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  KAPITEL 5

DER SYMPATHETIKER UND DER PARASYMPATHETIKER

WIE DIE PERSÖNLICHKEIT IM MUTTERLEIB GESTALTET WIRD

 

 

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Ich habe schon zu Beginn erwähnt, dass der Hypothalamus die zwei Abschnitte des autonomen Nerven­systems kontrolliert, das parasympathetische (der Parasympathetiker) und das sympathetische (der Sympathetiker). Das sympathetische System steuert Energie verbrauchende Prozesse wie z.B. die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Es mobilisiert uns, erhöht die Körpertemperatur und reduziert die periphere Zirkulation, um Blut für die Muskulatur zu konservieren – eine mögliche Erklärung für ein bleiches Gesicht oder kalte Hände und Füße. Häufiges Urinieren, vermehrte Schweißabsonderung, trockener Mund und eine höhere Stimme sind weitere Effekte.

Im Gegensatz dazu kontrolliert der parasympathetische Zweig Energie bewahrende Prozesse, nämlich Ruhe, Schlaf und Genesung. Er erweitert Blutgefäße, sodass die Haut warm wird, und fördert den Heilungsprozess. Wenn wir uns im parasympathetischen Modus befinden, entspannt unsere Muskulatur, um Energie einzusparen, unsere Stimme senkt sich und nimmt eine langsame, honigsüße Klangfarbe an.

Eine gesunde Person hält das Gleichgewicht zwischen den zwei Systemen. Im Idealfall arbeiten die zwei harmonisch zusammen, sodass wir tagsüber mehr „sympathetisch" sind und im Schlaf mehr „parasympathetisch". Aber ein Geburtstrauma oder eine harte Kindheit können uns in die eine oder die andere Richtung verschieben. Zum Beispiel kann das Neugeborene während einer schwierigen Geburt, bei der die Mutter schwere Anästhesie erhalten hat, sich nicht selbst helfen, um geboren zu werden, weil sein System lahm gelegt worden ist.

Dieses Ereignis prägt Verzweiflung und Resignation ein – ein parasympathetischer Modus, der zukünftige Reaktionen steuert: Eine Person könnte leicht aufgeben oder sich bei der geringsten Kleinigkeit überwältigt fühlen (Kämpfen und Scheitern). Wenn andererseits das Neugeborene erfolgreich gekämpft hat, um geboren zu werden, kann der eingeprägte Modus der sympathetische sein (Kämpfen und Gewinnen). Die Person gibt nicht leicht auf und ist optimistisch und hartnäckig.

Ich habe ganz bestimmte Persönlichkeitstypen gefunden, die auf den zwei Arten der Erfahrung basieren, die wir ganz am Anfang machen. Der Prototyp, der eingeprägt wird, ist im Großen und Ganzen lebensrettend. Danach scannt das Gehirn die Geschichte, um zu sehen, wie es in der Gegenwart reagieren soll, und es wird immer auf den Prototyp treffen. Beim Parasympathetiker treffen wir auf eine regelrechte Konfiguration: niedrigere Körpertemperatur, langsamerer Puls und niedriger Blutdruck. Ein Schlüssel­zeichen ist der etwas geringere Ausstoß an Schilddrüsenhormon. In einigen Fällen kann die Körpertemperatur während eines Geburts-Wiedererlebnisses um zwei bis drei Grad fallen. Da der Patient keine Ahnung hat, was sich abspielt, ist es eine weitgehend ungefälschte Reaktion. Der Grund für das Absinken kann in der massiven Anästhesie zu finden sein, die der Mutter verabreicht worden war; sie hat das System des Neugeborenen wirksam stillgelegt.

Des weiteren gibt es bestimmte Gedanken, die dieses Absinken begleiten, gewöhnlich Vorläufer des heraufkommenden Gefühls. Gedanken gehen Gefühlen voraus, wenn sich die Kräfte einer tieferen Ebene zu frontaler Bewusstheit bewegen. Gedanken ebnen den Weg, sozusagen; sie erzählen davon, was unterhalb liegt. Das ist der Grund, warum wir uns mit den richtigen Techniken auf Gedanken konzentrieren und dann zu den Ursprüngen regredieren können. Patienten kommen herein und sind allen Optimismussees beraubt; Resignation regiert, weil das gesamte System in den (ursprünglichen) Versagensmodus übergeht. Die Person fühlt sich hoffnungslos, da der Tod naht, und sie findet, dass sie nichts daran ändern kann. Sie kann eine Therapiesitzung deprimiert, hilflos und zynisch beginnen: „Das wird nichts bringen." Was hat es für einen Zweck, es zu versuchen? Diese Therapie funktioniert nicht bei mir."

Der Grund für diese Einstellung besteht darin, dass sie den Todesgefühlen bei der Geburt nahe ist. Während der Geburtssequenz konnte sie nicht versuchen, gegen den Widerstand massiver Anästhesie anzukommen. Die Werte der Vitalfunktionen stellen sich auf diese Tatsache ein; somit ist alles aus einem Guss – niedrige Vitalwerte einhergehend mit Verzweiflung und Resignation. Kurz gesagt, „hoffnungslos". Sie konnte auch nach der Geburt keinen Versuch machen, als sie Tag um Tag allein gelassen wurde, als ihr Schreien unbeachtet verhallte, weil die Eltern dachten, es sei korrekt, „sie ausschreien zu lassen."

Parasympathetische Männer haben eine tiefe, gemächliche Stimme. Mattigkeit prägt ihr Erscheinungsbild, der Metabolismus ist langsam. Andere Attribute beinhalten Introspektion, Verträumtheit und emotionale Distanz. Parasympathetiker sind oft Nachtmenschen, sie begegnen der Morgendämmerung jeden Tages wie sie der Geburt begegneten – träge (anästhetisiert). Jeder Morgen ist eine Art Rückblende auf die Geburtserfahrung.

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Der Sympathetiker jedoch hat bei der Geburt heftig und erfolgreich gekämpft. Auch diese Konfiguration hat eine ausgeprägte Gestalt ((orig. im engl. Text: gestalt)) an sich: höherer Puls, erhöhte Körpertemperatur, eine fröhlichere und optimistischere Haltung. Männliche Sympathetiker haben eine höhere, quieksendere Stimme. Der sympathetische Prototyp verändert die Sollwerte vieler biologischer Systeme. Der Sympathetiker tut sich schwer, angesichts der Realität auf die Bremse zu treten. Sich voranzukämpfen war der frühe lebensrettende Modus. Er manövriert sein Außenleben dergestalt, dass es mit seinen inneren Gefühlen übereinstimmt. Er ist der Verkäufer, der kein „Nein" als Antwort hinnimmt.

Wird das sympathetische System durch eine tödliche Gefahr aktiviert, die von der Geburt stammt, so deaktiviert es das parasympathetische System. Dann herrschen Angst und Herzklopfen vor, weil das parasympathetische System, das normalerweise dem sympathetischen System Ruhe und Entspannung verordnet, vorübergehend unterfunktional ist

Das parasympathetische System spielt eine Hauptrolle bei Depression. Frühe asymmetrische Verschiebungen zwischen dem parasympathetischen und dem sympathetischen System ändern die Persönlichkeit auf genau bestimmte Weise: von passiv zu aktiv, von reflektiv zu impulsiv, von nach innen gerichtet zu nach außen gerichtet, von artistisch zu praktisch, von verträumt zu pragmatisch, oder in umgekehrter Richtung. Das Geburtstrauma kann die Persönlichkeit ein Leben lang verzerren. Natürlich ist es nicht einfach das Geburtstrauma, sondern es sind auch die neun vorhergehenden Monate, die in gewisser Hinsicht bestimmen, welche Reaktionen das Geburtstrauma nach sich zieht. Eine chronisch rauchende Mutter hat bereits dafür gesorgt, dass schon bei leichter Anoxie während der Geburt der parasympathetische Modus dominierend sein wird.

Auch nachdem man frühe Erlebnisse wiedererfahren hat, kann die elementare Persönlichkeit nicht völlig verändert werden, weil sie durch sich wiederholendes Verhalten verstärkt worden ist. Die Parameter können jedoch abgeändert werden, sodass das Individuum weder außergewöhnlich energielos noch außergewöhnlich überaktiv ist. In Fällen, bei denen die Eltern das Verhalten oder die Aktionen des Kindes nicht belohnt haben, wird das parasympathetische System wahrscheinlich vorherrschen, weil die Erinnerung an die Verzweiflung andauert. Ich behandelte eine Frau, deren Mutter bei der Geburt starb. Der Vater machte das Kind für ihren Tod verantwortlich, und nichts, das sie jemals tat, war gut genug für ihn. Es gab keine Liebe, um die sie hätte kämpfen können, es ging nur um die Vermeidung seines Zorns. Sie wurde lethargisch und introvertiert. Mit drei Jahren gab sie auf. Es ist bekannt als 'mürrisches-Kind-Syndrom' ((sullen child syndrome)).

Solange ein überladener Hypothalamus nicht zur sympathetischen Seite verschoben ist, kann die parasympathetische Seite dabei helfen, Angst und Panikattacken ein Ende zu setzen. Dennoch kann sich das System nicht in bestem Zustand befinden, wenn es

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zu vorgeburtlicher Vernachlässigung, schlechter Ernährung oder Alkohol- und Drogeneinnahme zugunsten der austragenden Mutter gekommen war. Ein Bericht der Nationalen Organisation über das Fetale Alkohol Syndrom im Oktober 1998 kam zu dem Ergebnis, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft exzessiv Alkohol konsumierten, mentale Defekte und mentale Verzögerung, Wachstumsdefizite, mangelnde Verhaltensanpassung und Funktionsstörungen des zentralen Nervensystems aufwiesen. Zweifelsohne lässt sich all das nicht einfach auf Asymmetrie im autonomen Nervensystem zurückführen. Es gibt viele andere mitwirkende Faktoren. Ich biete 'Asymmetrie’ an, weil ich es so oft in meinen Patienten sehe. Mindestens zwei Drittel meiner Patienten sind zur parasympathetischen Seite hin verschoben. Wenn sie es nicht sind, kommen sie im allgemeinen nicht zu uns, um sich helfen zu lassen.

 

Zweifelsohne geht dem Leser eine Frage durch den Kopf, die die gelegentliche Zigarette oder den gelegentlichen Drink einer schwangeren Frau betrifft. Ich bezweifle, dass eine Zigarette viel Schaden anrichten wird, aber wenn Trinken und Rauchen kontinuierlich wird, dann wird es die integrative Kapazität des Fetus sprengen und es wird zu Abweichungen kommen. In einem Erwachsenen wird ein Drink nicht viel Schaden anrichten. Fünf Drinks können zur Betrunkenheit führen. Im Fetus können fünf Drinks mehr hervorrufen als Betrunkenheit; sie können vitale biologische Funktionen verändern, weil das kleine System sich verzweifelt abmüht, mit dem Input fertig zu werden. Es ist viel besser, sich zu enthalten. Ein Leben steht auf dem Spiel.

Wenn ein Patient eine primärtherapeutische Sitzung mit niedriger Körpertemperatur beginnt, steht er wahrscheinlich unter extremer parasympathetischer Dominanz. Das passiert bei unseren depressiven Patienten, weil sie oft kurz davor stehen, ein Trauma mitsamt den ursprünglichen parasympathetischen Reaktionen – den Prototyp zu fühlen. Sie befinden sich in einer sonderbaren Stimmung, wissen aber nicht warum. Nochmals: Depressive/suizidale Reaktionen in der Gegenwart sind die exakten Reaktionen aus dem ursprünglich eingeprägten Trauma. Der Hippocampus hat die Geschichte durchforscht und etwas hervorgebracht, das ursprünglich lebensrettend war. Er wird es immer wieder tun.

Aufzugeben war ursprünglich lebensrettend; Kampf war eine Bedrohung. Wir versetzen den Patienten in den historischen Kontext zurück, sodass die Stimmungen und die Gefühle mit den Szenen übereinstimmen, denen sie entsprungen waren. Die Szene mag kein wirkliches Bild sein, vielleicht einfach eine anatomisch-physiologische Konfiguration. Reaktionen werden durch die Natur des Traumas diktiert. Wenn ein Baby gleich nach der Geburt nicht zu seiner Mutter gegeben wird, sondern stattdessen in ein Bettchen gelegt wird, kann Resignation zum Prototyp werden. Das Baby wird als teilnahmslos und apathisch geprägt. Heimkinder, die sehr wenig Liebe bekommen, entwickeln dieses Verhaltensmuster der Lethargie und Passivität. Wenn sich alle drei Gehirnebenen zu demselben Gefühl zusammenschließen, besteht die Möglichkeit des Suizids.

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Wenn sich jemand im Hirnstamm, im limbischen System und im gegenwärtigen Leben hoffnungslos fühlt, besteht eine konkrete Gefahr. Ein klein bisschen Hoffnung in der Gegenwart kann Depression soweit mildern, dass suizidale Impulse vermieden werden.

Ein Opfer elterlicher Grausamkeit zu sein, kann wohl auf diesem Prototyp des Aufgebens beruhen. Im Erwachsenenalter kann jemand als unbewusste Demonstration dieser Grausamkeit die Rolle des Opfers annehmen. Durch ihr Verhalten anderen gegenüber sagt die Person: „Ich werde misshandelt. Helft mir!" Das ist auch bekannt als Verlierer-Syndrom: „Mir wird nichts gelingen, bis ihr seht, dass ich leide".

Ich behandelte einen Patienten, der sich in keiner Konfrontation ausdrücken konnte. Nach zwei Stunden in unserer Sitzung erlebte er eine Kindheit wieder, in der seine Mutter ihn ständig rügte. Er fühlte sich unfähig, sich zur Wehr zu setzen, vor allem wegen ihrer enormen Wut. Das reaktivierte eine verwandte tiefer liegende Erinnerung, in der er von der Nabelschnur stranguliert wurde. Eine halbe Stunde lang war sein Gesicht puterrot angelaufen. Er kam aus der Sitzung mit der Einsicht heraus, dass seine Unfähigkeit, sich zur Wehr zu setzen, aus der primären Einprägung stammte, dass er bei der Geburt beinahe erwürgt worden war; diese Einprägung wurde durch die Art, wie seine Mutter ihn behandelte, noch verstärkt. Der Patient bemerkte, dass er immer dann verstummte, wenn ihn jemand grob zurecht wies oder ihn kritisierte, genau wie es im Umgang mit seiner Mutter der Fall war. Er brauchte eine Stunde dazu, sich zu überlegen, was er hätte sagen sollen.

Für einige Babys ist der Geburtsprozess eine Erfahrung, die sie dem Tod nahe bringt; diese Erfahrung wird einem naiven Gehirn eingeprägt. Es ist kein Wunder, dass dem System bestimmte Züge und Reaktionsweisen aufgedrückt werden; diese Züge waren nichts weniger als Überlebenstaktiken. Die richtige Steuerung des Gefühlsprozesses erfordert den harmonischen Einsatz des sympathetischen und auch des parasympathetischen Systems.

Unter extremer sympathetischer Dominanz fühlt man sich „gerädert". Sympathetische Neuronen halten Einprägungen im Hirn­stamm und im limbischen System zurück und verarbeiten sie. Aber eine bestimmte Menge an Angstenergie schafft es, nach oben durchzudringen und bewirkt, dass sich die Sympathetikerin im Bett herumwälzt, über dieses oder jenes Projekt nachdenkt, was sie morgen tun wird, was sie heute tun hätte sollen. Das nennt man zwanghaftes Grübeln ((obsessive rumination)).

Nachdem genug Angstenergie durch ihre Besorgtheit absorbiert worden ist, fällt sie schließlich in Schlaf. Aber der Terror holt sie ein, und sie hat einen Alptraum. Sie wacht auf; ihr frontaler Kortex ist „hellwach" geworden, um den Terror des limbischen Systems und des Hirnstamms im Unbewussten zu halten. Das eine Gehirn wird dazu benutzt, dem anderen zu entkommen. Sie nimmt eine Schlaftablette, um die Furcht zu besänftigen. Die Tablette versetzt den Hirnstamm in Schlaf. Am nächsten Morgen wacht sie auf und fühlt sich noch immer gerädert, sie springt aus dem Bett und beginnt einen neuen geschäftigen Tag. Es ist ein endloser Zyklus.

Einige Individuen sind so vollständig abgeriegelt, dass sie die sympathetische Energie nicht einmal spüren.

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Diese Individuen sind weit von ihren Gefühlen entfernt und kommen gewöhnlich nicht zur Therapie. Wenn der Schmerz so tief im Unbewussten versenkt ist, kann er von irrealen Glaubenssystemen absorbiert werden. In diesem Fall leidet die Person nicht. Stattdessen kann sie „verrückte" Ideen übernehmen, wie den Glauben an das Okkulte. Es lässt sich in der Past-Lives-Therapie beobachten. Vorleben-Therapie ist jetzt der 'Hammer’ im New Age-Feld; alles Mögliche, nur keine Realität. Es ist nie genug, sich mit dem Leben und seinen Problemen in dieser Welt zu beschäftigen, nein, sie müssen der Spur zurück ins alte Ägypten folgen, um ihr früheres Leben zu finden. Nur allzu oft findet die Person heraus, dass sie eine Prinzessin in einem vergangenen Königreich war. All das gründet auf der Vorstellung, dass unsere Vorgeschichte in unser Nervensystem eingeprägt sei und wir sie nur anzapfen müssten. In dieser Hinsicht gibt es keine Realität, mit der wir uns befassen müssten. In den Tausenden von Urerlebnissen, die ich gesehen habe, habe ich niemals ein solches Phänomen beobachtet. Meine Patienten berichten aber, dass solche Dinge geschahen, als sie vor der Therapie LSD nahmen, wobei sie ihr ganzes Leben übersprangen und schließlich in mystische Vorstellungen eintauchten. Past-Lives sind ein Schlüsselzeichen für Überlastung und Symbolisierung, und man sollte sie lediglich als pathologisches Merkmal auffassen.

Der Sympathetiker hat gelernt, dass Anstrengung und Kampf lebensrettend sind; der Parasympathetiker hat gelernt, dass zuviel Anstrengung lebensgefährdend sein kann (es braucht zuviel Sauerstoff auf). Der Parasympathetiker ist nachdenklicher, grübelt mehr und verfällt leichter in Depression. Der Sympathetiker ist die Verkörperung des Optimismus, weniger nachdenklich und selten deprimiert.

Überlegen Sie sich die Sache in evolutionärer Hinsicht: Empfindungen kamen zuerst; Gefühle kamen als zweites; Gedanken kamen zuletzt. Gefühle waren lange vor der Fähigkeit, paranoid zu sein, am Platze.

Eine Gedankenstörung lässt sich nicht ohne Bezug auf ihren limbisch-hirnstammlichen Unterbau betrachten. Es sind ungeschleuste Gefühle und Empfindungen, die uns verrückt machen, und nicht zwanghafte Gedanken. Die Gedanken entstehen auf Grund des Druckes aus Feelings, die keine Verknüpfung mit dem frontalen Kortex finden.

Es gibt keine „Gedankenstörungen", wie sie die psychiatrische Literatur und wirklich jedes Pharma-Unternehmen vorschlägt, das Tranquilizer für solche Störungen unter die Leute bringt. Paranoia wird für eine Gedankenstörung gehalten. Aber tatsächlich ist es eine Störung der Gefühle (kursiv), der zugrunde liegenden Gehirnprozesse, die durch Veränderungen im System der austragenden Mutter verursacht worden war. Schizophrene Mütter haben eine fünffach höhere Wahrscheinlichkeit, ein schizophrenes Kind zu bekommen, nicht unbedingt wegen der Vererbung, sondern weil eine tief gestörte Mutter eine tief gestörte Physiologie schafft, die den Fetus umgibt und schließlich die limbischen Zentren desorganisiert.

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Der Körper steuert den Sexualtrieb eines Menschen automatisch auf der Grundlage des Bedürfnisses. Wenn ein Mann Slips und Kleider anzieht, kann sein Verhalten auf die Erfüllung eines alten Bedürfnisses ausgerichtet sein – nach Mutters Gegenwart früh im Leben. Wurde das Bedürfnis zu Beginn des Lebens nicht erfüllt, geht es in den Untergrund. In meiner klinischen Praxis entwickelten so viele Männer ihren Hang zum „Auftakeln", weil eine berufstätige Mutter nur ihre Kleider als Erinnerung daließ. Das Bedürfnis ist, eine Mutter um sich zu haben; bleibt es versagt, nimmt der Mann das nächstbeste Ding, symbolische Andenken – Slips. Bei einer Frau, der eine Mutter versagt blieb, kann das verdrängte Bedürfnis in der Adoleszenz an die Oberfläche kommen und seinen Brennpunkt auf Frauen ausrichten. Das Resultat kann lesbische Liebe sein. Es mag schwer fallen, sich dessen zu erinnern, dass unsere Eltern für uns Kinder das Ein und Alles waren. Ein Mädchen, dem Körperkontakt mit ihrer Mutter versagt blieb, erfährt vielleicht im Alter von fünfzehn die Berührung einer Freundin. Es fühlt sich so gut an, dass es allmählich die sexuelle Ausrichtung bestimmen kann. Sie will mehr von dem, was sie braucht. Sie ist über das Alter hinaus, dass sie Wärme von ihrer Mutter bekommen könnte, und so tut sie das Nächstbeste. Sie findet es bei Freundinnen.

Diese Frau kann vielleicht zu mir kommen, aber nicht wegen ihrer lesbischen Neigung, sondern weil sie unter Angstattacken leidet oder unter anderen Problemen, die von frühem Liebesmangel herrühren. Der Lesbismus kann sich so richtig anfühlen, dass die Person überzeugt ist, er sei normal und vielleicht sogar genetisch bedingt. Sie hat eine Geliebte und würde es nicht anders haben wollen, weil ihr Bedürfnis nach einer liebevollen Frau nichts anderem entspräche.

Ein Patient fühlte sich, als käme er aus einem lebenslangen Trancezustand heraus. Er sollte als zweiter von Zwillingen geboren werden, aber er lag in Steißposition im Mutterleib (Füße voran). Er musste im Mutterleib herumgedreht werden, was extrem schmerzhaft war, und wurde schließlich nach mehreren Stunden geboren. Er glaubte, dass er an jenem Punkt aufgrund des Schmerzes und des Erstickens das Bewusstsein verlor. Seine Lungen füllten sich mit Flüssigkeit und ließen in ihm das Gefühl des Ertrinkens zurück. Nachdem er geboren worden war, war seine Mutter in Folge des Geburtsverlaufes krank und stand nicht zur Verfügung, um ihn zu trösten und zu beruhigen.

Der Terror türmte sich auf und hielt sein ganzes Leben an. Er hatte einen Vater, der nie da war. Seine Mutter musste arbeiten, um sie beide durchzubringen. Sein ganzes Leben lang war er in Schmerz aufgelöst. Man konnte es auf Fotos aus seiner Kindheit sehen. Er wurde in der Slowakei geboren und während des Krieges ohne seine Mutter fortgeschickt. Er klammerte sich an seine Schwester, die später bei einer Explosion ums Leben kam und ihn völlig allein zurückließ. Er war präpsychotisch, mit gelegent­lichen Wahnvorstellungen und Halluzinationen; er war sich sicher, dass der Mann in dem Parkplatzhäuschen böse auf ihn sei, weil er ihn lächeln sah. Trotz der Wahnvorstellung funktionierte er sehr gut.

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Seine Verdrängung des grauenvollen Schmerzes machte ihn zu jeder Zeit beinahe bewusstlos; in der Tat befand er sich in einer Trance. Als er anfing, seine Bedürfnisse und Schmerzen zu integrieren, kam er allmählich aus dem Trancezustand heraus, da er nicht mehr so tief in Gefühlen der unteren Ebenen versunken war. Das ist eine Trance wirklich: Man ist in tiefere Bewusstseins­ebenen eingeschlossen, ohne dass der frontale Kortex die Dinge klären könnte.

 

EINE THERAPIE FÜR DEN EMOTIONALEN NOTFALL

 

Wenn Patienten in der Primärtherapie mit alten Gefühlen in Kontakt kommen, schalten weite Teilbereiche des frontalen Kortex ab, während tiefere Zentren die Regie übernehmen. Genau das geschieht in Notsituationen, wenn der Instinkt in den Vordergrund tritt, um unser Leben zu retten. An diesem Punkt haben wir keine Zeit, über unsere Optionen nachzudenken; wir müssen reagieren. In der Therapie signalisieren die im Aufsteigen begriffenen verfremdeten und gefährlichen Gefühle eine Notsituation und zwingen die tieferen Zentren, die Herrschaft zu übernehmen. Es findet ein Angriff der Gefühle statt. Teile des Immunsystems treten in Aktion, als würde gerade ein Virus angreifen.

Das Gehirn verfährt mit Gefühlen, als seien sie Aliens, die um jeden Preis zurückgeschlagen werden müssen. Das untere fühlende Gehirn behandelt sie wie eine gegenwärtige Bedrohung. Ein Grund dafür ist, dass die unteren Zentren keinen Zeitschlüssel haben; es ist der Kortex, der die Zeit misst. Deshalb brauchen wir den Kortex, um ein Feeling richtig der Vergangenheit zuzuordnen, sodass es nicht länger in das gegenwärtige Leben eindringt. Wie wir an andere Stelle feststellen, sind die limbisch-hirn­stammlichen Prozesse schon lange voll ausgereift, ehe der frontale Kortex aktiviert wird. Aus diesem Grund bezeichnete Freud sein Unbewusstes, das Es, als „zeitlos".

Gefühlstherapie ist beinahe immer auf einen Notfall ausgerichtet, denn wären die Gefühle keine Bedrohung, so wären sie bereits gefühlt worden. Wir müssen es zulassen, dass der Patient sich dieser Krise hingibt und die evolutionäre Kette hinabsteigt. Wir achten sehr darauf, dem Patienten, der seinen Gefühlen nahe ist, keine Fragen zu stellen. Wir wollen keine Erklärungen, und wir wollen nicht, dass der Patient Worte für ein wortloses frühes Trauma benutzt. Kurz gesagt wünschen wir keine Einmischung des frontalen Kortex, bis wir zur Einsichtsphase des Feelings gelangen. Zu oft sind Gedanken der Gefühle Feind.

Bei einer Sitzung in dem abgedunkelten Raum sitzt der Therapeut hinter der Patientin. Die Patientin beginnt gewöhnlich damit, dass sie über etwas in der Gegenwart redet, zum Beispiel über einen Streit mit einem Freund.

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Sie mag darüber wütend sein oder weinen. Sie wird immer mit der gegen­wärtigen Situation weitermachen. Etwa dreißig Minuten später kann sie in etwas Ähnliches aus ihrer Kindheit fallen. Ihre Mutter musste immer Recht haben und duldete keinen Widerspruch. „Lass mir meine Gefühle, Mama!", könnte sie schreien. Automatisch macht sie mit anderen ähnlichen Szenen ihrer Kindheit weiter, da das limbische System anscheinend dem vollständigen Bewusstsein ((conscious-awareness)) alle relevanten Szenen anbietet, als wären sie alle unter einem übergeordneten Feeling verschlüsselt. Und in der Tat sind die Szenen durch das Fühlen chiffriert. Ist die Patientin einmal in dem Feeling eingeschlossen, kann sie eine Zeit lang ganz ruhig sein, ein wenig husten und würgen, und dann lautlos und langsam tieferen Zugang erlangen. Für neue Patienten ist das gefährlich: zu schwerer Schmerz, zu früh für die Integration ins Bewusstsein. Nach eineinhalb oder zwei Stunden öffnet sie die Augen, blinzelt und kommt, wie es scheint, in die Gegenwart zurück. Dann beginnen die Einsichten, und erst dann übernimmt der Therapeut eine viel aktivere Rolle, erörtert ihr gegenwärtiges Leben und bespricht, wie diese Gefühle in ihr früheres Verhalten hineingespielt haben. Alle anderen wurden zu ihrer Mutter und lösten somit ihren Zorn aus. Nach dem Feeling setzt sie sich auf, und sie fühlt sich erfrischt und keinesfalls am Boden zerstört, wie man es sich vielleicht vorstellen würde, und sie grüßt uns zum Abschied. Sie entscheidet, wann sie wiederkommen will. Die Macht liegt in ihren Händen.

Sobald ein Gefühl oder frühes Ereignis das vollständige Bewusstsein ((conscious-awareness)) im frontalen Bereich erreicht, koppelt es an. Es entsteht eine feste Verbindung, und das Körpersystem kehrt zur Normalität zurück. Das ist die Verbindung, die ursprünglich hätte stattfinden sollen, hätte das Schleusensystem nicht eingegriffen, um den frontalen Kortex und das Körpersystem vor der Überlastung zu bewahren. Es sind jetzt genügend frühe Gefühle verknüpft worden, sodass das System bereit ist, tiefere Schmerzen in Angriff zu nehmen.

Das wird geschehen, solange kein Außenstehender, d.h. Therapeut, diktiert, was der Patient fühlen soll und wann er es fühlen soll. Das Gehirnsystem und der Körper des Patienten werden sich darum schon kümmern. Wir müssen der Biologie und dem Individuum vertrauen lernen und dem Verlangen nach Macht abschwören. Wenn eine Person ihre Klaustrophobie besiegt, nachdem sie die schreckliche Angst und Qual fühlte, als sie als Kind bestraft und in einem kleinen Raum allein gelassen wurde, kommen die Verknüpfungen und Einsichten automatisch zustande. Es kommt sogar zu noch weiter reichenden Einsichten, wenn die Patientin in eine Geburtssequenz hinabgleitet und wiedererlebt, wie sie für vielleicht Stunden oder Tage in einem Inkubator allein gelassen worden war.

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Nach der Wiedererfahrung und Verknüpfung der Gefühle kehren die Vitalfunktionen meiner Patienten zu Werten zurück, die unterhalb der Anfangswerte liegen. Die Verdrängung von Gefühlen erzeugt im Körper Wärme, aber wenn man diesen Gefühlen gestattet, an die Oberfläche zu kommen, kommt es zu einem Fallen der Körpertemperatur, oft zu einer permanenten Senkung um ein halbes bis zu einem Grad. (Wir messen die Vitalfunktionen eines jeden Patienten vor und nach jeder Sitzung.) Wenn ein Patient abreagiert – wenn die Energie eines Gefühls auf sporadische Art freigesetzt wird und nicht fest mit der Vergangenheit verhakt ist – fallen die Vitalfunktionen sporadisch oder überhaupt nicht. Das ist für uns ein Schlüsselkriterium, um zu überprüfen, ob eine Verknüpfung zustande gekommen ist

So viele Selbsthilfe-Bücher konzentrieren sich darauf, wie wir uns selbst kontrollieren können, unsere Impulse, unsere Wut, aber sie ignorieren die Einprägungen ((Imprints)), die nie aufhören werden, unser Leben zu dominieren. Nun verstehen wir, warum die meisten gewalttätigen Gefangenen noch immer eine Gefahr für die Gesellschaft sind, nachdem sie entlassen worden sind. Kein noch so großes Quantum an Wut-Kontroll-Therapie wird helfen, weil die Ursache der Wut nicht berührt worden ist. Beratung liefert uns lediglich Vernunftargumente, warum wir nicht (kursiv) ausagieren sollen. Am Ende aber sind es die Gefühle, die gewinnen, besonders wenn diese Gefühle von der Energie des Hirnstamms angetrieben werden.

 

In den 1950er Jahren erfand Kaiser Permanente Hospital eine „bequeme" Methode, wie Mütter mit ihren Neugeborenen umgehen sollten. Sie stellten ein Schubfach zur Verfügung, das auf und zu glitt. Wenn die Mutter mit dem Füttern des Säuglings fertig war, wurde das Baby in einem Schubfach weggeschlossen. Der Terror dieses Traumas ist eine wirkungsvolle Methode, um den Kortex und andere Gehirnzellen fehlzusteuern. Würde an diesen Kindern, die jetzt erwachsen sind, eine Studie durchgeführt, würden die Auswirkungen dieses ziemlich monströsen Konzepts augenscheinlich werden, allen guten Absichten zum Trotze.

Wenn Sie wie ich gesehen haben, wie jemand seine Geburt wiedererlebt, werden Sie zu der Überzeugung gelangen, dass die Energie, die eingesetzt wird, um diese Empfindungen ((sensations)) und Emotionen all die Jahre im Zustand der Verdrängung zu halten, schließlich die zelluläre Struktur des Körpers beeinträchtigen muss. In unseren therapeutischen Sitzungen sehen wir, welch massiven, furchtbaren Schmerz die meisten von uns im Inneren verbergen. Es erfordert eine gleichermaßen massive Hemmkraft, um diese schrecklichen Schmerzen unten zu halten. Die plötzliche Freisetzung dieses frühen Schmerzes kann explosiv sein. Fügen Sie nun ein gewisses Maß an elterlicher Gleichgültigkeit und Mangel an Wärme gleich nach der Geburt und während der ganzen frühen Kindheit hinzu, und Sie erhalten massiv verstärkten Schmerz mit Schaden im frontalen Kortex und in limbischen Strukturen. Das bedeutet chronisches Leiden. Es ist nicht nur so, dass ein hoher Angstpegel bei der austragenden Mutter von Kortisolsekretion begleitet wird, sondern die schleichende Sekretion wird schließlich auch limbische Zellen des Babys schädigen. Das ist eine direkte Demonstration, wie fehlende Liebe ganz am Anfang des Lebens das Gehirn schädigen kann.

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Bruce Bower in Science News stellt fest, dass „zwanzig Jahre währende Studien an Ratten und anderen nichtmenschlichen Lebewesen nahelegen, dass die anhaltende Aussetzung an hohe Konzentrationen von Stresshormonen Zellverlust im Hippocampus hervorruft." Er impliziert, dass chronisch hohe Kortisol-Pegel zu Schaden am Hippocampus führen können und zu den kognitiven Krankheiten, die wir oft mit fortgeschrittenem Alter in Verbindung gebracht haben. Das kann bedeuten, dass Gedächtnisverlust nach dem sechzigsten Lebensjahr vielleicht das Resultat einer Geburtseinprägung ist, die das ganze Leben hindurch chronisch hohe Kortisol-Spiegel hervorrief. Und genau deshalb ist es so teuflisch, wenn wir versuchen, exakte Ursachen für Gedächtnisverlust zu finden, und uns nur auf physiologische und neurologische Ereignisse im hohen Alter konzentrieren.

An diesem Punkt könnte uns eine Analogie das Verständnis erleichtern. Wenn ein Arzt einem Patienten über Wochen oder Monate schmerzstillende Mittel verschreibt, wird der Patient gewarnt, nicht abrupt abzusetzen. Der Grund........Anfälle. Tiefe innere Kräfte entweder mit unseren eigenen intern gefertigten Dämpfern oder mit Medikamenten zu unterdrücken, bewirkt, dass sich das verdrängte Material aufbaut. Es mit einem Male frei werden zu lassen, bedeutet eine ausgedehnte explosive Eruption von Gefühlen überall im Gehirn – ein Anfall – , sobald die Abwehr gegen die anflutende Gewalt schwächer wird. Etwas, das dem sehr nahe kommt, sehen wir in unserer Therapie – eine zufällige, massive, ungezielte Eruption, wenn sich Gefühle aufbauen und dem vollständigen Bewusstsein ((conscious-awareness)) nahe kommen. Es ist der Brennpunkt, eine Szene oder Erinnerung, der das Gefühl in die richtigen Kanäle schleust und einen Anfall vermeidet. Aber wenn zuviel zu früh hochkommt, geht der Brennpunkt verloren und das Gehirn wird überlastet.

Im Schlaf werden wir stufenweise unbewusst, angefangen von gegenwärtiger Bewusstheit bis zu tiefem Schlaf. Schlaf involviert die Verdrängung höherer Schichten des Bewusstseins. An einem gewissen Punkt, wenn sie dem Tiefschlaf nahe kommt, befindet die Person sich buchstäblich in demselben Gehirn und physiologischen Zustand wie ein sechs Monate altes Kind: keine konzeptionell-intellektuellen Abwehrmechanismen gegen den Schrecken. Genau das ist für diejenigen, die ein präverbales Trauma wiedererleben, so entsetzlich. Es gibt nichts in ihren Köpfen, das in Begriffe oder Bilder fassen könnte, was sich gerade abspielt. Es ist pures Entsetzen, das oft von Einprägungen der ersten Linie ((first-line imprints)) im locus caeruleus organisiert wird.

Da wir gerade über physiologische Erinnerung reden, in den letzten Monaten hatten wir zwei Patienten, die Meningitis und Scharlachfieber aus ihrer Kindheit wiedererlebten. In beiden Fällen hatten die Patienten während des Wiedererlebens Fieber.

Nehmen wir als Beispiel ein kleines Kind, dem in den ersten Monaten des Lebens wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im Erwachsenenalter aktiviert das limbische System die furchtbare Verlassenheit und spornt den Kortex zur Hoffnung an ("Vielleicht kommt jemand und leistet mir Gesellschaft. Ich rufe meine Freunde an. Vielleicht kommen sie und vertreiben meine Einsamkeit.").

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Diese Handlung findet vor jeder Überlegung statt und ist eine Art, wie wir uns gegen das Gefühl verteidigen. Und wenn unsere Eltern oft genug sagten: "Mach' nicht so ein finsteres Gesicht", kann sogar Glücklichkeit eine Abwehr sein; der Schein gibt vor, alles sei gut, wenngleich dem nicht so ist.

Könnte die Person die Traurigkeit und ihre Ursachen erleben, wäre sie vielleicht nicht deprimiert. Im Grunde sind es diese Traurigkeit und so viele andere Gefühle, die bei Depression eine Rolle spielen. Traurigkeit ‚überflutet’ so viele verschiedene Erlebnisse, in denen das Kind sein Unglück nicht seinen Eltern mitteilen konnte. So viele meiner Patienten kommen mit hohem Blutdruck und Migräne herein und erzählen mir, dass sie eine sehr gute Kindheit hatten. Monate später winden sie sich auf der gepolsterten Matte und beklagen ihr frühes Elend, während gleichzeitig ihre Migräne verschwindet. Niemand redet dem Patienten diesen Schmerz ein. Er entsteht, wenn jemand seine Kindheit wieder besucht. Wenn wir lernen, in unseren persönlichen Gehirnarchiven zu stöbern, gibt es keinen Hinweis, was wir finden könnten. Keinem Patienten wird jemals gesagt, was er zu fühlen habe oder dass er weinen oder schreien solle.

Eine unserer aktuellen Patientinnen wurde von ihrem Freund, mit dem sie seit zwei Jahren ging, einfach sitzengelassen. Sie war am Boden zerstört und bettelte und rief ihn immer wieder an. Er ermahnte sie, sie solle nicht mehr anrufen. Sie konnte nicht an sich halten; ständig lauerte sie ihm auf. Dann schließlich verfiel sie wochenlang in einen depressiven Angstzustand, konnte ihr Appartement nicht verlassen, rief ihre Freunde nicht mehr an und gab ihr Leben auf. Das Feeling, zu dem sie schließlich gelangte, war eine schwer anästhesierte Geburt, die sie überlastete, und so entwickelte sie das „Kämpfen-und-Scheitern"-Syndrom ((struggle-fail)), das heißt, sie gab bei Widerständen schnell auf. 

Dann bewegte sie sich die Gehirnebenen aufwärts zu der Beziehung mit ihren verschlossenen Eltern, die emotional distanziert waren, so distanziert, dass sie es aufgab, sich um Liebe zu bemühen, sich nur noch mit sich selbst beschäftigte und als Einzelgängerin galt. Als sie als Erwachsene die Chance sah, Liebe zu bekommen, wurde sie hartnäckig und obsessiv. Sie klammerte sich an Hoffnung. Und genau das machte ihre Situation hoffnungslos – sie litt so sehr unter Liebesentzug und war so bedürftig, dass sie Männer abstieß. Je mehr sie brauchte, umso weniger bekam sie.

Es ist das Ziel der Primärtherapie, die frontokortikale Erinnerung mit der unbewussten Leidenskomponente (limbisches System-Hirnstamm) zu verhaken, um vollständiges Bewusstsein ((conscious-awareness)) zu erreichen – ein frontaler Kortex, der mit den Strukturen des limbischen Systems und des Hirnstamms voll verknüpft ist. Das ist Zugang. Bewusstsein ist das Endziel der Therapie: das Unbewusste bewusst zu machen. Wir trachten danach, den Druck aus dem System zu nehmen, während gleichzeitig lindernde Maßnahmen Anwendung finden. Wir bestehen darauf, dass die Symptome behandelt werden, ungeachtet ihrer Ursachen. Wir müssen eine Migräne oder hohen Blutdruck durch Medikation im Zaume halten, sodass wir funktionieren können.

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Anmerkungen  1-4

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