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Einführung    Janov-2000

 

 

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Lassen Sie mich zu Beginn erklären, wovon <Die Biologie der Liebe> handelt und wovon sie nicht handelt. Sie handelt davon, wie die Liebe der Eltern in den frühen Phasen des Lebens uns alle beeinflusst, wie sie buchstäblich das Gehirn formt und sich ein Leben lang auf uns auswirkt. Sie handelt nicht von akademischer Neurobiologie.

Angesichts der aufregenden neuen Entdeckungen, die in diesem Bereich der Gehirnforschung gemacht worden sind, besteht die Notwendigkeit, unser Wissen über Neurologie und unsere Beobachtungen in der klinischen Praxis zusammenzuführen und in einer nicht-technischen Weise zu präsentieren.

Dieses Buch ist für Laien geschrieben, die erfahren wollen, wie Gefühle und Emotionen — die „Motionen“ (Bewegungen), die wir machen, wenn wir fühlen — unser Leben lenken. Auf diesen Seiten nehme ich ausgewählte Fakten aus aktueller Forschung und  setze sie in einen Bezugsrahmen, der weit auseinand­erliegende Ergebnisse in bindenden Zusammenhang bringt.

Es ist viel neue Studienarbeit über das Gehirn geleistet worden, die es ermöglicht, die Gebiete der Dynamischen Psychologie und der Neurologie zu verbinden. Wir können all die neue Forschung nutzen um zu verstehen, warum wir nicht schlafen können, warum wir Albträume haben, warum wir so getrieben sind, warum wir oft weder mit anderen auskommen können noch Beziehungen halten können, warum wir nicht lieben können, warum wir Alkohol und Drogen nehmen und wie die sich auf das Gehirn auswirken, wo der Schmerz hingeht, nachdem wir ihn erfahren, was mit unseren Gefühlen geschieht, wenn sie in das Unter­bewusstsein gezwungen werden, wie unsere Gefühle verdrängt werden, was im Unbewussten liegt und viele weitere Aspekte der conditio humana. 

Diese Entdeckungen sind nur dann von Bedeutung, wenn sie uns schließlich helfen, uns besser zu fühlen und ein annehmbares Leben zu führen. Wir werden sehen, wie sich die Liebe der Mutter direkt in die Biochemie ihres Kindes übersetzt und wie diese Liebe das Gehirn zu neuer Gestalt formt. Das “geliebte“ Gehirn ist anders.

Wenn wir eine gute Vorstellung davon haben, wie emotionaler Schmerz das Gehirn verändert, können wir vielleicht die Behandlung für diesen Schmerz hinsichtlich neurologischer Veränderungen messen. Wo zum Beispiel entstehen Zwangs­vorstellungen, und zuallererst, warum entstehen sie? Ich glaube, wir wissen warum, nachdem wir Dutzende von Fällen zwanghafter Rituale behandelt haben. Wie können wir emotionale Probleme wie Phobien, sexuelle Abweichungen und impulsives Verhalten lösen? Was genau ist “verrückt“? Wo im Gehirn könnten wir diese Verrücktheit finden, falls es tatsächlich einen Ort gäbe, wo sie existiert? Ich werde auch die verschiedenen aktuell verordneten Tranquilizer diskutieren und erörtern, wie sie funktionieren, um uns zu beruhigen. Was beruhigen sie wirklich?

Obwohl es der übliche standesgemäße Dünkel ist – oder dessen Mangel – dass wir irgendwie niemals genug wissen, um endgültige Aussagen über die Quellen psychischer und emotionaler Probleme zu machen, glaube ich, dass wir nun genug wissen und zu einigen Antworten gelangen können, ohne dass wir auf “Psychologisiererei“ oder technischen Jargon zurückgreifen müssen. 

Wir werden nie genug wissen, um ein absolutes und endgültiges Urteil über irgendein Thema abgeben zu können, aber das sollte uns nicht von dem Versuch abhalten, einem Fachgebiet Sinn abzugewinnen, in dem das diagnostische Handbuch dicker ist als das Telefonbuch von Manhattan.

In meiner primärtherapeutischen Arbeit habe ich die unbewussten Tiefen Tausender von Patienten ergründet. In den vergangenen dreißig Jahren habe ich unentwegt die Überzeugung an die Auswirkungen von vorgeburtlichen und geburtlichen traumatischen Erfahrungen auf das spätere Leben bewahrt. Jetzt zieht die Forschung nach. Es gibt Beweise, wo wir auch hinsehen.

Wenn es für die Theorie und Psychotherapie keine wissenschaftliche Basis gibt und wenn Beobachtungen durch vorgefasste Ansichten entstellt werden, ist das Resultat ein Phänomen wie Rebirthing-Therapie, in der Patienten angeleitet werden zu schreien und auf die Wände einzuschlagen, um “ihren Schmerz freizu­setzen“. Das ist keinesfalls “Therapie“, und es ist schädlich. Man muss den Menschen gestatten, sich nach und nach ihren eigenen Weg durch die Gehirnebenen hinab zu erarbeiten, damit sie die tiefste Ebene des Unbewussten erreichen und mit ihr in Verbindung treten können. 

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Um das zustande zu bringen müssen wir wissen, was sich unten im Gehirn befindet, und innerhalb seiner Strukturen arbeiten. Ohne dieses Wissen ist jeder auf sich allein gestellt, verloren in einem Meer von Ansätzen, die keine Verankerung in der Wissenschaft haben. Eine einzige Auffassung, nämlich das Konzept der Einprägung (Imprint), würde meiner Ein­schätzung nach die Praxis der gegenwärtigen Psychotherapie verändern. Deshalb werde ich einige Zeit darauf verwenden, sie zu erörtern. Wir haben zu viel Zeit darin investiert, gegenwärtige Quellen von Stress zu erforschen, um Erscheinungen wie Angst, Magenbeschwerden, hohen Blutdruck, Herzrasen, Depression usw. zu verstehen, weil wir den zentralen Bestandteil vieler Störungen ausgelassen haben — die Geschichte...... den eingeprägten Schmerz. 

Obwohl ich siebzehn Jahre lang in der Praxis psychoanalytischer Therapie tätig gewesen war, war ich erst 1967 zum ersten Mal Zeuge tiefer Gefühle und verbrachte Jahrzehnte mit dem Versuch, heraus­zube­kommen, was dahinter steckt. Es waren Gefühle, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ja, meine früheren Patienten weinten und schluchzten , aber so gut wie nie wälzten sie sich unter Höllenqualen am Boden und schrieen ihren Schmerz heraus. Für diejenigen, die nicht jeden Tag ihres Lebens unter Schmerz stehen, mag diese Vorstellung einer Verirrung gleichkommen. Sie ist es nicht.

Als mir im Jahr 1971 Professoren in der Abteilung für Neurologie der UCLA sagten, dass die Speicherung von Geburts­erinnerungen unmöglich sei, warf das meine Arbeit um Jahre zurück. Schließlich lernte ich, dass die Speicherung nicht nur möglich ist, sondern auch in hohem Maße bestimmend für unser späteres Leben. Unsere Arbeit am UCLA-Lungenlabor brachte die Forschung voran, insbesondere in Bezug auf das Geburtstrauma. Wir diskutierten die Schleusung noch ehe die Schleusentheorie in der aktuellen Literatur auftauchte. In meinem Buch von 1971, Die Anatomie der Neurose, erörterte ich die Rolle des Serotonins für psychische Krankheiten einige Jahre bevor die Forschung nachzog.

Ich sage das nicht aus Rechthaberei, sondern um zu zeigen, dass wir neuen Ansätzen gegenüber nicht zu engstirnig sein dürfen. Es ist bequem, an unseren alten Vorstellungen festzuhalten, manchmal zu bequem; sie werden zu einem Katechismus, den wir jeden Tag herunterbeten.

Die Biologie der Liebe wirft einen Blick darauf, wie die ersten Wochen und Monate unseres Lebens – nicht des sozialen Lebens, sondern des vorsozialen Lebens im Mutterleib – unser Gehirn verändern.; wie Gefühle und Erinnerungen ins Gehirn eingestempelt werden und wie und warum sie für den Rest unseres Lebens fortdauern. Sie befasst sich damit, warum nichts im Erwachsenen­leben grundlegend ändern kann, was mit uns als Kleinkindern und sogar schon vor der Geburt geschah. Wenn uns in einer kritischen Periode ein Trauma widerfuhr oder ein Mangel an Liebe, kann nichts im Erwachsenenleben das ändern, weil die Veränderungen, die zu jener Zeit stattfanden, dem neurobiologischen System bleibend eingeprägt wurden. Seien Sie dennoch nicht entmutigt; es gibt Lösungen, die ich in diesem Buch ansprechen werde.

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Wir werden uns das Leben im Mutterleib anschauen und seine Auswirkungen auf uns als Erwachsene. Wir wissen zum Beispiel, dass die Praxis, der Mutter während der Schwangerschaft schwere Beruhigungsmittel zu verabreichen, das System des Babys lahm legt. Das hat lebenslange Auswirkungen zur Folge, die von niedriger Libido bis zu passiven, phlegmatischen Charakter­merkmalen reichen. Wir wissen, dass eine Frau, die während der Schwangerschaft Beruhigungsmittel nimmt und/oder erhebliche Mengen Alkohol konsumiert, bereits den Neurotransmitter-Spiegel ihrer Leibesfrucht beeinträchtigt; das führt möglicherweise zu Ängstlichkeit oder Depression im späteren Leben des Kindes. 

Wenn im Gehirn der schwangeren Mutter ein Mangel an hemmenden Neurohormonen auftritt, so trifft dies auch auf ihr Baby zu. Wenn eine Mutter ihr Kind liebt, verstärken sich die Hormone der Liebe (Oxytozin, Vasopressin und Serotonin) im Baby für ein Leben lang. Es wird als Erwachsener eine bessere Mutter oder Vater für seine eigenen Kinder sein. Es wird eine andere Physiologie haben als die eines Menschen, der in seiner frühen Kindheit keine Liebe erfahren hatte.......  und ein anderes Gehirn.

Vorgeburtliches Trauma verursacht Veränderungen im Neurotransmitter-Ausstoß und in der Anzahl der Rezeptoren. Neuro­transmitter sind die chemischen Vehikel, die unsere Gefühle durch das gesamte Nervensystem transportieren oder diese Gefühle abrupt zum Stillstand bringen. Eine zu große Menge an Schmerz, ein zu lange anhaltender früher Mangel an Liebe kann die Schleusen gegen das Fühlen verschließen. Einer teuflischen Dialektik folgend kann früher Schmerz die „Schleusen“ schwächen, die unser Gehirnsystem errichtet, um eben dieses Trauma zu blockieren. Das Neugeborene einer heroin­süchtigen Mutter ist im wahrsten Sinne des Wortes arm dran. Seine Endorphin-Rezeptoren sind verkleinert, um sich an die Drogensucht der Mutter anzupassen. Eine glückliche, wohlgenährte Schwangere hingegen verleiht ihrem Fetus das ausreichende Rüstzeug, um sich den potentiellen Hürden der Geburt und späterer Widerstände im Leben zu stellen. Das Baby wird reichlich mit Anti-Angst-  und Anti-Schmerz-Hormonen ausgestattet, so dass es sich über Hindernisse und Widrigkeiten hinwegsetzen kann.

Ich untersuche auch die Auswirkungen mütterlicher oder väterlicher Liebe auf unsere Biologie, und wie ein Mangel an Liebe von Beginn an unseren „denkenden“ Kortex und unser „fühlendes“ limbisches System verändert. Wenn wenig emotionale Harmonie zwischen Mutter und Neugeborenem besteht, entwickeln sich zum Beispiel Nervenzellen in bestimmten Gehirnstrukturen nicht richtig. Der präfrontale Kortex – die planende, denkende, logische, integrierende äußere Schicht der Gehirnzellen – wird durch den Mangel an früher Liebe geschwächt und wird im späteren Leben nicht im vollen Umfang funktionieren. Die Deprivation führt zu verringerter Kontrolle über Impulse und zu einer reduzierten Fähigkeit abstrakt zu denken und ebenso zu beeinträchtigter Koordination und einer verringerten Fähigkeit, im Voraus zu planen.

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Wenn eine Mutter oder ein Vater während der ersten Monate des Lebens dem Baby nicht mit Liebe und Wärme in die Augen schaut, es nicht liebkost, nicht mit ihm redet und keine Liebe zu ihm empfindet, dann bestimmt dieser Mangel an Gefühl die Wachstumsrate der kortikalen Nervenzellen, oder Neuronen, im Gehirn des Kindes. Das Kind zu lieben bedeutet sein Gehirn zu lieben. Unter sonst gleichen Umständen ist das geliebte Gehirn das normale.

Die Beschreibung von Schlüsselstrukturen des Gehirns in diesem Werk ist nicht als endgültiges Modell gedacht. In späteren Kapiteln werde ich die Rolle, die spezifische Gehirnstrukturen bei Emotionen und Gefühlen spielen, detaillierter untersuchen und ebenso, wie sie Liebe oder dessen Mangel in körperliche Symptome übersetzen.

Was hat Liebe damit zu tun? Mehr als wir uns vorstellen können. Liebe ist nicht einfach ein Wort, das man einem Kind gegenüber äußert, sondern ein Akt des Fühlens, der ironischerweise meistens keine Worte erfordert. Wenn wir unser Kind herzen und küssen und es innig lieben, wird es die Botschaft empfangen, und sein Leben wird völlig anders sein. Wenn wir es nicht tun, werden Worte nicht helfen.

In der Biologie der Liebe werde ich dem Leser ein neues Konzept der Liebe anbieten, das in größerem Einklang mit Informationen über das Gehirn und mit der Psychologie steht. Wir werden sehen, wie konkret Liebe tatsächlich ist; es ist nicht einfach nur die Auffassung verschiedener Personen über ihr Wesen. Wir werden entdecken, wie Liebe letztlich bestimmt, wie wir denken, fühlen, wahrnehmen und als Erwachsene handeln. Sie entscheidet, wie lange wir leben und welchen Krankheiten wir später im Leben zum Opfer fallen. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Mangel an Liebe ganz früh im Leben bereits die Grenzen unserer Lebenserwartung und unserer Glücklichkeit festsetzt. Die sekundären Abwehrmechanismen wie Rauchen, Trinken, übermäßiges Essen und Drogenkonsum, die wir gebrauchen, um unsere frühe Deprivation zu verdrängen, werden schließlich zu unserem vorzeitigen Ende beitragen.

In der Regel sterben wir nicht an Übergewicht. Wir sterben an dem Liebesmangel, der uns dazu bringt zuviel zu essen. Dasselbe gilt für Rauchen und Trinken. Vor allem entscheidet frühe Liebe – als Kind geschätzt und geliebt zu werden – darüber, wie sehr wir später das Leben lieben. Liebesmangel lässt uns mit dem beständigen Gefühl zurück, dem Leben nicht viel abgewinnen zu können, uns nicht viel daraus zu machen, ob wir leben oder sterben, weil wir unser Leben nicht fühlen können. So viele Individuen scheinen ihrem eigenen Tod gegenüber gleichgültig, weil das Leben so wenig für sie bereithält. Ich glaube wir wissen genug um zu erklären, warum das so ist.

Ich erkläre, wie unsere Intoleranz und Unmenschlichkeit anderen und sogar unseren Kindern gegenüber mit der Gehirnfunktion verknüpft ist und wie eine Veränderung der Gehirnfunktion uns „menschlicher“ machen kann. Warum sind Drogen und Alkohol für manche Leute so wichtig? Was machen sie mit dem Gehirn, und warum tun sich manche Leute so schwer, von ihren Gewohn­heiten zu lassen? Sind die Zwölf-Schritt-Programme wichtig? Nur wenn man sich nicht mit dem Ursprung des Schmerzes befasst.

Bereiten wir uns darauf vor, in unerforschte Gewässer hinauszusegeln und eine außergewöhnliche Reise in die Tiefen des Unter­bewussten zu unternehmen. Sind wir dort erst einmal angelangt, werden wir heraus­finden, dass es ein Ort voller Licht, Einsichten und Frieden ist. All die verborgenen Dämonen — jene schmerzvollen dem Gehirn innewohnenden Erinnerungen, die ein Abschalten im Baby und im Erwachsenen verursachten, werden befreit werden. Wir nennen sie Dämonen, aber es sind keine. Es sind präzise Bedürfnisse und Erinnerungen, die eingeprägt sind und vorwärts drängen in dem beständigen Versuch, ihren Weg aus dem Unbewussten heraus zu finden.

Der kortikale Apparat, der nötig ist, damit wir mit dem Verstehen und Kontrollieren unseres Schmerzes auch nur beginnen können, entwickelt sich erst im Alter von zwei Jahren, und erst viele Jahre später werden wir die vollständige Kapazität besitzen, das zu integrieren, was im Unbewussten liegt. In der Zwischenzeit werden früher Mangel an Liebe und andere Traumen vielleicht diesen kortikalen hemmenden Apparat schädigen und das Kind hyperaktiv, manisch, ängstlich und angespannt zurücklassen. Es ist kein Zustand, aus dem wir herauswachsen. Es ist eine Verirrung.

Einfach gesagt, können nicht geäußerte Gefühle uns "verrückt" machen, oder uns zumindest gehetzt und unwohl fühlen lassen. 

Diese Gefühle auszudrücken kann uns helfen, unsere Gesundheit und Stabilität wiederzugewinnen. — Damit wir diese Reise unternehmen können, benötigen wir ein elementares Verständnis des Gehirns und seiner Funktionsweise.

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