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10/2  Über Drogen und Drogenabhängigkeit  

Janov-1991

Janov über Drogen/Sucht:  1970   1972   1975  

229-258

Es gibt viele Arten, auf die ein Kind Entbehrungen und Schmerzen erleiden kann, aber es gibt immer einen sicheren Weg, das zu bewältigen: Schmerztöter. Worum es sich auch handeln mag, Vernachlässigung, Mangel an Liebe, Mangel an Fürsorge, der Körper erhöht seine verdrängende chemische Abwehr; und wenn diese chemische Abwehr wankt, greift der Mensch nach etwas Äußerem, um das zu bewirken, was der Körper allein sollte bewirken können. 

Einige finden, daß Alkohol die Aufgabe erledigt; andere benutzen Drogen. Das Endergebnis ist Verdrängung; wirksame Verdrängung durch Chemikalien fühlt sich an wie das Nirwana, wie der Mann in der folgenden Fallstudie berichtet. Er versuchte schreckliche eingeprägte Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit zu ertränken. Drogen gaben ihm eine »Welle von Wärme«, der nur das ent­sprochen hätte, was die Zuneigung einer Mutter früh in seinem Leben hätte bewirken können. Seine letzte Hoffnung lag darin, diese Hoffnungs­losigkeit zu fühlen.

Wir müssen unbedingt verstehen, daß Drogenabhängigkeit oder Alkoholismus nicht die Krankheit sind. Sie sind ein Mittel, die wirkliche Krankheit von Neurose und Schmerz zu bekämpfen. Drogenabhängigkeit wird dadurch geheilt, daß der Schmerz beseitigt wird, so plump dies auch scheinen mag. Dann vergeht die Abhängigkeit. Man wird nicht abhängig, wenn der gegenwärtige Schmerz, beispielsweise durch ein gebrochenes Bein, Schmerz­mittel erfordert. Man wird abhängig, wenn es eine vergangene Prägung von Schmerz gibt, die nach Linderung schreit.

Dem Menschen mit dem gebrochenen Bein ging es gut, bis weiterer Schmerz in die Gleichung eintrat, mehr Schmerz, als körper­eigenes Morphin hergestellt werden konnte. Also gibt man von außen etwas hinzu. Nachdem der Schmerz vergangen ist, braucht der Betreffende keine Drogen mehr. Anders ist das bei einem Menschen, den alter Schmerz quält. Wenn sein gebrochenes Bein heilt, braucht er noch immer Schmerztöter. Vielleicht nimmt er monate- oder jahrelang Schmerzmittel oder Beruhigungs­pillen. 

Wenn er aufhören möchte, überflutet ihn plötzlich seine Vergangenheit, und er fühlt sich schlechter denn je. Er hat den Schmerz die ganze Zeit niedergehalten, wie man einen Springbrunnen zuhält.

Wenn der Druck schließlich weicht und die Unter­drückungsmittel nicht mehr vorhanden sind, kommt es zu einem massiven Rückprall, wenn der ganze zurück­gehaltene Schmerz auf einmal aufsteigt. Der Mensch fühlt sich entsetzlich, ihm ist ständig unwohl, er kann sich nicht entspannen und denkt nur daran, wie er wieder ein gewisses Behagen erlangen kann, wenigstens für eine kleine Weile. Und er kehrt zu den Schmerzmitteln zurück.

Den Schmerz zu unterdrücken bedeutet, das Problem zu verdecken. Und es handelt sich um ein Problem, das sich nicht wegreden läßt. Man kann nicht einfach »nein« zu den Drogen sagen, weil man auch nicht zu seiner ganzen vergangenen Geschichte »nein« sagen oder seine Physiologie vernachlässigen kann. Wie ich an anderer Stelle gesagt habe, ist die Einnahme von Drogen im großen und ganzen ein Versuch, das System zu normalisieren. Wer depressiv ist, nimmt »Muntermacher« oder bekommt Drogen verschrieben, die stimulieren, während sie gleichzeitig Schmerz abtöten. Kokain hat auch diese Wirkung.

Wer ängstlich ist, nimmt Beruhigungsmittel. Er kann etwas einnehmen, das im Grunde eine Schlaftablette ist, und sich endlich entspannt fühlen. Warum schläft er davon nicht ein, wie es bei einer normalen Person der Fall wäre? Weil sein grundlegendes Aktivierungsniveau durch den Schmerz so hoch ist, daß die Tablette ihn gerade nur auf »Normalpegel« bringt. Ich habe einen Patienten gesehen, der versucht hatte. Selbsttötung zu begehen, indem er massive Dosen Schmerzmittel einnahm, und der zwölf Stunden später erfrischt wieder aufwachte. Dabei hätte die Menge erwiesenermaßen tödlich sein können. Auch hier war das Niveau der gesamten physiologischen und neurologischen Aktivierung so hoch, daß die Droge das Feuer nur erstickte.

Abhängigkeit oder Sucht erhält ihre Wucht durch Schmerz der ersten Linie. Meiner Erfahrung nach sind starke Raucher stets dabei, Geburts­schmerzen und Schmerzen unmittelbar nach der Geburt zu bewältigen. Ein hartes Leben danach besiegelt dann ihr Schicksal. Zigaretten sind eine der suchterzeugendsten Drogen, weil sie als Beruhigungsmittel wirken, verfügbar und legal sind und alle dreißig Minuten dabei helfen können, den Schmerz niederzuhalten.

 

Wer Marihuana einnimmt, was eine partielle Lobotomie erzeugt (funktionelle Durchtrennung der Verbindungen zwischen hemmenden Zentren und fühlenden Bereichen), wird oft zwanghaft, wenn die Hemmung nachläßt und tiefe Schmerzen aufsteigen, die irgendeine Art von Absorption durch die denkende Psyche erfordern. Seine Angst wird ihn dazu treiben, überall Einbrecher oder Gefahr zu wittern. Oder er beschäftigt sich zwanghaft damit, was am nächsten Tag in der Schule geschehen wird. Oder mit allen anderen nur denkbaren Dingen.

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Wer sehr stark verdrängt, kann auch dem Marihuana verfallen, weil es zeitweilig die Verdrängung mildert. Der Preis, den man dafür bezahlt, besteht darin, daß sich bei zuviel Marihuana die Schleusen hinterher möglicherweise nicht mehr ganz schließen und der Mensch beginnt, chronisch zu leiden. Und auch chronisch zwanghaft zu sein. Vielleicht wird er auf Dauer leicht paranoid und beargwöhnt beinahe alles und jeden.

Alle Veränderungen durch Drogen sind im großen und ganzen ein Versuch, Wohlbefinden zu erlangen; das bedeutet, ein System wieder ins Gleichgewicht zu bringen, das aufgrund früher Traumata aus dem Leim gegangen war. Die Antwort auf Drogen­abhängigkeit ist klar: das Trauma bewältigen und das System wieder ausbalancieren. Die Sucht verschwindet dann einfach, ohne Ermahnungen, Moralisieren, Strafandrohung oder Belohnungs­versprechen.

Natürlich ist es hilfreich, jemanden aus einem Drogenmilieu zu entfernen, in eine saubere, neue Umgebung zu bringen, ihm eine Stellung und Obdach zu geben etc. Doch obwohl all dies notwendig ist, ist es nicht hinreichend für eine Heilung. Fast immer wird es zu Rückfällen kommen, wenn man nicht direkt den Schmerz angeht. Jeder andere Ansatz ist mit Wunschdenken verbunden. 

Der Schmerz, der die Sucht erzeugt, geht nie fort, ganz gleich in welcher Umgebung. Man kann Drogen schwerer verfügbar machen und in den Entwöhnungs­zentren eine warme, beschützende Familien­umgebung schaffen. All das hilft, heilt aber nicht. Die Zentren sind notwendig, eine anständige Umgebung ist überaus wichtig, aber man kann eine Neurose nicht weglieben, so altruistisch man auch sein mag. Das ist auch deshalb eine Täuschung, weil ein Mensch mit freundlicher sozialer Umgebung und hilfreichen Personen in der Gruppentherapie sich lange Zeit von den Drogen fernhalten kann. Aber er kann sich nicht eine Minute lang von seiner Physiologie fernhalten.

Wenn man jemanden von Drogen entwöhnt, ohne sich um seinen inneren Schmerz zu kümmern, dann erhält man den inneren Mangel an Gleichgewicht und sichert für die Zeit danach irgendeine Krankheit oder ein Symptom. 

Ich erinnere mich, daß ich schon früh in Konfrontations­gruppen mit ehemaligen Abhängigen gearbeitet habe. Sie verzichteten auf Heroin, rauchten aber durchschnittlich zwei oder drei Schachteln Zigaretten am Tag und tranken schon vor Mittag rund zehn Tassen Kaffee. 

Ich möchte noch einmal betonen, daß Entwöhnungs­zentren hilfreich und die Unterstützung anderer wesentlich sind. Das Problem, das ich damit habe, ist der moralisierende Charakter dieser Institutionen, das Beharren auf Selbstdisziplin, Verpflichtung zu Veränderung etc., zu denen der Betreffende Lippen­bekenntnisse ablegen kann, während tief unten weiterhin der Schmerz tobt. Seine Haupt­verpflichtung war der Versuch, Wohlbefinden zu erlangen; auf dem Wege dorthin wurde er abhängig. Er war gezwungen, sich selbst zu normalisieren, trotz der Schande, die das mit sich brachte.

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In diesen Zentren findet oft Gruppentherapie, Selbstentblößung bis auf die Warzen und dergleichen statt. Das Problem ist, daß man, solange man nicht wiedererlebt, keine Möglichkeit hat, das Selbst völlig zu entblößen, das leidet und Drogen und Alkohol braucht. Konfrontation (die Art von Gruppen, die ich abzuhalten pflegte) kann das nicht leisten. Jemanden zu dem Geständnis zu zwingen, daß er oder sie abhängig ist, mag ein hilfreicher erster Schritt sein. 

Doch ständige Konfrontation mit anderen, die verlangen, daß man sich der Realität stellt, geht davon aus, daß diese Menschen wissen, welche Realität in ihnen liegt, und das ist fast nie der Fall. 

Das Eingestehen von Inzest beispielsweise ist eine Sache; ihn monatelang wieder und wieder zu erleben eine ganz andere. Man kann den Inzest zutiefst beweinen, aber das ist nicht das gleiche wie das, was absolut notwendig ist — das Traumata mit seiner ganzen Qual wiederzuerleben (der vorher durch Pillen unterdrückten Qual), bis der Pegel inneren Schmerzes reduziert ist (ein meßbarer Zustand).

Das Gestehen eines Inzests, oder was immer den Menschen stört, geht davon aus, daß der Betreffende weiß, was tief innen liegt. 

Meiner Erfahrung nach werden die meisten der kritischen Schmerzen nicht durch irgendeine bewußte Anstrengung entdeckt, sondern während des Wiedererlebens, wo die Person sich auf tiefere Bewußtseinsebenen hinabbegibt.  

Zuvor war ihr vollkommen unbewußt, was sich dort befand. Die Behandlung von Abhängigkeit erfordert mehr als »Wohltätigkeit«, Altruismus und beste Absichten; sie erfordert einen systematischen, wissenschaftlichen Ansatz.

Es gibt diesen ständigen magischen Gedanken, wenn man drogenfrei sei, sei der Schmerz fort, vorausgesetzt, man nimmt den Schmerz zur Kenntnis, was nicht so oft geschieht, wie man annehmen könnte. Nicht einmal eine Schocktherapie mit massiver elektrischer Beeinflussung des Gehirns kann diesen Schmerz vertreiben. Er muß wiedererlebt werden, nach und nach, Stückchen für Stückchen, bis er in das Bewußtsein integriert ist; danach könnte man aus dem Betreffenden keinen Drogenabhängigen mehr machen, auch wenn man es versuchte.

Das Problem ist, daß genau das, was uns süchtig macht, das Weglaufen, die Abhängigkeit vom schnellen »Fix«, das ist, was sich lange Zeit gegen den Versuch des Menschen wehrt, seinen Schmerz zu fühlen. Der »schnelle Fix« ist im wesentlichen das Ergebnis von Impulsen der ersten Linie, die das Warten auf Linderung und Rettung zur reinen Hölle machen. Solche Menschen werden von Impulsen getrieben, die weit jenseits ihrer Kontrolle liegen.

Schwer Abhängige brauchen daher eine schützende, halb familiäre Umgebung, während sie ihren Schmerz fühlen. Sie brauchen Überwachung, bis sie genug gefühlt haben, um es allein zu schaffen. Betrachten Sie die folgenden Fälle von Patienten, die alles genommen haben, von Lösungsmitteln über Heroin bis zu Speedballs: einer Mischung aus Aufputschmitteln, Beruhigungsmitteln. Sie sind »da gewesen«, und was sie zu sagen haben, erklärt besser als ich, worum es bei Abhängigkeit und ihrer Heilung geht.

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   Bill   

 

Ich bin gerade dabei, mich von zwanzig Jahren zu erholen, in denen ich Alkohol und verschiedene Drogen benutzt habe, um mein Leben erträglich zu machen. Vor allem in meinen zwanziger Jahren nahm ich buchstäblich alles, was ich an Opiaten, Barbituraten, Amphetaminen, Halluzinogenen oder sonstigen kontrollierten Substanzen nur bekommen konnte. Außerdem trank ich Bier, Wein und Spirituosen und rauchte. Ich war ständig auf der Flucht vor mir selbst, weil ich selbst zu sein bedeutete, mich die meiste Zeit entsetzlich zu fühlen.

Ich kam zwei Monate zu früh zur Welt und verbrachte die ersten drei Wochen meines Lebens in einem Brutkasten. Kürzlich habe ich erfahren, daß ich auf dem Weg zum Krankenhaus beinahe schon geboren worden wäre und daß man meiner Mutter die Beine zusammenpreßte, damit ich nicht vor der Ankunft des Arztes geboren wurde.

Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich zwei Jahre alt war. Mein Vater war Alkoholiker, und meine Mutter war unehelich geboren und verbrachte die ersten drei Jahre ihres Lebens in einem Waisenhaus. Die ersten zehn Jahre meines Lebens waren vaterlos. Meine Mutter war gewöhnlich deprimiert oder überfordert oder hysterisch. Ich will nur sagen, daß es in den ersten zehn Jahren meines Lebens sehr wenig Trost, Sicherheit oder Stabilität gab. Dann heiratete meine Mutter einen ungebildeten, groben und gewalttätigen Mann, als ich zehn war. Er war Arbeiter und Alkoholiker.

Mein Leben während meiner Kindheit und Jugend war einsam. Keiner half mir, ich wurde kritisiert und emotional und physisch mißbraucht. Ich wurde mit Gürteln geprügelt, beschimpft, bedroht und bestraft, und zwar von Menschen, die mich hätten lieben, halten, fürsorglich behandeln und mir den Weg ins Leben zeigen sollen. Es ist einer der Schrecken meines Lebens, ausgerechnet von dem Menschen gehaßt worden zu sein, dessen Liebe ich am meisten brauchte — meiner Mutter.

Als Kind fühlte ich mich immer verwirrt und überwältigt, als wären die Dinge nicht so, wie sie sein sollten. Das Leben ergab keinen Sinn. Ich hatte nie das Gefühl, wirklich zu wissen, was vor sich ging. Ich begann früh zu lesen und verschlang alles Lesematerial, das ich finden konnte. Bücher waren meine Rettung. Die Literatur lieferte mir eine Welt, in die ich mich zurück­ziehen konnte, wo die Dinge ideal und fair waren und wo es ein Gefühl von Ordnung und logischer Entwicklung gab.

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Ich konnte meinem chaotischen Leben entrinnen. Später wurden Musik und Sport ebenso wichtige Ventile für mich. In meiner Familie gab es nie so etwas wie Liebe und Zusammenhalt. Meiner Mutter lag sehr daran, ihre wohlerzogenen, disziplinierten Kinder der Außenwelt vorzuführen. Gehorsam und Respekt waren Pflicht. Wenn wir brave kleine Automaten waren, verschaffte ihr die darauf folgende Bewunderung von Freunden und Familie ein Gefühl ihres Wertes als Mutter. Oft sagte sie: >Ich lebe für meine Kinder.< Während meiner ganzen Adoleszenz fürchtete ich diese Feststellung und wehrte sie ab.

Sie fühlte sich wertlos, also benutzte sie uns, um ein Selbstwertgefühl zu haben. In Wirklichkeit gab es keine Liebe und keine richtige Familie. In meiner Familie umarmte oder berührte man sich nie. Mein Stiefvater pflegte sich zu betrinken, gewalttätig zu werden und meine Mutter zu schlagen, und das kam oft vor. Ich hatte eine endlose Liste von Pflichten, und ich hatte immer das Gefühl, wenn ich genug davon erledigte oder gut genug in der Schule wäre, dann würden sie mich lieben. Ich durfte nicht wütend werden oder mich auch nur ganz aussprechen - das hätte bedeutet, daß ich sie nicht respektierte. Trotzdem war meine Mutter dauernd wütend auf mich, und jede Äußerung von Spontaneität wurde unterdrückt. Ich durfte nicht ich selbst sein, also versuchte ich, das zu sein, was sie haben wollte. Wenn ich ein braver Junge war, würde meinen Bedürfnissen und Träumen vielleicht etwas Aufmerksamkeit geschenkt. Vielleicht würde es dann wirkliche Fürsorge und Zuneigung für mich geben. Vielleicht würde ich dann umarmt, gehört und gut behandelt; mit einem Wort, geliebt.

Die betäubende, beseligende Kraft von Heroin entdeckte ich, als ein Freund mir ein Paket schickte, als er im Vietnamkrieg war. Das war Entspannung, Erleichterung und beruhigende Wärme von einer Art, die ich nie zuvor erlebt hatte. Das war das Nirwana. Das war Freiheit von einem Leid, das so sehr Teil meines Lebens war, daß ich mir seiner Anwesenheit nicht bewußt war, bis es schwand. 

Da ich relativ normal und nicht besonders gerissen war, konnte ich mir nie auf der Straße etwas <besorgen>, sondern benutzte pharmazeutisches Morphin und alle möglichen anderen verschreibungspflichtigen Drogen. 

Ich habe viele Jahre lang regelmäßig Drogen benutzt und war von ihnen abhängig. Das ist kein sehr anderes Szenario als bei vielen anderen Leuten, die während der Kulturrevolution der sechziger Jahre aufwuchsen, aber ein ziemlicher Sprung für einen Jungen, der ein sportlicher Bücherwurm war.

Ich mußte Drogen nehmen, weil ich litt. Als ich in die Therapie kam, waren Schmerzmittel das einzige, das mich funktionieren ließ. Ich hatte nicht die Krücke einer Religion oder eines Glaubenssystems, um mich zu beruhigen oder zu täuschen. Das Leben war nicht mehr lebenswert; ich war wirklich verloren in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung und unfähig, mich zu ändern. Ich sehnte mich nach Vergessen.

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Im Laufe der Jahre und nach vielen Urerlebnissen habe ich jetzt die zentrale Realität meines Lebens und den Schmerz kennen­gelernt, den ich mein ganzes Leben lang im Zaum hielt. Ich habe die brennende, allumfassende, krampfhafte Qual äußerster Einsamkeit gefühlt. Ein ungesehenes, unberührtes, unbeachtetes, einsames Baby. Im Brutkasten (und bei meiner Geburt) wäre ich fast gestorben. Diese unglücklichen Erfahrungen (und viele andere Kindheitserlebnisse) sind es, die mich unendlich und unermeßlich einsam machten. Sie verurteilten mich dazu, schlechte Beziehungen nie hinter mir lassen zu können, denn sonst wäre ich ja wieder allein. Ich konnte inmitten Tausender in einem Stadion sitzen und mich absolut allein fühlen.

Ich glaube, es ist die Gesamtsumme meines frühen Lebens, die Drogen und vor allem die Schmerzmittel für mich so unentbehrlich machte. Sie gaben mir eine Wärme, die ich nie hatte - eine physische Empfindung, die im Magen begann und dann mit unfehlbarer, bedingungsloser Erleichterung meinen Körper überflutete.

Daß ich bei meiner Geburt stranguliert und zurückgehalten wurde, ließ mich alles aufgeben, was ich je versuchte. Die ersten Lebenswochen, die ich im Brutkasten verbrachte, ließen mich für immer allein sein. Ganz gleich, wie nahe und liebevolle Beziehungen ich zu Freunden oder Partnerinnen hatte, es war nie genug, um die Leere zu verringern. Das Aufwachsen in einer chaotischen, instabilen Familie machte mich unfähig, je selbst ein stabiles Leben zu führen. Die Summe von allem war einfach zuviel für mich. Ich brauchte die stärkste Linderung, die ich finden konnte, und nichts eignete sich dazu so gut wie Opiate.

Ich bin immer noch auf dem Weg zurück. Ich habe das Gefühl, einen so langen Weg zurückgelegt zu haben, und es war qualvoll für mich. Aber mit jedem gelösten Gefühl bekomme ich mehr von meinem Leben und meinem Selbst zurück. Ein sehr großer Teil meines Lebens war entsetzlich oder schmerzhaft, aber schließlich war es mein Leben.

 

   Deena   

 

»Als ich dreizehn war, stand in unserem Gesundheitsbuch in der Schule ein kleiner Abschnitt, der uns vor Drogengebrauch warnte. Ich war fasziniert. Ich wußte, wenn ich die Gelegenheit bekäme, würde ich Drogen nehmen. Das war 1963, und Drogengebrauch war noch nicht üblich in der kleinen Stadt in Neuengland, aber die Dinge änderten sich schnell. Mit 14 und 15 fing ich an, mit Rowdies und Straßenkindern herumzuhängen, obwohl ich eine gute Schülerin war und vorhatte, das College zu besuchen. Ich begann auch, mit ihnen zu trinken und eine Menge rebellischer und antisozialer Verhaltensweisen auszuagieren.

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Ich liebte die Erregung und Gefahr. Mit 16 fing ich an, Marihuana zu rauchen und experimentierte bis zum Ende der High-School mit Dexedrin, Barbituraten und Heroin. Mit 18 war ich schon zweimal wegen drogenbedingter Delikte verhaftet worden. Zum Glück wurde beide Male die Anklage fallengelassen.

Drogen und Lebensstil waren für mich verwandt. Ich mußte meinem Zuhause und meinen Eltern entkommen. Sie stritten sich ständig; für mich gab es dort nichts. Ich konnte mich besser mit den Jugendlichen auf der Straße identifizieren als mit den guten, braven Schülern. Rebellion und Drogenkonsum gaben mir das Gefühl, anders und besonders zu sein. Es war eine Art, Aufmerksamkeit zu bekommen. Bis dahin war ich ein braves Mädchen gewesen, aber das hatte mir nie etwas genützt. Ich war auch immer sehr schüchtern gewesen. Drogen und Alkohol nahmen mir die Schüchtern­heit und gaben mir ein Gefühl der Zugehörigkeit, was ich von meiner Familie nie bekommen hatte.

Auf eine perverse Weise fand ich Hoffnung auf der dunklen Seite, am Rand. Mit Drogen gab es immer die Hoffnung, sich anders zu fühlen, sich besser zu fühlen, sich vielleicht gut zu fühlen, wenn ich Glück hatte.

Irgendwie überlebte ich und ging auf ein zwanzig Meilen entferntes staatliches College. Ich langweilte mich und hatte Angst und war wieder schüchtern. Ein Freund schickte mir etwas LSD. Es war erschreckend, aber ich war neugierig auf die veränderte Wahrnehmung. Unfähig, mit den Leuten um mich herum in Beziehung zu treten, durchlitt ich den Rest des Trips allein in meinem Zimmer. Meine Gedanken rasten; ich war entsetzt und dachte, es würde nie vergehen. Danach hatte ich einige Schwierigkeiten mit der Schule. Endlich fand ich andere Leute, die auch Drogen nahmen, andere Künstler, und freundete mich mit ihnen an.

Nach diesem Jahr fiel ich auseinander. Meine Familie zerbrach, mein Freund ging zur Navy, um nicht nach Vietnam eingezogen zu werden, und ich landete ratlos und allein in Boston. Ich wurde total entfremdet und schloß mich der Subkultur der Drogen an. Mein Leben drehte sich um die Beschaffung von Drogen.  

Ich entdeckte das Spritzen mit der Nadel. Ich liebte es. Es war erotisch und befriedigend. Der Strom, wenn die Drogen in mein System eindrangen, war elektrisch, reinste Ekstase. Ich spritzte Methedrin und manchmal Heroin. Ich liebte den Rush von Methedrin, aber wenn er nachließ, war es schwierig, und manchmal hatte ich leichte, vorübergehende Psychosen mit Halluzinationen und Paranoia. 

Trotzdem tat ich es weiter, nur wegen dieser ersten Empfindung. Heroin war am besten, ein totales Wohlgefühl. Ich nahm auch Acid, obwohl ich mich dadurch entfremdet fühlte. Ich hatte immer das Gefühl, den Leuten um mich nicht trauen zu können und wachsam sein zu müssen, bis auf einmal. Halluzinogene vergrößerten im Grunde meine Ängste, aber ich nahm sie trotzdem weiter.

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Ungefähr sechs Monate lang lebte ich so, dann kehrte ich zur Schule zurück und machte sogar meinen Abschluß, wenn ich auch glaube, daß mein Nerven­system leicht geschädigt war. Ich hatte oft Kopfschmerzen und fing an, Angstsymptome zu zeigen.

Nach dem College durchlebte ich ein Stadium, in dem ich Alkohol und Barbiturate zusammen benutzte. Während ich diese verschiedenen Perioden durchlief, veränderte ich auch meine Persönlichkeit. Alles, um nicht ich selbst sein zu müssen. Ich selbst war ein kleines Mädchen, ängstlich und allein. Diesmal war ich eine Art Sally Bowles aus <Cabaret>, die ein dekadentes Leben führte. Ich trug schrille Kleider aus Altwarenläden und trieb mich mit schwulen Männern herum. Ich konnte ausgehen und all die abenteuerlichen Dinge tun, vor denen mein ängstliches, schüchternes Ich sich fürchtete. Ich hörte auf, als mir klar wurde, daß ich daran sterben könnte. Außerdem habe ich den Überlebensmechanismus, mich schnell zu langweilen, und bleibe deshalb nie lange in einem Stadium.

Dann kam eine Periode, in der ich verschriebenes Valium und Darvon gegen die Angst und die Kopfschmerzen nahm. Ich hörte selbst abrupt damit auf und ging auf Entzug, als ich merkte, daß ich abhängig wurde.

Die letzte Drogenperiode hatte ich mit 30. Ich verbrachte einen Winter in Key West. Ich nahm eine Kombination aus Kokain und dem Quaalud, das es auf der Insel so reichlich gab. Das waren die Drogen, bei denen ich mich am wohlsten fühlte. Ich hörte auf, als ich in den Norden zurückkehrte. Ich wollte erwachsen werden, wußte aber nicht, wie ich das anstellen sollte. Das ist eines der Dinge, die mich schließlich in die Therapie brachten.

Für mich war der Drogenkonsum mit der Suche nach einem Zugehörigkeitsgefühl verbunden, zusammen mit einer Art Selbst­behandlung gegen Depression und Angst. Jedesmal bestand die Hoffnung, Mitglied einer Gruppe zu sein, würde mir eine Identität geben, so daß ich mich nicht so ängstlich und allein fühlte. Jedesmal, wenn ich sah, daß es nicht funktionierte, ging ich anderswohin.

In der Therapie geht fast jedes Gefühl auf das Gefühl von Angst und Einsamkeit zurück. Ich glaube, ich wurde als Baby viel allein gelassen. Ich lernte nie, mit anderen Leuten in Beziehung zu treten und mich wohl zu fühlen. Meine Mutter war angespannt, ängstlich und wütend. Dieser Mangel an angemessener Kommunikation und Stimulierung in entscheidenden Entwicklungsstadien hat dazu geführt, daß ich mein ganzes Leben lang äußerstes psychisches und physisches Unbehagen empfunden habe. Die Drogen waren ein Versuch, in Verbindung zu treten und mich als Teil von etwas zu fühlen, eine Erfahrung zu teilen, etwas, das ich bei meiner Mutter nie gefühlt habe. Und auch eine Art, die unangenehmen Empfindungen zu lindern, die diese Gefühle mir körperlich verursachten, die Spannung und die Angst.

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Wenn in der Therapie die Gefühle von Entfremdung und Furcht hochkommen, kann ich zum erstenmal wirklich zulassen, daß ich sie fühle. Ich brauche nicht nach Drogen und dekadenten Freunden zu suchen, um die überwältigenden Emotionen und Empfindungen zu binden und zu rationalisieren. Ich sehe auch, daß die Menschen, zu denen es mich hinzog, mich nur noch ängstlicher und einsamer machten. Das wichtigste von allem war, daß die Drogen Hoffnung darstellten. Jedesmal gab es die Hoffnung, mich für eine Weile besser zu fühlen. Jetzt, da ich endlich das Gefühl der Hoffnungslosigkeit zulasse, kann ich von dem Karussell abspringen. Ich kann verwundbar und real sein und endlich aus dem ängstlichen und einsamen kleinen Mädchen herauswachsen, das meine Mutter verachtete, und zu einer Erwachsenen werden, deren Leben sich in der gegenwärtigen Realität abspielt.«

 

 

   Michelle  

 

»Zum erstenmal nahm ich mit achtzehn Jahren 1969 in Paris Drogen. Ich war in der jüdischen Tradition und Atmosphäre aufgezogen worden, obwohl meine Familie ihre Religion nicht streng praktizierte. Dieses Milieu war aber in vieler Hinsicht trotzdem stark repressiv. Ich hatte ein paar Monate vor dem ersten Drogenkonsum einen Selbsttötungsversuch unternommen und wäre beinahe gestorben. Kurz nach diesem Versuch, unfähig, den Druck zu Hause zu ertragen, ging ich fort. Ich führte ein unruhiges Leben in einem Paris, das noch von den Auswirkungen der <Ereignisse> im Mai 1968 brodelte — dem berühmten Studentenaufstand, der die französische Gesellschaft bis in den Kern erschütterte.

Dieser Aufruhr stellte die verspätete und explosive Ankunft der ganz anderen Jugendkultur aus dem Amerika der fünfziger Jahre in Frankreich dar, der Kultur der Beat-Generation und des Aufkommens des Rock and Roll. Die enge und patriarchalische Strenge des französischen Familienlebens und Erziehungs­systems wurden gesprengt. Die Kennzeichen dieser >Gegenkultur< waren extremistische Politik, Rock and Roll, sexuelle Freizügigkeit, Experimente zur >Bewußtseinserweiterung<, etwa durch Drogen, und eine Heraus­forderung aller Werte des >Establishments<. Meine inneren Konflikte und Strebungen wurden in der Stimmung und den Umständen der Zeit genau widergespiegelt.

Warum habe ich Drogen genommen?

Mein ursprünglicher Impuls, Drogen zu nehmen, ging auf deren verbotenen Status zurück sowie auf den Wunsch, meine persönliche Identität herzustellen, die radikal verschieden war von der unakzeptierbaren Realität meiner Eltern und aller >Autoritätspersonen<. Gleichzeitig war dies das einzige Mittel, ein Band zu Menschen meines eigenen Alters herzustellen.

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Der Wunsch nach Freiheit bedeutete für mich, dem Gefängnis meiner Hemmungen zu entkommen. Ich hatte es verzweifelt nötig loszulassen, mich schön, liebenswert, akzeptabel, erwünscht zu fühlen, meine lähmenden Gefühle körperlicher Unzuläng­lichkeit zu überwinden, die von einem Leben voller Kritik, schlechter Behandlung und mangelnder Wertschätzung geprägt waren... Ich war gefangen zwischen dem Bedürfnis, Männern emotional nahe zu sein, und der Angst davor, ihnen physisch und sexuell nahe zu sein. Leider schien es zur damaligen Zeit unvorstellbar, daß Männer meine Freunde sein konnten, wenn ich nicht mit ihnen ins Bett ging.

Um mich nicht selbst zu einem Zustand totaler Isolation zu verurteilen, um die Welt emotionaler Beziehungen zu erforschen, mußte ich diesen Schrecken beseitigen. Drogen schienen die Antwort zu sein, vor allem nachdem ich einen Film gesehen hatte, der das Leben junger Menschen auf einer Mittelmeerinsel schilderte; die Sonne, die Naturschönheit, der entspannte Ort, die Musik, verwoben mit der emotionalen und sexuellen Leichtigkeit und Intimität, fühlten sich an wie ein verwirklichter Traum. Die Anwesenheit von Drogen als Schlüsselelement ist im Film dargestellt, um ihre potentiell tragischen Wirkungen zu betonen (Tod durch Überdosis). Ich jedoch, und das ist von entscheidender Bedeutung, war nicht nur von den Drogen als Eingangstür zu einem solchen Lebensstil angezogen, sondern auch von Drogen als Tor zur Leidenschaft und Gefahr.

Was passierte, als ich Drogen nahm?

Ich konsumierte über eine Periode von zwei Jahren Haschisch und Marihuana, und zwar mittels ein bis fünf Joints pro Tag, zuerst nur mit Freunden, später auch allein.

Als ich zum erstenmal etwas rauchte, war mir binnen Minuten überaus übel — ich hatte das Gefühl, mein Magen werde von innen nach außen gestülpt. Die Heftigkeit meiner körperlichen Reaktion machte mir angst. Ich legte mich hin, und der Anblick meines Freundes begann, halluzinatorisch zu werden; sein Gesicht verwandelte sich langsam in das eines pelzigen Ungeheuers, das wild und gefährlich aussah.

Warum nahm ich angesichts so verstörender Auswirkungen weiterhin Drogen? Der Grund zwingt mich, mehrere Jahre zurückzugehen. Eine meiner stärksten Phantasien in den mittleren Teenagerjahren war der Wunsch, verrückt zu werden. Ich sah das wirklich als zukünftiges Ziel an. Mein direktes Bewußtsein davon wurde wieder durch einen Film ausgelöst. In dieser Geschichte führte beruflicher Ehrgeiz einen Journalisten dazu, sich als geisteskrank auszugeben, um inkognito in ein psychiatrisches Krankenhaus zu kommen. Infolge seiner Erfahrung dort wird er wirklich verrückt und zum unheilbaren Katatoniker.

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In der Schlußszene zeigt seine Freundin die tiefe Liebe, die sie zu ihm empfindet, und versucht so, ihn ins Leben zurückzuholen, doch vergeblich. In meiner Phantasie war ich dieser Mann und meine Mutter die Liebende, die mir soviel Liebe zeigte und sich dafür so verzweifelt meine Liebe wünschte.

Ängstlich oder nicht, Drogen konnten mich vielleicht verrückt machen, und darum liebte ich sie. Also machte ich weiter. Als ich tiefer unter ihren Einfluß geriet, erfolgte eine subtile Veränderung. Zuerst genoß ich den Vorwand, >verrückt< zu sein, indem ich >verrückte< Visionen erzeugte, die ich willentlich stoppen konnte; ich experimentierte und machte die Welt glauben, ich sei verrückt. Genau wie der Journalist aber fing ich an, die Kontrolle zu verlieren. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, selbst der Erzeuger meiner Halluzinationen zu sein, sondern wurde ihr >Opfer<. Eines Tages lag ich auf dem Bett, schaute nach unten auf den Boden und sah mich dort in einer Blutlache liegen. Ich flippte vollkommen aus, weil ich nicht mehr wußte, ob >ich< diejenige auf dem Bett war oder die, die auf dem Fußboden verblutete.

Ein weiterer Effekt der Drogen waren psychotische Episoden. Ich bekam schreckliche Angst vor Glasscherben, Gabeln, Messern, Scheren, allen spitzen Gegenständen, denn ich gab ihnen ein Eigenleben und die Macht und den Wunsch, mir zu schaden. Ich hatte auch das Gefühl, meine Hände hätten einen eigenen Willen und die Fähigkeit, mich zu verletzen, etwa, indem sie ein Messer ergriffen und mich umbrachten. Ich hatte Angst einzuschlafen, überzeugt, wenn >ich< bewußtlos und ungeschützt sei, werde mein Körper als mein anderes >Ich< die Macht übernehmen, aufstehen und mich umbringen.

Ich fühlte mich gezwungen, Akte und Rituale der Beschützung auszuführen. Jedes Eindringen >gefährlicher< Elemente — beispielsweise eine zerbrochene Flasche auf der anderen Straßenseite — konnte den gleichen Schrecken auslösen. Das waren psychotische Episoden, die zeitweise wieder aufhörten.

Was meine physische Reaktion auf den regelmäßigen Drogenkonsum betrifft, so gehörten dazu ständige Angst, manchmal Zittern, oft aufgrund verstärkten Herzklopfens, Gefühle des Erstickens und eine Unfähigkeit zu essen.

Ich bezahlte eindeutig einen hohen Preis — aber ich erreichte auch Durchbrüche. Ich war nicht mehr so extrem verlegen, fühlte mich nicht mehr so unzulänglich, ungeliebt etc. Ich war fähig, normalen Sex wirklich zu genießen. Außerdem war ich weder in meinen Gefühlen noch in der Realität den jungen Männern und Frauen der Gruppe entfremdet, mit denen ich mich identifizierte. Oft fühlte ich mich oberhalb der Welt, als würde mein Leben auf einer riesigen Leinwand gespielt, wo jeder mich und meinen Schmerz sehen konnte. Unbewußt hatte ich den Platz der Filmheldin übernommen und stellte mir vor, ich sei schön, liebenswert und nicht mehr allein.

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Noch auf eine andere Weise erinnerte mein Leben an die Phantasiewelt der Mittelmeerstrände: Ich arbeitete nicht und fühlte mich in gewisser Weise immun gegen die Sorgen und Vorurteile der materiellen Existenz und ihrer Zwänge.

Warum habe ich mit den Drogen aufgehört?

Gegen Ende des zweiten Jahres ging ich mit Freunden nach Amsterdam, um die legale Freiheit des Drogenkonsums zu genießen. Eines Abends brachte jemand von uns Drogen von einem Fremden mit, und ehe ich mich versah, befand ich mich, statt Haschisch zu rauchen, unter dem Einfluß von etwas ganz anderem (dessen genaue Natur ich noch immer nicht kenne). Binnen Sekunden spürte ich einen heftigen Schlag gegen den Magen, und mein Herz fühlte sich an, als werde es explodieren. Panische Angst - heftiger als alles, das ich je erlebt hatte. Ich verbrachte die längste Nacht meines Lebens, auf einem Bett zusammengerollt oder in einem Zustand hektischer Erregung umhergehend, und betete, mein Herz möge nicht platzen, mein Körper die Kontrolle zurückgewinnen, diese alptraumhafte Erfahrung möge aufhören. 

Nach einer Nacht, die hundert Jahre zu dauern schien und die ich in äußerstem Entsetzen zubrachte, ließ die Wirkung der Droge nach, und ich gelobte, nie, nie wieder Drogen zu nehmen. Diesmal war die Angst vor der Droge zur machtvollsten Kraft geworden. Die tatsächliche Konfrontation mit der Todesangst hatte die Anziehungskraft der Gefahrphantasien und der <Schneide der Rasierklinge> ausgelöscht.

Was passierte, nachdem ich aufgehört hatte?

Binnen vierundzwanzig Stunden nach dem Aufgeben des Drogenkonsums erlebte ich den allerersten meiner sogenannten >Panikanfälle<. Er machte mir schreckliche Angst, aber zuerst dachte ich, ich litte einfach unter Entzugssymptomen. Als die Monate und Jahre vergingen, fühlte sich die Panik eher wie ein endloses Wiedererleben der Amsterdamer Episode an.

Ich hatte schreckliche Angst, durch das, was ich aß, vergiftet zu werden. Binnen kurzer Zeit jedoch sah es so aus, als könne alles mögliche die Panik auslösen - so schnell und aus dem Nirgendwo, daß es mir unmöglich war, einen Auslöser zu identifizieren.

Die physischen Symptome meiner Panikanfälle sind extrem beschleunigter Herzschlag, was mit Todesangst, Atemnot, Erstickungs­gefühlen und einer Erstarrungsreaktion einhergeht, um den Herzschlag zu kontrollieren ; das bringt keine Erleichterung und führt deshalb zu einer panischen Suche nach Hilfe - sofortiges Aufsuchen einer Krankenhaus-Notaufnahme etc.

Ehe ich in die Primärtherapie kam, gingen die Panikanfälle mit Unterbrechungen jahrelang weiter. Ihre Häufigkeit, Intensität und der Zeitpunkt, zu dem sie auftraten, waren unkontrollierbar, ihr Ursprung war mir vollkommen rätselhaft.

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Selbst heute, zwanzig Jahre nach Amsterdam, bin ich noch immer nicht fähig, sie ein für alle Male abzustellen, obwohl ihre zerstörerischen Auswirkungen von der Therapie gemildert und ich näher daran bin, ihre wirkliche Natur zu verstehen oder intuitiv zu erfassen. In den Jahren nach Amsterdam, vor der Therapie, waren sie ein ständiges, gegenwärtiges oder latentes, Hindernis für mein normales Funktionieren in der >Außenwelt<.

 

Meine primärtherapeutische Sicht

Seit dem Eintritt in die Therapie mit siebenundzwanzig Jahren habe ich viele traumatische Episoden meines frühen Lebens wieder­erlebt und mit den Mustern meiner Neurose in Verbindung gebracht. Ich möchte die so gewonnenen Einsichten nutzen, um einen kurzen Überblick über meine Neurose aus primärtherapeutischer Sicht zu geben. Dazu muß ich einen langen Rückweg antreten.

Vom Alter vom neun Monaten bis sechseinhalb Jahren lebte ich in Pflegeheimen. In der zweiten Hälfte dieser Zeitspanne wurde ich durch tägliche Schläge, Erniedrigung, verweigerte Erfüllung vieler grundlegender physischer Bedürfnisse terrorisiert — Schlaf, Flüssigkeitszufuhr, Benutzung des Badezimmers. Während der letzten und schlimmsten Periode wurde ich von dem Pflegevater sexuell mißbraucht, während das Verhalten seiner Frau nicht nur absichtlich, sondern, was schlimmer war, auch unvorhersehbar sadistisch war. Das einzige Mittel, das mir zur Verfügung stand, um den Schmerz zu begrenzen, bestand darin, mich zu verstecken — und, wenn ich mich nicht verstecken konnte, völlige Gleichgültigkeit gegen ihre Angriffe zu spielen. Ich durfte weder Schmerz noch Angst zeigen, weil das nur weitere Gewalt provozierte.

Als ich wieder zu meiner Mutter und meinem Stiefvater zurückkam, äußerte sich das verdrängte Entsetzen zunächst in Alpträumen und Schlaflosigkeit (Ungeheuer unter dem Bett etc.). Zwei Jahre später, als mein Halbbruder geboren wurde, hatte ich schreckliche Angst vor meinem Stiefvater, dessen Verhalten immer strenger und gelegentlich sadistisch wurde. Meine Mutter beschützte mich nicht, half mir nicht, gab mir keinen Trost. Dies reproduzierte das Gefühl aus der Pflegefamilie — sie war nicht da, alles konnte mir passieren.

Als ich ein Teenager war, wurde meine Beziehung zu meinem Stiefvater nicht besser. Während dieser Zeit agierte ich aus, indem ich auf verschiedene Arten >gefährlich lebte< (halsbrecherische Dinge tat). Auch hatte ich wiederkehrende entsetzliche Alpträume, deren Hauptthemen Situationen auf Leben und Tod, überraschende Angriffe und die Gleichgültigkeit der ganzen Welt waren.

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Während meiner ganzen Kindheit, von den ersten Jahren an, trieb es mich unbewußt in die Nähe des Todes, um Liebe zu bekommen. Als Vierjährige schluckte ich Bonbonpapiere, um zu sterben (in Wirklichkeit, um meine Mutter zu mir zu rufen), als Fünfzehnjährige nahm ich Äther und aß nicht, und so agierte ich immer wieder das gleiche Szenario aus. Als ich mit achtzehn einen Selbsttötungsversuch unternahm, konnte ich nicht meine Mutter rufen, die in Hörweite war, weil ich das Gefühl brauchte, daß sie zu mir kam (vergleichen Sie das mit der Freundin des Journalisten).

Als ich von zu Hause fortging, schuf ich mir ein ganzes Leben voller Gefahr — elternlos, heimatlos, ohne Geld etc. Der Drogen­konsum scheint mir eine weitere Episode dieser Abfolge zu sein (ein weiterer Fall von gefährlichem Leben). In seinen letzten Konsequenzen sollte er jedoch etwas ganz anderes sein. In Primärbegriffen gesprochen, ist es leicht, in den Halluzinationen, den psychotischen Episoden zu sehen, was jetzt stattfand: Mein Abwehrsystem war erschüttert. Mein Instinkt, Drogen zu nehmen, um die Barrieren meiner Hemmungen zu durchbrechen (in bezug auf sexuellen Kontakt und emotionale Nähe), hatte die unvorhergesehene Folge, mich für den >alten< Schrecken zu öffnen. 

Drogen hatten mein Schleusensystem zerstört, das bei mir ohnehin nie vollentwickelt gewesen war. Indem ich die Körperchemie veränderte und Botschaften durch zuvor verschlossene Kanäle fließen ließ, brachte ich die Erinnerung an die Kindheits­schrecken plötzlich nahe an mein Bewußtsein. Um die Abwehr gegen den Schmerz aufrechtzuerhalten, schuf das Gehirn angsterregende Szenen, die dieses Entsetzen in symbolischer Form ausdrückten.

Das Gefühl, gespalten zu sein, scheint wie eine letzte Abwehr, um die Erinnerung, die in Gehirn und Körper eingeprägt ist, daran zu hindern, das Bewußtsein zu erreichen. Der Eindruck, zwei Personen zu sein, entspricht dem realen Selbst, das sich zu erinnern versucht, während das neurotische Selbst, das Gefahr wittert, zu verdrängen und die Kontrolle über die Situation zu behalten versucht.

Nachdem meine Abwehrmechanismen einmal zerstört waren, blieben sie so; die Panikanfälle, durch das Aufgeben des Drogen­konsums ausgelöst, sind nur in den Begriffen dieses wehrlosen Zustandes zu verstehen. Eine sehr neue Einsicht sieht in diesen Panikanfällen gleichzeitig die Erinnerung an Kindheitsschrecken und die perfekte Verdrängung gegen deren Erinnerung, also gegen die Bewußtwerdung der Vergangenheit. Indem das Gefühl extremer Gefahr in der Gegenwart ständig wieder durchgespielt und wiedererlebt wird, besteht keine Notwendigkeit mehr, daß ich es ausagiere. Meine Panikattacke ist ein Zustand, in dem alle Abwehrmechanismen beseitigt sind; sie fühlt sich an, als erinnere sich der Körper, reagiere voll auf die alte Situation, doch es gibt keine bewußte Verbindung in der Gegenwart. Diese Trennung zwischen Körper und <Psyche> erzeugt die Panik.

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Ich habe die Panikanfälle als perfekte Abwehr gegen den <alten> Schrecken identifiziert. Angesichts meines hohen Schmerzpegels mag die Abfolge — Drogenkonsum, Zusammenbruch der Abwehr, Panikanfälle — mir mit Hilfe der Primärtherapie tatsächlich einen Weg zur Heilung gewiesen haben. Wenn ich die panische Angst weiterhin ausagiert hätte, hätte ich logischerweise eine von zwei Möglichkeiten ergriffen: meine halsbrecherischen Abenteuer fortzusetzen (ich fühlte mich wirklich hingezogen zu Autorennen, gefährlichen Berufen wie Spionin, Detektiv) und mich vermutlich >per Unfall< umzubringen. Oder ich wäre klassische Gitarristin geworden (ich war äußerst begabt und motiviert, bis mein Stiefvater mir diese Möglichkeit versperrte). Ich nehme an, ich wäre gehemmt, scheu und zurückgezogen geblieben, hätte meine Energie darauf konzentriert, berühmt zu werden, und wäre vermutlich an Krebs gestorben, während ich darum kämpfte, bekannt, anerkannt und <geliebt> zu werden.«

 

    Howard    

 

»Ich nahm von 1969 bis 1984 Drogen. Ich wechselte von Pot zu Alkohol, zu Beruhigungsmitteln, zu Acid, Opium, Aufputsch­mitteln und zu Kokain. Die einzigen Konstanten in meinem Leben waren meine Angst und meine Einsamkeit. Ich komme aus einer repressiven Familie mit einem brutalen Vater, der mich nie sah, und einer Mutter, die nie da war. Damals schien es offenkundig, daß mein Drogenkonsum eine Reaktion auf meine frühe Umgebung war. Daß ich das Problem begriff, hatte allerdings keinerlei Einfluß auf meinen Drogenkonsum.  

Ich haßte den Geschmack von Alkohol, haßte das Gefühl, das ich bekam, wenn ich Beruhigungsmittel nahm, wurde von Pot und Acid verrückt und haßte die körperliche Reaktion auf Aufputschmittel und Kokain. Trotzdem nahm ich alles in den seltsamsten Kombinationen während eines Drittels meines Lebens weiter ein. Ich hatte die Kontrolle verloren, aber irgendwie das Gefühl, als versuche ich, sie zurückzugewinnen.

Von meiner Mutter weiß ich eine Menge Details über meine Geburt. Sie war im White Cross Hospital in Columbus, Ohio, zur regelmäßigen Untersuchung im neunten Monat. Auf dem Weg nach draußen stolperte sie, fiel flach auf Gesicht und Bauch, und dadurch ging das Fruchtwasser ab, und die Wehen begannen. Sie wurde sofort in den Kreißsaal gebracht und in <Dämmer­schlaf> versetzt — eine Art halber Bewußt­losigkeit. Fast unmittelbar danach hörten die Kontraktionen auf, und nach einigen Stunden sagte man ihr, es habe sich um <falsche Wehen> gehandelt, und sie wurde nach Hause geschickt. Einen Tag später hatten die Medikamente ihre Wirkung verloren, und die Kontraktionen begannen von neuem. Weniger als eine Stunde danach wurde ich geboren.

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Das Muster meiner Geburt wurde zum Muster meines Lebens. Ich begann Pläne, durchlief lange Perioden der Untätigkeit, in denen ich das Gefühl hatte, auf etwas zu warten, das ich nicht identifizieren konnte (außer insoweit, daß ich Hilfe brauchte, aber fühlte, daß sie nie kommen würde), und steckte dann alles, was ich hatte, in eine große Anstrengung am Schluß, wenn keine Zeit mehr war. Ich bin physisch immer schwach gewesen, weil ich das Gefühl hatte, die Energie nicht aufrechterhalten zu können, die zu körperlicher Anstrengung nötig war, aber ich steckte alles, was ich hatte, in das, was ich tat, wenn ich den Eindruck hatte, daß es am meisten zählte.

Der andere Aspekt meiner Geburt trat in meinem Drogenkonsum zutage. Ich begann zu trinken, kaum daß ich die High-School abgeschlossen hatte. Ich konnte mich in einen dumpfen Zustand trinken, in dem ich keinen Schmerz fühlte, mich selbst aber am Rande des Lebendigseins empfand. Ich haßte den Geschmack von Alkohol, also trank ich das Stärkste, was ich finden konnte, und wenn ich zuviel getrunken hatte, war ich unfähig, aufzuhören und mich auszuruhen. Ich pflegte durch die Straßen zu wandern, kaum imstande, mich aufrecht zu halten, bis ich zu erschöpft war, um weiterzugehen, und bewußtlos umfiel, wo ich gerade war. Beruhigungsmittel wie Quaalud nahm ich mit der gleichen Wirkung. Ich kann das Gefühl nur als ein Empfinden von herannahendem Verhängnis beschreiben — ich wußte, wenn ich aufhörte, würde etwas Schreckliches passieren.

Ich fing gleich nach dem Beginn des Trinkens mit dem Rauchen von Pot an, und etwa ein Jahr später nahm ich dann LSD. Ich begann, die Drogen gegeneinander auszuspielen, und mein Leben wurde zu einem Balanceakt, bei dem ich die Hochs gegen die Tiefs ausspielte und nach dem vollkommenen Zustand suchte, in dem ich mich fühlen konnte, als existiere ich wirklich; ich erreichte ihn aber immer nur vorübergehend.

1973 zog ich nach Portland, Oregon, und gab das starke Trinken und die Einnahme von Beruhigungsmitteln auf. Ich rauchte weiter Pot, aber nur gelegentlich, abwechselnd mit Zigaretten, womit ich mit dreiundzwanzig Jahren gleich mit drei Päckchen täglich begann

Dann entdeckte ich Aufputsch­mittel. Damit fühlte ich mich lebendig; ich hatte Energie zu verbrennen; meine Lethargie war weg; meine Verzweiflung verschwand. Als mein Körper sich an die Aufputschmittel gewöhnte, erhöhte ich die Dosis, bis ich zwei- bis dreihundert Stück in der Woche nahm, nur um mich im Gleichgewicht zu halten. Ich hörte erst damit auf, nachdem ich mehrere Niereninfektionen hatte, die mir genug Angst machten, um darüber nachzu­denken, was ich mir da antat.

Ein Jahr vor meinem Eintritt in die Therapie entdeckte ich Kokain. Koks gab mir einen sofortigen Pusch, der mir das Gefühl vermittelte, lebendig zu sein, und dann kam der ständige Kampf, dieses Gefühl zurückzugewinnen, ehe die Verzweiflung mich überwältigen konnte.

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Ich fühlte mich hilflos in allem außer dieser <Linie>, wo ich im Hinterkopf die Hoffnung hatte, diesmal würde es anders sein, und ich würde es schaffen — ich würde gewinnen. Ich gab in sechs Monaten sechstausend Dollar aus. Ich hatte einen unregelmäßigen Herzschlag und einen ständigen Druck auf der Brust, der sich anfühlte, als würde ich jede Sekunde sterben, aber ich konnte nicht aufhören. An dem Tag, an dem ich in die Therapie aufgenommen wurde, gab ich unter kaltem Entzug alles auf.

Was ich heute verstehe, ist, daß mein Drogenmißbrauch ein Weg war, meine Geburt und eine Reaktion dagegen wieder­zuerschaffen. Ich schuf Analogien des medikamentösen Dämmerschlafs bei meiner Geburt und versuchte dann, mir einen anderen Ausgang zu geben. Ich komme jetzt in meinen Urerlebnissen auf diese Gefühle zurück, denn während ich dies lese, muß ich weinen, weil die Umstände meines Drogenmiß­brauchs genau dieselben Gefühle sind wie bei meiner Geburt und weil eines das andere auslöst. Wenn ich die Taubheit kommen fühle, die mich im Mutterschoß umgab, bekomme ich den Drang, Aufputschmittel zu nehmen. Wenn ich in einem Primärerlebnis die Betäubung und die Atemnot und das Empfinden meines bevorstehenden Todes fühle, verschwindet der Drang. Die Primärtherapie tut das, was die Drogen nie leisten konnten — sie verändert mein Leben.«

 

    Polyzystische Ovarialerkrankung und früher Schmerz   

  Leslie  

 

»Die Definition polyzystischer Ovarialerkrankung ist eine Form chronischer Anovulation, verbunden mit Hirsutismus, Fettleibigkeit und beiderseitig polyzystischen Ovarien. Der Beginn der chronischen Anovulation geht oft auf die Pubertät und/oder das Eintreten einer ausgeprägten Gewichtszunahme zurück.

In meinem Fall begann die Menstruation schon mit elf Jahren und war nie regelmäßig. Mein ganzes Leben lang habe ich mit Übergewicht gekämpft. Mein Körpergewicht war normal bis etwa zum Alter von vier Jahren. In dieser Zeit belästigte mein Vater mich regelmäßig. Ich wandte mich dem Essen als einziger Sache in meiner Umgebung zu, über die ich die Kontrolle hatte.

Mit der Primärtherapie begann ich im Januar 1979 im Institut. Meine Perioden waren während der ganzen Zeit, die ich dort Patientin war, unregelmäßig. Ich habe in den letzten elf Jahren nicht kontinuierlich über meine Menstruation Buch geführt, aber mein Tagebuch deutet darauf hin, daß meine Perioden aufhörten, wenn ich nicht in die Gruppe ging oder <fühlte>.

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Bei einem Tagebucheintrag im November 1981 hatte ich seit Juni 1981 nicht mehr gefühlt; ich hatte zwei Gefühle, eines mit der Belästigung durch meinen Vater verbunden, das andere damit, daß ich meine Mutter bat, mir zu helfen. In der folgenden Nacht nach diesen beiden Gefühlen hatte ich den Traum, ich hätte ein Baby. Am nächsten Tag bekam ich zum erstenmal seit 151 Tagen meine Periode. Im Juni hatte ich zuletzt ein Gefühl und eine Periode gehabt.

Im August 1988 hörte ich wieder mit der Therapie auf. Damals nahm ich Antibabypillen und hatte künstliche Perioden. Im März 1989 hörte ich mit den Pillen auf. Danach hatte ich im Juli 1989 eine Periode. Ich leistete keine >Gefühlsarbeit< mehr und machte auch keine Primärtherapie, bis ich im Oktober 1990 in das Primal Training Center zurückkehrte. Im Juli 1990 ging ich zu einem Spezialisten für Unfruchtbarkeit, und er diagnostizierte die polyzystische Ovarialerkrankung. Ich hatte damals seit mehr als einem Jahr keine Periode mehr gehabt und war schon seit über zwei Jahren nicht mehr in Therapie. Ich verdrängte total, und mein Körper ließ einen sehr natürlichen Prozeß nicht mehr zu. Ich verweigerte die traditionelle Behandlung gegen Unfruchtbarkeit mit Medikamenten, die hauptsächlich Hormone sind.

Ich begann, in Gruppen zu gehen, und hatte im November 1990 wieder Sitzungen. Meine erste Sitzung war voller Geburts­gefühle; ich kam herein und sagte, ich fühle mich unverbunden und außerhalb meines Körpers. Das Gefühl ging über in ein Gefühl der ersten Linie, das besagte: <Ich werde es nicht schaffen.>

In der nächsten Sitzung wurde das Gefühl ausgelöst durch das Gefühl, ich brauchte den Therapeuten, damit er mir half, das Gefühl durchzustehen. Ich ging in die Gruppe und spürte mehr von diesem Gefühl, wenn mir niemand helfen würde, das Gefühl auszuhalten und wieder herauszukommen, würde ich sterben.

Am 5. Dezember habe ich eine weitere Sitzung, und das Gefühl ist, daß ich es nicht schaffen werde. Ich muß wissen, daß mein Therapeut da sein und mich nicht im Stich lassen wird. Das Gefühl ging weiter zu dem Fühlen des intensiven Bedürfnisses nach meiner Mutter. Ich fühlte, daß ich ohne sie sterben würde und daß mein Leben von ihr abhing. Das Gefühl war >so groß wie ich<, >mein ganzer Körper< - ich konnte spüren, daß jede Zelle meines Körpers sie wollte und ihre Berührung brauchte. Mein Weinen (ohne Tränen) war verzweifelt und hoffnungslos. Ich fühlte, daß ich nicht alles fühlen konnte, und ging wieder aus dem Gefühl heraus.

In der Gruppe am 8. Dezember fühlte ich mehr von dem Gefühl, daß ich jemanden brauchte, der mich berührte (mich hielt), damit ich mit meinem Körper in Verbindung treten konnte. Ich kam ohne Verbindung zu meinem Körper zur Welt, dumpf, weil meine Mutter während meiner Geburt unter Medikamenten stand. Ich brauchte und wünschte mir jemanden, der mich berührte, damit ich meinen Körper fühlen konnte.

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Die Einsicht daraus war, daß ich nie fähig war, mich meinem Körper anzuvertrauen, weil ich losgelöst von meinem Körper zur Welt kam. Ich wurde dumpf geboren. Ich kann meinen Körper wirklich nicht fühlen. Wie kann ich da erwarten, mich etwas (meinem Körper) anzuvertrauen, das ich nicht fühlen kann und nie fühlen konnte?

Am 9. Dezember träumte ich wieder davon, ein Baby zu haben. Ich habe eine Schmierblutung, Hinweis auf eine Periode. Am 10. Dezember begann nach siebzehn Monaten wieder meine Periode. Das Aussetzen der Perioden ist eindeutig mit Schmerz auf der ersten Linie und seiner Verdrängung verbunden. Ich konnte für den Rest des Monats und auch zu Anfang des Januar nichts mehr fühlen. In diesem Monat hatte ich keine Periode. Am 30. Januar in der Sitzung Urerlebnisse, die sich um die zweite und dritte Linie des Gefühls drehen, daß man mich leiden ließ. Am 1. Februar eine weitere Sitzung. Das Gefühl ist: >Ich werde es nicht schaffen.< Niemand sieht, wie ich leide. Ich fühle mich, als würde ich sterben. Das Gefühl ist, daß man mich als unordentliches Häufchen zurückließ, weil ich irgendwie beschädigt bin. Ich glaube, mit mir stimmt etwas nicht. Am 2. Februar war ich in der Gruppe noch immer in den Geburtsgefühlen, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr herauszukommen; es dauerte ewig.

Meine Periode setzte am 4. Februar mit den Geburtsgefühlen ein, die sich ins Bewußtsein drängten. Ich wachte zerbrechlich und wund auf, als würde ich den Tag nicht überstehen und es (mich) zusammenhalten können. Ich kenne nicht die spezifischen Verbindungen zwischen Schmerz der ersten Linie und Amenorrhöe, aber in meinem Falle gehören die beiden eindeutig zusammen.

 

   Ich, Drogen und die Primärtherapie   

 

Im Alter von neun Jahren begann ich, Alkohol und Pot zu konsumieren. Da war ich zum erstenmal high. Ich schnüffelte damals auch Benzin und Lösungsmittel. Mit zwölf, dreizehn Jahren fing ich an, diese Substanzen regelmäßig zu benutzen. In der Junior-High-School begann ich, Zigaretten und Pot zu rauchen. Ich rauchte Pot, so oft ich konnte, häufig auf dem Schulweg, beim Mittagessen und dann nach der Schule. Ich funktionierte in der Schule, wenn ich high war, und ging in den Algebrakurs, wenn ich Pot geraucht hatte. Ich fing während dieser Zeit auch an, andere Drogen auszuprobieren, LSD, Quaalud und PCP. LSD nahm ich nur dreimal; Pilze waren mir lieber. Auch PCP habe ich nur einmal mit etwas Pot geraucht. In der High-School pflegte ich Schmerzmittel von meiner Mutter zu stehlen, die gegen einen Krebs kämpfte, und sie mit Alkohol und Pot zu vermischen.

Ich benutzte diese Substanzen, um dem Schmerz meines Lebens zu entkommen. Ich war gern high, weil ich mich dann anders fühlte. Manchmal mußte ich lachen, manchmal stumpfte es mich total gegen alle Gefühle ab. Mein Ziel war, weniger Schmerz (emotional) zu empfinden.

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Während meiner Teenagerjahre und in den Zwanzigern dachte ich oft an Selbsttötung, und oft wünschte ich mir, ich würde einfach sterben. Ich glaube, ich hätte mich umgebracht, wenn ich nicht Karol kennengelernt hätte. Sie gab mir Hoffnung. Ohne sie war ich mit meiner Hoffnungslosigkeit konfrontiert.

Heute sind das Fühlen des Schmerzes in meinem Leben und die Wiederherstellung bewußter Erinnerung an verdrängte Traumata (vor allem den sexuellen Mißbrauch und den Geburtsschmerz) an die Stelle von Drogen getreten, um mich anders zu fühlen. Ich brauche den Schmerz nicht mehr zu verdrängen; ich kann seinen vollen Ausdruck zulassen. Wenn der Geburtsschmerz ins Bewußtsein drängt und ich dann nicht fühle, sind meine ersten Reaktionen Todesgedanken oder der Wunsch, Drogen zu nehmen. 

 

  Meine Aussagen auf <drei Linien> über Primärtherapie und mein Leben:  

 

Vor der Primärtherapie hatte ich kein Leben. Bewußt und unbewußt wartete ich auf den Tod. Ich war in einem beständigen emotionalen Schmerzzustand. Die Primärtherapie gab und gibt mir mein Leben zurück, sowohl physisch als auch emotional. Wieder bewußt zu werden hat mir gestattet, eine gesunde Beziehung zu meinem Mann und anderen Menschen herzustellen und aufrechtzuerhalten, mein Studium zu beenden und schließlich heute ein Leben zu führen, in dem ich nur noch teilweise von Unbewußtheit und verdrängtem Schmerz getrieben werde.

Die Primärtherapie ist nicht etwas, das mit uns gemacht wird. Die Beschädigungen unseres Lebens werden unbewußt gespeichert, um zur Bewahrung des Lebens beizutragen. Die Primärtherapie ist für mich eine Lebensentscheidung, voll bewußt, ohne Verdrängung und physisch und emotional voll reaktionsfähig zu leben.«

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Ich habe mich oft gefragt, ob früher Druck der ersten Linie auf kritische Hirnzellen über Jahrzehnte etwas mit der Alzheimerschen Krankheit zu tun hat. Man muß diesen Druck während der Primärerlebnisse einmal in Aktion sehen, um zu begreifen, was er den Gehirnzellen antun könnte.

Ich würde spekulieren, daß während einer traumatischen Geburt der Neurotransmitter-Apparat, der Serotonin und Endorphin erzeugt, beschädigt oder irgendwie beeinträchtigt wird. So kann er später nicht produzieren, was zu wirksamer Verdrängung nötig ist. Ein Mensch, dem es an hemmenden Neurohormonen fehlt und der in einer lieblosen frühen Umgebung aufwächst, ist wahrscheinlich später im Leben ein Kandidat für chronische Angstanfälle, von schweren Geisteskrankheiten ganz zu schweigen. 

Es handelt sich um eine Doppelbindung: Das Trauma, das den verdrängenden Transmitterausstoß beschädigt, ist dasselbe Trauma, das während des ganzen Lebens mehr Verdrängung erfordert.

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Die meisten Tranquilizer »glätten« den Menschen, dem es an Opiaten fehlt. Diese Drogen werden eingenommen, damit der Mensch sich selbst fühlen kann (buchstäblich), da eine ihrer Wirkungen darin besteht, daß der Mensch die Zone des Fühlens betreten kann (wo das reale Selbst liegt). Tranquilizer bringen die Opiat­spiegel wieder auf den optimalen Wert. Sie helfen mit, chronisches Unwohlsein in einen Zustand relativen Wohlbehagens zu verwandeln. Wenn es jemandem an Schilddrüsenhormonen fehlt, ist es keine Schande, diese einzunehmen; wenn der Mangel aber bei den Schmerztötern besteht, ist deren Einnahme verächtlich. Sie gilt als Charakterlosigkeit.

Die sogenannte »zur Sucht neigende Persönlichkeit« ist jemand, der eine Droge gefunden hat (seien es Alkohol oder harte Drogen), die ihm hilft, sich wieder »normal« zu fühlen, die ihm hilft, sich wohl und entspannt zu fühlen, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben. Wenn er diese Drogen niemals ausprobieren würde, würde er nicht als »süchtig« bezeichnet. Doch für diesen Menschen ist es eine große Entdeckung, etwas zu finden, das ein chronisches physisches Defizit ausgleicht; etwas, bei dem er sich endlich halbwegs anständig fühlt. 

Es gibt die Auffassung, daß jemand, der einmal Alkoholiker oder Süchtiger ist, dies immer bleibt. Und das stimmt. Solange ein physiologischer Mangel an Serotonin/Endorphin besteht, braucht der Körper etwas. Es besteht ein wirkliches Bedürfnis nach Alkohol oder Drogen. Um genauer zu sein, das reale Bedürfnis in der Kindheit, das nicht erfüllt wurde, hat sich in ein reales Bedürfnis verwandelt, den Schmerz dieser Entbehrung zu lindern. Wenn der Schmerz beseitigt und das System ausgeglichen ist, ist das kein Problem mehr. Das ist leichter gesagt als getan, denn nicht jeder Mensch kann wieder normal werden, wenn einmal ein beschädigtes oder schlecht funktionierendes Verdrängungs­system besteht. Glücklicher­weise können aber die meisten derer, die ich gesehen habe, normal werden.

Wenn der Schmerz nicht beseitigt werden kann, ist das beste, was man als Erwachsener tun kann, der Versuch, die Mängel der Kindheit auszugleichen, eine unterstützende Gruppe zu finden, die verständnisvoll und tolerant ist und in der man seine Gefühle und Probleme äußern kann - einen Familienersatz, wenn Sie so wollen. Darüber hinaus muß man ein gedankliches System finden, das die Abwehr gegen den Schmerz stärkt. Es spielt keine Rolle, welchen Inhalt dieses Gedankensystem hat, solange es tröstet, stärkt, stützt und dem Menschen das Gefühl gibt, nicht allein zu sein, ihm bei der Vorstellung hilft, daß es eine höhere Macht gibt, die ihn unterstützt, etc. Diese Überzeugungen müssen dem unbewußten Schmerz entgegenwirken — »Ich bin ganz allein, ich hatte nie irgendwelche Hilfe, keiner kümmert sich um mich, es gab und gibt niemand, der mich unterstützt und anleitet.«

Dies sind die realen Gefühle, die aus Tausenden von Kindheits­erfahrungen stammen. Deshalb übernehmen so viele unter­stützende Gruppen religiöse Grundsätze.

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Oft genügen schon die religiösen Ideen allein, weil man sich vorstellen kann, jemand wache über uns, man sei »in seiner Hand«, er werde sich kümmern und helfen etc. Bedürfnisse erzwingen die Vorstellung der Erfüllung, weil Erfüllung das einzige ist, was ein chronisches Unwohlsein lindern kann. Das ist die Funktion von Glaubenssystemen; sie produzieren eine Erfüllung, die es nicht gibt, um das Bedürfnis zu lindern. Sie versuchen zu normalisieren.

Natürlich hilft es, wenn es im realen Leben eine Gruppe gibt, die wirklich für den Menschen da ist. Wenn diese aber nicht existiert, kann man das Glaubenssystem auf die Spitze treiben und glauben, sie sei da, obwohl sie nicht da ist. Die gleichen Gefühle, die zu einem Mangel an repressiven Neurosubstanzen führen — niemand kümmert sich (Dank an Candace Pert für den Ausdruck) —, werden hoffentlich gekontert von entgegengesetzten Vorstellungen, die dieselben Substanzen fördern. Der Besuch von unterstützenden Gruppen mit ihren speziellen Vorstellungen ist ebenso suchterzeugend wie die zuvor eingenommenen Drogen. Er muß jahrelang anhalten, weil das grundlegende unerfüllte Bedürfnis ungefühlt immer da ist. Es handelt sich um die Bewältigung desselben Schmerzes in einer anderen Form. Dieselbe Sucht, nur eine andere Form.

Die »Therapie«, die diese Süchtigen erhalten, ist ungefähr das gleiche wie bei jemandem, der jahrelang zu einem Analytiker geht und damit unbewußt alte Bedürfnisse »erfüllt«, eine Person in Reichweite zu haben, die sich kümmert, versteht, zuhört, einfühlend ist und sich zuerst und vor allem auf den Patienten konzentriert. Der Mensch vollzieht die Schritte des Verstehens, entwickelt Einsichten, analysiert Träume und übernimmt Fachjargon und therapeutische Vorstellungen, während er auf einer niedrigeren Ebene versucht, sich seine realen Bedürfnisse zu erfüllen (symbolisch). Was bei diesen Therapien wirklich suchterzeugend ist, ist der Anschein von Erfüllung in der therapeutischen Situation. Die Therapie wird so endlos sein wie das unerfüllte Bedürfnis.

 

    Sylvia:    

 

Ich habe immer mit Listen gelebt. Ich habe eine allgemeine für den alltäglichen Gebrauch und eine für Wochenenden. Trotz dieser scheinbaren Organisation bin ich ein chaotischer Mensch. Ich habe nie das Gefühl, <mitzukommen> oder alles beieinander zu haben. Meine Tasche ist vollgepackt mit <wesentlichen Dingen>, die ich fast nie brauche, aber nicht weglassen kann. Weil man sich um mich als Kind nie gekümmert hat — mein Vater verließ uns, und meine Mutter ging arbeiten —, habe ich nie Selbstvertrauen entwickelt. Ich kann mich nicht darauf verlassen, daß ich nichts vergesse, und habe schreckliche Angst, einen Fehler zu machen. Also stelle ich eine Liste nach der anderen auf, aber gewöhnlich schaffe ich es, sie zu verlieren oder zu verlegen. Wenigstens beruhigen diese Listen mich.

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Es bringt mich auf, wenn jemand zu früh oder unerwartet kommt. Das stört meine Routine. An Veränderung kann ich mich nur schwer gewöhnen. Ich brauche eine Vorwarnung — die ich bei meiner Geburt nicht bekam, wo ich qualvolle Schmerzen litt. Ich muß in jeder Situation das Gefühl haben, die Kontrolle zu besitzen.

Meine vorgefaßten Gedanken haben die Oberhand über meine Gefühle. Ich brauche eine gewisse Reglementierung und halte an etwas fest, so lästig und unbequem das auch sein mag. Ich liebe und hasse Regeln. Ich hasse unstrukturierte soziale Situationen, in denen ich Fremde treffen und nicht wissen könnte, was ich sagen soll. Ich fürchte, daß ich nicht beurteilen kann, wie ich oder sie reagieren werden (und dann habe ich das Gefühl festzustecken, wie es ursprünglich bei meiner Geburt und dann später in meinem verrückten Zuhause war).

Meine ständige Sorge ist, mich nicht angemessen um Dinge kümmern zu können. Das ist ein Teil der Hilflosigkeit, die ich als Kind fühlte. In der Schule machte ich mir dauernd Sorgen - meine Bücher, meinen Regenschirm, die Schlüssel usw. zu verlieren. Ich brauchte meine Mutter, sie sollte mir helfen und mir ein Gefühl der Sicherheit geben. Wenn sie nicht zu Hause und bei der Arbeit war, hatte ich das Gefühl, es sei zuviel für mich, mich um mich selbst zu kümmern. Ich war zu klein.

Wenn ich Anweisungen erhalte, müssen sie absolut klar und präzise und logisch geordnet sein. Wenn ich unterbrochen werde, muß ich immer wieder von vorn anfangen. Wenn mein Lehrer mir etwas Nettes sagte, war ich verzweifelt, als könnte ich seine Worte nicht behalten. Also schrieb ich sie auf und hob sie in meiner Tasche auf. Wochenlang mußte ich den Zettel immer wieder herausnehmen und ansehen, und dann fühlte ich mich gut. Es war, als bekäme ich jedesmal einen Schuß Liebe. Natürlich unterdrückte ich meine schlechten Gefühle in bezug auf mich selbst. Ich sehe jetzt, wie viele von meinen vielen hundert Ritualen dazu bestimmt sind, diese schlechten Gefühle und meine Angst abzublocken. Zu Hause hatte ich nie jemanden, der mich tröstete und beruhigte. Meine Rituale füllen wenigstens diese Funktion aus.

Ich liebe Prüfungen in der Schule, weil ich mir die Noten ansehen und <wissen> kann, daß ich gut und nicht schlecht bin. Deshalb war ich der Liebling der Lehrer. Alle anderen haßten Prüfungen, aber ich nicht.

Wenn ich allein bin, macht mein Verstand Überstunden, um meine neuesten Pläne zur Verbesserung meines Lebens durch­zugehen. Ich machte mir darüber so viele Sorgen, daß ich es kaum bemerke. Das ist eine Lebensweise. Wenn jemand meine Gefühle verletzt, beschäftige ich mich ständig zwanghaft damit, was ich hätte sagen oder tun sollen und was ich tun werde.

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Wieder und wieder denke ich über die Unzulänglichkeiten meines Chefs nach, genau wie ich es bei meiner Mutter machte. Ich verabscheute sie, weil sie mich im Stich ließ, und gleichzeitig hatte ich sie verzweifelt nötig.

Das deutlichste Beispiel dafür dreht sich um Romantik und Sex. Wenn ich mich in jemanden verliebe, verbringe ich alle wachen Stunden damit, an ihn zu denken, überlege mir tausend Phantasien, wie wir zusammen sein werden (Blicke, Umarmungen, Küsse, Romantik und Sex). Jetzt sehe ich, daß diese Phantasien einer Sehnsucht in meinem Körper entspringen, gehalten und geliebt zu werden. Sie sind halb Lust, halb Schmerz. Sie gehen auf die Sehnsucht zurück, die ich nach meiner Mutter hatte, als ich klein war. Wenn meine Bedürfnisse hochkommen, werden meine Gedanken immer zwanghafter. In solchen Zeiten flirte ich übertrieben. Ich fühle mich buchstäblich wie ein läufiges Tier.

Ich brauchte die Liebe meiner Mutter mit jeder Zelle meines Körpers; schon in der Wiege konnte ich das fühlen. Und nie kam jemand, um mich zu trösten. Heute muß ich Situationen schaffen, in denen ich das Gefühl der Sehnsucht wiedererzeugen kann, das ich nach meiner Mutter hatte; also beschäftige ich mich zwanghaft mit Männern. Meine Bedürfnisse sind erotisch geworden. Je mehr ich meine frühe Bedürftigkeit fühle, desto weniger beschäftige ich mich zwanghaft erotisch mit den Männern in meinem Leben. Mein Bedürfnis wird zu dem, was es war, nämlich dem Bedürfnis nach meiner Mutter, die nie da war.

Ich denke, ich hatte alle diese Grundgefühle, und dann war mein Zuhause so zwanghaft, daß ich sie in Zwänge kanalisieren mußte. Immer mußten wir pünktlich zu Abend essen, sonst wurde mein Vater reizbar. Er pflegte jeden Morgen meine Schlafzimmertür zu öffnen und zu sagen: >Noch fünf Minuten.< Dann: >Zeit zum Aufstehen.< Dann: >Noch eine Minute. < Und so weiter. Alles zu Hause war reglementiert, einschließlich der Ferien, Geburtstage und Feiertage. Mein Vater war als erster fertig, und dann stand er, seinem Zeitplan entsprechend, am unteren Ende der Treppe und zählte langsam bis zehn. Bei >zehn< mußten wir alle unten sein.

Ich sehe, wie chaotisch ich mich innerlich fühle. Der Versuch, nach außen hin Ordnung zu schaffen, beruhigt mich. Ich glaube, wenn draußen Chaos herrscht, ist das zuviel für mich. Ein Teil von mir fühlt sich so außer Kontrolle, daß ich alles kontrollieren muß. Ich habe das Gefühl, wenn ich nicht alles zusammenhalte, zerspringe ich. Meine Geburt und mein häusliches Leben waren das reine Chaos. Ich brauchte Stabilität und Routine; also erschaffe ich sie, wo immer ich hingehe. Wenn ich einen Tranquilizer nehme, hindert er alle diese Gefühle am Hochkommen. Ich kann kurz das Gefühl haben, gesammelt zu sein. Wenn die Wirkung nachläßt, muß ich mich zwanghaft zusammennehmen. Zum Glück bin ich nicht mehr so zwanghaft wie früher. In den meisten Situationen kann ich spontan sein und gerate durch Unvorher­gesehenes nicht mehr außer mir. Ich brauche keine Routine mehr, um mich stabil, und keine Listen mehr, um mich sicher zu fühlen. Ich habe den wahren Grund gefühlt, warum ich so war. #

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    Die Natur von Spannung   

 

Spannung — eine Angespanntheit in Muskeln und Gelenken, Enge in der Brust, ein steifer Nacken, Spannungskopfschmerzen — ist eine spätere Entwicklung des Nervensystems. Wir sind ängstlich, ehe wir angespannt sind. Spannung ist weitgehend ein Phänomen der Körperwände, die mit dem höher entwickelten Nervensystem verbunden sind.

Menschen in Angstzuständen lernen, Spannung als Abwehr zu gebrauchen. Ihre Muskulatur ist weniger einbezogen; der Schmerz ist weniger »gebunden«. Spannung bindet und absorbiert. Der angstbesessene Mensch ist lockerer oder weiß nichts mit sich anzufangen, ist fragmentiert und zerbrochen. Ihm fehlt die Struktur, die Spannung bietet. Manchmal bezeichnet man solche Personen in Freudianischen Kreisen als »hysterisch«.

Das angespannte Individuum ist »verkrampft«, in sich gebunden und übermäßig beherrscht. Die angstbesessene Person ist wesentlich verwundbarer und abhängiger, da die Prägung, die Angst entstehen läßt, sehr früh eintritt.

Das Opfer von Angst ist offener für seine Bedürfnisse, weil seine gesamte Struktur sehr früh durch überwältigende Angst erschüttert wurde. In seiner Entwicklung hatte es keine Gelegenheit, einen Mechanismus gegen diese Bedürfnisse aufzubauen.

In Spannungszuständen werden Bedürfnisse zurückgehalten, indem der Mensch sich gegen vorhergesehenen Schmerz anspannt, ebenso wie wir uns vor einer Spritze beim Zahnarzt anspannen. Der Unterschied ist nur der, daß wir, psychologisch gesprochen, die Zahnarztpraxis niemals verlassen.

Ein Mensch, der angespannt ist, handelt auf reifere Arten als das ängstliche Individuum. Erstens ist er weiter von seinem Kindheitsselbst entfernt, und zweitens kann er eine Handlung strukturieren und vollenden. Er ist weniger spontan, ist konservativer und vorsichtiger. Der ängstliche Mensch wird von kaum beherrschbaren Impulsen überflutet; er zittert und bebt. Der angespannte Mensch zittert innerlich. Wie ein ängstlicher Patient das ausdrückt: »Ich fühle mich ganz ausgelaugt.« Der Ängstliche sieht wie ein Wrack aus, der Angespannte nicht. Angespannte Menschen scheinen die Kontrolle zu besitzen, und das tun sie auch — über sich selbst und ihre Gefühle.

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Zuviel Kontrolle und zuwenig Zugang zu Gefühlen sind typisch für angespannte Menschen. Sie sind in der konventionellen Therapie, wo Struktur sehr wichtig ist, leichter zu behandeln, schwerer dagegen in der Primärtherapie, wo Struktur den Gefühlen entgegenwirkt.

Der ängstliche Mensch leidet an anderen Symptomen als der angespannte. Der Ängstliche beginnt das Leben kolikartiger und neigt zu Magenproblemen. Am Ende hat er Magengeschwüre und Kolitis .Der Angespannte leidet an Arthritis, Spannungs­kopf­schmerzen und Rückenproblemen. Ständig verrenkt er sich Knie, Ellbogen und Schulter. Der Brennpunkt ist gewöhnlich die Körperwand. Der Angespannte knirscht nachts mit den Zähnen, der Ängstliche hat Alpträume.

In der Therapie helfen wir dem angstgeneigten Individuum, Abwehrmechanismen zu entwickeln, beim Angespannten bauen wir Abwehr ab. Angstzustände brauchen Struktur - und genau die braucht der Angespannte nicht. Der angespannte Mensch ist zu sehr konzentriert. Wenn er Wissenschaftler oder Mathematiker ist, widmet er sich unter Ausschluß alles anderen nur seiner Arbeit. Der Ängstliche kann sich nicht konzentrieren und bei einer Sache bleiben. Er ist völlig aus den Fugen. Das liegt daran, daß frühe katastrophale Eingaben jede Art von Abwehrapparat buchstäblich fragmentiert haben und es ihm dadurch an Kohäsion fehlt. Der eine hat zuviel Kohäsion, der andere zuwenig.

 

   Schmerz: das Gegenmittel gegen Angst   

 

Der Zugang zu frühen Prägungen gestattet dem Therapeuten endlich einen Blick auf die Quelle von Angst- und Spannungs­zuständen. Wir können aufzeigen, wie und wann die Neurose begann. Wir können unterhalb der Ebene der Gedanken die auslösenden Quellen untersuchen.

Das Fühlen von sehr frühen Schmerzen und Angst ist das einfache Gegenmittel gegen Angstzustände. Bei vielen tausend Patienten war es eine systematische und vorhersagbare Lösung ihrer Angst. Dieses Axiom hat sich bei zu vielen Patienten zu oft bewiesen, als daß man noch daran zweifeln könnte.

Vergessen wir nicht, daß der Patient bei unserer Erforschung still auf einer Matratze liegt. Das einzige, was er erlebt, ist Erinnerung. Wir haben bei Menschen nachgemessen, die ohne eine spezifische Erinnerung herumzappeln — ein als Abreaktion bekannter Zustand —, und bei ihnen nicht die Veränderungen gefunden, die wir zuverlässig bei jenen finden, die spezifische schmerzliche Erinnerungen wiedererleben. Wenn die schmerzliche Erinnerung sich nähert, leidet der Patient, bis er sich in das Gefühl fallen läßt. Dann übernimmt das parasympathetische Nervensystem.

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Unmittelbar vor dem Auftreten des Gefühls befindet sich der Patient in der präprimären Phase, die als Angstanfall bekannt ist.

Bei der konventionellen Therapie ist es gewöhnlich so, daß ein Mensch voller Angst in eine Sitzung kommt, nachdem er beispiels­weise in einem überfüllten Kaulhaus eingekauft oder vor einer Klasse einen Vortrag gehalten hat. Oft werden Medikamente eingesetzt, um das Symptom zu unterdrücken. In der konventionellen Therapie mag es Versuche geben, die gegenwärtige Situation zu bewältigen, beispielsweise die Angst davor, vor einer Klasse einen Vortrag zu halten. Das kann hilfreich sein, denn es befaßt sich mit der Darstellung der aktuellen Angst auf der dritten Linie. Doch es ist bestenfalls lindernd. Selbst wenn der Therapeut viele offensichtliche und plausible Erklärungen für die Angst in der Gegenwart finden kann, folgt er dem Gefühl nicht bis an seine Wurzeln.

Das Gehirn ist ganz logisch und gestattet uns, in der Therapie die Schmerzen in der Reihenfolge von den gegenwärtigsten und unschädlichsten bis zu den fernsten und schädlichsten ins Bewußtsein zu bringen. Bis wir mit den frühesten und bedrohlichsten Schmerzen konfrontiert sind, hat bereits eine Menge Integration und Stärkung der Persönlichkeit stattgefunden. Die Gefahr von Rebirthing und anderen derartigen Vorgehensweisen ist, daß sie den Schmerz in umgekehrter Reihenfolge angehen. Sie stören das normale Abwehrsystem, das um jeden Preis diese schrecklichen Ängste niederhalten sollte. Rebirthing, gewöhnlich von Scharlatanen durchgeführt, ist äußerst gefährlich, um so mehr, als es eine gutartige Psychose erzeugt. Jede künstliche Technik — tiefes Atmen, Schlagen gegen Wände etc. — ist letztlich gefährlich, weil sie stets Schmerzen hochbringt, die noch nicht an der Reihe sind.

Entspannung macht ängstlichen Menschen Angst. Die Zeitschrift <Omni> (November 1986) bemerkte, daß »Entspannung gefährlich für Ihre Gesundheit sein kann«. Forscher, darunter David Barlow, Direktor der Klinik für Phobien und Angststörungen der State University von New York, stellten fest, daß Patienten ängstlich zu werden scheinen, wenn man ihnen vorschlägt, sich zu entspannen. Eine Frau »arbeitete gut mit und begann sich zu entspannen, und dann hatte sie zu unserer und gewiß auch zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich einen massiven Anfall stärkster, ungemilderter, panischer Angst«, bei dem ihr Herzschlag sich binnen einer Minute verdoppelte.

Nach der Untersuchung mehrerer Patienten mit dem gleichen Syndrom begann Barlow, eine allgemeine Tendenz zu sehen. Mehr als die Hälfte seiner Patienten fingen an, panische Angst zu erleben, wenn sie sich entspannten. Hier wird klar, daß wir uns in Gefahr fühlen, wenn wir unsere Abwehr lockern. Wenn der Neurotiker sich entspannt (seine Abwehr nachläßt), kommt alles Abgeblockte hoch. Nun ist nicht mehr Angst die Bedrohung, sondern Entspannung macht uns ängstlich, und so wird Entspannung die Bedrohung. Spannung wird dadurch zum normalen Zustand der »Entspannung«. Kein Wunder, daß so viele Leute keine Ferien machen können.

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   Angst als Überlebensmechanismus   

 

Wir dürfen nicht vergessen, daß die Erinnerung, mit der wir es bei der Angst zu tun haben, eine Überlebens­erinnerung ist; deshalb besteht sie weiter und sollte dies auch. Sie ist eine Gefahr, die wir Erwachsenen fast stets mit uns herumtragen. Leider bedroht das, was wir taten, um zu überleben, gleichzeitig in der Gegenwart unsere Existenz.

Ohne irgendeine Art von Verdrängung würde ein Neugeborenes, dessen Herz rasend schlägt, wie es unsere Patienten während des Wiedererlebens erfahren, schließlich sterben. Einige Neugeborene haben offenbar während des Geburtsvorgangs etwas erlebt, das ein Herzstillstand zu sein scheint. Wenn sie in der Therapie wiedererleben, weisen sie die Anfänge von etwas auf, das ein Herzanfall zu sein scheint. Da sie jedoch beim ersten Mal überlebt haben, tun sie das auch beim zweiten.

Es ist übrigens nicht unwahrscheinlich, daß ein Baby von sechs Monaten, allein im Dunkeln in seiner Wiege liegend, an aufsteigenden unabgewehrten Traumata sterben kann. Vielleicht stirbt es an einer gegenwärtigen Angst, die ein frühes Geburts­trauma ausgelöst hat, vor allem wenn kein Erwachsener in der Nähe ist, um es zu trösten und zu beruhigen. Angstvoll und allein im Dunkeln zu sein hat einen tödlichen Widerhall bei dem Monate zurückliegenden Trauma. Die Angst ist ungemildert. Das Baby ist in einem allgemeinen Alarmzustand, ohne Hilfe, ohne Unterstützung und vor allem ohne Verständnis dessen, was vor sich geht. Die Überlebens­mechanismen arbeiten mit voller Kraft, bis das System erlischt.

 

  Schlußfolgerung: das Zeitalter der Verdrängung  

Das Zeitalter der Angst scheint dem Zeitalter der Verdrängung gewichen zu sein. Wir fühlen uns wohler mit unseren Neurosen, weil die Gesellschaft neurotische Werte und ihren großen Ehrgeiz und Antrieb belohnt. Wir sehen mehr zwanghafte Individuen, weil Zwanghaftigkeit der Modus unserer Kultur zu sein scheint. Getriebene, erfolgreiche Menschen werden belohnt. Erst wenn der Antrieb uns aus der Hand gleitet, machen wir uns Sorgen.

Das Vergehen des Zeitalters der Angst ist in gewisser Weise der Verlust unserer Unschuld. Verdrängung wird verherrlicht, während neurotische Energie auf die Ziele von Erfolg, Prestige, Ehre und andere symbolische Ziele gelenkt wird. Wir haben aufgehört, uns ängstlich zu fühlen, weil wir zu fühlen aufgehört haben.

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