommen, ist ihre Spannung unspezifisch; es handelt sich um eine Quantität von Energie oder Aktivierung. Das Limbische System gibt ihnen emotionalen Gehalt.

Das retikulare Aktivierungssystem hat lange Verbindungsfasern zum Neokortex, so daß, sobald sehr frühe Traumata ihren Aufstieg ins Bewußtsein beginnen, die Psyche der höheren Ebene sich bewußt ist, sich unbehaglich, erregt und unwohl zu fühlen. Das ist ein notwendiger Zustand, denn die niedrigere Psyche sagt: »Bereite dich auf den Angriff vor.« Die Angst beginnt ihr Leben.

Wenn der Druck der Einprägungen steigt, steigt auch der retikulare Druck. Er richtet sich gegen kortikale Hemmkräfte. Nun haben wir einen Zusammenstoß zwischen der Hemmung durch den frontalen Kortex (Hoffnung) und den aufsteigenden Impulsen frühen Schmerzes im Hirnstamm (Hoffnungslosigkeit): Zwänge deuten auf ein Versagen der Hemmung hin. Wenn man Drogen gibt, um das retikulare Aufwallen zu mindern, kann man den Konflikt reduzieren, und der Betroffene fühlt sich wohler und handelt weniger zwanghaft. Gibt man keine Medikamente, muß er seine zwanghaften Handlungen oder Gedanken intensivieren, um die aufsteigende Kraft abzublocken. Der Kortex wird mit immer größerer Dringlichkeit zur Dienstbarkeit gezwungen, und der Betroffene hat repetitive, unkontrollierte Gedanken, die er nicht abschütteln kann.

Die neueste »heiße« Droge zur Behandlung dieser Zwangskrankheit, die - ich wiederhole - keine spezielle Erkrankung ist, sondern nur ein Hinweis auf den Zustand des Schleusensystems, sind Serotoninverstärker. Deren wirkliche Funktion ist allerdings die Stärkung der Neurose und nicht die Herbeiführung einer Heilung. Zwanghafte Menschen versuchen, eine gute Neurose zu haben, aber sie schaffen es nicht ganz. Heute wird jeden Monat einer Million Patienten Prozac verschrieben. Es scheint, als sei neuerdings die halbe Bevölkerung auf Drogen.

Der Zwanghafte macht den Versuch, seine Angst zu kontrollieren. Würde er das Ritual nicht ausführen und die hochkommende Energie nicht binden, so stünde er dem Ansturm nackt gegenüber und würde von Angst überwältigt. Er muß dies tun, denn es erfolgen gleichzeitig so viele unspezifische Eingaben, daß keine Möglichkeit zu voller Integration besteht. Wenn wir dieselben frühen Schmerzen von hoher Wertigkeit nehmen und integrieren, sehen wir im gleichen Moment ein niedrigeres Ruhe-EEG (ruhigeres Gehirn) und eine Verminderung der Zwänge.

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Es sollte nun klar sein, daß man jemandem seine zwanghaften Ideen (oder seine Phobien) nicht ausreden kann, weil sie nichts mit dem rationalen Kortex zu tun haben, außer insoweit, als er der Diener der Impulse von unten und gezwungen ist, ihnen zu gehorchen.

Es gibt eine Hierarchie psychischer wie physischer Symptome. Die Symptome scheinen der Evolution des Menschen zu folgen. Reine Angst ist eine Sache der ersten Linie. Phobien, die Benutzung von Vorstellungen, um Schmerz und Angst abzublocken und niederzuhalten, gehören der zweiten Linie an. Sie treten auf den Plan, um den Überfluß primärer Energie aus dem frühen Trauma zu stoppen. Wenn Phobien versagen, finden wir vielleicht zwanghafte Ideen der dritten Linie.

Es handelt sich also um zunehmend raffinierte Arten, denselben Schmerz zu bewältigen, und nicht um unterschiedliche Krankheiten. Bizarre Vorstellungen und paranoide Ideen schließlich treten auf derselben Ebene auf, wenn Zwangsgedanken das Abwehrsystem über seine Fähigkeit hinaus belasten. Das ist die Verschiebung von der Neurose zur Psychose. Es ist die evolutionäre Verschiebung von primitiven Angstmechanismen auf die neueste Erwerbung der menschlichen Hirnkapazität — Paranoia. Paranoia ist eine fortgeschrittene Form des Denkens.

Wir sehen hier, daß Neurose eine Abwehr gegen die Psychose ist, ebenso wie symbolische Träume dazu beitragen, erschreckende Alpträume zu verhindern. Die angstbesessene Person kann gewöhnlich keine symbolischen Träume aufbieten, um sich gegen die nächtlichen Angstanfälle zu wehren, die Alpträume sind; ebenso schafft sie es während des Tages nicht, ein gut strukturiertes Abwehrsystem aufzubringen. Nichts im Leben dieses Menschen »funktionierte« so, daß es ihm gestattet hätte, der Angst zu entkommen, und auch alles, was er während der Nacht tut, funktioniert nicht. Ein gut aufgebauter Traum bedeutet seiner Definition nach, daß Strukturen errichtet sind, um Gefühle zu symbolisieren. Es ist kein Zufall, daß Schizophrenie bei Epileptikern selten ist. Solange man angesammelten Druck massiv entladen kann, braucht das Bewußtsein der obersten Ebene sich nicht bis ins Bizarre zu dehnen, um ihn zu bewältigen. Wir werden feststellen, daß fast alles, womit wir zu tun haben, bloß, eine einzige Krankheit ist. Sie wandert nur.

Jede Ebene der bewußten Entwicklung hat ihre eigene, besondere Art von Symptom; dies gilt sowohl auf physischem als auch auf psychologischem Gebiet. Der Unterschied zwischen Diarrhöe und Arthritis ist ein großer phylogenetischer Sprung.

Bei einer Phobie reicht das Bild einer Schlange aus, um eine Angstreaktion auszulösen. Für die reine Angst, die ein nicht mit Bildern oder Worten verbundener Zustand ist, ist keinerlei Bild erforderlich. Bildvorstellungen sind eine spätere Entwicklung, um die Angst in Zeit und Raum zu fixieren.

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Phobien sind im wesentlichen eine Eigenschaft von Personen auf der zweiten Linie, deren Entwicklung vor dem intellektuellen Stadium angehalten worden zu sein scheint. Der Phobiker kann den Gegenstand seiner Phobie meiden und fühlt keine Angst. Der Zwanghafte hat dieses Glück nicht. Der ängstliche Zwanghafte muß sich selbst meiden, und das ist nicht so einfach.

Denjenigen, die sich über die Adoleszenz hinaus ohne überwältigende Angst entwickeln können, gelingt es, in ihrem Kopf zu leben und zwanghafte Ideen zu erzeugen. Solche Menschen der dritten Linie haben weniger Zugang zu ihren Gefühlen als der Phobiker. Menschen der zweiten Linie, die auf der Ebene von Bildern und Träumen leben, sind musikalischer, künstlerischer, weniger philosophisch, aber emotionaler und weniger kontrolliert als Menschen der dritten Linie. Der Vorteil der zweiten Linie ist der, daß solche Menschen leichter fremde Sprachen erlernen können. Sie hören die Klangnuancen und die musikalischen Töne in einer Sprache. Mathematik können sie nicht so gut erlernen wie Personen der dritten Linie und Physik schon gar nicht.

Der Mensch der zweiten Linie kam deshalb nie richtig auf die dritte Linie, weil diese ständig von Prägungen tieferer Ebenen angegriffen wurde. Der Zwanghafte bemüht sich sehr, das Denken zu benutzen, um ein Ungeheuer zu kontrollieren und einzusperren, das sich nicht leicht einsperren läßt. Versponnene Ideen, wie repetitiv auch immer, sind ein schwaches Mittel gegen massive traumatische Prägungen auf tieferen Ebenen.

Wenn die Zwanghaftigkeit intensiver wird (weil die aufsteigenden Impulse unglaublich stark sind), aber schließlich zu wirken aufhört, haben wir eine dekompensierende Abwehrstruktur, die letztlich zur Psychose führen kann. Nun finden wir bizarre Vorstellungen, da die kortikale Psyche durch den aufsteigenden frühen Schmerz aufs äußerste gedehnt wird. Es handelt sich aber nicht um einen Artunterschied. Derselbe kortikale Apparat wird benutzt, um den Schmerz und die panische Angst zu bewältigen. Weil es zu einem totalen Durchbruch frühen Materials kommt, wird der Psychotiker in die ferne Vergangenheit gestoßen. Der Unterschied zwischen dieser vergangenen und der gegenwärtigen Realität ist so groß, daß der betreffende Mensch als verrückt gilt.

Illustrieren können wir all das anhand von EEG-Messungen (Gehirnwellenmessungen). Das Hirnwellen­muster im Ruhezustand spiegelt den Kampf zwischen Aktivierung und Hemmung wider. Ein neuer Patient kann ein EEG von nahezu zweihundert Mikrovolt aufweisen, das nach einigen Monate auf dreißig gesunken ist. Eindeutig sind Aktivierung des und Druck auf den Kortex erheblich geringer. Bei einem hohen Wert könnte man Zwänge erwarten und auch andere Symptome der Überlastung, von Epilepsie bis zu Ticks. Alles, was die Aktivität des Hirnstammes stimuliert, von Koffein bis zu Amphetaminen, setzt den Kortex stärkerem Druck aus, was schließlich zur Möglichkeit einer Psychose führt. Der aufwärts gerichtete Druck frühen Schmerzes hat die Tendenz, Serotonin zu verbrauchen.

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Serotonin ist ein wichtiger chemischer Wirkstoff im Panzer der Verdrängung. Es ist im ganzen Gehirn verteilt, doch es gibt Gruppen von Serotonin produzierenden Zellen an der Mittellinie des Hirnstammes entlang. Von dort aus wandern sie dahin (mittels Netzwerken von Fasern), wo sie gebraucht werden, nicht zuletzt in das Limbische System.*

Es gibt eine Droge namens <Ecstasy> oder <MDMA>, die heutzutage recht beliebt ist. Wer sie einnimmt, stellt fest, daß er wirklich in Ekstase ist. Warum? Weil er wieder fühlen kann. Er ist euphorisch, weil er endlich mit sich selbst in Berührung ist. Die Droge setzt ungeheure Mengen von Serotonin frei und verringert die Hemmung. Das Problem ist, daß sie in sehr hohen Dosen Serotonin­zellen abtöten kann; und in sehr seltenen Fällen kann sie den Menschen töten. Ecstasy ermöglicht tatsächlich einige große Einsichten, weil das Abwehrsystem mattgesetzt ist und ein Zugang zur Gefühlsebene besteht. 

Trotz dieser Einsichten und trotz der tiefgreifenden Veränderung, welche die Person durchgemacht zu haben glaubt, ist die Veränderung nur vorübergehend. Der Schmerz ist nicht verschwunden; man hat ihn nur für den Augenblick umgangen. Es gibt eine Möglichkeit, all das auf eine natürliche Weise zu erreichen; wenn Sie das nämlich nicht tun, müssen Sie weiterhin Drogen wie Ecstasy nehmen. Mit der natürlichen Methode gewinnen Sie sich selbst dauerhaft zurück. Zuerst die Qual, dann die Ekstase.

Die Rolle des Serotonins bei der Hemmung wurde in verschiedenen Forschungsarbeiten untersucht. Eine interessante Studie des Nationalen Instituts für Alkoholmißbrauch und Alkoholismus in Finnland kam zu dem Ergebnis, daß der Serotoninspiegel von Mördern sehr gering war. Diese Menschen besaßen nur eine minimale Hemmung, und alle ihre Impulse wurden ausagiert. Hätten sie ein gutes zwanghaftes Ritual gehabt, so hätten sie vielleicht nicht getötet. Doch leider erlaubte das im allgemeinen schwere Leben vieler von ihnen die Entwicklung von Zwängen nicht. Auch Menschen, die gewaltsam Selbsttötung begingen, hatten einen niedrigen Serotoninspiegel.

Bei Fällen der Alzheimerschen Krankheit scheint er ebenfalls niedrig zu sein. Der impulsive Neurotiker, dessen Hemmung gering ist, scheint auf viele Arten auszuagieren, darunter auch auf kriminelle Weise. Impulsiv greift er nach Drogen, weil er einen sofortigen »Fix« braucht. Sein System braucht die Verdrängung. Er kommt ins Gefängnis, weil er versucht hat seinen Schmerz zu töten. Wir sperren Menschen ein, weil sie Drogen nehmen, die oft die gleiche Wirkung haben wie Tranquilizer, weil sie nicht von den richtigen Leuten verschrieben worden sind. Niemand nimmt Drogen wie Heroin, wenn er sie nicht braucht. Er braucht es, weil er »braucht«. Das »WAS« kommt später, wenn das wirkliche Bedürfnis längst begraben ist.

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* Für eine Diskussion der Wirkungsweise von Serotonin. Science News, Bd. 136,14.10.1989, S. 248ff., Ron Cowen: <Receptor Encounters> 

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