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7  Unsere Vergangenheit: 

 

Auf der Suche nach den Überlebensschlüsseln

 

 

 

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Als Antwort auf stressreiche Erfahrungen produziert der Körper große Mengen an Stresshormonen. Diese nämlichen Hormone spielen eine Rolle darin, die Erinnerungen des Systems an diese Erfahrungen (die Prägung) zu etablieren und zu verstärken. Der Schmerz und die Qual der Ereignisse lösen die Produktion der natürlichen Opiate aus, die die Agenten der Verdrängung sind. Solomon Snyder sowie die Forscher Mortimer Mishkin und Tim Appenzeller haben in einem Artikel im <Scientific American> festgestellt, dass Endorphine und andere Neuroinhibitoren besonders in den Arealen hergestellt werden, in denen Schmerz körperlicher als auch emotionaler Art verarbeitet wird. (Siehe Abbildung 1)

Wenn die Strukturen, die für Gefühle zuständig sind, auch repressive Neurohormone absondern, kontrollieren diese Strukturen den Zugang zu unseren Emotionen. Somit beeinflusst Schmerz nicht nur, was wir wahrnehmen und lernen, sondern auch, was wir verdrängen. Diesbezügliche Forschungen unterstützen diesen Gesichtspunkt. Zum Beispiel zeigen Experimente an Rattenjungen, dass Stresserfahrungen gleich nach der Geburt zu einer wesentlichen Weiterentwicklung des Schmerzrezeptorsystems der Ratten führt. Die Traumen änderten die Struktur des Gehirns, indem sie eine vorzeitige Entwicklung schmerz­vermittelnder Zellen auslöste und einen höheren Spiegel an zirkulierenden Endorphinen verursachte, was einen höheren Grad an Verdrängung bedeutet.

 

Abbildung 1: 
Solomon Snyder fand heraus, dass limbische Strukturen (schattiert) mit Endorphinrezeptoren überhäuft sind.

 

Auch zeigen Magnetresonanzstudien, dass Psychotiker ein Übermaß an Dopamin-Rezeptoren in den emotionalen Zentren des Gehirns haben. Im Umkehrschluss deutet diese erhöhte Menge an Schmerz­rezeptoren auf die Existenz eines frühen Traumas hin. Die logische Vermutung geht dahin, dass die limbischen Gehirne dieser Personen von einem frühen Trauma überwältigt worden sind.

 

Wie Sie sehen können, reagieren wir, sobald der Schmerz da ist, für immer auf diesen Schmerz, und dadurch ändert sich die Art, wie wir die Welt sehen. Solange die Prägung da ist, werden bestimmte Situationen in der Gegenwart mit dem frühen Trauma resonieren. Deshalb sind viele von uns so oft angespannt und nervös. 

Es ist der Grund, warum einige Leute es als extrem quälend empfinden, wenn sie kritisiert werden; auch geringfügiger Tadel von anderen lässt ernste Zurechtweisung widerhallen, die sie von ihren Eltern bekommen hatten, als sie klein waren. Deshalb fühlen sich viele Leute so zerstört, wenn der Freund oder die Freundin beschließt, die Beziehung zu beenden. Diese "Zurückweisung" resoniert mit der erschütternden Bedeutung, wenn jemand in der Kindheit verlassen wurde.


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Darüber hinaus erklärt die Kette der Schmerzen, warum wir wahrscheinlich auf gegenwärtigen Stress nahezu genauso reagieren, wie wir angesichts des ursprünglichen Stresses reagierten. Wenn das System mit einem Problem oder mit einer anderen Art von stressgeladenem Input konfrontiert wird, sucht es unbewusst nach einer prototypischen Reaktion. 

Einige Leute gehen Probleme sofort und direkt an. Andere versuchen sie zu ignorieren und hoffen offensichtlich, dass sie von alleine verschwinden. In schwierigen Momenten des Lebens handeln einige schnell, während andere langsam reagieren. Diese Muster, Teil der Schmerzkette, reflektieren, wie ein frühes Trauma das spätere Verhalten beeinflusst und wie es einen Großteil dessen bestimmt, was in unserem Leben und mit unserer Gesundheit geschieht.

 

    Repräsentationen und Re-Repräsentationen   

 

Obwohl wir mit nahezu allen Neuronen geboren werden, die wir je haben werden, beträgt die Gehirnmasse bei der Geburt nur etwa ein Viertel der Masse des erwachsenen Gehirns. Das Gehirn wird größer, da die Neuronen an Größe zunehmen. Das Gehirn wird zum Teil durch seine frühesten Erfahrungen geformt, und überlebenswichtige Information wird, wenn sie sich entwickelt, von der ersten Linie zur dritten Linie (Ebene) des Bewusstseins weitergeleitet. (siehe Kapitel 4) Information darüber, was wir fürchten müssen (und das bedeutet Überleben), wird letztlich auf der kortikalen oder dritten Ebene präsentiert.

Das Entsetzen im Mutterleib wird sich schließlich zum Kortex bewegen, wo jeder einengende Raum mit dem ursprünglichen Schrecken räsoniert und die Person in Angst versetzt. Somit kehrt die Furcht zurück und wird auf verschiedenen Ebenen re-repräsentiert. Jede Ebene steuert eine andere Komponente bei: die erste Linie die Enge in der Brust (die Empfindungs-Ebene); die zweite Linie die Furcht vor geschlossenen Räumen (der emotionale Aspekt); und die dritte Linie den Namen und die Rationalisierung, warum die Furcht da ist (die intellektuelle Ebene).

Es ist möglich, sich einer Phobie bewusst zu sein aber keine Ahnung von ihrem Ursprung zu haben. oder es ist möglich, eine Enge in der Brust zu spüren und dennoch keine Vorstellung zu haben, warum es geschieht. Die Kette der Schmerzen ist die Bezeichnung für diese Repräsentation und Re-Repräsentation, nur in umgekehrter Reihenfolge. In der Therapie muss man ganz oben anfangen und schließlich, vielleicht Monate später, zu den Ursprüngen hinabsteigen. Wenn man erst in ein Feeling eingeschlossen ist und sich tief hineinfallen lässt, beginnt automatisch der Abstieg zu den entferntesten Ursachen.
     Repräsentation gibt dem Therapeuten und Patienten eine Wegkarte zur Hand.


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Wenn in der Gegenwart eine unangemessene Reaktion auftritt, kann man sicher sein, dass es sich um eine Re-Repräsentation eines frühen überwältigenden Ereignisses handelt. Neurologisch gesehen kann es gar nicht anders sein. Jemand, der sich sehr unwohl oder niedergeschlagen fühlt, wenn er allein ist, wird grundsätzlich ausagieren und andere um sich scharen, sodass er nicht allein ist. Der ursprüngliche Grund kann von der Zeit gleich nach der Geburt herrühren, als dem Kind nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wurde und es stundenlang allein gelassen wurde. Es mögen Stunden voller Angst gewesen sein, die als solche eingeprägt wurden. Die Angst verschlimmerte sich über die Kindheit durch Vernachlässigung und Gleichgültigkeit der Eltern, die dafür verantwortlich waren, dass sich ihr Kind immer mehr allein gelassen fühlte. Als Erwachsener allein zu sein, bringt all die ursprünglichen Gefühle von Verlassenheit hoch. Es gibt keinen Grund, furchtsam und deprimiert zu sein, wenn man allein ist, es sei denn, dieser Zustand räsoniert mit einem Feeling der Verlassenheit ganz früh im Leben.

Für die meisten von uns ist die Geburt die erste Erfahrung auf Leben und Tod. Unsere Reaktion darauf — sei es ein massiver von Erfolg gekrönter Kampf, oder ein kurzer Kampf, der von Medikamenten unterbunden wurde — wird für immer mit dem Ergebnis assoziiert sein. Letzten Endes überlebten wir, aber wenn wir uns später in einer bedrohlichen Situation befinden, werden wir auf die Weise reagieren, die uns ursprünglich am Leben erhielt. Vielleicht ist es das, was Leute wirklich meinen, wenn sie nach einem Erlebnis, das ihnen beinahe den Tod gebracht hätte, sagen, ihr "ganzes Leben lief an ihren Augen vorbei". Unter Todes-Stress, wenn man zum Beispiel drauf und dran ist zu ertrinken, scannt das Gehirn die persönliche Geschichte nach Überlebensschlüsseln. Schließlich hält die Suche bei dem Prototypen an: Was taten wir ursprünglich beim Geburtskampf, um unser Leben zu retten, oder wenn nicht beim Geburtskampf, was bei einem anderen frühen schweren Trauma?

Wenn also gelähmt und bewegungslos zu sein am Anfang lebensrettend war, könnte jemand zu völliger Bewegungsunfähigkeit erstarren, wenn er Jahrzehnte später vor einer großen Gruppe eine Rede hält. Wie sonst ließe sich das erklären? Es ist eigentlich nichts schlimm daran, zu einer Gruppe von Menschen zu sprechen. Nur unsere Geschichte macht es dazu, wenn sie mit einer verheerenden Erinnerung resoniert. Deshalb sage ich, dass das frühe Trauma uns bis in alle Ewigkeit beeinflussen wird. Unsere Vergangenheit ist stärker als unser Gegenwart; sie ist immer bei uns, formt unsere Wahrnehmung und unser Verhalten.


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   MARYANNE:  "WAS HAT DAS FÜR EINEN ZWECK?"   

 

Ich glaube, ich bin seit Beginn meines Lebens deprimiert. Ich wurde zurückgehalten, weil sie den Arzt nicht finden konnten, als ich gerade geboren wurde, und seitdem spüre ich die Vergeblichkeit allen Bemühens. Mein Puls war mein ganzes Leben lang extrem niedrig (ungefähr 45), und ich denke, das ist ein Teil meiner Energielosigkeit. Ich fand es ungeheuer anstrengend, irgendwo hinzugehen, so als würde ich meinen Körper mit herumschleppen. Ich glaube, das alles in mir zumachte, als ich nicht hinaus konnte, und irgendwie verfolgt mich seither die Erschöpfung, die ich im Geburtskampf spürte, In der Schule war ich immer zurückgezogen, hatte nie viele Freunde, konnte mich nie über irgendwas besonders freuen und hatte nie viel Energie. "Was hat das für einen Zweck?" war meine Titelmelodie.

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Prototypische Prägungen können uns das Gefühl geben, dass wir in großer Gefahr sind, auch wenn wir es nicht sind. Betrachten Sie einen Menschen, der ängstlich wird, wenn er in der Abfertigungshalle eines Flughafens warten muss und nichts zu tun hat. Es käme ihm nie in den Sinn, dass seine Gefühle mit seiner Geburt in Verbindung stehen. Bei so einem Menschen führt ein gegenwärtiger Mangel an Aktivität dazu, dass das Gehirn in der Geschichte des Körpers herumsucht, nur um zu finden, dass ‚keine Bewegung’ am Anfang des Lebens den Tod bedeutete. Der Grund, warum die Suche stattfindet und die Person nervös macht, besteht darin, dass plötzliches erzwungenes Nichtstun Unbehagen erzeugt und die prototypische Abwehr in Gang setzt: weiter aktiv sein. Er weiß nicht, warum er so unruhig ist. Er ist sich seiner wirklichen Motivation unbewusst, weil die wirkliche Quelle seines Verhaltens Hundert Millionen Evolutions­jahre von der Erfahrung entfernt ist, die sie beschreibt. Kein Wunder, dass die Vorstellung, dass das Geburtstrauma lebenslange Auswirkungen hat, so fernliegend scheint.

 

Hier sind zwei Ebenen der Realität am Werk. Wenn Sie Gehirnwellen, Elektrophysiologie, Blutdruck oder Stresshormone messen, sehen Sie, wie mächtig die unbewussten Kräfte sind. Gleichzeitig jedoch wissen die höheren Bewusstseinsebenen nicht, dass auf der tieferen Ebene ein Kampf stattfindet. Die Person sagt vielleicht zu sich selbst: "Ich hasse es, in der Schlange zu warten." Aber wenn Sie die unteren Ebenen mittels elektronischer Messung fragen, was los ist, sagen sie mit einem Blutdruck von 200 und einem Puls von 110: "Ich sterbe, wenn ich warten muss."


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Und das ist der Grund, warum der Körper in Aufruhr ist, ohne dass die Person es weiß. Und auf lange Sicht können Gedanken diese Impulse nicht effektiv bekämpfen. "Gesprächstherapien", die uns helfen, uns selbst besser zu "verstehen", können unsere Probleme wegen der ungeheuren physischen Kraft, die dahintersteckt, nicht endgültig lösen.

Hier ist ein anderes Beispiel, wie der Suchmechanismus funktioniert. Ein Professor kritisiert im Unterricht eine Studentin. Sie entwickelt eine schwere Angstattacke. Ihr Magen dreht sich. Ihr Hände beginnen zu schwitzen und ihr Herz schlägt laut. Sie bekommt keine Luft. Die Kritik hat eine alte Erinnerung wachgerufen. Überdies hat diese Erinnerung auf jeder Bewusstseinsebene eine Bedeutung. Ihr Verstand, der von der Einprägung abgeschnitten ist, sagt ihr etwas über die Gegenwart: "Versuch', ruhig zu bleiben.....Es ist alles zu viel..... Ich bin nicht gut.... Ich werde in der Schule versagen." Das überlagert ein unbewusstes Kindheitsgefühl, das auf der zweiten Linie angesiedelt ist: "Es bedeutet, dass meine Eltern mich nicht lieben. Wenn sie mich nicht lieben, sterbe ich!" Vielleicht hatte ihr Kindheitsschmerz ihr Geburtstrauma verstärkt, das ihr sagte: "Ich schaffe es nicht hinaus. Ich sterbe." Das Gesamtgefühl - "Ich schaff' es nicht!" - ruft die Todesangst hervor. Diese drei Ebenen bilden die Schmerzkette, und alle drei haben Anteil an dem resultierenden Gefühl: ein aufgewühlter Magen und die Unfähigkeit zu atmen (erste Ebene), das Gefühl, dass "ich es nicht schaffe" (zweite Ebene) und der Gedanke, dass "ich versagen werde oder nicht gut bin." (dritte Ebene).

Wenn Sie dieser Person sagen, "Machen Sie keine Affäre aus dem bisschen Kritik. Sie hatte nichts zu bedeuten", wird es ihr nicht wirklich helfen. Weil sie etwas zu bedeuten hatte; sie bedeutet Leben oder Tod. Denken Sie daran, dass wir physiologisch eher auf die historische eingeprägte Realität reagieren als auf aktuelle Umstände. Unsere Erinnerungen setzen sich über gegenwärtigen Input hinweg und diktieren die physiologischen Reaktionen.

Nehmen wir an, jemand, der ein hohes Maß an eingeprägtem Stress hat, erleidet eine Herzattacke. Wenn Sie ihm nach dem Anfall sagen "Lass es ruhig angehen", kann es sein, als würden Sie gegen eine Wand reden. Sein Körper reagiert logisch auf seine Vergangenheit und befindet sich ständig im Überlebensmodus. Die Prägung weiß nicht, dass hoher Blutdruck und ein schneller Herzschlag jemanden töten können.


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Die Person (Mann) weiß, dass sie sich nicht aufregen sollte, aber solange die Prägung ihn anstupst, gelingt es ihm nicht. Der Doktor sagt zu ihm "Sie dürfen sich nicht aufregen. Sie werden sterben, wenn Sie sich nicht entspannen!" Unterdessen sagt ihm sein Körper "Du darfst es nie ruhig angehen lassen. Du stirbst, wenn du es tust!" Das ganze System ist gegen den möglichen Tod bei der Geburt mobilisiert, und genau diese Mobilisierung führt jetzt wahrscheinlich zum Tod.

 

   Phobien   

 

Wie auch andere Angststörungen sind Phobien ein exzellentes Beispiel, wie die Vergangenheit über die Schmerzkette in die Gegenwart hineinspielt. Wenn ein Phobiker einen Aufzug betritt, scannt das Gehirn seine Geschichte, stößt auf das Ersticken in einer beengten räumlichen Umgebung bei der Geburt oder vielleicht in einem Inkubator und ordnet dieselbe verzweifelte Schreckreaktion an. Das eingehene Signal löst die alte Erinnerung aus, die das System schlagartig in Aktion versetzt. Die Angstattacke ist ein Rätsel, weil die Quelle dem kortikalen Blick verborgen bleibt. Die Phobie ist die genaue Antwort auf das ursprüngliche Ereignis und ist in diesem Zusammenhang logisch — eine Erinnerung, die die Vergangenheit zur Gegenwart macht. Jetzt ist es die Erinnerung, auf die der Mensch reagiert.

Das Gefühl drohenden Verhängnisses kommt manchmal paradoxerweise dann auf, wenn sich jemand gerade glücklich fühlt. Nehmen wir zum Beispiel an, Sie genießen gerade das perfekte Abendessen mit der perfekten Begleiterin, guter Musik und einem behaglichen Ambiente. Ganz plötzlich verspüren Sie ein vages Unwohlsein, ein Gefühl, dass Ihr Glück nicht von Dauer sein kann und etwas Schreckliches passieren wird. Wenn gute Gefühle ein gewisses Maß erreichen, kann ihre Intensität an sich andere Gefühle auslösen, gute oder schlechte, einschließlich der Erinnerung an ein Trauma. Die Person entwickelt ein Empfinden von Bedrohung und ist sich sicher, dass etwas dazwischenkommen und glückliche Gefühle in Unglück verwandeln wird. Das kann gleich nach dem Sex geschehen, nach der Geburt eines Kindes, nach einer Hochzeit, nachdem man einen neuen wunderbaren Menschen getroffen hat oder nachdem man eine Belohnung oder wundervolle Nachrichten erhalten hat.

Das ist der Grund, warum sich das System — perfekt, wie es ist, — verschwört und übermäßige Emotion unterdrückt, wenn intensive alte Erinnerungen herumliegen. Deshalb erlaubt es nur ein bestimmtes Maß an sexueller Erregung und nicht mehr; deshalb schaltet es am Punkt maximaler Intensität das Fühlen ab.


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Ein gewisses Niveau sexueller Erregung löst das Geburtstrauma aus, und Sex wird dann zum Vehikel für die Entladung dieses frühen Schmerzes. Wir können jemandes Sexleben beobachten und rückblickend erkennen, wie seine Geburt war. Es hat mit dem Erregungsniveau zu tun. Der Körper unterscheidet nicht zwischen Sex, einem Autounfall und einem Fußballspiel. Bei einem bestimmten Grad an Intensität kommt es zu einer automatischen Freisetzung des frühen Traumas, das dann von vorne bis hinten abläuft.

Viele Neurotiker sitzen automatisch auf allen ihren Gefühlen, um zu verhindern, dass die ursprünglichen schlechten Gefühle an die Oberfläche kommen. Besser kein Übermut, wenn man nicht auseinander fallen will. Der Körper erledigt das alles automatisch. In Kapitel 6 sahen wir es bei Patricia an ihrer energielosen, sich selbst schützenden Art und bei Celia an ihren manischen Phasen. Ontogenese — die persönliche Entwicklung eines Menschen — scheint die ständige Rekapitulation der primären Prägung zu sein. Im Gegensatz zu dem, was Freud dachte, müssen Sie keine Träume studieren als "Königsweg zum Unbewussten." Wenn Ihre Stimmungen zyklisch sind, suchen Sie bei der Geburt nach den Ursachen.

 

   Migräne: Eine Manifestation des Prototypen?   

 

Patricia, die in Kapitel 6 beschriebene Parasympathin, hatte chronische Migräne. Ihr Arzt verschrieb Vasokonstriktoren, um den Migräneprozess umzukehren. Laut konventioneller Weisheit ist migräneartiger Kopfschmerz das direkte Resultat von Kontraktion und Dilatation von Blutgefäßen im Kopf. Des weiteren sagen Kopfschmerz-Experten, dass Serotonin-Erschöpfung eine zugrunde liegende Ursache von Migräne ist. 

Zu den anderen Faktoren, die Migränen "auslösen" können, gehören Stress, Alkohol, Sex, der Nahrungs­zusatz Natrium-Glutamat (MSG), Nitrite, Hypoglykämie, helle Lichter und laute Geräusche. Einige erweitern die Liste und schreiben der Migräne auch "psychosomatische" Faktoren zu. Weil bis zu siebzig Prozent aller Migränepatienten einen Elternteil haben, der auch Migräne hat, schließen Kopfschmerz-Experten daraus, dass dieser Umstand oft genetisch fundiert ist.


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Man kann sich vielleicht vorstellen, dass ein psychologisches Ereignis wie ein Streit mit dem Ehepartner die physische Reaktion einer Migräne auslöst, aber meiner Ansicht nach ist die Meinungsverschiedenheit in der Ehe nicht der eigentliche Grund, und es ist nicht einfach ein "psychologisches Problem" oder ein genetisches. Die Psyche kam lange nach der "somatischen" Komponente, eine andere Art zu sagen, dass die Materie vor dem "Geist" war. Migränen befinden sich im Körper, nicht im Geist.

Migräne im Erwachsenenalter ist oft eine Reaktion auf die fortbestehende Erinnerung der Anoxie, und sie wird durch den Suchmechanismus ausgelöst. Aktueller Stress regt das Gehirn an, ausfindig zu machen, wie es sich verteidigen kann. Es schaut direkt auf den Prototypen. Im Falle des Erstickens bei der Geburt kann das bedeuten, mit wenig Sauerstoff auszukommen, und das kann die Vasokonstriktion involviert haben, um Sauerstoff zu sparen, was wiederum das ist, was in den frühen Phasen der Migräne geschieht. 

In der ersten Phase der Migräne reagieren die inneren Blutgefäße des Kopfes auf Hypoxie (verminderte Sauerstoffversorgung) durch Zusammenziehen und Verringerung der Sauerstofflieferung an die Zellen. An einem kritischen Punkt, wenn auch diese Reaktion nicht mehr ausreicht, kommt es zu massiver Vaodilatation, und mit ihr kommt die Migräne. Die Vasokonstriktion, der massive Vasodilatation folgt, ist der Überlebensmechanismus. Etwas in der Gegenwart löst den frühen Schmerz aus, und mit dreißig Jahren reagiert der Kopf, als werde er gerade geboren und leide an Sauerstoffmangel. Migräne ist ein Teil des Überlebens.

 

    JOANNA: GEFANGEN IM TEUFELSKREIS   

 

Neuerdings habe ich, wenn ich aufwache, binnen fünf Minuten, was ich "wütendes Kopfweh" nenne. Es befindet sich in meiner Schläfe, meinem Auge, Nacken und in meiner Schulter. Es ist ein Schmerz, ähnlich den Migränen, die ich auf meiner rechten Seite bekomme, aber ein bisschen weniger intensiv. Die ersten Gedanken, die mir in den Sinn kommen, sind: "Jetzt geht das schon wieder los, also kämpfen wir uns durch einen neuen Tag."

Ich fange langsam an (nach sechzehn Monaten Therapie), ein frühes Gefühl zu erleben, von dem ich glaube, dass es mein Leben regiert und die Basis meiner Neurose ist. Es ist ein Gefühl, dass ich ständig um mein Leben kämpfen muss, dass ich die ganze Zeit kämpfen muss, um am Leben zu bleiben. Gegenwärtig ist es für mich eine Realität, dass ich in meinem tagtäglichen Leben kämpfen muss, um einfach auf meinen eigenen zwei Beinen zu bleiben. Meine "natürliche" (ich sollte sagen neurotische) Neigung ist, einfach aufzugeben und nicht zu kämpfen. Der Kreis geht los: kämpfen, nichts erreichen, aufgeben, sterben wollen, nicht sterben wollen, beschließen, nicht zu sterben, und erneut kämpfen, nichts erreichen, und so fort. So ist es ständig mit mir gewesen.


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Je mehr ich in der Gegenwart auf mich selbst achte, desto mehr fühle ich dieses Gefühl. Auf mich selbst zu achten, lässt mich fühlen, wie schwer mein Alleinsein ist, und wie da niemand ist, der hilft. Mein Leben zusammen zu bekommen, bedeutet, anzufangen, wirklich in der Gegenwart zu leben und das Gefühl, kämpfen zu müssen, um zu leben, als altes Gefühl zu fühlen.

Der fernste Punkt, zu dem ich zurückgehe, ist das Alter von einem Jahr (mit Ausnahme eines leichten Geburtsfeelings, über das ich später reden werde). Ich liege im Kinderbettchen und warte einfach auf meine Mutter. Ich warte und warte und warte, aber sie kommt nie. Und ich will sie so sehr bei mir. Nachdem ich eine Weile gewartet habe. fange ich zu würgen und husten an, ich atme schwer, und ich fühle mich, als würde ich sterben, wenn sie nicht zu mir kommt. Ich fühle mich so leer. Ich brauche meine Mutter. Jemand muss sich um mich kümmern. Ich erlebe dieses Feeling stückchenweise zu verschiedenen Zeiten. Oft geschieht es, wenn eine Migräne beginnt. Ein anderes Mal passiert es, nachdem ich einen Orgasmus habe. Je stärker der Orgasmus, um so stärker das Feeling. Es scheint, als ob Vergnügen sofortigen Schmerz bringt. Oft ertappe ich mich dabei, wie ich mich selbst vom vollen Genuss des Orgasmus zurückhalte, wegen des Schmerzes, den er so oft mit sich bringt.

Ich glaube noch immer nicht, dass mein Leben in ausreichend guter Verfassung ist, um den totalen Schmerz dieses Feelings zu fühlen. Der Migräne-Schmerz macht mir die meiste Zeit zu schaffen und sagt mir, dass Schmerz da ist. So ist die Phase, in der ich mich jetzt befinde, dass ich einfach sehr zornig darüber bin, dass ich es in meinem ganzen Leben so schwer gehabt habe. Ich bin noch zorniger, seitdem ich in der Karibik Urlaub machte und drei wundervolle Tage hatte, an denen ich nicht kämpfen musste. Ich lebte einfach. Und ich begriff, was ich mein ganzes Leben vermisst hatte. Ich denke, wenn ich erst einmal diese gewaltige Wut hinter mir habe, werde ich tiefer in dieses Feeling gehen und mich auf den Weg machen, es aufzulösen.

Unterhalb des Gefühls, dass ich kämpfen muss, um zu leben, liegt ein anderes Gefühl, das ich nur ansatzweise erlebt habe. Ich bin zu dem Gefühl des Feststeckens zurückgegangen, als ich gerade geboren werde. Ich muss mich aus dem Geburtskanal herauskämpfen. Schließlich ist mein Kopf draußen, aber der Rest von mir will nicht heraus. Das Feeling ist so eine Analogie zu meinem Leben: Mein Kopf ist draußen, aber der Rest von mir ist inaktiv. Mein Körper fühlt sich nicht verknüpft an. Ich lebe so oft in meinem Kopf, und erst vor kurzem fing ich an, meinen Körper als Teil von mir zu fühlen.

Zurück zu dem Geburtsgefühl: Ich habe das Gefühl, festzustecken, und mein Nacken tut weh. Er schmerzt sogar jetzt, wenn ich darüber schreibe. Es fühlt sich an, als ob jemand an meinem Nacken zieht, und es ist sehr schmerzhaft. Mein Kopf neigt sich von Seite zu Seite, und meine Stimme lässt kleine angstvolle Klagelaute heraus. Erneut kämpfe ich um mein Leben. Ich muss sogar aus eigener Kraft zur Welt kommen. Meine Mutter hilft mir nicht heraus. Das war ganz von Anfang an eine Konstante in meinem ganzen Leben - keine Hilfe, und allein kämpfen, ganz auf mich selbst gestellt.

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Wenn jemand Migräne mit Medikamenten unterdrückt, können dennoch aufgrund der Anoxie-Erinnerung in den Zellen die Voraussetzungen für spätere Erkrankung geschaffen sein. Es ist nicht so, dass Migräne zu Krebs führt, oder dass hoher Blutdruck als Krebs endet (was manchmal passiert), sondern dass dieselbe Einprägung beides verursachen kann. Woher wissen wir das alles? Wenn es nicht wahr wäre, hätten wir am Primal Center bei der Behandlung von Migräne in einer unterschiedlichen Patienten-Population nicht solchen Erfolg gehabt. Wenn Patient um Patient mit Migräne oder hohem Blutdruck hereinkommt und die Geburtsanoxie wiedererlebt, schwächt sich das Symptom entweder ab, oder es verschwindet.

Zufällig ist Sauerstoff eine der wichtigsten Behandlungen für Migräne und Cluster-Kopfschmerzen. Die primärtherapeutische Behandlung für dasselbe Leiden besteht darin, den Mangel an Sauerstoff zu fühlen. Darin liegt der wichtige Unterschied zwischen Symptom- und Ursachenbehandlung. Therapie mit Sauerstoff hilft; dessen Mangel zu fühlen, heilt. Den Mangel zu fühlen, hebt die Verdrängung auf, legt Sauerstoffvorräte frei und macht die Migräne-Reaktionssequenz unnötig.

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