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2.  Der frontale Kortex : Das Gehirn des denkenden Menschen

 

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Der orbito-frontale Kortex (OBFK) liegt hinter den Augäpfeln in der obersten Schicht des Gehirns und kombiniert Informationen von außen mit Erinnerung und persönlicher Geschichte, um bewusstes Verhalten zu erzeugen. Zusammen mit dem präfrontalen Kortex, der sich hinter der Stirn befindet, beginnt der OBFK etwa im Alter von zwei Jahren zu funktionieren und entwickelt sich weiter bis zum Alter von ungefähr zwanzig Jahren.

Es genüge zu wissen, dass dieses vordere Areal der obersten Gehirnschicht mit Gedanken, Ideen, Planung, Überzeugungen, Philosophien, Logik, Vernunft, Verstehen, Voraussicht und Einsicht befasst ist, und all das zustande bringt, indem es Informationen von innen mit Eingaben (input) von außen vereint. Es integriert auch Gefühle der unteren Ebene ins vollständige Bewusstsein ((conscious-awareness)) und verleiht unseren Gefühlen Bedeutung; damit hilft es uns, mit der externen Welt umzugehen. Es beinhaltet Ehrgeiz, abstraktes Denken und ausgeklügelte Konzepte. Es hat mit Ehrgeiz zu tun, weil es Ziele für die Zukunft setzen und Pläne schmieden kann, wie sie zu erreichen sind.

Das Problem besteht darin, dass diese Konzepte manchmal allein im frontalen Bereich existieren ohne solide Verbindung zu den subkortikalen Strukturen des Gehirns. Das erklärt, warum wir schlau sein können, aber nicht intelligent. Durch die Abkoppelung von tieferen Zentren können wir falsch wahrnehmen und falsch urteilen.

Das Wachstum des frontalen Kortex erreicht zwischen achtzehn Monaten und zwei Jahren eine vorläufige Reife. Weil er in wechselseitiger Beziehung zum retikulären Aktivierungssystem steht, muss er angemessen funktionieren, um die Weck- und Alarmfunktion modulieren zu können. Wenn schwere widrige Umstände vor, während und nach der Geburt eintreten, wird der frontale Kortex geschwächt; das Schleusensystem wird beeinträchtigt, was zu schlecht kontrollierten Impulsen und/oder lebenslanger Spannung und Ängstlichkeit führt. Das Kind/der Erwachsene hat keine starke Anti-Schmerz-, Anti-Angstfunktion mehr.

Ereignisse im Umfeld bestimmen die Tiefe kortikalen Wachstums; das wiederum legt fest, wie wir Dinge wahrnehmen, wie wir denken und planen. Ein hohes Maß an Stress oder Vernachlässigung in den ersten zwei Lebensjahren hat zweifellos dauerhafte Folgen für die Gehirnentwicklung. Es kann auch eine Rolle bei der übermäßigen „Straffung" der kortikalen Neuronen spielen, die dem Kind weniger Gehirnkapazität für den Umgang mit zukünftigem Stress belässt. Neuronen scheinen dahin zu gehen, wo sie benötigt werden; sie verkümmern oder schwinden, wenn und wo sie nicht gebraucht werden. Im Umgang mit frühem Trauma werden neue Nervenbahnen konstruiert und andere eliminiert. Im Gegensatz dazu kann es wohl zu einem Defizit in der Entwicklung von Synapsen kommen, wenn es im ersten bis zweiten Jahr nicht genügend Stimulierung oder emotionale Interaktion zwischen Eltern und Kind gibt.

 

Ein Trauma kann die Sekretion von Dopamin stören, eine aktivierende neurochemische Substanz, die oft als die „Wohl­fühl­chemikalie" erwähnt wird und die für die Entwicklung unserer frontokortikalen Nervenzellen notwendig ist. (Hohe Dopaminwerte neigen dazu, Euphorie zu erzeugen.) Wie wir sehen werden, ändert vor allem früher Mangel an Liebe — und das ist immer ein Trauma — die inhibitorischen Neurohormonsysteme, sodass die Verdrängung lebenslang an Wirkung einbüßt. Es ist kein Wunder, dass Angst, die ihre Wurzeln im Mutterleib haben kann, für die konventionelle Psychotherapie so schwer zu behandeln ist.

Ein richtig funktionierender Kortex arbeitet mit dem retikulären Aktivierungssystem zusammen, um die Weck- und Alarmfunktion zu regulieren. Ohne ihn kann man nicht zur Ruhe kommen, und das Ergebnis kann ein chronischer Hyper-Zustand, oder schlimmer noch, eine Angstattacke sein. Die Forschung zeigt, dass frühe Ereignisse unsere Gehirne buchstäblich formen. Ein geliebtes Kind hat wortwörtlich ein anderes Gehirn als ein ungeliebtes. Die Arbeit von Jean Lauder sammelt Indizen, die beweisen, wie widrige Umstände im Mutterleib die Struktur der langen Axone verändern, die Informationen an andere Nerven­zellen weitergeben. Manchmal kommt es zu exzessiver Straffung, weil sich das Gehirn mit übermäßigem Schmerz befassen muss und Gehirnzellen für Verdrängung benutzt anstatt für den Umgang mit der Realität der Außenwelt.

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Liebe erzeugt eine große Menge an Serotonin und anderen verdrängenden Gehirnhormonen, die bei der Unterdrückung zukünftigen Schmerzes helfen. Sie baut auch einen starken präfrontalen Kortex auf, sodass interner und externer Input besser integriert werden kann. Deshalb ist ein geliebtes Kind ein kluges Kind.

Es genüge zu sagen, dass die Mutter oder Bezugsperson eines kleinen Kindes sein übriges Nervensystems konstituiert. Sie füllt die Leerräume auf. Das Kind kann weinen oder schreien, aber es kann sich nicht selbst trösten und somit nicht beruhigen; dafür braucht es die Liebe der Eltern. Durch liebevolle Fürsorge wird es die Fähigkeit entwickeln, später normale liebevolle Reaktionen zu zeigen. Ohne diese Fürsorge wird er zu einem gestörten Erwachsenen, der für immer unfähig ist, sich in sich selbst wohl zu fühlen. Wie könnte es anders sein, wenn doch diejenigen, die unter Schmerz stehen, ein anderes Gehirn haben?

Der frühe Schmerz wird zu einer reverbierenden Kreisbahn ((reverberating circuit)).1 Was Schore vorgeschlagen hat, ist eine mögliche neuronale Schleife für dieses Reverbieren. Überzogene Reaktionen lodern auf im Angesichte des banalsten aller Ereignisse. Eine Frau, die als Kind nie nach ihren Meinungen oder Gefühlen gefragt wurde, wird bei der leisesten Andeutung von Respektlosigkeit überreagieren, zum Beispiel wenn eine Verkäuferin sie beim Vornamen nennt oder ihr Kind ihr widerspricht. Diese unangemessenen Reaktionen erhielten einst das Prädikat „Neurose". Es ist ein Begriff, den wir benutzen können, aber „Schmerz" tut es ebenso.

Ein Imprint hat eine lange Lebensspanne und bewegt sich endlos von subkortikalen Zentren des Hirnstamms zu kortikalen Lagen und zurück. Es stellt den Hintergrund, vor dem sich gegenwärtiges Verhalten bildet. Im oben genannten Fall ist der Mangel an Rücksicht seitens der Eltern im limbischen System deponiert, das dann jeder Situation Bedeutung verleiht, in der es zu einem Mangel an Respekt kommt.

Je katastrophaler das frühe Trauma ist, je länger die frühe emotionale Deprivation andauert, umso katastrophaler ist die spätere Krankheit, sei es psychisch oder physisch. Diese Einprägungen haben nachteilige Wirkung auf die kortikale Entwicklung; das bedeutet die Möglichkeit lebenslanger Angst. Wenn genug Stresshormone in konstanter Wechselwirkung mit dem übrigen Hormonsystem stehen, kann es schließlich zu ernster Krankheit kommen. Eingestempelte Erinnerung verleiht Verhalten wie Aggression, Depression, Paranoia, Eifersucht, Albträumen, Trinken und Drogensucht beständige Dynamik. Wir können von der Zeit „wissen", als unser Vater unsere Mutter verließ, aber wir müssen von diesem Ereignis auch „wissen", indem wir uns mit den Gefühlen in Verbindung setzen, die in unserem Unbewussten unterhalb des Kortex liegen. Dann werden wir bewusst gewahr ((conscious aware)); darin liegt die Agonie begründet. Gewahr zu sein bedeutet nicht unbedingt Agonie. Sich bewusst gewahr zu sein, bedeutet es (wenn es frühen Schmerz gab).

 

1  Allan Schore beschreibt den reverbierenden Prozess: „Diese posterior kortikal-präfrontal-subkortikal limbisch-präfrontal-posterior kortikale Schleife aktiviert einen reverbierenden (sich selbst wiederauslösenden) Kreisprozess, der eine Langzeitgedächtnis-Funktion vermittelt." Allan Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self: The Neurobiology of Emotional Development (Hillsdale, N.J.: Lawrence Erlbaum and Associates, 1994), s.297.

Anm.d.Ü.: Die Begriffe „reverberate" und „reverberation" tauchen in Janovs Büchern immer wieder auf und werden mit „Rückkoppelung", „reverbieren", „resonieren" übersetzt.
Grob gesagt beschreiben diese „Rückkoppelungsschleifen" oder „reverbierenden Kreisprozesse" einen sich selbst steuernden Prozess, der bewirkt, dass Energie in einer geschlossenen Kreisbahn gefangen ist. Ist der Neuronen- „Schaltkreis" erst einmal geschlossen, lösen die Aktionspotentiale einander immer wieder aus, und die zirkulierende Kraft wird zu einem Dauerzustand. Nichtsdestotrotz ist der reverbierende Kreisprozess ein offenes energetisches System, das heißt, der Organismus als Ganzes muss die Energie aufbringen, die diesen Kreisprozess am Leben erhält. Anders gesagt, Urschmerz verbraucht Lebensenergie. - Der „reverberating circuit" ist eine wesentliche Grundlage der Janovschen Theorie des Urschmerzes und der Einprägung.

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Es ist kein Mysterium, warum ein Urschmerz-Trauma später im Leben zu katastrophaler Krankheit führt. Jene frühen Traumen führen zu sehr hohen Messwerten vitaler Körperfunktionen. Diese Kraft bleibt im System und schafft Verwüstung, die schließlich zu ernsthaften Leiden führt. Diese Kraft erfordert eine gleichwertige und entgegengesetzte Verdrängungskraft, so dass das System eine Vielzahl hemmender biochemischer Substanzen zur Arbeit rufen muss. Diese tiefe Verdrängung (und es ist nahezu unmöglich, die Stärke dieses Druckes mit Worten zu vermitteln) übt großen Druck auf die Zellen aus, die schließlich zerfallen oder vom normalen Zustand abweichen.

Der frontale Kortex kann uns entweder mobilisieren oder bremsen (Regulierung nach oben oder unten). Frühes Trauma und Mangel an Liebe schwächen die Fähigkeit zu verlangsamen und bedingen ein hyperaktives und schwer zu kontrollierendes Kind. Überflutet von Impulsen, die von all dem frühen Schmerz stammen, den es erlitten hat, besitzt es nicht die kortikale Ausstattung, um Schmerz zu unterdrücken. Es wird sodann diszipliniert wegen seines Mangels an Disziplin. Das Kind braucht genau deshalb Disziplin von außen, weil es seine innere verloren hat. Des weiteren beschleunigt sich sein Herzschlag aufgrund des Imprints und aufgrund seines Mangels an Kontrolle, und schließlich kann er Jahrzehnte später eine Herzattacke erleiden.

Im Alter von zwei Jahren befindet sich dieses Kind bereits auf dem Weg zu Herzproblemen, die mit fünfzig auftreten. Er wird zu dieser Sorte von Erwachsenen, die sich immer in Bewegung halten muss, die keinen Urlaub machen und nicht ausspannen kann. Es fehlt ihm die kortikale Fähigkeit, seinen Stoffwechsel zu verlangsamen – „die Abkoppelung der Erregung", von der Schore spricht; das resultiert in Geschwüren oder in ulzerativer Kolitis. Auch können die Funktionen der Eingeweide beeinträchtigt werden, da sie ebenso unter Stress stehen. Diese Art von Person kann reizbar und leicht aufzubringen sein. Manchmal kann sie sich fühlen wie: „Ich möchte aus meiner Haut fahren." Sie will die Dinge jetzt erledigt haben! Der frontale Kortex ist ein Kraftwerk selbstproduzierter Analgetika – hemmender, schmerztötender chemischer Substanzen. Stimulation dieses Areals hebt den Spiegel abgesonderter Endorphine an. Auf diese Weise legen Vorstellungen und Gedanken den Schmerz still. Das Geheimnis besteht darin, den Kortex nicht zu früh überzustimulieren.

Der orbitofrontale Kortex (wann immer ich eine Struktur auf globale Weise anspreche, ist es wichtig daran zu denken, dass nur Teilbereiche involviert sind) sendet direkte Botschaften an den Hypothalamus, der dann Strukturen des Hirnstamms wie z.B. die Medulla aktivieren kann und ebenso limbische Stellen. Er sendet anregende Katecholamine (Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin) zur Amygdala des limbischen Systems, wogegen er hemmende (cholinerge) Sekrete an den Hirnstamm schickt.

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Er sendet inhibitorische Botschaften auf biochemischer Routen an die Amygdala und an den Hirnstamm, weil der Input von Schmerz es erfordert. Schmerz erzeugt automatisch und dialektisch seinen Unterdrücker, um einen neuen Zustand zu formen – einen verdrängenden oder partiell fühlenden Organismus. In all seiner Weisheit sagt das Gehirn: „Ich werde dich jeweils nur ein wenig fühlen lassen." Das Gefühl kann sein: „Ohne die Liebe meiner Mutter kann ich nicht überleben."

 

WIE EIN ZORNIGER BLICK ZU EINER 
CHEMIKALIE IN UNSEREM GEHIRN WIRD

Wie wird das böse Wort eines Vaters zu einer chemischen Substanz im Gehirn des Kindes? Die zornigen Worte zeigen mögliche Gefahr und Zurückweisung an. Es gibt Hinweise im Tonfall der Stimme, im Blick und in den Worten selbst. Nun geschieht im Kinde folgendes: Die Achse Hypothalamus-Frontaler Kortex ist damit beschäftigt, Botschaften, die zur Wachsamkeit auffordern, an alle anderen Systeme zu versenden. Diese Botschaft wird per chemischen Kurier geschickt. Es ist die der Botschaft innewohnende Bedeutung, die die chemische Transformation im Gehirn des Kindes in Gang setzt. Der Hypothalamus löst dann die Freisetzung von Katecholaminen im endokrinen System aus, die den Herzschlag und den Blutfluss beschleunigen. Grundsätzlich verläuft der Prozess vom wahrnehmenden frontalen Kortex und anderen Aspekten des Kortex (Hören, Sehen, etc.) über den Hypothalamus zur Hirnanhangdrüse und dann zu Neuronen des sympathischen Nervensystems, welche die Kampf-oder-Flucht-Reaktion auf Gefahr organisieren.

Dieser Prozess kann auch für den angestiegenen Serotonin-Ausstoß verantwortlich sein, der die Flut der Gefühle zurückhalten soll. Wenn die Traumen schwer sind und früh genug stattfanden, können diese Veränderungen dauerhaft werden, weil die Sollwerte verändert werden. Terror des Vaters kann zu einem permanenten Anstieg der Stresshormon-Pegel führen. Der frontale Bereich interagiert mit der Medulla im Hirnstamm, um auf Herz- und Lungenfunktion einzuwirken. Umgekehrt hält der Hirnstamm den Tonus und die Spannkraft des frontalen Kortex aufrecht und stellt ihn ständig darauf ein, auf Gefühle zu reagieren. Wenn der Hirnstamm aufgrund eines frühen Traumas, besonders eines Geburtstraumas, in einem hyperaktiven Zustand ist, können die frontal-limbisch-stammhirnlichen Areale überreagieren. „Hysterie" ist das Etikett, das wir dem resultierenden Verhalten verpassen. „Worüber regst du dich so auf?" „Weiß nicht." Nun wissen wir, woher die Überreaktion kommt.

Der frontale Kortex ist unser ganzes Leben hindurch der veränderbarste Bereich des Gehirns. 

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Wenn wir vom Zugang zu unserem inneren fühlenden Selbst abgeschnitten werden, so werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach beeinflussbarer für Vorstellungen von außen, auch über uns selbst. Anstatt mit Zentren des tieferen Gehirns Verbindung zu halten und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, hört der Kortex auf die Gehirnzentren anderer und folgt ihrem Beispiel. Die Ideen anderer Leute können dominieren.

Wenn die Handlungen der Eltern im Umgang mit dem Baby Wärme ausdrücken, wird das Gehirn des Babys von Opiaten durchströmt, und das resultiert in einem Gefühl der Behaglichkeit. Ich habe vieler meiner Patienten ausrufen hören: „Zeig mir, dass du mich willst, Mama!" In der Tierforschung vermehrt die liebevolle Betreuung von Versuchsexemplaren gleich nach der Geburt die Anti-Angst–Chemikalien wie z.B. Serotonin. Dieses Niveau bleibt dauerhaft, sodass es auch später im Leben noch einen passenden Mechanismus gibt, um mit Unglück oder Stress umzugehen.

Wenn ein Vater sein kleines Kind niemals berührt, wenn er ungeduldig und zornig ist und von einem Zweijährigen Gehorsam verlangt, wird es an kortikalen Neuronen fehlen ...für eine sehr lange Zeit. Umarmungen und Küsse während dieser kritischen Perioden bewirken, dass diese Neuronen wachsen und sich angemessen mit anderen Neuronen verknüpfen. Sie können dieses Gehirn zur Reife küssen.

Ein Vater, der niemals Freude zeigt, wenn er das Baby sieht, niemals freundlich auf ihr1 Schreien reagiert, formt ein neues Gehirn in seinem Nachwuchs. Jede Handlung des Elternteils kann ausstrahlen, dass sie unglücklich mit dem Kind sind, das nichts anderes getan hat, als geboren zu werden und sich in sein Leben einzumischen. Jetzt ist bereits alles vorbereitet für späteres Unglück und Depression. Sie steht nun in einem lebenslangen Kampf, den Vater dazu zu bringen, dass er mit ihr glücklich ist – ein fruchtloses Unterfangen. Es ist eine Empfindung des Ungewolltseins, die das Baby fühlen kann, lange bevor es die begrifflichen Vorstellungen von ungewollt und ungeliebt versteht. 

Und was kann das Baby tun? Nichts. Ihr Gehirn wird in Alarmbereitschaft sein. Wenn auch ihre Mutter kalt und lieblos ist, kann sie sich später dann an Frauen wenden, um Liebe zu bekommen. Oder, noch wahrscheinlicher, die Frau kann sich an Männer wenden, die ihr gegenüber leidenschaftslos sind, sodass sie darum kämpfen kann, dass sie sie lieben. Wer kann mit so einem Gefühl leben, wenn Sie total von Leuten abhängig sind, die Sie nicht mögen? Und aufgrund des frühen Traumas und seiner Auswirkungen auf den frontalen Bereich kann die Person sich selbst und ihre Bedürfnisse nicht kontrollieren. Sie wird sie umgehend ausagieren.

Alles ändert sich jedoch im Erwachsenenleben, weil das Kind jetzt für die Eltern sorgen kann; es kann sich um sie kümmern, kann ihnen Aufmerksamkeit schenken, ihre Plätze einnehmen und, kurz gesagt, es braucht kein kleines Kind mehr sein. Und warum macht das Kind das? Weil sich das Bedürfnis nie gewandelt hat und das Kind sich noch immer erwünscht fühlen muss.

 

1 Anm. d. Ü.: Janov verwendet oft die weibliche Form, wenn beide Geschlechter gemeint sind, im Gegensatz zum verbreiteten Usus, in diesem Falle die männliche Form bevorzugen (It’s A Man’s World); bzw. er wählt für Beispiele den weiblichen Menschen.

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Nun ist sie nicht nur erwünscht, sondern wird von den ältlichen Eltern tatsächlich gebraucht; ein vollständiger Rollentausch und das, was die depravierten Eltern die ganze Zeit brauchten. Wie hätte sich die Mutter um das Kind kümmern können, wo sie doch das bedürftige Kind war?

Der frontale Kortex nimmt 30 Prozent der kortikalen Gesamtmasse ein. Wenn ein Defizit im Kortex eintritt, können Impulse reagieren. Wenn ein Ehemann seine schwangere Frau verlässt, weil er keine Kinder will, wird sie wahrscheinlich deprimiert oder ängstlich sein. Damit konfrontiert, ein Kind alleine aufziehen zu müssen, sondert die Mutter mehr Stresshormone ab. Diese veränderte chemisch-hormonelle Balance wirkt sich letzten Endes auf das System des Fetus aus und kann zu Früh- oder Fehlgeburt führen. Natürlich wird eine Mutter, die wegen ihrer eigenen miserablen Kindheit chronisch ängstlich ist, auch ohne ein aktuelles auslösendes Ereignis hohe Stresspegel aufweisen.

Eine hyperaktive Mutter, die sich wegen der Ereignisse, die ihr vielleicht in den ersten Monaten oder Jahren ihres eigenen Lebens widerfahren waren, nicht entspannen kann und ihr Kind nicht beruhigen kann, wird den frontalen Kortex ihres Kindes schwächen; nicht durch vorsätzliche Handlungen, sondern weil sie so ist, wie sie ist. Können Sie ihr sagen, das Baby sanft zu halten? Ja, aber Sie können ihr nicht sagen, das Baby mit Liebe zu halten; denn die teilt sich auf natürlichem Wege mit. Wenn die Mutter ihrem Baby niemals sagen würde „Ich liebe dich", aber ihr Kind ständig bewundern, herzen und küssen würde, so würde dieses Kind mit dem Gefühl aufwachsen, dass es geliebt wird.

Die Anzahl synaptischer Anschlussstellen nimmt kontinuierlich bis zum Alter von zwei Jahren zu, wo sie einen Höhepunkt erreicht. Dann schwinden die Verbindungsstellen, die nicht mehr benötigt werden, in einem Darwinschen Überlebensprozess, der als Straffung bekannt ist, und belassen uns die Menge, die wir benutzen und brauchen. Schweres Trauma stört den synaptischen Wachstumsprozess, was sich letztendlich in verminderter Denkfähigkeit widerspiegelt – eine Lücke im Intellekt. Wir finden dann vielleicht Unbeholfenheit vor, Mangel an Koordination, schlechtes räumliches Vorstellungsvermögen und einen ganzen Haufen an Problemen, deren Vermeidung von einem gut funktionierendem Kortex abhängig ist.

Die gesamte aktuelle Forschung weist darauf hin, dass frühe elterliche Fürsorge einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Kinder, die von Anfang an ohne Herzlichkeit und Berührung aufgezogen wurden, wiesen einen abnorm hohen Stresshormon-Pegel auf. Eine Studie an rumänischen Waisenkindern erbrachte dieses Resultat. Diese Hormone können das Wachstum und die Entwicklung des Gehirns schwächen. Beim Treffen der Gesellschaft für Neurowissenschaften in New Orleans (1997) bemerkte Michael Meaney vom Douglas Hospital Research Center in Montreal, dass die Gegenwart der Mütter dafür garantiert, dass die Stress­hormone in ihrem Nachwuchs auf niedrigem Niveau bleiben.

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Jede Art von Berührung, einschließlich sanftes Bürsten, konnte bei Tieren die Stresspegel rückgängig machen, die durch frühe mütterliche Deprivation verursacht worden waren. Es braucht nicht viel Berührung, um ein Kind zu beruhigen. Diejenigen meiner Patienten, die unter mangelndem Körperkontakt zu leiden hatten, erleben den Moment wieder, als ihr Vater ihnen freundlich die Hand auf die Schulter legte. Welch ein wundervoller Augenblick das für sie war!

"Haben Sie Ihr Kind (oder Hund) heute schon geherzt", sagt der Autoaufkleber. Umarmung wirkt nicht nur wie 25 Milligramm Prozac (Serotonin), sondern Umarmung gleicht im wahrsten Sinne des Wortes physiologisch einer bestimmten Milligramm-Menge an Prozac im Körper des Babys. Wir ermutigen unsere isolierten, zurückgezogenen Patienten, sich ein Haustier zu beschaffen. Es ist ein erster Schritt dahin, Zuneigung zu geben und zu bekommen. Sie müssen etwas oder jemanden umarmen. Ein Hund wird sie dafür ablecken. Er kann nicht „Ich liebe dich" sagen, aber er wird es zeigen.

Berührung und Zärtlichkeit sind von ganz früh an entscheidend. Berührung erzeugt Vorstufen oder Bausteine unserer eingebauten Tranquilizer wie z.B. Serotonin. Auf diese Weise macht es uns stark gegenüber späteren Nöten. Eine Wirkung fehlenden Körper­kontakts am Lebensanfang besteht darin, dass es uns anfälliger für Angst macht, indem es das Verdrängungssystem schwächt, das Furcht zurückhält, die tief im zentralen Nervensystem gespeichert ist, dort wo Hirnstamm-Terror organisiert wird, im locus caeruleus. Eine Studie von Smythe und anderen fand Langzeiteffekte in der Entwicklung und Vermehrung von Serotonin-Vorstufen bei Tieren, die sehr früh im Leben betreut worden waren. Das war nicht der Fall bei erwachsenen Tieren, die außerhalb der kritischen Periode betreut wurden.

Die Langzeit-Wirkungen von frühem Stress auf die spätere Entwicklung hat der Pharmakologe David Peters genau dokumentiert. In Tierexperimenten mit Föten beeinträchtigte eine gestresste Mutter den Serotonin-Ausstoß des Nachwuchses. Peters fand heraus, dass Stress die spätere Entwicklung von Schlüssel-Neuronen des Hemmungsapparats schwächte und die synaptischen Kontaktstellen störte. Das ist ein wichtiger Beweis dafür, dass der Zustand der austragenden Mutter das Kind für den Rest seines Lebens beeinträchtigen kann. 

Die Arbeit von M.J. Meaney gibt Aufschluss darüber, wie sehr früh eintretende Umstände die Gehirnentwicklung beeinträchtigen, speziell die des Vorderhirns. Rattenjunge wurden in dieser Studie in den ersten einundzwanzig Tagen nach der Geburt betreut. Später im Leben wiesen sie ein niedrigeres Stresshormon-Niveau in der Antwort auf externe Stressoren auf. Sie normalisierten sich auch schneller, indem sie nach einer Stress-Situation schneller zu den Ausgangswerten zurückkehrten. Der Autor betont, dass die Veränderungen im System der Ratten ein Leben lang anhielten.

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PROTOKOLL EINER SITZUNG

 

Das Folgende ist die Abschrift einer Sitzung mit Mary1. Wo "(Weint)" geschrieben steht, handelt es sich oft um das tiefe kleinkindliche Weinen eines Babys. Dann kommt sie aus dem Gefühl heraus und diskutiert ihre Einsichten. Der Leser wird sich im Geiste fragen: Wie kommt es, dass die Therapeutin so wenig sagt? Ich habe siebzehn Jahre lang Einsichts-Therapie praktiziert und ich war wortreich. Primärtherapie erfordert sehr wenig Intervention. Im Zeitraum einer Zwei-Stunden-Sitzung sage ich gewöhnlich nicht mehr als zwei oder drei Sätze. Aber diese Worte müssen präzise sein und sie müssen zählen. Wir Therapeuten reden am Ende der Sitzung sehr viel; das ist bekannt als Postsession. Dann beschäftigen wir uns mit den Einsichten und versuchen, die heutige Sitzung mit der gestrigen zu verbinden. Wir wollen auch verstehen, wie die in der Sitzung erlebten Gefühle zum gegenwärtigen Leben des Patienten in Beziehung stehen. Es ist die Zeit der Integration.

 

Therapeutin: Sag mir, wie fühlst du dich?

Mary: Nun, ich bin müde, ich hab nicht viele Stunden geschlafen.

Warum?

Ich glaub,’ ich hatte am Nachmittag ein Nickerchen gemacht, weil ich gestern nachmittags so müde war. Und weil mir so viele verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gingen. Ich war einfach so aufgeregt und hab’ mich schwer getan es abzustellen. Ein Gefühl, das ich heute morgen bemerkte, ist, dass mein Atem sich sehr, sehr flach anfühlt. Da hab’ ich bemerkt, was mit meinem Körper los ist; dass ich einfach nicht viel atme.

Dein Körper fühlt sich einfach müde an?

Ich fühle mich, als möchte ich in einen ganz tiefen Schlaf fallen. Ich spüre, dass ich keine Lust habe, viel nachzudenken. Ich will nicht viel nachdenken. Ich möchte jede Stimulierung abschalten. Und ich weiß wirklich nicht, wie ich an meine Gefühle rankommen kann, weil ich überhaupt keinen Anhaltspunkt habe.

 

Die Namen der Patienten wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen. 

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Ist das dein üblicher Zustand, wenn du körperlich müde bist, oder denkst du, dass etwas nicht stimmt?

Ich glaube, dass ich Schlaf benutze, um alles abzustellen; dass, wenn ich überlastet bin, es meine Art ist, alles.......abzuschalten. Und so, tja, wie ich mich heute morgen fühle, ist normaler Input. Es ist, als will mein Körper in diesen glückseligen Zustand hineinkommen und ihn erreichen. Ich hab ihn durch Schlaf erreicht oder versucht zu erreichen.

Fühlst du dich überwältigt?

Ja, ich fühle mich, als ob eine Menge los wäre in meinem Tagleben. Eine Menge Dinge erfordern Aufmerksamkeit.

Du möchtest darüber reden?

Die größte, ich glaube, die größte Sache handelt vom Vater der Kinder. Er drangsaliert mich. Wie Entscheidungen zu treffen sind darüber, wie wir mit unserer Trennung weitermachen sollen,....und die Gefühle, die es hochbringt.

Kannst du genauer sein, welche Gefühle bringt es hoch?

Es bringt das Gefühl hoch, dass ich gemein sein muss, und ich will nicht gemein sein. Ich bin drauf und dran, das Boot wirklich ins Wanken zu bringen, sein Leben durcheinander zu bringen. Ich will das wirklich nicht tun. Es ist, Dinge tun zu müssen, die ich wirklich nicht tun will. Ich hätte lieber, dass die Dinge einfach glatt liefen und dass es Verständnis gäbe. Als ich durch diese Scheidung ging, hatte ich soviel Angst, in durcheinander zu bringen und ihn verrückt zu machen, weil ich spürte, dass es mir Schaden zufügen würde. Ich erkenne, dass das ziemlich zu der Situation mit meiner Mutter passte. Ich wollte sie nicht verrückt machen, weil das sehr bedrohliche Konsequenzen hatte. Sicher, als ich das mit Ted durchmachte, begriff ich nicht, dass es das war, womit dieses große Gefühl verknüpft war, so ist noch ein Rest davon da. Ich fühle mich, als ob es meinen Verstand einnebelt. Kann ich verletzt werden, wenn ich weiter auf diesem Thema herumreite? Es fühlt sich einfach nicht sicher an, es ist einfach unangenehm. Ich fühle mich, als müsste ich durch ein Territorium gehen, das ich einfach nicht mag, und dass ich es lieber nicht tun würde.

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Also ich denke, das ist es....durch eine Situation gehen, wo ich nicht durch will. Fühlt sich nicht gut an. Das ist verwandt mit kämpfen müssen. Ich habe versucht, diese Art von Druck wegzuschieben. Und noch weiß ich, was ich tun muss. Dann wünsche ich mir, es sei anders, ich wünschte mir immer, es sei anders. Es ist einfach erstaunlich für mich. Ich meine, hier rede ich darüber, wie ich mir immer gewünscht habe, meine Situation mit Ted, dieser ganze Trennungsprozess sei anders. Das ist genau so, wie ich über meine Kindheit empfinde. Ich wünschte, es wär’ was anders als ein Kind zu sein, ich wünschte, es wär’ anders. (Weint)

Ich wünschte, es gäbe Verständnis. Ich wünschte, es gäbe Rücksicht. Rücksicht auf mein Leben. Ich wünschte, es gäbe keine Bedrohung. Ich wünschte, es gäbe Unterstützung. Ich wünschte, jemand würde sich um mein Leben kümmern, würde es mir leichter machen. (Weint) Ich höre alles, was ich gerade sage und ich höre, wie zutreffend es für mein ganzes frühes Leben ist. Ich weiß einfach, dass mein Leben mit Ted dadurch verkorkst wird. Ich fühle mich, als würde er kontrollieren und die Dinge schwer machen, gerade wie.....Sie hat sich einfach nicht gekümmert. (Weint) Sie hat sich nicht darum gekümmert, wie ich mich fühle. (Weint heftig) Es war nicht wichtig. Die Wirkung, die es auf mich hatte. Es gab einfach keinen Gedanken, keine Sensibilität in meine Richtung, als Person, als ein anderes menschliches Wesen. Es hat nicht bedeutet. Ich habe nichts bedeutet. (Weint)

Erinnerst du dich an Zeiten wie diese?

Ja, es gibt ein paar, die herausstechen, einen sehr großen Eindruck auf mich machten. Eine davon..... Ich war etwa sechs Jahre alt, und was ich tat, war, hm,......Es war Weihnachten, es war Weihnacht-Abend, ja. Und sie hatte Leber zum Abendessen gemacht, und als wir uns an den Tisch setzten zum Essen,... und ich hab’ es probiert und hab’ es nicht gemocht. Ich hab’ es überhaupt nicht gemocht. Und es war ihr egal, dass ich es nicht gemocht habe. Ich musste es essen. Und es brachte mich zum Würgen, so sehr habe ich es nicht gemocht. Und es ist, als würde es nichts machen, dass ich diese Art von Reaktion hatte, es machte nichts aus. (Weint)

Was ist passiert?

Nun, sie ließ mich hinsetzen und es essen. Verstehst du, ich hab’ daran gewürgt, obwohl ich es nicht mochte, hat sie es gemacht, und ich war dabei, es zu essen. Und dann fing sie an, mir zu drohen, dass, wenn ich es nicht aufesse, ich dann sofort ins Bett gehen müsse und kein Geschenk aufmachen dürfe. Sie fing an, alles wegzubringen. Und ich hasste es einfach, ich hasste es einfach!

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Ich mochte es nicht! Ich wollte es nicht essen! Es schmeckte nicht gut! Und ich konnte es nicht aufessen. Und so ging ich weinend ins Bett. Es gab einfach kein Mitleid, keine Sensibilität. Ich tue das niemals meiner Tochter an. Niemals! Es gab eine Menge Zeiten wie diese. Wo ich einfach weinend ins Bett ging. Es spielte einfach keine Rolle, wie ich mich fühlte. Und es war niemand da, der sich wirklich sorgte, der dachte, dass meine Gefühle wirklich was bedeuteten. Sie bedeuteten nichts.

(Weint) Ich habe nichts Schlimmes getan, ich habe nichts Falsches getan, ich mochte einfach den Geschmack nicht. Ich wollte nicht ungehorsam sein. (Tieferes Schluchzen) Ich wollte nichts Schlimmes oder Falsches machen, es hat einfach so grauenvoll geschmeckt. Ich will, dass du mich verstehst. Ich wollte dich sagen hören.....ich wollte dich sagen hören „Schmeckt es wirklich so übel?" Ich wollte, dass du hörst, wie ich mich fühlte, wie es mir geschmeckt hat, wie ich es nicht gemocht habe, wie es mich zum Würgen brachte, und dass es in Ordnung für dich ist, dass ich es nicht gegessen habe; dass ich wichtiger für dich bin als ein Stück Leber zu essen. Ich hätte mir gewünscht, dass du schaust, ob was anderes da ist, das ich essen könnte. Aber du warst gemein. Du lässt mich etwas essen, dass so furchtbar schmeckt. (Kehrt zum Weinen eines Erwachsenen zurück) Ich wollte, dass du zuhörst, ich wollte, dass du zuhörst. Ich wollte, dass du dir genug Sorgen machst, wie ich mich fühlte. Ich wollte wissen, dass ich wichtiger war als dieses Stück Fleisch. (Nun als kleines Kind) Bitte kümmere dich darum, wie ich mich fühle. Bitte lass’ mich nicht etwas tun, das ich nicht tun will, das sich nicht gut anfühlt für mich. Oh bitte mach’ dir Sorgen um mich und wie ich mich fühle (15 Minuten tiefes kindliches Weinen).

(Patientin liegt im schalldichten Raum auf dem gepolsterten Boden. Hier ist das Gespräch an die Therapeutin gerichtet.) Weil ... das ist, wie ich mich fühlte, als ich belästigt wurde. Bitte zwing’ mich nicht etwas zu tun, dass ich nicht tun will. Und wenn jemand Dinge macht, die ich nicht tun wollte, macht es mich verrückt. Meine Mutter spielte geradewegs in diesen Prozess mit ein. Bitte zwinge mich nicht, Dinge zu tun, die ich nicht tun will. Es fühlt sich nicht gut an.

Es gab eine Menge, es gab eine Menge Dinge, die ich tun musste und nicht tun wollte. Ich wollte es nicht tun. Ich musste es tun, weil ich überleben musste. So ließ mich dieser Mist, Dinge zu tun, die ich nicht tun wollte, alleine fühlen. Da war niemand, der zuhörte. (Wieder in der Kindheit, weint) Zwing’ mich nicht, ich will es nicht tun. Du kannst nicht hören! Niemand ist da mich zu beschützen. (An die Therapeutin) Deswegen will ich schlafen gehen; deshalb will ich unbewusst werden, weil ich in diesen Momenten nichts wahrnehme, nichts fühle, mich nicht damit beschäftigen muss, was um mich vorgeht. Ich kann mir eine Auszeit nehmen.

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Mein Bruder hat mich herumkommandiert; wenn ich nicht getan habe, was er von mir wollte, hat er mich verhauen. So viele Male, als ich aufwuchs, nannte er mich seine Sklavin. Wenn ich nicht getan habe, was er wollte, drohte er damit, mir weh zu tun. So stand ich da und hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte. Keine Arme, in die ich mich begeben und denen ich sagen kann „Schützt mich, sie verletzen mich". Niemand, der mich beruhigte: "Ich lasse nicht zu, dass dich irgendwas verletzt." Das gab es nicht. Also musste ich es hinnehmen.

Von wem wolltest du, dass er oder sie dich beschützt?

Ich wollte von denen in meiner Umgebung, dass sie mich beschützten. Ich wollte, dass meine Mutter sich um mich kümmerte und mich beschützte. Ich wollte einen Vater haben, der da war, der nicht zuließ, dass mir was passierte. Ich wollte, dass mein Bruder sich um mich kümmerte und mich beschützte. Ich wollte, dass die ganze Welt mich beschützte. Und sich um mich kümmerte. Und kein Unrecht an mich heranließ. Ich wollte, dass die ganze Welt sich um mich kümmerte.

(Tiefes Weinen) Oh bitte. Bitte kümmert euch um mich. Bitte habt mich lieb, bitte beschützt mich. Bitte seid freundlich zu mir. Bitte! Bitte! Ich muss wissen, dass ihr euch Sorgen macht. Bitte sorgt euch. Bitte! Ich hab’ nichts Falsches gemacht. Ich will nur wichtig für euch sein. Bitte. Ich will nur, dass meine Gefühle etwas bedeuten. Bitte, bitte, bitte, seid freundlich, bitte. Bitte verletzt mich nicht. Bitte sorgt euch, wie ich mich fühle. (Zwanzig Minuten tiefes Weinen) Und ich dachte daran, als mein Sohn auch so sechs oder sieben war, und er seine Schwester schlug, da kam Wut in mir auf. Es war wie „du wirst ihr nicht weh tun! Ich werde sie beschützen! Und sie ist ein wunderbares Kind! Du wirst ihr nicht weh tun!" Genau so hätte ich gewollt, dass mich jemand beschützt! Was ich wollte, war, dass jemand aufgestanden wäre, wie ich es für Betty getan habe, und gesagt hätte „Nein, nein! Das wirst du nicht tun! Ich lass’ dich nicht. Zuerst musst du durch mich hindurch!" Aber da war niemand! Keiner da, der das für mich getan hätte. Und ich ließ es in keinem Fall zu, dass Rob Betty verletzte. Ich hab’ sie beschützt. Ich ließ sie nicht erleben, was ich erlebt hatte.

Und es war mir wirklich ungemein wichtig, nachdem diese Situationen mit Rob passiert waren, ihm zu erklären warum, ihn wissen zu lassen, wie mir weh getan wurde, wie da niemand war, der mich beschützte. Wie es sich anfühlte und wie ich das in meinem Haus nicht zulassen konnte, wenn ich da war. Weil ich denke, dass Gefühle zählen, zählen sie eine Menge. Meine Gefühle haben niemals etwas gezählt. Ich wünschte, jemand hätte gefühlt, dass sie etwas zählen. Gefühle sind sehr wichtig. 

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Ich wollte, dass sich jemand darum gekümmert hätte, wie ich mich fühlte. Ich wollte jemanden, in dessen Arme ich fliehen konnte um mich sicher zu fühlen, jemanden, der mich beschützen würde. Ich konnte nirgendwo hingehen.

Einmal passierte es, dass meine Mutter an einem Wochenende fortging, und als sie zurückkam, war sie mit jemanden verheiratet, dem ich nie zuvor begegnet war. Sah die Person nie zuvor. Und ich wünschte, sie hätte sich die Zeit genommen zu sagen: „Schatz, was denkst du darüber?", weil es mir nicht gefiel! Es gefiel mir nicht. Diese neue Person gefiel mir nicht. Es spielte keine Rolle, wie ich mich fühlte. Sie nahm sich nie die Zeit, mich was zu fragen. „Willst du diesen Menschen hier haben? Wie fühlst du dich dabei?" Ich musste es einfach akzeptieren. 

Und sie wollte, dass ich sofort Papi zu ihm sagte. Er ist nicht mein Papi. Und ich wollte ihn nicht küssen, und ich wollte nicht, dass er mich berührt. Und ich musste es einfach akzeptieren. Ich wurde nicht gefragt, wie ich mich fühlte. Ich war nicht wichtig. Ich wollte, dass du mir sagst, was du tust, ich wollte, dass du mich fragst, wie ich mich fühle. Ich wollte, dass du mich fragst: „Will ich einen Papi?" Ich wollte, dass du mir Zeit gibst, diesen Menschen kennen zu lernen und dir zu sagen, wie ich mich fühlte. Und dass dir an meinen Gefühlen liegt. Du hast ihn einfach auf mich geschmissen! Es gefiel mir nicht. Es war nicht richtig, es war nicht richtig, das zu tun. Es ist nicht richtig. Und ich habe die Tatsache nicht gemocht, dass er mir die Beachtung wegnahm, das bisschen Beachtung, das ich von dir bekommen konnte. Ich mochte die Tatsache nicht, dass er mehr bedeutete als ich. (Weint)

Und ich sehe, wie all das wahr ist, auch für die Zeit im Mutterleib. Es spielte keine Rolle. Ich zählte nicht, ich wurde nicht beachtet! (Tiefes Weinen). Ihr sollt wissen, dass ich zähle. Ich bin etwas wert! Meine Gefühle spielen eine Rolle. Ich zähle! Und ich wollte etwas wert sein! Du machst es mir so schwer!

Nur die Vorstellung, dass das Leben leicht sei. Ich kann mir vorstellen, wie es in einer Umgebung wäre, in der ich eine Mutter und einen Vater und eine Familie hätte, die sich um mich kümmert. Ich hätte das Leben geliebt. Ich hätte gedacht, dass Leben sei magisch, sicher, tragend. Ich wäre nicht voller Angst aufgewachsen. Stattdessen bekomme ich eine Menge Schmerz, genau das bekomme ich. Meine Mutter hat mein Leben nie unterstützt. Nicht am Anfang, nicht als Kind, nicht, als ich älter wurde. Sie verursachte nur eine Menge Schmerz. Es war so grausam. (Zurück zu kindlichem Weinen) Du kümmerst dich nicht! Du bist so böse. Es tut mir so weh. Ich brauche es, dass du mich liebst. Ich brauche es, dass du mir hilfst. Es würde soviel ausmachen. Du wärst so stolz auf mich. Ich könnte dich so sehr lieben. Du denkst nur an dich selbst. Niemand anders ist wichtig, nur du, du bist wichtig. So ist es.

(Zurück in der Gegenwart) Ich wollte, dass es ganz anders lief mit dem, was ich mit Fred durchmache. Ich wollte, dass es anders lief. Es sind dieselben Gefühle.

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Ich will, dass er sich darum kümmert, wie ich mich fühle. Ich will, dass er versteht. Ich will, dass er sich darum kümmert, wie ich mich fühle. So bringt es mich zum Kämpfen, weil ich darum kämpfen muss, wie ich mich fühle. Ich muss kämpfen, dass man mir zuhört. Ich muss kämpfen und sagen, dass ich was bedeute. Ich zähle. Ich muss kämpfen, dass man mir zuhört. Und ich will, dass es anders ist!

Das sollte das Recht eines Kindes sein. Ich bin immer so erstaunt darüber, wie fragil und doch unverwüstlich ein Mensch wirklich ist. Ein Wort, ein Satz kann so große Wirkung haben, und es kann dich durch und durch verletzen. Ich hab’ mich immer gefragt „Wie kann das sein?" Und ich denke, wenn ich ein menschliches Wesen wie ein Stück Lehm betrachte, und wenn jede harte Sache, die du je gesagt hast einen Abdruck auf dem Lehm hinterlässt,....du kannst den Lehm nehmen und draufsteigen und ihn platt machen, er wird immer noch eine gewisse Form haben. Ich glaube, Menschen sind wie Lehm; und abhängig von den Dingen, denen sie ausgesetzt sind, und von den Erfahrungen, die sie machen, ist die Skulptur, zu der sie werden.

(An die Therapeutin gerichtet) Also ist es die Wahrheit, dass Gefühle nicht wirklich verstanden werden, nicht wahr? Sie sind wie eine Sprache, die nicht gesprochen wird. Wir verstehen die Sprache, ihr versteht die Sprache. Ihr seid die Interpreten der Sprache. Ihr werdet ein neues Fachgebiet sein, Fühlologen genannt.

Wenn du ein Kind hättest und kannst die Striemen auf seinem Körper sehen, dann weißt du, dass du Schaden angerichtet hast. Aber Worte und gedankenlose Kritik machen dasselbe. Du kannst es nicht sehen. Und ich hab’ das alles so satt. Es ist ein bisschen schwer für mich zu verstehen, warum das so schwer zu verstehen ist. Es ist ein bisschen schwer für mich. Aber ich kann es doch klar sehen. Haben wir nicht unsere Augen, um das zu sehen, oder unseren Verstand, um es zu begreifen? Natürlich, das passt zu meinen Gefühlen primitiv zu sein, noch nicht genug entwickelt.

Ich meine, Gefühle zu fühlen würde einfach die Wesensart der Menschheit ändern. Zu wissen, dass es einen Anfangspunkt gibt. Zu wissen, wenn du ein Kind austrägst, dass es so wichtig ist, wie du dich fühlst. Weißt du, ich scherze mit dir über den sprechenden Fetus, aber die Wahrheit ist, nüchterner gesagt, dass es der fühlende Fetus ist. Wirklich. Was für ein Unterschied, wenn du weißt, du wirst geliebt. Das gibt dir einfach Bedeutung, wirklich, dass glaube ich. Es trägt zu einem Gefühl bei, dass du alles kannst, und das öffnet deine Seele noch mehr. Wenn du daran glaubst, dass du alles kannst bis zu einem gewissen Grad, dann glaubst du, das alles möglich ist.

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Was hast du noch durchgemacht?

Nun, ich kam heute herein und dachte, ich hätte kein einziges Gefühl; und merkte dann, wie flach ich geatmet habe. Und dass ich müde war. Das brachte mich dazu, einfach schlafen zu wollen. Die Stimulierung ausblenden; diesen Frieden finden.

Kannst du identifizieren, was es ist?
Nun, ich sag’ dir, wie sich das für mich angefühlt hat. Ich war einfach in der Ruhephase.

Was bewirkt die?
Sie schont die Energie.

Und gefühlsmäßig?
Es hält mich vom Fühlen ab. Ich will nicht fühlen, ich will keinen Input.

Was macht das aus?
Es ist eine Schutzmaßnahme. Es ist ein Rückzug. Eine der Verknüpfungen, die ich dazu bilden kann, ist, dass es grundsätzlich eine Schutzmaßnahme ist, um mein Leben zu schonen. Und ich denke, es verdient Respekt.

Du weißt, es ist ein Mechanismus, dessen du dir bewusst sein musst, wenn du fühlen willst, so dass du nicht hineinfällst, weil es so bequem ist. Aber es ist gut für dich zu wissen, dass, wenn du in diesen Zustand gehst, es ein Reparatur-Zustand ist. Es ist auch ein Abwehr-Zustand in dem Sinn, dass du, wenn du da reingehst, alles wegschließt. Du erholst dich, aber du fühlst auch nichts.

Aber ich brauche das, wirklich, ich brauche das.

Es ist zuviel. Es ist eine Abwehr. Das musst du wissen, und wenn es geschieht, weißt du, was mit dir geschieht. Du hast gesagt „Dorthin muss ich mich begeben, wenn ich überlastet bin." Und jetzt bist du überlastet.

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„Überlastet" ist ein sehr vertrautes Wort in meinem Leben. Teil meines, ja, Teil meines Vokabulars, „überlastet" wäre eins. Zuviel.

Weißt du, wenn es zuviel Schmerz gibt, lebst du tatsächlich in einem Zustand von Überlastung. Wir laufen jeden Tag unseres Lebens in einem Zustand von Überlastung herum, weil wir schon diese gewaltige Menge an Schmerz haben. Unser System beschäftigt sich mit so vielem. Irgendwas in der Gegenwart kommt noch hinzu, und dann ist es für alle einfach zuviel, als dass sie damit klarkommen könnten. Genau das ist passiert. Du könntest ein anderes Wort verwenden, nämlich „Leiden."

Aber ich bin sowas wie dran gewöhnt, weil ich mich so lange darin aufgehalten habe. Aber ich sehe, da gibt es andere Möglichkeiten. Ich spüre, das ist die Richtung, in die ich mich bewege. Deshalb..., ich meine, ich habe Vertrauen, das ich da durchkomme. Einmal, weil ich dieses alte Muster habe, in das ich zurückfallen kann, von dem ich weiß, dass es mich da durchbringt. Ich kann überlastet sein, ich kann leiden, aber ich werde überleben. Aber ich sehe auch diese andere Richtung, die, wenn ich mich weiter dorthin bewege und es fühle und die Gefühle wieder nach oben bringe, geradewegs die Tür zu der Erfahrung öffnet, in die ich eintauchen will.

Könntest du mir jetzt sagen, warum es sich so unangenehm anfühlt, durch diesen Prozess zu gehen?

Ich gehe da durch, aber ich will nicht. Ich spüre, ich muss es tun. Und es beschwört diesen Kampf um meine Rechte herauf. Ich meine, es spielt in soviel hinein. Ich meine, das ist der schwierige Part für mich. Ich bin ständig am Kämpfen, von dem Moment an, als sie diesen Ehevertrag aufgesetzt hatten, und sie gaben sich zehn Jahre, um mich auszuzahlen, und es war ganz und gar nicht in Ordnung für mich. Ich denke nicht, dass es fair ist, und mein ganzes System ist aufgebracht, um es zu ändern. Was auch immer nötig ist, das zu klären, ich mach’ es, weil ich nicht daran gebunden sein will, weil wir nicht mehr verheiratet sind.

Meine erste Reaktion in der Therapie ist, ich werde nicht um das bitten, was natürlich gewesen sein sollte. Ich werde sie nicht bitten. Doch als du mich gedrängt hast, es zu tun, hat es die Fluttore geöffnet. Soviel Leiden. Das bringt mich in Rage, das macht mich rasend, lässt meinen Atem stocken. Weißt du, das ist der richtige Weg. Ich bin mir bewusst, wohin bestimmte Dinge mich bringen. Aber es hat sich gut angefühlt, in meiner Kindheit zu leben und mit all diesen Gefühlen Verbindung aufzunehmen.

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AN DER KREUZUNG: DAS LIMBISCHE SYSTEM:

THALAMUS, AMYGDALA UND HIPPOCAMPUS

 

Das limbische System, ein Ring von Strukturen, der direkt unterhalb des zerebralen Kortex liegt, verarbeitet und organisiert Fühlen. Einige der Schlüsselstrukturen sind der Thalamus, die Amygdala, der Hippocampus und der Hypothalamus. Der Hippocampus, der das faktische Wissen eines Ereignisses beinhaltet, steht mit der Amygdala in Verbindung, die mit dem Gefühlsinhalt dieses Ereignisses befasst ist. Wenn uns unsere Mutter zornig angestarrt hat, nehmen wir mit dem limbischen System Verbindung auf und fühlen: „Sie hasst mich." Es ist der erste Schritt dahin, zu fühlen, was wir wissen und zu wissen, was wir fühlen. Das Ergebnis ist, dass wir leiden.

Das limbische System kombiniert Emotionen mit tieferen Hirnstamm-Empfindungen, um den Kern und die Agonie der Erfahrung zu formen – Es ist das „fühlende" Gehirn. Ich nenne es die fühlende Ebene. Es kapselt Empfindungen ((sensations)) ein, die aus der Hirnstammregion (erste Ebene) kommen. Diese Ebene verteidigt das vollständige Bewusstsein ((conscious-awareness)) gegen den Terror eines Traumas der ersten Ebene und verwandelt den Terror in Bilder und Szenen. Sie ist für Albträume verantwortlich, in denen man stranguliert wird, oder für Platzangst. Sie hilft, künstlerische Bilder zu schaffen.

Daniel Goleman, ein Wissenschaftsjournalist, der für die New York Times  schreibt, wirft in seinem Buch Emotionale Intelligenz  Licht auf die Kluft zwischen Denken und Fühlen. Er schreibt, dass wir zwei Arten von Intelligenz haben, eine rationale und eine emotionale, die als Gegenstück zwei Arten von Gedächtnis haben, eines für Fakten und eines für emotionalen Inhalt. Diese Funktionen werden in unterschiedlichen Teilen des Gehirns vermittelt. Er betont etwas, das wir alle wissen, nämlich dass viele hoch intelligente Leute ihr privates Leben verpfuschen, weil ihre Impulse und Gefühle die Oberhand über ihre Vernunft gewinnen. Goleman zitiert Forschungsergebnisse darüber, wie das Gehirn einflussstarke Erinnerungen eingraviert und verarbeitet, und wie diese Erinnerungen eine starke Rolle im späteren Leben spielen.

Viele Leute können keine Entscheidungen treffen, weil sie so von ihren Gefühlen abgeschnitten sind, das sie nichts haben, was sie führen könnte. „Ich weiß nicht, was ich bestellen soll. Was hast du bestellt?", ist ein Beispiel dafür, was ich meine. Es spielt keine Rolle, was ich essensmäßig fühle, weil ich nicht weiß, was ich fühle. Ich muss wissen, welche Entscheidung du getroffen hast, damit ich nachziehen kann.

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Anders ausgedrückt sekretieren die Amygdala des limbischen Systems (und andere limbische Strukturen) so viele unterdrückende Nervensäfte, die sich mit eingeprägtem Schmerz beschäftigen, dass es eine funktionale Unterbrechung zwischen Gefühlszentren und ihren kortikalen Gegenstücken gibt. Wir sind dann gezwungen, uns allein von kortikalen Zentren leiten zu lassen.

Wir versuchen, den Grund für unsere Wut zu erklären: „Wenn du das nicht gesagt hättest, würde ich nicht wütend werden"; „Wenn du aufhören würdest, mich unter Druck zu setzen, wäre ich nicht so aufgebracht." Solche Vorstellungen sind niemals irrational; sie sind zuallererst Antworten auf die vergangene Geschichte. Deshalb gibt es so viele Einsichten nach einer Wiedererlebens-Erfahrung: Unter blockierten Gefühlen liegt die wahre Ursache für die Wut. Anstatt zu sagen „Ich bin verrückt geworden, weil du mich nicht respektiert hast", lernen wir: „Ich bin verrückt geworden, weil mein Vater mich die ganze Zeit heruntergesetzt hat und dann, als ich protestierte, gedroht hat, mich zu verhauen." Es ist nun therapeutisch, in Protest gegen sein Verhalten auf die gepolsterten Wände einzuschlagen und die Wut rauszulassen. Es ist niemals genug, über den Zorn zu diskutieren.

Jemand kann dazu getrieben sein, die Energie des frühen Liebesmangels zu kanalisieren, und niemals wissen warum. Schlimmer noch, vielleicht ist ihr nicht einmal klar, dass es diesen Mangel gab. Sie fühlt sich einfach unbehaglich, nicht wohl in ihrer Haut. Eines ist sicher: Wenn sich die Person nicht in Bewegung hält, fühlt sie sich nicht wohl. Eine Patientin war ständig auf Achse, reiste hierhin und dorthin, nur um herauszufinden, dass es keinen Ort gab, wo sie hätte hingehen können. Genauer gesagt: Um sich davor zu bewahren es herauszufinden, hatte sie nie einen Ort, wo sie hingehen – hinfliehen konnte. Sie war auf der Flucht vor dem Innersten ihrer qualvollen Kindheitsschmerzen, die in einem kalten, harten, gefühllosen Haushalt geschaffen worden waren, aus dem sie entkommen musste.

Ohne ein vollständiges Bewusstsein ((conscious-awareness)) wird die Person einfach ängstlich sein.

 

 

DER THALAMUS:  SCHALT- UND RELAISSTATION DES GEHIRNS 

 

Der Thalamus ist eine Schlüsselstruktur im limbischen System und ein Hauptakteur im frühen Trauma. Nach der vierzehnten Schwangerschaftswoche ist er voll funktionsfähig. Zm Teil besteht die Funktion dieser Struktur darin, Gefühle zu integrieren und dabei zu helfen, sie an den frontalen Kortex weiterzuleiten, wo sie konkreten Kontext und Bedeutung annehmen. Nach der vierzehnten Woche können wir sehen, wie entscheidende Verbindungen zwischen thalamischen und kortikalen Zentren hergestellt werden. Es gibt einige Beweise, dass der Tastsinn ((sense of touch)), der teilweise durch den Thalamus organisiert wird, bereits im Mutterleib nach dem dritten oder vierten Monat registrierfähig ist.

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W. J. Nauta, ein Pionier auf dem Gebiet der Neurologie, und Mitverfasser Michael Feirtag beschreiben den Thalamus als „letzten Kontrollpunkt, bevor Botschaften aus allen sensorischen Eingängen der Zutritt zu höheren Stationen des Gehirns gestattet wird...... an jeder synaptischen Kontaktstelle in den sensorischen Bahnen wird der Input transformiert: Der Kode, in dem die Botschaft ankam, wird grundlegend geändert. Vermutlich könnten die Daten auf höheren Ebenen nicht verstanden werden: Eine Übersetzung wird benötigt."

Der Thalamus übersetzt die Botschaft mit Hilfe des Hippocampus in die Sprache des Kortex. Diese Übersetzung befähigt den Kortex, einen emotionalen Reiz mit Bedeutung zu versehen. Er befähigt einen Menschen, auf ein vages unbehagliches Gefühl zuzugreifen und es zu artikulieren als „Vater hasst mich und bringt mich dazu, dass ich schlecht über mich selbst denke und fühle". Der Thalamus übermittelt auch unser Bedürfnis nach Genugtuung, wie in „Bitte sei nett zu mir, Mam!"

Wenn jedoch das Fühlen der Deprivation zu überwältigend ist, wird die Botschaft umgeleitet, die Einprägung endet in einem reverbierenden Kreisprozess im subkortikalen Unbewussten, und versucht mit Macht, die Schleusen zu öffnen und sich mit dem frontalen Kortex zu verbinden. Es ist das Reverbieren, das uns angespannt, nervös, traurig und gehetzt macht. Viele der biochemischen Substanzen, die gegen überwältigende Gefühle freigesetzt werden, erzeugen den gleichen Effekt, als hätte jemand einen Virus – zum Beispiel verursachen sie Veränderungen in den natürlichen Killerzellen des Immunsystems. Diese Zellen stehen Wache und halten Ausschau nach neu geformten Krebszellen; sie zerstören sie, bevor sie sich voll entwickelt haben. Nach einem Jahr Primärtherapie sehen wir eine Normalisierung dieser Zellen.

Wenn der Thalamus geschwächt ist, versagen die kortikalen Schleusen ihren regulären Dienst. Die Schleusen haben nicht genug Saft, um ihren Job zu erledigen. Die Person kann nicht klar denken; alles ist ein Wirrwarr, und Konfusion regiert. Ihr System versucht, sich mit Gefühlen oder Empfindungen zu befassen, die keinen Sinn ergeben; denn als sich das ursprüngliche Trauma entfaltete, war der präfrontale Kortex noch nicht weit genug entwickelt, um ihnen einen Sinn zu geben.

Wenn der Thalamus die Informationen umleitet und vom Kortex fern hält, dann tut er dies „im Glauben", er rette unser Leben und unsere Gesundheit. Der Aufbau einer kortikalen Verbindung würde eine exakte Wiederholung der ursprünglichen Reaktionen der Person auf das vergangene Trauma hervorbringen – schnelle Herzfrequenz, erhöhten Blutdruck, hohes Fieber und anhaltende Ausschüttung von Stresshormonen; sie alle bedrohen das Überleben des Organismus. Ich habe „im Glauben" oben in Anführungs­zeichen gestellt, aber dennoch ist klar, dass der Thalamus in gewisser Hinsicht an unseren Denkprozessen teilnimmt.

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Wenn ein frühes schmerzvolles Gefühl abgeblockt wird, sendet es dennoch Signale nach oben, partielle Aspekte des Gefühls, die letztendlich zu Illusionen oder Halluzinationen werden, zu hohem Blutdruck oder Herzklopfen. Je näher ein altes traumatisches Gefühl dem vollständigen Bewusstsein ((conscious-awareness)) ist, umso intensiver und aufdringlicher die Zwangsvorstellung, Illusion oder Halluzination, oder das körperliche Symptom. Die Evolution zwingt es nach oben zur Verknüpfung, genau wie es in frühesten Zeiten eine Migration nach oben und außen gab, als sich der Kortex bildete. Leider wenden es der Thalamus und andere verwandte Strukturen ab. Jede traumatische Einprägung tendiert immer dazu, dem Strömen zu den höheren Zentren hin zu folgen, die sich in unserer Geschichte entwickelt haben. Der frontale Kortex ist die letzte Station für das Fühlen.

Es stellte sich heraus, dass Psychotiker, die Stimmen hören, wirklich Stimmen hören – ihre eigenen. Ihre eigenen Sprachzentren sind während dieser Episoden aktiviert. Sie wissen nicht, dass es von ihren Gefühlen und Sprachzentren kommt, aber sie hören wirklich etwas. Ihre Gefühle: „Meine Eltern wollen mich verletzen" werden zu Vorstellungen, die zu ihnen sprechen: z.B. „Der Mann an der Ecke will mich verletzen." Sie spüren Gefahr, nicht von innen, wo sie residiert, sondern von außen, wohin sie projiziert wird. Weil sie keinen inneren Zugang haben, müssen sie sich nach außen konzentrieren. Deshalb können sie, wenn sie weiter vorankommen und inneren Zugang gewinnen, diese Gefühle auflösen, und die Halluzinationen und Illusionen verschwinden. Manchmal, wenn sich Patienten in einer Sitzung einem schweren Gefühl annähern, können sie vielleicht eine vorübergehende Halluzination haben. Das geht beinahe immer mit radikalen Sprüngen in den Messwerten der vitalen Körperfunktionen einher.

Bei vielen meiner Patienten fehlt zu Beginn der Therapie jeglicher Optimismus. Ihr gesamtes System hat sich in den (ursprünglichen) Versagensmodus begeben – Pessimismus. Eine Patientin begann eine Sitzung deprimiert, hilflos und zynisch: „Was hat das für einen Zweck? Das bringt nichts. Diese Therapie funktioniert nicht bei mir". Ihre Geburtserfahrung, während der ihre Mutter schwere Betäubungsmittel erhielt, war der Anstoß für ihre Haltung. Auf ihrem Weg durch den Geburtskanal war sie von Drogen behindert worden, die in sie das Gefühl einprägten, dass nichts von dem, was sie tun könnte, etwas bewirken würde. In einer Kindheit, in der nichts, was sie tat, ihre Mutter dazu bringen konnte sie zu lieben, verstärkte sich dann der Pessimismus und das Gefühl des Geschlagenseins.

Hier finden wir zuerst eine physiologische Hirnstamm-Erinnerung. Mit dem Erscheinen von Worten wird sie zu „Hoffnungs­losigkeit." Keine andere Erinnerung; eine detaillierter ausgearbeitete.

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Hoffnungslosigkeit steigt später zum Kortex auf und erhält ihr Prädikat. Manchmal ist sie so gut maskiert, dass jemand zum Therapeuten gehen muss und dort eben herausgefunden wird, dass er in Hoffnungslosigkeit ertrinkt. Sie läuft in der Psychotherapie unter vielen Namen – „maskierte Depression" ist sehr beliebt. Also haben wir zuerst eine Physiologie der Hoffnungslosigkeit; dann die Leidens­komponente auf der limbischen Ebene; und schließlich den Gedanken an sie. Alle drei tragen zu dem überwältigenden Gefühl bei. Das System kann sich hoffnungslos fühlen: und dieses Gefühl kann bereits Schaden an Organsystem anrichten, lange bevor wir bewusst darunter leiden.

Eine weibliche Patientin fühlte als Kind, dass sie nichts hatte, an das sie sich halten konnte. Im Erwachsen­enalter eignete sie sich auf der Suche nach einem Anker eine mystische New Age-Idee nach der anderen an. Sie fiel ständig auf aggressive Verkäufer herein, weil sie nicht wusste, wie sie sich widersetzen, wie sie nein sagen sollte. Ihr übermächtiger und fordernder Vater hatte ihr dieses Fähigkeit genommen. 

Vor allen realen Hindernissen wollte sie aufgeben, fühlte sie sich resigniert und geschlagen, so ziemlich das Gefühl, das sie bei der Geburt hatte. Es wurde eingeprägt und zu einem Dauerzustand. Sie erlebte wieder, wo all diese Schlüsselgefühle begannen, und versetzte sie in die Vergangenheit zurück, wo sie hingehörten. Bei den seltenen Gelegenheiten, da das Gefühl wieder aufstieg, war es seiner früheren Kraft beraubt, und sie konnte beschließen, nicht nachzugeben. Sie hatte die Kraft, ihr Leben zu ändern.

Eine meiner Patientinnen, deren Blutdruck normal ist, erlebte einen Anstieg des Blutdrucks auf 220/110, als sie sich der tiefen Hoffnungslosigkeit annäherte, die sie als Kind erfuhr. Als sie dann in das Feeling hineinfiel, sank der Druck radikal ab. Diese Messwerte weisen auf den Zusammenhang zwischen Gefühlen und Blutdruck hin. Der Anstieg bei den vitalen Funktionen gibt uns einen Hinweis auf das Ausmaß des Gefühls. Sich in der Therapie hoffnungslos zu fühlen erlaubt einem schließlich, dieses Gefühl abzustreifen. Weil der Kampf, in der Gegenwart Liebe zu bekommen, von jenem entsetzlichen Gefühl veranlasst wird. Es ist die Basis aller Arten des Ausagierens. Zu oft ist da nicht einmal ein Kampf um Liebe, weil das Individuum einfach die Hoffnung aufgibt, sie jemals zu bekommen. Sie zieht sich zurück, hat keine Freundinnen, die ihr mit ihren Gefühlen helfen könnten, und wird immer deprimierter. Man kann sie ermutigen, sie solle Freunde gewinnen, ausgehen und Leute treffen, aber es bedeutet, gegen ein mächtiges Imprint zu kämpfen, das besagt: „Gib’ auf, versuch’ es nicht, es hat keinen Zweck."

 

Patienten, die in Hoffnungslosigkeit versunken sind, beginnen eine Sitzung gewöhnlich mit sehr niedrigen Vitalfunktions-Werten, die gleichen Werte, wie sie im ursprünglichen Trauma aufgetreten waren, weil jenes Trauma wieder ausgelöst wird. Eine der Möglichkeiten, wie Erinnerung sich fortsetzt, besteht in der niedrigen Körpertemperatur und in der niedrigeren Lymphozyten-Produktion des Immunsystems. 

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Kurz gesagt, psychosomatisch bedeutet nicht, dass sich etwas Psychologisches auf das Soma oder den Körper auswirkt. Vielmehr bedeutet es, dass ein Bestandteil der Erinnerung darin besteht, dass Ereignisse in das körperliche System eingepresst werden. Es ist nicht entweder das eine oder das andere. Es ist beides zugleich. Es gibt auf Immunzellen Rezeptoren für schmerztötende Substanzen, die die gleichen sind, wie das Gehirn sie herstellt. Schmerz geht direkt zu diesen Zellen und verändert ihre Immunfunktion.

Nach einem Feeling fällt die Körpertemperatur erheblich, und ebenso der Blutdruck. Der Körper schaltet in den Energiebewahrungs-Modus. Warum? Weil genau das ursprünglich (während der Anoxie infolge der Anästhesie bei der Geburt) erforderlich war. Oft verlassen diese Patienten die Sitzung mit höheren Vitalfunktions-Messwerten. Wiedererleben normalisiert, weil die Einprägung des Traumas destabilisiert.

Mir ist keine Möglichkeit bekannt, wie eine Therapie die Körpertemperatur so radikal ändern könnte wie wir das schaffen. Es ist ein Beweis dafür, dass der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist; Gefühle spiegeln sich in der Temperatur und anderen Vitalfunktionen wider, und alle zusammen bewegen sich in Richtung einer Normalisierung. Die Temperatur bewegt sich auf normale Messwerte zu, während die Patientin berichtet, sie fühle sich viel besser. Wenn jedoch die Patientin berichtet, dass sie sich viel besser fühle, aber die physiologischen Messwerte dies nicht widerspiegeln, müssen wir uns die Sache noch einmal genauer ansehen. Das passiert oft bei der Abreaktion, in der der Patient Spannungs-Energie entlädt aber keine Verknüpfung hergestellt hat, was zu einem Zustand von Selbsttäuschung führt. Die Vitalfunktionen fallen dabei sporadisch und nicht alle zusammen. Dies ist ein Hinweis, dass sich das System nicht in Harmonie befindet. 

 

ORGANISATION DER ERINNERUNG: DIE AMYGDALA

 

Nachdem der Thalamus geholfen hat, die Information der Erinnerung zu verschlüsseln, verfestigen die Amygdala (rechte und linke Seite) und der Hippocampus diese Information. Die Amygdalae liegen nahe am Hippocampus auf der inneren Oberfläche der Temporallappen und bilden eine Art Kreuzung im Gehirn. Das Bedürfnis-Gefühl „Ich brauche meinen Papi" wird vielleicht vom Thalamus verschlüsselt und gespeichert und von den Amygdalae und dem Hippocampus konkretisiert. Wenn das Bedürfnis nicht erfüllt wird, signalisiert es „Gefahr" , wird über den Hypothalamus an die Körpersysteme geschickt, wo es unsere physischen Funktionen verändert und uns schließlich krank macht.

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Die Verbindung der Amygdala zum frontalen Kortex und Hippocampus erlaubt uns, ein Feeling zu fühlen, es zu benennen und ihm einen Titel zu verpassen. Sie kann eine dumpfe Empfindung in der Magengrube in ein Gefühl von Leere, Einsamkeit und Verlassenheit transformieren. Man hat kürzlich herausgefunden, dass die Amygdala „Stop-and-Go"-Mechanismen im frontalen Kortex reguliert, so dass die zwei zusammenarbeiten, um Schmerzimpulse zu hemmen. 

Wenn die Amygdalae ruhig sind, brandet weniger Energie hoch, die jemanden schlecht fühlen lässt. In diesem Fall kann der frontale Kortex aufwallende Gefühle blockieren. Er tut dies, indem er Gedanken erzeugt, die der Gegenpol der inneren Realität sind: „Ich fühle mich großartig. Ich habe Gott gefunden, und er beschützt mich." Die Realität gleicht folgendem: „Ich fühle mich verloren, schutzlos und unsicher". Oder die Person kann zu grübeln anfangen, sodass bestimmte Gedanken zwanghaft werden: z.B. „Der Untergang ist nahe."

Die Gedanken drücken wirklich ein tief verborgenes Empfindungs-Gefühl ((sensation-feeling)) aus. Irgendwo spürt das System, dass das Verhängnis (das wirkliche Feeling, das im Aufsteigen begriffen ist) naht. Nun projiziert es dieses Gefühl in die Welt. Die Person sieht überall Verderben. Es ist nicht so, dass nicht die Möglichkeit ernsthafter Probleme bestünde. Man kann niemals die Zukunft voraussehen. Aber in diesen Leuten ist es übertrieben. Es wird zum Ende der Welt. Und in der Tat, das Ende der Welt und des Lebens können für diese Personen jene ganz früh eingeprägten Erfahrungen auf Leben und Tod gewesen sein. Tod und Verderben liegen ständig auf der Lauer, weil der Tod wirklich drohte und in der Tat nur einen Sprung entfernt war. Die Person wird dieses oder jenes finden, das ihr als Brennpunkt dient, aber der Inhalt ist immer der gleiche – das Ende von allem – die Apokalypse.

 

DIE DOPAMIN – VERKNÜPFUNG

Jüngste Forschung hat eine Korrelation zwischen abgesenkten Dopamin-Werten und Depression gefunden. Oft weisen die Forscher darauf hin, es seien genetische Faktoren im Spiel. Es ist meine Überzeugung, dass die meisten von uns nicht mit genetischen Defiziten an Dopamin geboren werden. Es geschieht so viel in utero, bei der Geburt und gleich danach, das für Veränderungen der Dopamin-Sollwerte verantwortlich sein könnte. Neue Forschungsarbeiten zeigen, dass Stress vor der Geburt in einer Veränderung der Dopamin-Pegel in der rechten Gehirnhemisphäre resultiert. Das führt schließlich zu gesteigerter Emotionalität und zur Unfähigkeit, Emotionen angemessen zu regulieren.

Es ist kein Zufall, dass eine Umarmung oder ein Kuss die Dopamin-Pegel erhöht. Es muss ein intrauterines Äquivalent zu einer Umarmung geben, das ein Gefühl des Wohlbehagens erzeugt. 

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Ich glaube, dieses Äquivalent ist eine Mutter, die sich wohl in ihrer Haut fühlt, die glücklich mit dem Baby ist, die sich richtig ernährt und ein ausgeglichenes inneres System hat. Ich denke nicht, dass Depression durch genetisch verringertes Dopamin „verursacht" wird. Wahrscheinlicher ist, dass ein schlechtes uterines Milieu und dann eine erstickende, repressive häusliche Umgebung die Dopamin-Werte verändert und die Voraussetzung für Depression schafft.

Niedrige Dopamin-Pegel stehen mit der Aufmerksamkeitsmangel-Störung in Zusammenhang. Viele der Medikamente, mit denen sie behandelt wird, tendieren dazu, die Dopamin-Vorräte zu erhöhen. Ich bin überzeugt, dass viel Liebe am Anfang und ein angenehmes Leben im Mutterleib solche Defizite vermeiden würden, besonders da niedrige Dopamin-Werte eher im linken Gehirn in Erscheinung tritt, wo Ideen und Ideenbildung die Unterdrückung von aufwallenden Impulsen unterstützen. Es ist diese Hirnhälfte, die Ankurbelung durch Dopamin benötigt, um Hirnstamm-Impulse zu unterdrücken. Und es ist vielleicht diese Hemisphäre, die ihre Ressourcen aufgrund frühen Liebesmangels aufgebraucht hat.

Es gibt jüngste Beweise, die auf die Rolle von Dopamin auch bei Drogen- und Alkoholsucht hindeuten. Es scheint, je mehr das Dopamin-System durch Drogen gestärkt wird, umso wahrscheinlicher ist die Abhängigkeit. Im chemischen Sinne nimmt es den Platz von Liebe ein; je besser ich mich drinnen fühle, je weniger tot und taub ich mich fühle, umso mehr will ich die Droge, die mich so gut fühlen lässt. Kokain hält das Dopamin-Niveau hoch und macht süchtig. Dopamin hat Einfluss darauf, wie gut wir schlafen.

In einer Studie in Paris, durchgeführt von Merle Ruberg vom Salpetriere Hospital, stellte sich heraus, dass die Patienten oft weinen und depressiv werden, wenn Elektroden in einer Gehirnregion platziert wurden, die als substantia nigra bekannt ist, wo die Parkinsonsche Krankheit mit der Zerstörung von Gehirnzellen beginnt. Sie sagten Dinge wie „Ich will nicht mehr leben." Die Depression lichtete sich, sobald die Elektrode entfernt wurde. 

Hier beginnen wir die Beziehung zwischen Depression, Hoffnungslosigkeit und Hirnzellentod zu verstehen. Das ist die Gegend der Dopamin-Produktion, die bei der Parkinsonschen Krankheit ins Stocken gerät. Deshalb die Notwendigkeit von L-Dopa, um die Dopaminpegel in diesen Individuen anzuheben. Es kann wohl sein, dass eingeprägter Schmerz wegen der Notwendigkeit, ständig vor der Einprägung auf der Hut sein zu müssen, die Dopamin-Vorräte erschöpft, Nach sechzig Jahren Wachsamkeit kann das System den Bedarf nicht mehr befriedigen. Es braucht Hilfe von außen. Diese Wachsamkeit kann im Mutterleib angefangen haben und gegen ein Trauma wie z.B. Rauchen oder Trinken der Mutter gerichtet gewesen sein. Sie beginnt so früh, dass wir leicht zu dem Glauben kommen, sie sei genetischen Ursprungs.

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Wenn jemand während der Schwangerschaft hochreguliert worden war (eine unruhige Mutter, die viele Tassen Kaffee getrunken hatte), dann kann die Einnahme eines Downers für den Erwachsenen ein wichtiger Moment sein, weil die Person bei sich denkt: „Also das ist es, was ich schon immer gebraucht habe." Natürlich will sie noch mehr davon haben. Jemand, der zu hoch oder zu niedrig eingestellt ist, wird sich immer unbehaglich fühlen, und er wird sich durch normalisierende Hilfe von außen besser fühlen.

 

DIE AMYGDALA: MUTTER NATUR BEI DER ARBEIT 

 

Wird über die Nervenfasern, die von den Amygdalae zum frontalen Kortex führen, eine Verbindung hergestellt wird, beginnen die weiter unten brodelnden Gefühle einen Sinn zu ergeben. Aber wenn die Schleusensysteme aktiv sind, werden die Gefühle maskiert. Sie kennen das alte Sprichwort „Mutter Natur lässt sich nicht täuschen"? Die Amygdalae und ihre kleinen Helferlein im Hirnstamm sind Mutter Natur so nahe, wie wir ihr nur kommen können. Das frontale Areal jedoch ist ein Gimpel. Im unverknüpften Modus kann man ihm alles weismachen. Wenn wir die Gedanken eines Menschen manipulieren wollen, brauchen wir nur bei seinen Bedürfnissen einhaken. Dann wird er absolut dumm, weil er nur die Erfüllung der Bedürfnisse vor Augen hat und sonst nichts.

Opiathaltige Fasern laufen von den Amygdalae zu den sensorischen Systemen, wo sie die Funktion eines Torwächters erfüllen. In Antwort auf emotionale Zustände, die im Hypothalamus und in limbischen Strukturen generiert werden, setzen sie Schmerzkiller frei. Wenn ein kleines Mädchen Inzest erleidet, werden Schmerzkiller freigesetzt und die Botschaft wird auf dem Weg zum frontalen Kortex blockiert. Dennoch dringt das schreckliche Leiden durch. Die Person fühlt sich elend und weiß nicht warum. Auch wenn sie die Existenz des Inzests mit ihrem frontalen Kortex anerkennt, wird sich nichts ändern. Das Elend wird bleiben. Manchmal ist die Verdrängung oder Hemmung so effektiv, dass sogar die Leidenskomponente blockiert wird und die Person überhaupt nichts fühlt. Es kann lediglich ein vages Empfinden geben, dass dem Leben überhaupt nichts abzugewinnen ist.

Die Amygdalae beinhalten unverarbeitetes Gefühl. Sie sorgen für den Schmerz, und der Hippocampus hängt den Namen "erniedrigt" an und sendet ihn zum frontalen Kortex. Während eines Wiedererlebnisses feuern die Amygdalae auch Informationen in Richtung Thalamus, der sie dann für den frontalen Kortex übersetzt; z.B. „Sie demütigen mich!".

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Wenn die Botschaft beim Kortex ankommt, deaktiviert sie die linke präfrontale Zone und überlässt das Regiment dem rechten Hirn, der „fühlenden" Seite. Jetzt haben wir ein verknüpftes Feeling.

Die Amygdalae beinhalten den Gefühlsanteil eines Ereignisses; den "Klang" und die "Eingeweide" des Feelings; das Fühlen des Gefühls. Es ist das Fühlen des Gefühls, das meiner Überzeugung nach bei so vielen Individuen fehlt und auch bei so vielen Psychotherapien. Überdies beinhaltet der limbische Bereich, besonders der Hippocampus, die Geschichte des Gefühls. Somit wird das Gefühl zuerst als "Meine Freunde sind ziemlich beleidigend" empfunden. Wenn man dann in das Feeling eingeschlossen ist, übersetzt es sich in "Meine Eltern haben mich immer verunglimpft." Das wird dann durch geeignete therapeutische Techniken zu "Papi, sag‘ ich bin gut. Sag‘ ich bin gut, bitte!"

 

Es ist keine Überraschung, dass die Amygdalae während des Traumschlafs sehr aktiv sind, während der frontale Kortex weit weniger aktiv ist. Träume symbolisieren Gefühle. Wir sagen „Letzte Nacht hatte ich einen furchtbaren Traum." Tatsächlich war es nicht der Traum, der furchtbar war, sondern die „furchtbare" Einprägung, die den Traum erzeugt hat. Diese Gefühle sind die ganze Zeit in uns, was dafür verantwortlich ist, dass wir immer wieder die gleichen Träume haben. Nur dann ziehe ich in der Therapie Träume in Betracht, wenn wir uns mit dem zugrunde liegenden Feeling befassen. Denn das ist real und historisch. Die Story ist die Tarnung. Wie bei Watergate wollen wir nicht nur die Kriminellen fassen, sondern wir wollen wissen, wer das ganze Ding organisiert. Die Traum-Story ist das, was das limbische System und Aspekte des rechten Kortex machen, um reale Gefühle zu tarnen. Wir wollen uns nicht mit den Tarnungen befassen, weil sie ständig wechseln. Feelings und Bedürfnisse tun das nicht.

Limbische Strukturen wie die Amygdalae unterliegen einer kritischen Reifeperiode, die vor der Geburt beginnt und bis zum Alter von zwei Jahren dauert. Lange bevor der Kortex myelinisiert und handlungs­bereit ist, ist die Amygdala in der Verarbeitung emotionaler Information dominant. Das ist ein Grund, warum das Unbewusste das Unbewusste ist – weil der denkende Kortex auf der oberen Ebene noch nicht „bewusst" ist. Beinahe jedes Wirbeltier hat eine Amygdala und ein hemmendes Serotonin-System. Sie datieren einige Hundertmillionen Jahre zurück. Hunde und Katzen können keine Gefühle artikulieren, aber sie können fühlen und aufgrund ihrer handeln. Schmerzbahnen und das Serotonin-System scheinen in allen Vertebraten ähnlich zu sein. Überdies scheinen sie im Nervensystem dieselben Plätze einzunehmen. Auch limbische Strukturen sind in den meisten Säugetieren ähnlich, so dass es keine Vermessenheit ist, die Reaktivität von Tieren mit unserer eigenen zu vergleichen. Wo die zwei auseinanderlaufen, das ist im Bereich der Vorstellungen über diese Gefühle.

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Die Provokation von Gefühlen, die durch vergangene Ereignisse eingeprägt worden waren, geschieht vielleicht dann, wenn ein Auslöser von außen, sagen wir der drohende Ton in der Stimme eines Elternteils (oder egal in wessen Stimme), die Amygdalae in Bewegung setzt, die der Hypothalamus-Hypophyse-Achse signalisiert, Stresshormone zu produzieren, die das gesamte Gehirn in Wachsamkeit versetzen. Der Ärger wird in limbischen und kortikalen Arealen des Kindes verinnerlicht. Wenn die Menge an Stresshormonen zu große Ausmaße annimmt, droht sie Gehirnzellen zu schädigen.

Gewöhnlich ist die Bedrohung weitaus subtiler. Wenn es in den ersten Wochen des Lebens keine Worte gibt, keinen emotionalen Kontakt, keine elterliche Wärme, wird das System des Säuglings in die Stressreaktion getrieben; hier ist die eingeprägte Gefahr das Fehlen von Liebe. Es ist ein Mangel, der das Baby unter Stress setzt. Das ist das wirklich Subtile. Wenn jemand versucht, sich an schlechte Szenen aus ihrer Kindheit zu erinnern, gibt es vielleicht überhaupt keine schrecklichen Szenen; nur das Nichts, keine Wärme, keine Liebe, keine Berührung, und keine Fürsorge ..... nichts, worin man einhacken könnte.

Hier ist das Gefühl allein die Erinnerung, und es genügt, sich von ihm überfluten zu lassen; es zu integrieren und zu verknüpfen. Unser Gehirn kann nichts (ein Fehlen von Augenkontakt) in physischen Schaden umformen. Es ist nicht „nichts" für das Gehirn. Es ist Deprivation des Bedürfnisses. Kein Hormon funktioniert allein; aus diesem Grund wird es als endokrines „System" bezeichnet, eine Kaskade von Hormonen, die zusammenarbeiten, und eine Kaskade von Abweichungen, wenn Schmerz eindringt.

Wenn wir die Amygdalae einer Patientin in der Therapie übersehen, indem wir tiefe Gefühle ignorieren (und damit meine ich nicht, dass die Patientin schluchzt oder über ihre Kindheit weint), erhalten wir als Endresultat einen gescheiten, leiden­schaftslosen Menschen. Schlimmer noch, sie kann nicht einmal fühlen, dass sie nicht fühlt, und erfährt niemals das Fühlen des Gefühls. Ein Mensch, der wundervolle Einsichten in sein Verhalten hat, kann völlig von sich selbst vereinnahmt sein und gedankenlos und unsensibel gegenüber den Leuten in seinem Umfeld.

Manchmal führen Eltern früh im Leben eine Amygdalektomie1 an ihren Kindern durch, indem sie einfach nicht für sie da sind. Auf diese Weise werden die Gefühle des Kindes nicht gerade unterdrückt; sie werden einfach ignoriert, was auf dasselbe hinausläuft. Das Ergebnis ist, dass die Gefühle unverknüpft, unausgedrückt und ungelöst im Inneren verbleiben. Therapie sollte Amygdaloide herstellen, solche, die in Kontakt mit ihrem tiefen, fühlenden Selbst stehen.

 

Anm.d.Ü.: Operatives Herausschneiden (eines Organs, hier der Amygdalae)

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SIND WIR ZUERST BEWUSST UND DANN UNBEWUSST?

 

Die Amygdala (zusammen mit anderen limbischen und mit Hirnstamm-Strukturen) kann mit einem Delirium von Wut, Furcht oder Sex reagieren, noch ehe der Kortex weiß, was los ist, weil solche unbearbeitete Emotion unabhängig von und früher als Gedanken ausgelöst wird. (kursiv) Auf diese Weise überkommen uns Gefühle. War etwas schmerzhaft in unserem Bewusstsein und wurde dann ins Unbewusste verlegt? Nein, es hat es nie bis ins vollständige Bewusstsein ((conscious-awareness)) geschafft. Bevor schließlich der präfrontale Kortex wachsam wird und versucht, diese aufsteigenden Gefühle aufzuhalten, ist die Amygdala bereits sehr geschäftig gewesen; bevor er zum Beispiel unseren Fress-Orgien Einhalt gebieten kann. Tiefsitzende Einprägungen (Imprints) üben die Kontrolle aus. 

Es ist klar, dass Bedürfnisse, die Überleben involvieren, mächtiger sind als Vorstellungen über diese Bedürfnisse. Wenn jemand außer Kontrolle ist, steht die Person gewöhnlich unter der Kontrolle von Einprägungen der tieferen Ebenen und außer der Kontrolle des frontalen Kortex. So viele anleitende Bücher ("Wie man...") konzentrieren sich auf die Kontrolle unserer selbst, unserer Impulse, unseres Zorns, etc., und dennoch werden die Einprägungen niemals aufhören, unser Leben zu dominieren.....bis sie sich mit den kortikalen Prozessen der obersten Ebene verbinden. Gefühle sind keine Geschäfte, die man „verwaltet." Sie sind dazu bestimmt, gefühlt zu werden.

Eine Person, die keinen Kontakt mit ihrem fühlenden Selbst hat, kann wegen eines vermeintlich sexuellen Problems in die Therapie kommen. Bei wenig Zugang zu tieferen Strukturen wie den Amygdalae kann ein Mann asexuell und mit nur geringer Libido und gedämpfter Leidenschaft ausgestattet sein. Die Amygdalae sorgen für eine Erektion. Ein Mann erkennt jedoch vielleicht nicht, dass dies das Problem ist, weil es wie bei Hunger ist; wenn sie Ihren Appetit verloren haben, so begreifen Sie nicht, dass Ihr Problem darin besteht, dass Sie nichts essen. Der Schlüssel in der Psychotherapie für sexuelle Probleme besteht darin, Zugang zu den Amygdalae als auch zu anderen limbischen Orten zu haben.

Antonio Damasio erklärt in seinem jüngsten Buch „The Feeling of What Happens" wie wir auf der Grundlage unbewusster Gefühle agieren. Er schildert den Fall David, der eine massive Beschädigung des Hippocampus aufwies, was bei ihm zu der Unfähigkeit führte, neue Erinnerungen zu verankern. Es bestand auch ein Schaden an der Amygdala. Damasio führte an ihm ein Experiment durch, das als „Guter Junge, schlechter Junge" – Versuchsanordnung bekannt ist. David hatte Begegnungen mit jemanden, der sehr nett und freundlich zu ihm war, und andere Begegnungen mit jemandem, der brüsk und unangenehm war. David konnte diese Leute nicht wiedererkennen, waren sie einmal aus seinen Augen verschwunden.

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Er hatte keinerlei Fähigkeit, die Geschichte zu benutzen, dass sie ihn in seinem Verhalten führe, weil er diese Fähigkeit verloren hatte. Er konnte nicht zu sich selbst sagen: „Dieser Mensch ist böse, und ich sollte ihn meiden." Er konnte seine Erfahrungen nicht integrieren oder sie artikulieren; dennoch tendierte er immer zu den netten Leuten hin und weg von den unerfreulichen. Er wurde von einer unsichtbaren und unerkannten Kraft geführt – von seiner Geschichte, von Gefühlen, die auf vergessenen Erfahrungen beruhten. 

David war buchstäblich und physisch von seiner Geschichte abgeschnitten und dennoch von ihr motiviert, und das ist genau der Punkt, auf den ich bei denjenigen hinauswill, die nicht unbedingt einen Schaden aufweisen, sondern wegen der Verdrängung von tieferen Zentren abgeschnitten sind. Seine Reaktion war eher organismisch als bewusst. Hier haben wir ein neurologisches Paradigma für das Verständnis der Depression; zum Beispiel ohne offensichtlichen Grund in Stimmungen hineingetrieben zu werden. 

Stellen Sie sich vor, David hätte seine Verknüpfungen zu tieferen Zentren wiedergewonnen. Er würde nicht mehr von seinem Unbewussten gelenkt werden. Genau darauf will ich hinaus, wenn die funktionellen Verknüpfungen zu tieferen Zentren durch Aufheben der Verdrängung wiedergewonnen werden. Bei vollständigem präfrontal-limbischen Bewusstsein (das unbewusste Gefühle ins Bewusstsein integriert) gäbe es keine Depression mehr. Das Unbewusste würde bewusst gemacht, sodass wir nicht länger von unbewussten Gefühlen herumgestoßen würden, worum es bei der Depression geht. Wir verwenden darauf einen anspruchsvollen Begriff, „Stimmungsschwankungen", aber unser gesamter Organismus dreht sich um tiefsitzende Gefühle, von deren Existenz wir keine Ahnung haben. Diese Erfahrungen geschehen oft viele Jahre bevor wir einen voll funktionierenden frontalen Kortex haben, der ihnen einen Sinn geben könnte. Bewusstsein, wie ich an meinen Patienten beobachtet habe, ist DAS Gegenmittel bei Depression.

*

 

Ich erhielt heute mit der Post einen Brief von einer meiner Patientinnen, Regina, der mein Argument exemplifiziert: 

"Ich möchte dir meine Erfahrungen mitteilen, als ich am ersten Tag dieses neuen Jahres (das Millenium) aufwachte und in Tränen aufgelöst war. Warum? Nachdem ich letzte Nacht all die Feierlichkeiten überall auf der Welt beobachtet hatte, ohne einen einzigen Ausrutscher, keine Terroristen, keine Stromausfälle oder Flugzeugabstürze, erkannte ich, dass all die schlechten Dinge, die mir, wie ich im vergangenen Jahr glaubte, passieren würden, dass all die Desaster, über die ich mir den Kopf zerbrochen habe, gar nicht meine Intuition waren, sondern vielmehr aus der vergangenen Realität kamen, die in mir lebendig ist. Es war, als sei ein großer Spiegel vor mir, der mir zeigte, dass es meine Vergangenheit war, die das Problem war. Ich fühlte, dass ich mich selbst schützen müsse und kaufte eine Vierteltonne Getreide. Ich musste auf das vorbereitet sein, was mir begegnen würde. Es war mir bereits begegnet, und ich hatte mich selbst belogen:

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dass ich verletzt werden würde, wenn ich mich nicht genügend vorbereitete. Also war ich besessen vom Gedanken an Y2K. Quälte mich mit „Was-Wenn's". Jetzt weine ich wegen all dieser Gefühle, nicht sicher zu sein, und ich weiß, wohin sie gehören. Dass ich diese Gefühle nach Y2K verlagerte, ließ mich erkennen, wie ich den inneren Dingen einen neuen äußeren Brennpunkt gab."

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Einige meiner männlichen Patienten, die ständig sexuell erregt sind, finden heraus, dass auch ihr sexueller Drang nachlässt, wenn sich ihr emotionaler Schmerz aus frühem Trauma vermindert. Ereignisse im Mutterleib haben so tiefgreifende Auswirkungen auf das spätere Leben. Zum Beispiel fand man heraus, dass die Verabreichung von Morphium an trächtige Ratten deren männlichen Nachwuchs feminisiert. Das gesamte sexuelle Gleichgewicht kann durch Ereignisse im Mutterleib umgeworfen werden. Morphin ist ein Unterdrücker/Hemmer. Wir produzieren die gleiche chemische Substanz selbst, möglicherweise mit den gleichen Effekten für die spätere Sexualität. Wenn wir in ausreichendem Maße verdrängen, verdrängen wir unsere Sexualität.

Hypersexualität kann ihren Ursprung im Hirnstamm haben und von einer Einprägung herrühren, die tatsächlich nichts mit Sex zu tun hat. Satyriasis sodann als Sexproblem zu behandeln, trifft nicht den wesentlichen Punkt. Sex ist nur eine Möglichkeit, wie Primärenergie freigesetzt wird. Und die beteiligte Energie kann von Anoxie bei der Geburt kommen, auch wenn sie Sex als Ventil bevorzugt. So behandeln wir Sex, wenn wir Anoxie behandeln sollten. Es ist niemals nachteilig, das Symptom zu behandeln, solange wir verstehen, dass es ein Symptom ist – von etwas anderem. Ein altes Bedürfnis kann in einem Mann oder einer Frau sexuelles Interesse wachrufen; zum Beispiel könnte eine Kindheit ohne Vater den Sexualimpuls auf andere Männer umleiten. Schmerz wird in den Sexualtrieb umgewandelt. Die Raserei des sexuellen Verlangens entspricht der frühen Entbehrung von Liebe; es erfährt seinen Antrieb durch das retikuläre Aktivierungssystem des Körpers, welches das System in Wachsamkeit versetzt. Dann kanalisieren Ereignisse der Kindheit, ein tyrannischer oder abwesender Vater, den Trieb. Homosexualität kann das Ergebnis sein. (Später mehr darüber).

Bei Frauen, die Inzest erlitten und deshalb Angst vor Männern haben, kann der Sexualtrieb, sobald er in Erscheinung tritt, in Richtung Frauen umgelenkt werden. Geschlechtsverkehr mit Männern würde den Schmerz des Inzest reaktivieren und die Frau überwältigen. Deswegen wendet sie sich an Frauen, um ihr Bedürfnis nach Liebe zu erfüllen und, wichtiger noch, um den Schmerz in Schach zu halten. Viele meiner lesbischen Patienten erlitten Inzest in der Kindheit.

Wir werden die Amygdala niemals täuschen, aber wir können ihre kortikalen Abkömmlinge zum Narren halten. Beispiel: Ein Mädchen wurde von ihrem Vater sehr früh im Leben sexuell missbraucht, aber irgendwie lernt sie in der Therapie ihm zu vergeben. 

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Der Vater und die Tochter sind nun versöhnt, aber das Problem besteht darin, dass sie einer Einprägung nicht vergeben kann. Und die Amygdala kann nicht verzeihen; das ist nicht ihr Job. Es ist, als müsste sie der Physiologie der Frau verzeihen. Die alten Gefühle sind noch immer an Ort und Stelle, nur dass sie jetzt von kortikaler „Vergebung" überlagert sind. Wenn genügend viele Schichten darüberliegen, verlieren wir den Zugang zu den realen Gefühlen. Es ist seltsam, aber diese Überlagerung kann dazu führen, dass wir uns wunderbar fühlen. Also was ist das Problem, könnte man fragen? Was ist falsch daran, sich gut zu fühlen? Wenn wir uns gut fühlen könnten, wäre es wunderbar. Wenn sie denken, Sie fühlten sich gut, so ist es eine andere Sache. Es bedeutet irreal zu sein; in einem Zustand der Irrealität zu leben, nur um später vorzeitig von einer verborgenen Realität niedergestreckt zu werden.

Eine junge Frau, die ich behandelte, erlebte wieder, wie sie von ihrem Stiefvater sexuell attackiert worden war. Ihre Hände überkreuzten sich automatisch hinter ihrem Rücken (ihr Stiefvater fesselte ihr die Hände auf den Rücken, sie krümmte sich nach hinten und ihre Herzfrequenz stieg auf 180 Schläge pro Minute. Diese Frau fürchtete sich vor Männern und Sex in der Gegenwart, aber das Imprint selbst war Jahrzehnte alt; dennoch dominierte es die meisten ihrer Beziehungen.

Eine Patientin fand heraus, dass sie immer dann Migräne bekam, wenn sie auch nur unter dem leichtesten Druck stand, wie z.B. eine Arbeit für die Klasse vorzubereiten. In ihren Sitzungen erlebte sie ihre Geburt wieder, während der sie nicht genug Sauerstoff bekam (ihrer Mutter wurden schwere Betäubungsmittel verabreicht). Der Druck, der ihre Blutgefäße zusammenzog und sie dann erweiterte, war ihre Einprägung. Jeder Druck, den sie später im Leben spürte, führte bei ihr zu einer Migräne, brachte sie durcheinander und ließ sie nicht mehr funktionieren.

Die Amygdala entsteht, lange bevor der Neokortex (neuer Kortex) sich entwickelt, sowohl in der Entwicklung des Individuums (ontogenetisch) als auch in unserer langen Historie vom Tier zum Menschen (phylogenetisch). An einem bestimmten Zeitpunkt in der individuellen und phylogenetischen Geschichte musste die Amygdala die ganze Arbeit alleine machen. Sie hatte keinen Hippocampus und keinen Neokortex, um die Dinge genauer zu bestimmen und um Gefühle zu lenken. Sie leitete einfach Instinkte. Sie fügte der Gleichung ihren Anteil an Furcht hinzu.

Wenn sich die Schmerzimpulse anhäufen, tendieren sie dazu, das Rezeptorsystem zu überwältigen. Das Resultat kann frei flottierende Angst sein. Sie fließt frei, weil die Einprägung geschah, lange bevor Worte in Erscheinung traten, die sie hätten umschreiben und eingrenzen können. Wenn die Amygdala Ruhe gibt, ist weniger Energie auf dem Vormarsch, die uns schlecht fühlen lässt. In diesem Fall kann der frontale Kortex Angstattacken und/oder Besessenheit und Zwänge blockieren. Man könnte versucht sein zu sagen, dass die neuen Medikamente obsessiv-zwanghafte Symptome „heilen", aber in Wirklichkeit heilen sie gar nichts.

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Sie schieben das Problem nur hinaus! Dieselben Einprägungen sind immer noch da, sie werden nur einfach besser in Schach gehalten von Medikamenten, die sie unterdrücken und die Botschaft davon abhalten, den frontalen Kortex zu überwältigen. Eine Glaubensüberzeugung ist wie eine selbst verabreichte Droge. Der Kortex weiß, was er tut, wenn er Glaubensvorstellungen ausheckt. Diese Überzeugungen gehen dahin, wo sie benötigt werden, um uns beim Überleben zu helfen. Es ist nicht immer eine gute Idee, jemanden von irrationalem Glauben abzubringen. Er erfüllt eine wichtige Funktion in der Ökonomie der Psyche. Und wenn wir die Glaubensüberzeugung mit der Geschichte verknüpfen, ist sie nicht so irrational wie es scheinen mag.

 

DER TABERNAKEL DER WAHRHEIT 

 

Die Amygdalae sind der Tabernakel der Wahrheit. Ein junger Mann erlitt eine Panikattacke, als er um eine Präsentation vor seinen Arbeitskollegen gebeten wurde. Hier kann die wirkliche Reaktion diejenige auf den Sauerstoffverlust sein und nicht Lampenfieber. Vor anderen Leuten zu sprechen, nahm die Bedeutung eines Ereignisses auf Leben und Tod an. Dieser Mann litt bei der Geburt unter Anoxie. Seine gegenwärtige Furcht räsoniert mit dem Terror der Vergangenheit, und das Ergebnis ist, dass er sich so fühlt, als müsse er wieder sterben. „Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müssten. Es sind Ihre Freunde," sagt ihm vielleicht ein Berater. Indessen haben die Amygdalae sehr viel gefunden, wovor er Angst haben müsste; der Hirnstamm greift mit der alten Anoxie und Todesangst in die Präsentation ein, und wiederum geht es um Leben und Tod. Die gegenwärtige Furcht setzte die Kette der Schmerzen in Bewegung und rief den ursprünglichen Terror am Anfang des Lebens wach. Ja, es gab Ängste später in seiner Kindheit, die ebenso zählten. Aber die viszerale Angst hatte ihre Wurzeln vor der Zeit, da er den ersten Menschen sah. Würde der ursprüngliche Terror später nicht zusätzlich verstärkt, hätte er bei der Präsentation weit weniger Angst.

Wenn jemand in einem Zustand ist, in dem er dringend Drogen oder Alkohol braucht, so ist es die Amygdala, die sehr aktiv ist. Wenn sich ein Süchtiger in Qualen windet und unbedingt einen Schuss braucht, dann ist laut Dr. Hans Beiter vom Massachusetts General Hospital die Amygdala die treibende Kraft. Sie schickt ihre Botschaft hinaus, dass sie unter Schmerz steht und etwas braucht, das diesen Schmerz lindert. Es ist nicht überraschend, dass Antidepressiva auf die Amygdala wirken. Man beachte, dass Depressionen trotz des phlegmatischen, energielosen Ausdrucks des Individuums Zustände hoher Aktivierung sind.

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Weil die Amygdala und andere Strukturen, die Gefühle verarbeiten, auch unterdrückende, hemmende Hormone abscheiden, kontrollieren sie letztlich den Zugang zu diesen Emotionen und haben Einfluss darauf, was wir wahrnehmen und was wir nicht wahrnehmen. Schaden an der Amygdala hindert jemanden daran, einen angstvollen Gesichtsausdruck bei anderen (und vermutlich bei sich selbst) zu erkennen; ein weiteres Indiz für die Rolle dieser Struktur in der emotionalen Wahrnehmung. Amygdalae, die aufgrund der Schmerzlast geschwächt sind, können uns weniger einfühlsam für die Empfindungen anderer machen. Die Amygdala spielen eine Schlüsselrolle bei emotionaler Sprache und beim Weinen, sodass wir sicher sein können, dass die Amygdala involviert ist, wenn meine Patienten mit der Stimme eines Fünfjährigen jammern „Mama, bitte halte mich!" Es ist meine Vermutung, dass die vermittelnde Gehirnstruktur umso älter ist, je entfernter die Erinnerung ist. Sehr alte Gehirnstrukturen scheinen mehr in die eher geheimnisvollen und weit abgelegenen Erinnerungen unserer frühen Kindheit und der Zeit davor involviert zu sein.

Ein weiterer Grund, warum Einsichtstherapie, die den sich spät entwickelnden präfrontalen Kortex erfordert, nicht so wirksam ist wie sie sein könnte, besteht darin, dass das frontale Areal versucht, die Arbeit eines sehr alten Gehirns zu erledigen, das sich mit Gefühlen befasst. Es ist der Versuch, Zugang zum Fühlen und zu tief gelegenen Empfindungen zu gewinnen. Das alte Gehirn, die Amygdala und der Hippocampus werden diesen Versuch der Einmischung nicht tolerieren und den Zugang verweigern. Es ist ein Dialog unter Tauben. Das alte Gehirn kann nicht hören und verstehen, worüber sich der frontale Kortex auslässt. Michaela Gallagher, eine Neurowissenschaftlerin an der Johns Hopkins Universität, hat herausgefunden, dass ein voll funktionierender Kortex die Amygdala und ihr Gefühle in Schach halten kann. Anders ausgedrückt wäre eine Person hyperreaktiv und würde zu sehr auf Stimuli reagieren, wenn der frontale Kortex nicht intakt wäre. Aber ein übermäßig aktiver Kortex ist genau das, was wir nicht brauchen, wenn wir fühlen wollen. Seine Hyperaktivität wird zu einer Abwehr gegen die Regression zur fühlenden Ebene. Deshalb befinden sich unsere Patienten in einem abgedunkelten, ruhigen Raum.

 

DER HIPPOCAMPUS: 
ZUGRIFF AUF ERINNERUNGEN DER KINDHEIT

 

Der Hippocampus liegt hinter den Amygdalae und bildet die Spitze der Widderhorn-Form des limbischen Systems (siehe Kapitel 1). Der Hippocampus befasst sich mit dem Kontext und den Umständen eines Ereignisses; die Amydalae sind mit dem emotionalen Inhalt beschäftigt. Wenn Sie fünf Jahre alt sind und Ihre Mutter zu Ihnen zum hundertsten Mal sagt: „Du bist nutzlos und dumm. Geh’ mir aus den Augen!", werden die Umstände und das Feeling des Ereignisses durch den Hippocampus bzw. durch die Amygdalae eingeprägt.

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Eine präzisere Bedeutung fügt der denkende Kortex hinzu, so dass die volle Verknüpfung lauten kann: „Mutter hasst mich!" Die unterbewusste Logik des kleinen Kindes ist wahrscheinlich folgende: „Sie ist wütend, weil ich schlecht bin." Wie diese Erkenntnis für ein Kind so vernichtend ist, werden Endorphine abgesondert, um die volle Verknüpfung zu verhindern. Die Gefühle werden jetzt geschleust und im Unbewussten gehalten. Dann beginnt der Kampf, weil das Kind und später der Erwachsene sich bemüht, andere dazu zu bringen, dass sie ihn/sie lieben. Das Gefühl ist unbewusst und wird unbewusst ausagiert.

Der Hippocampus verankert neue Erinnerung, indem er mit dem frontalen Bereich zusammenarbeitet, um Gefühle zu festigen. Sobald die Erinnerungslast zum Kortex verlagert worden ist, kann sie zur Bewusstheit gebracht werden. Der Hippocampus hat nun Raum, um mit dem Benennen von neuen Gefühlen und Bedürfnissen fortzufahren und kann neue Erinnerungen ablegen, die auf aktuellen Stimuli basieren. Bei der Konsolidierung von Gefühlen tastet der Hippocampus mit Hilfe der Amygdalae die persönliche Erfahrung ab und sucht in der Geschichte nach Schlüsseln. Wenn diese Geschichte mit Schmerz beladen ist, ist es schwer, an diese Schlüssel zu gelangen. Entweder reagiert die Person übermäßig oder sie reagiert zu schwach – redet zuviel, isst zuviel, hat keinen Sex oder nicht genug Sex, und so weiter.

Der Hippocampus ist eine der wenigen Gehirnstrukturen, die sich mit dem Alter weiter entwickeln. Forscher am Salk Institute in La Jolla, Kalifornien haben herausgefunden, dass die Anzahl hippocampaler Zellen als Ergebnis mentaler oder körperlicher Betätigung zunimmt. Ich glaube, dass früh im Leben erfahrene Liebe dem Gehirn ebenso hilft, sich weiter zu entwickeln.

Betrachten Sie den Hippocampus als Handlanger der Amygdalae. Beide haben direkte Verbindung zum Thalamus. Furcht kann sich vom Thalamus zu den Amygdalae bewegen, oder zum Thalamus via Kortex, dann zu den Amygdalae, um auf vielfältige Weise eingraviert zu werden. Bei einigen kann es schon zu einem plötzlichen Angstanfall kommen, wenn sie morgens aufstehen, weil sie in dieser Phase relativ abwehrlos sind. Furcht kann sich vom Thalamus unter Auslassung des frontalen Kortex zu den Amygdalae bewegen und dort eine unmittelbare Krisenreaktion auslösen. Das nennt man emotionales Lernen.  

Eine Region der Amygdalae hat Verknüpfungen zum Hirnstamm, die den Herzschlag und andere automatische Funktionen erhöht. Eine traumatische Geburt bringt das Gehirn in Schieflage ((skews the brain)), sodass thalamische Bahnen den Vorrang über die kortikalen Bahnen gewinnen. Die frontale Region wird sodann nach einem Feeling für „Säuberungsarbeiten" eingesetzt.

Der Hippocampus schwächt auch emotionale Reaktionen ab. Wenn schwerer Schmerz eingeprägt wird, so bürdet das dieser Struktur eine große Last auf. 

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Schließlich beginnt der Hippocampus zusammenzubrechen oder er schwindet, und die Erinnerung wird fehlerhaft und abgeflacht. Wenn die Degeneration anhält, kann es zu permanentem Gedächtnisverlust kommen. Es hat sich mittels Autopsie herausgestellt, dass hippocampale Zellen bei Psychotikern total ungeordnet sind. Eine Reihe von Studien über schwere psychische Krankheiten hat aufgedeckt, dass die Hippocampus-Region überaktiv wird, wenn die Funktion des frontalen Kortex nachlässt. Emotionen brodeln, währen die integrierenden Zentren verfallen.

Eine massive Gefühlsentladung der Amygdalae legt den Hippocampus still. Das ist eine weitere Art, wie die Schmerzbotschaft davon abgehalten wird, den frontalen Kortex zu erreichen. Der Hippocampus sagt: „Mir reicht’s. Die Botschaft überbringe ich nicht. Das ist zuviel Leid." Er lässt den frontalen Kortex im Dunkeln. Niemand kann dem Individuum sagen, welche Gefühle tief drinnen verborgen sind, weil sie niemand außer diesem Individuum fühlen kann.

 

Abb. 2.

Hippocampus: Verankert neue Erinnerung; bewahrt die Erinnerung als Fakt.

Amygdala: Das Fühlen des Gefühls; Erinnerung als Emotion.

 

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Jeder Auslöser, sagen wir ein angewiderter Blick eines Elternteils oder ein verächtlicher Tonfall des Chefs kann den Hippocampus dazu bringen, dass er die Erinnerung wieder hervorholt. Das bewerkstelligt er durch seinen Abtastmechanismus: Der Auslöser resoniert mit einem verschlüsselten Gefühl aus der Vergangenheit, holt es aus dem limbischen Lagerhaus heraus und lanciert es in Richtung vollständiges Bewusstsein (conscious-awareness). Die Information aktiviert physische Systeme, die Angst erzeugen und die Gefahr signalisieren, dass sich das ursprüngliche Ereignis dem Bewusstsein nähert. 

Es ist das frühe Trauma im Mutterleib plus das Geburtstrauma, welche die viszerale Reaktion erzeugen, die wir Angst nennen. Sie geschieht, weil ein bestimmtes gegenwärtiges Ereignis (ein ärgerlicher Tonfall eines anderen) den Prototyp in Gang setzt. Die Gefahr im Tonfall löst die primär eingeprägten Ängste aus. Es kommt zu einer übermäßigen Sekretion des Stresshormons Kortisol, weil das die ursprüngliche lebensrettende physiologische Reaktion war. Das Problem ist, dass diese Reaktion ohne Verknüpfung geschieht, weil es praktisch unmöglich ist, Zugang zu der Erinnerung ohne systematische Annäherung zu gewinnen, die darin besteht, dass man zuerst durch geringere Schmerzen geht. So haben wir jetzt frei flottierende Angst.

Wir brauchen Zugang zu unseren Gefühlen, um ein intelligentes Leben zu führen. Jemand kann fähig sein, mathematische Probleme logisch auszuarbeiten, während er gleichzeitig ein chaotisches Leben führt, das von Drogen und gefährlichem Ausagieren geprägt ist. Ein brillanter Geschäftsmann, zum Beispiel, versteht die Kunst des Geschäftsabschlusses, ist erfolgreich, sozial, und dennoch ist sein Leben leer. Sein Leben sieht gut aus, aber er kann es nicht genießen. Wie einer meiner Patienten sagte: „Ich habe einen faszinierenden Job. Zu dumm, dass er mich nicht interessiert."

Ein Mann kann sein ganzes Leben mit dem Versuch verbringen, sich wichtig zu fühlen, weil er niemals für die Leute wichtig war, die zählten, nämlich seine Eltern. Wir können unsere Beziehungen verpfuschen, weil uns diese „Liebes-Einprägung" früh im Leben fehlt.

Wenn meine Patienten ein Gefühl voll wiedererleben, kommen sie daraus mit einer großen Anzahl von Assoziationen und Einsichten hervor, die ganz unterschiedliche Verhaltensmuster abdeckt. „Jetzt verstehe ich, warum ich mein ganze Leben zu spät war, und warum ich es in der Schule nie in einem Klassenzimmer ausgehalten habe," sagen sie. „Ich konnte es nicht aushalten, eingeengt oder eingeschlossen zu sein, zuerst im Geburtskanal, dann in der Krippe und dann zuhause, wo meine Eltern so streng waren." Fühlen hat ihrem Verhalten Bedeutung verliehen.

 Eine Patientin musste vor Gericht erscheinen. Dort stand sie einem Psychopathen gegenüber, der log. Sie fühlte sich völlig hilflos. Sie kam hinterher in die Sitzung und fühlte sich zuerst allgemein hilflos, dann im Umgang mit ihren Eltern, die jeden ihrer Schritte kontrollierten, und schließlich fühlte sie die Hilflosigkeit bei der Geburt, als ihre Mutter eine massive Dosis Betäubungsmittel erhalten hatte.

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Diese Hilflosigkeit war der Prototyp, auf dessen Grundlage sich alle späteren Erfahrungen entwickelten. Hilflosigkeit wurde zu einem Gefühl, das sich aus mehreren Komponenten zusammensetzte und sich immer wieder verstärkte.

Der Prototyp der Hilflosigkeit steuert viele Charakteristika des späteren Lebens wie Angst vor Veränderung, Rigidität und Mangel an Spontaneität. Das Unbewusste warnt: „Du kannst an deiner Situation nichts ändern." Wenn Sie ursprünglich nichts tun konnten, um Ihr Leben zu retten, sind Sie in der Tat hilflos.

 

Abb. 3.

Frontaler Kortex: Bedeutung und Verstehen; Integration des Feelings; Hippocampus: scannt die Geschichte und ruft ähnliche Ereignisse ab; reichert den Strom des Bewusstseins an; Amygdala: hilft, das System zu elektrisieren, wenn sie Gefahr entdeckt.

 

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DER SCHMERZ, DER ZU MAGERSUCHT FÜHRT

 

Ein magersüchtiges junges Mädchen, das ich behandelte, wurde im Alter von sechs bis neun Jahren zum Oralsex am Freund ihrer Mutter gezwungen. Als sie später Anorexie und Bulimie entwickelte und sich immer wieder vollstopfte und anschließend übergab, erbrach sie unbewusst das, was der Freund ihrer Mutter in sie ejakuliert hatte. Das Abstoßen der Sperma-Flüssigkeit war ein Überlebensmechanismus; ihr Körper wies eine fremde und bedrohliche Kraft von sich. All dies geschah nach dem Alter von fünf Jahren. Ich hätte niemals die Verknüpfung zustande bringen können, die sie in Ihren Feelings herstellte, weil es dann mein Kortex wäre, der versuchen würde, die Einprägung einer tieferen Ebene im Gehirn einer anderen Person auszuknobeln.

Anorexie hat ihren Ursprung oft im Hirnstamm, während die bewusste Entscheidung, sie zu bekämpfen, weit vom Hirnstamm entfernt lokalisiert ist. Sich auf einen solchen Dialog zwischen dem Kortex und dem Hirnstamm einzulassen, kommt einer Konversation gleich, die viele Millionen Jahre der Entwicklung überschreitet, weil der frontale Kortex gebeten wird, die Arbeit des Hirnstamms zu erledigen. Es ist nichts anderes als der Versuch, allein Willenskraft im Kampf gegen Anorexie einzusetzen.

Es ist bekannt, dass „Speed" den Appetit reduzieren kann. Die Person, die durch interne Überstimulierung auf Speed ist, mag durch diese Tatsache allein ihren Appetit verlieren. Anorexie kann in einem beruhigenden und ermutigenden häuslichen Gruppenmilieu behandelt werden, zum Beispiel in einem Reha-Zentrum, und manchmal können die Symptome ausgemerzt werden, aber die dahintersteckende Dynamik wird niemals ausgelöscht. Dennoch ist es wichtig, das Symptom zu behandeln, weil es fatal sein kann.

Das untere Gehirn weiß mehr über seine eigene interne Realität als irgendein außenstehender Experte. Die Anorexie meiner Patientin hielt an, weil ihr Überlebensmechanismus stärker war als jede therapeutische Methode. In diesen Fällen kann die konventionelle Psychotherapie keine Hilfe bieten, es sei denn auf einer oberflächlichen Ebene. Oft glauben sowohl Patient als auch Arzt, es sei ein Fortschritt erzielt worden, obgleich der Arzt sich in Wirklichkeit mit der einen Realität befasst, während Gehirn und Körper der Patientin sich mit einer anderen beschäftigen.

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Eine Patientin von mir, Sandra, erzählte von ihrem Kampf mit Anorexie und von ihrem Weg zur Genesung. Die folgende Fallgeschichte von Sandra stellt wieder einige Ursachen heraus, nicht nur von Anorexie, sondern auch von suizidalen Tendenzen. In ihrem Fall wäre sie beinahe bei der Geburt gestorben. Sie war zu Beginn ihres Lebens von Todesgefühlen überflutet, die zu einer Einprägung wurden, sodass sie davon besessen war. Es geschieht nicht oft, dass die Person sterben will. Es ist vielmehr so, dass die Einprägung besagt, dass der Tod die Agonie beenden kann. Es ist diese Gleichung aus der Geburt, die eine Person sowohl zum Tod hin als auch von ihm weg treibt. Wenn der Mixtur Hoffnungs­losigkeit hinzugefügt wird, ergibt das ein Gefühl drohenden Todes zusammen mit dem Gefühl, dass es keinen Zweck habe, irgendetwas ändern zu wollen. Die meisten meiner Patienten, die vom Tode besessen sind, sagen mir, ihr Gefühl sei, dass der Tod unmittelbar bevorstehe und kein weit entferntes Ereignis sei. Was unmittelbar bevorsteht, ist, dass die Todesempfindung aus der Geburt in Richtung Bewusstheit aufsteigt und Zwangsvorstellungen erzeugt.

 

SANDRAS GESCHICHTE  

 

Meine Mutter wollte mich nicht; sie versuchte mich abzutreiben. Als das nicht funktionierte, hungerte sie, sodass man ihr die Schwangerschaft nicht ansehen würde. Schließlich fing sie während ihres (meines) siebenten Monats zu essen an, weil sie begonnen hatte, sich zu zeigen. Als ich geboren wurde, war ich anorektisch und konnte nichts unten halten. Ich spüre jetzt, dass ich mich am Rande des Verhungerns halte, weil ich dieses Gefühl ganz von Anfang an gehabt habe.

Bevor ich geboren wurde, verlor meine Mutter während des fünften Monats ein Baby. Mir passierte dasselbe, nur dass ich irgendwie stark genug war, um zu überleben.

Heute fühle ich dieselbe Toxizität und mit ihr die Todesgefühle, die mich mein ganzes Leben lang gequält haben. Ich hatte immer eine leichte Empfindung von Übelkeit, vor allem gleich nach dem Essen. Mein Impuls war, alles auszuspeien, das in meinen Körper kam. Ich verstehe jetzt, dass ich jene Vergiftungs-Erfahrung im Mutterleib immer wieder inszeniert habe. Ich muss diesen Impuls zum Ausspeien gehabt haben, um im Mutterleib zu überleben – und vielleicht war es sogar dieser Impuls oder eine primitivere Variante, der mich am Leben hielt. Dennoch hätte mich dieser Impuls später dann beinahe getötet, als ich begann, soviel Gewicht zu verlieren.

Wann immer ich mich in einer Situation von Stress oder Verletzlichkeit befinde, kommen diese selben Todesgefühle herauf, und mein Körper ist gezwungen, sie zu unterdrücken.

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Im Schlaf sinke ich auf etwas hinab, das sich wie die Bewusstseinsebene eines Babys anfühlt; das Ergebnis ist, dass ich schreckliche Angst bekomme und Probleme habe, überhaupt in Schlaf zu fallen. Beim Sex bin ich verletzlich, sodass ich einfach abschalte, wenn ich zu erregt werde. Ich bin seit Jahren suizidal, und nun sehe ich warum. Schon bevor ich geboren wurde, war ich vom Tod umzingelt und musste ihn abwehren!

Demselben Muster, meine Gefühle zu blockieren, folgte ich in der Therapie. Sobald Gefühle aufkamen, wurde ich überlastet und verdrängte das Gefühl, das mich in der Gegenwart beschäftigte, und reagierte die ganze Energie, die in mir gefangen war, einfach ab oder setzte sie Hals über Kopf frei. Ich wurde immer als „Hysterikerin" betrachtet. Ich konnte mich nicht auf irgendein Gefühl konzentrieren, weil ich einen Vulkan in mir hatte, mit dem ich mich befassen musste. Keiner meiner Körperprozesse funktionierte richtig, weil mein Körper immer das Todesgefühl gefangen hielt. Um dieses Gefühle mussten sie sich in der Primärtherapie kümmern, bevor mein Körper wieder funktionierte.

 

DER HIRNSTAMM: INSTINKT UND ÜBERLEBEN

 

Der unterste Teil des Gehirns, der in die Wirbelsäule überleitet, wird als Hirnstamm bezeichnet. Er besteht aus vielen Strukturen und beinhaltet das retikuläre Aktivierungssystem, die Medulla und den locus caeruleus. Er ist das erste organisierte Zentral­system, das sich mit Ereignissen befasst und sie registriert, besonders vor der Geburt und mehrere Monate danach.

Wenn Gefahr im Verzuge ist, schlägt der Hirnstamm Alarm und energetisiert den Körper. Er ist in die Regulierung vitaler Funktionen wie Atmung, Blutdruck und Herzschlag involviert. All dies sind instinktgesteuerte, automatische Funktionen. Der Hirnstamm trommelt die Truppen zusammen, indem er das übrige Gehirn und den Körper über Nervenfasern aktiviert, die direkt zum frontalen Kortex und auch zum limbischen System verlaufen.

In Hirnstamm-Strukturen wie dem locus caeruleus eingravierte Furchtsignale werden zum Kortex auf die obere Ebene gesendet, der sie dann zu einer Phobie, einer Zwangsvorstellung oder zu einem Angstgefühl zusammensetzt, deren Ursachen für die Person tief im Dunkeln liegen. „Warum Angst?" könnte man fragen. Weil Angst kortikale Verarbeitung bedingt, andernfalls ist es Terror der unteren Ebene. Sie müssen sich des viszeralen Grollens „gewahr" sein. Angst ist nur amorpher Terror. Angst ist ein „gewahrer" Zustand. Wir fühlen uns schrecklich, wissen, dass etwas nicht stimmt, aber wir wissen nicht, was es ist und warum es geschieht. 

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Als ich ein MRI* für meinen Rücken machen ließ und eineinhalb Stunden in einer engen Metallröhre eingeschlossen war, wies ich den Techniker an, in unregelmäßigen Intervallen hart auf meine Füße zu klopfen (sie ragten heraus), um Angst zu vermeiden. Es funktionierte. Keine Angst; keine Fähigkeit, die Furcht kortikal zu erzeugen und zu konstruieren.

Stellen Sie sich den Hirnstamm als das Reptilien-Gehirn vor. Er ist das, was wir mit unseren animalischen Vorfahren gemeinsam haben. Traumen, die in der Schwangerschaft geschehen, stehen in direkter Verbindung mit diesem System. Das ist der Grund, warum sich ein Patient während eines Feelings in der Sprache tierischer Physiologie und Anatomie „erinnert", mit überkreuzten Beinen, Kurzatmigkeit, Grunzen, Würgen und Husten. Indem wir geeignete Techniken benutzen, können wir auf diese primitive Ebene zugreifen.1 Wenn der Patient während einer Sitzung schreit, ist es das Wimmern eines Neugeborenen, nicht der Schrei eines dreijährigen Kindes. Wenn eine Patientin etwas wiedererlebt, das im Alter von sechs Jahren geschah, ist das Schreien charakteristischerweise das einer Sechsjährigen. Steigt sie jedoch die Schmerzkette hinab, wird das Schreien automatisch infantiler. Wenn sie beim Hirnstamm ankommt, ist es kein Schreien mehr; es ist ein Grunzen oder ein Ächzen. Selbst ein Babyschrei, wenn er während eines Geburts-Primals geschieht, sagt uns, dass es kein reales Ereignis ist.

Anoxie kann niemals erklärt werden. Sie ist ein physiologischer Zustand und kein Gedanke. Deswegen ist Angst so amorph. Sie ist rein physisch, viszerale Empfindung – ein Würgen, eine Enge in der Brust, ein aufgewühlter Magen und ein einengendes Band um den Kopf, Benommenheit, Schwindel, Kurzatmigkeit, Herzaussetzer, etc.. Diese Anoxie ereignete sich lange vor der Entwicklung des logischen Kortex, der ihr einen Sinn hätte geben können. Je eingeschränkter die gegenwärtige viszerale Reaktion ist (ein sich drehender Magen, Kolitis, Diarrhoe, zum Beispiel), umso wahrscheinlicher liegt die Ursache in der präverbalen Vergangenheit. Die prototypische Reaktivität, die ihren Anfang bei der Geburt nahm, ist jetzt die erste Art von Antwort auf jede neue Bedrohung. Im Angesicht einer aktuellen Gefahr scannt der Hippocampus die Geschichte, um den Prototyp zu finden, der die Reaktion diktiert. Er basiert auf dem Überlebensinstinkt.

Der Hirnstamm hat sein eigenes Gedächtnissystem. Die Art, wie wir atmen, zum Beispiel, und die Kraft und der Tonfall unserer Stimme oder unser generelles Energieniveau haben ihre Ursprünge in dieser Gehirnregion der ersten Ebene. Diejenigen, deren Sprechweise etwas Durchdringendes an sich hat, werden oft von der Macht eingeprägter Empfindungen ((sensations)) gelenkt, die die Domäne der ersten Ebene sind.

 

*  Magnetic Resonance Imaging (Magnet-Resonanz-Tomographie) A.d.Ü. 
1)  Die Veröffentlichung unserer Techniken würde ein weiteres Buch erfordern. Es dauert sechs Jahre, sie zu erlernen. Sie zu veröffentlichen birgt die Gefahr des Missbrauchs.  

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Obwohl die Sprache an sich eine höhere Gehirnfunktion ist, kann die Energie einer eindringlichen Sprech­weise vom Reptilienhirn aus gesteuert werden. Wenn wir jedoch krank sind, verlieren wir oft unsere kraftvolle Sprache. Warum sehen kranke Leute krank aus? Weil uns eine Virusattacke genau wie eine Attacke von Gefühlen unter Stress setzt, der Energie verbraucht. Die Stimme zum Beispiel ist nicht mehr dröhnend und gewaltig.

 

Die Arbeit des Frontalen Kortex:
Wie sich sonderbare Gedanken entwickeln

Der Hirnstamm hält den Tonus und die Spannkraft des frontalen Kortex aufrecht. Er benötigt eine gewisse Menge an Input, um sich selbst in einem guten arbeitsfähigen Zustand zu halten. Der frontale Kortex hat direkten Zugang zur Medulla und beeinflusst somit die Herz- und Atmungsfunktion. In umgekehrter Manier reguliert der frontale Kortex den Output des Hirnstamms.

Zuviel Input vom Hirnstamm bewirkt, dass wir leicht ablenkbar und konzentrationsunfähig sind. Stellen Sie sich bildlich eine Faust vor, die nach oben in ein Puzzle hineinstößt und die Teile kreuz und quer verstreut. Grob gesagt geschieht das, wenn Input von unten unvermindert zum frontalen Kortex aufsteigt, der verzweifelt versucht, all die Teile wieder zusammenzusetzen. Der frontale Kortex wird fragmentiert und verliert den Zusammenhalt. Paranoia zum Beispiel ist ein letzter Versuch, die Fragmentierung abzuwehren. Es ist der Versuch des Kortex, alle Ängste zu sammeln und ihnen eine vernunftmäßige Erklärung beizufügen. Wenn Paranoia versagt, haben wir eine geisteskranke Person. Hier also haben wir ein Beispiel, wie jemand psychotisch wird (Paranoia), um völlige Verrücktheit abzuwenden. Zumindest funktioniert der Paranoide: er kann einen Job beibehalten, für sich selbst sorgen, eine Familie unterhalten, etc.

Ein Patient, der unter Paranoia litt, glaubte, der Zeitungsverkäufer unten an der Straße wolle ihn töten. In unseren Sitzungen gelangte er schließlich zu der Hirnstamm-Einprägung der Anoxie (Sauerstoffentzug) bei der Geburt. Die Einprägung stieg nach oben zum frontalen Kortex, wo das Gefühl vier Jahrzehnte später von "Ich werde sterben" zu "Sie wollen mich töten" umgewandelt wurde. Die Einprägung wusste, dass der Tod lauerte, aber weil sie keine Verbindung zustande brachte, kannte der Kortex nicht den Grund für dieses Gefühl. Seine Paranoia nahm soweit zu, dass er Wahnvorstellungen entwickelte und alle seine Befürchtungen auf die Gegenwart konzentrierte. Das bizarre Zeitungsverkäufer-Szenario entwickelte sich aufgrund der großen Kraft seines Geburtsschmerzes, bei dem es um Leben oder Tod ging, und weil sein Abwehrsystem durch so viele Verletzungen in seiner Kindheit geschwächt worden war.

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Auch seine Eltern verletzten ihn beinahe jeden Tag seines Lebens. Sie wollten keine Kinder. Er war ein Unfall, und sie wollten sicherstellen, dass er dafür bezahlte, dass er sie ihrer Freiheit und ihres Lebens beraubte. Hätte die Einprägung ihren Ursprung nicht bei der Geburt gehabt sondern viel später im Leben, würden wir kaum so eine Wahnvorstellung sehen, wie sie dieser Patient hatte.

 

Albträume sind ein Anzeichen, wie der Kortex und Teile des limbischen Systems bis zum Äußersten getrieben werden. Das Feeling im Albtraum ist die exakte Replik des ursprünglichen Traumas; das Feeling, nicht die Bilder. Die Bilder sind eine Verkleidung des Empfindungs-Gefühls ((sensation-feeling)). Wir verwenden keine Zeit darauf, die Bilder und den Inhalt zu analysieren; wir gehen der Sache geradewegs auf den Grund. Wir benutzen die Symbole und Bilder in dem Traum. Der Patient lässt sich von dem Gefühl überfluten und gleitet dann auf dem Schlitten des Fühlens den Weg zu dessen Wurzeln hinab. Wenn das Gefühl jedoch zu stark ist, werden wir den Patienten nicht dorthin gehen lassen, besonders wenn er neu ist.

Grundsätzlich wird sein Gehirn es nicht zulassen und die Schleusen dicht machen. Aber wenn die Schleusen durch vielschichtigen Schmerz aus dem ganzen Leben geschwächt sind, dann helfen wir aus. Es könnte sein, dass an diesem Punkt Tranquilizer benötigt werden. Sie leisten genau das, was der Kuss einer Mutter geleistet hätte. Alpträume bedeuten defekte Abwehr, ein Durchbrechen von schwerem Schmerz. Gewöhnlich schaffen es die Träume ganz alleine, das Feeling in Bilder einzuhüllen. Nur wenn das versagt, haben wir Alpträume. Träume sind die Maskierung für Primärgefühle; andernfalls würden wir aufwachen und wären in der Realität. Sie helfen uns weiter zu schlafen. Einige von uns erinnern sich ihrer Träume, weil sie partiellen Zugang zu dieser Ebene haben.

Unser Versuch, den obengenannten Patienten mit Vernunftargumenten zu überzeugen, dass ihn niemand töten wolle, war zwecklos, weil sein Körper und Gehirn wussten, dass der Tod um die Ecke lauerte. Das war keine „Gedankenstörung", wie sie in der psychiatrischen Literatur berichtet wird. Tatsächlich ist es überhaupt keine Störung. Es ist eine Anstrengung der letzten zerebralen Verteidigungslinie des Körpers, einem verborgenen Gefühl einen Sinn zu geben. Es ist ein Kompensations­mechanismus, der uns hilft gesund zu bleiben, wenigstens einigermaßen gesund. Seine Funktion besteht darin, das Zustandekommen der Verknüpfung zu verhindern, weil das bedeuten würde, dass sich die Messwerte vitaler Funktionen im gefährlichen Bereich bewegen.

Medikamente, die die hochwallende Botschaft des Hirnstamms besänftigen oder unterdrücken, lindern nur das Syndrom. Es ist keine Überraschung, dass diese Medikamente auch obsessiv-zwanghafte Symptome dämpfen, wie ständiges Händewaschen oder dutzende Male zu überprüfen, ob die Türen verschlossen sind. Sie verringern die Arbeit, die der Kortex zu leisten hat, indem sie im Neokortex endende Impulse des Hirnstamms und limbischen Systems verlangsamen.

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Es ist egal, ob es sich um Zwangsvorstellungen, Aufmerksamkeitsstörung oder Paranoia handelt; all das involviert den denkenden frontalen Kortex und seine limbischen Verknüpfungen. Es ist offensichtlich, warum dieselbe Pille das alles bis zu einem gewissen Grad unterdrückt.

Zwangsvorstellungen, nächtliche Grübeleien, während man versucht einzuschlafen, und mystische Ideen sind die Art und Weise, wie der Kortex mit Gefühlen verfährt und sie zurückhält. Es ist gewiss ein angenehmeres Gefühl, wenn Sie glauben, von einer mächtigen Instanz beschützt zu werden, als wenn Sie sich völlig nackt und schutzlos fühlten. Wenn unsere Gefühle mit unserer Gedankenwelt übereinstimmen, kann das System schließlich zur Ruhe kommen.

Fühlen – Kern unseres Menschseins 

Wann immer Hirnstamm-Einprägungen involviert sind, kann ich es aus dem Muster des Weinens während eines Feelings heraushören; das sporadische, abgeflachte Schluchzen; und der Ausfall der Atmung. Wenn ich eine Normalisierung der Körperfunktion sehe — eine niedrigere Körpertemperatur zum Beispiel — bin ich mir dessen sicher, dass Abspaltung der Missetäter war und Wiederverknüpfung mit dem ursprünglichen Ereignis der Retter. Ich bin in der Lage, mit Gewissheit zu behaupten, dass Wiederverknüpfung das System neu stabilisiert , weil ich es bei meinen Patienten immer wieder gesehen habe. Nichts ist so wohltuend, als nagende Spannung und Angst loszuwerden und dieses Gefühl, ungeliebt zu sein, abzuschütteln.

Fühlen macht uns menschlich. In der Primärtherapie helfen wir den Patienten, sich unwohl zu fühlen, aber nur für kurze Zeit. Wollten wir nicht instinktive Gewalten des Hirnstamms mit höheren Ebenen des Gehirns verbinden, hätten wir keine so direkte Verknüpfung von Nervennetzwerken.

Es gibt ein biologisches Bedürfnis nach Ganzheit und Wiedervereinigung; eine Erinnerung an Gesundheit, daran, wie wir einst waren, liegt in jedem von uns. Wenn sich der Körper durch die Wiedererfahrung früher Gefühle normalisiert, dann können wir annehmen, dass er durch die ursprüngliche Erfahrung jenes Schmerzes aus der Bahn gebracht worden war. Wenn der Patient ein Trauma wiedererlebt, das seinen Blutdruck auf das Zweifache erhöhte, und er ihn später auf normale Werte zurückbringt, gibt es nichts, was wir rauskriegen müssten. Die Geschichte bindet das Symptom an die Vergangenheit. 

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