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Teil 1   Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele

 

1. Das Bewußtsein des Bewußtseins

 

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Mit der Frage Was ist das Bewußtsein? werden wir uns des Bewußtseins bewußt. Und die meisten Menschen meinen, eben dies, dieses sich des Bewußtseins Bewußt-Sein, sei das Bewußtsein. Das ist ein Irrtum.

Sind wir uns unseres Bewußtseins bewußt, so erscheint uns dieses Bewußtsein als die unmittelbar gewisseste Sache von der Welt. Wir erkennen in ihm das charakteristische Merkmal unseres gesamten Wachlebens, unserer Stimmungen und Affekte, Gedanken und Erinnerungen, der Aufmerksamkeitsfunktion und der Willensentscheidungen. Wir sind ganz sicher, daß es die Grundvoraussetzung der Begriffsbildung und des Lernens, des Denkens, Urteilens und Schlußfolgerns ist, und zwar deshalb, weil es unsere Erlebnisse, so wie sie sich zutragen, unmittelbar aufzeichnet und speichert und sie dadurch für unsere Selbst­beobachtung und unser Erkennen beliebig verfügbar macht. Außerdem glauben wir ziemlich genau zu wissen, daß dieses ganze wunderbare System von Funktionen und Materialien, das wir Bewußtsein heißen, irgendwo im Kopf sitzt.

Bei kritischer Überprüfung erweisen sich alle diese Annahmen als falsch. Es sind Maskeraden, hinter denen das Bewußtsein seit Jahrhunderten seine wahre Gestalt verbirgt. Es sind grundsätzliche Mißverständnisse, die bis heute die Lösung des Problems vom Ursprung des Bewußtseins verhindert haben. Ziel unseres langen, aber, wie ich hoffe, abenteuerreichen Weges in diesem ersten Kapitel wird es sein, die Irrigkeit jener Auffassungen nachzuweisen und zu zeigen, was das Bewußtsein nicht ist.

  Die Dimension des Bewußtseins  

Betrachten wir zunächst einmal verschiedene Verwendungsweisen des Wortes Bewußtsein, die wir von vorn­herein als irreführend ausrangieren können. Da ist beispielsweise die Wendung «das Bewußtsein verlieren» (nach einem Schlag auf den Kopf). Wollten wir das als zutreffende Beschreibung des gemeinten Sachverhalts gelten lassen, müßten wir darauf verzichten, dieses sprachlich zu unterscheiden von jenen in der klinischen Literatur geschilderten Somnambulzuständen, in denen ein Patient zwar eindeutig bewußtlos ist, jedoch noch so auf die Umwelt reagiert, wie es ein k.o. Geschlagener nicht mehr vermag. Deshalb müßte man von jemandem, der eins auf den Schädel bekommt, eigentlich sagen, daß er sowohl das Bewußtsein als auch das Reaktionsvermögen verliert: und das sind zwei Paar Stiefel.

Diese Unterscheidung ist auch für das normale Alltagsleben von Belang. Wir reagieren ständig auf Dinge, ohne uns ihrer jeweils bewußt zu sein. Wenn ich, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, auf meinem Rasen sitze, reagiere ich zu jedem Zeitpunkt auf den Baum und den Boden und meine eigene Haltung, denn wenn ich mir die Beine vertreten möchte, werde ich mich zu diesem Zweck vollkommen unbewußt vom Boden erheben.

Ganz vertieft in die Gedankengänge dieses ersten Kapitels, bin ich mir nur in den seltensten Augenblicken meiner Umgebung bewußt. Während ich schreibe, reagiere ich auf den Bleistift in meiner Hand, da ich ihn ja festhalte, und ich reagiere auf den Schreibblock, denn ich halte ihn auf den Knien, und auf seine Linien, denn ich schreibe auf ihnen — doch bewußt bin ich mir dessen, was ich sagen will, und der Frage, ob ich mich verständlich ausdrücke oder nicht.

Flattert aus dem Gebüsch in meiner Nähe ein Vogel auf und fliegt zeternd davon, wende ich vielleicht den Kopf, verfolge ihn mit den Blicken, lausche ihm nach und wende mich dann wieder dem Blatt vor mir zu, ohne mir des Vorgangs bewußt geworden zu sein.

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Mit anderen Worten: Das Reaktionsvermögen erstreckt sich auf alle Reize, denen ich in meinem Verhalten auf irgendeine Weise Rechnung trage; ganz anders dagegen das Bewußtsein, ein bei weitem weniger allgegenwärtiges Phänomen: der Dinge, auf die wir reagieren, sind wir uns nur zeitweilig bewußt. Und während sich das Reaktionsvermögen vollständig in neurologischen und Verhaltenskategorien beschreiben läßt, ist dies auf dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens in bezug auf das Bewußtsein nicht möglich.

Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Ständig sind wir mit Reaktionsweisen beschäftigt, für die es überhaupt keine mögliche Bewußtseins­repräsentanz gibt. Wenn wir einen Gegenstand anblicken, reagieren unsere Augen und infolgedessen die Bilder auf unserer Netzhaut mit zwanzig kleinen Rucken pro Sekunde, und dennoch erblicken wir einen unverrückt feststehenden Gegenstand, ohne irgendein Bewußtsein zu haben von der Aufeinanderfolge unterschiedlicher Informationseingaben und ihrer Verarbeitung zu einem einheitlichen Gegenstand.

Das unnormal kleine Netzhautbild eines Gegenstands wird unter angemessenen Umständen automatisch als entfernter Gegenstand gesehen; die Korrektur vollziehen wir unbewußt. Farbkontrasteffekte, Hell-Dunkel-Kontrast­effekte und andere Wahrnehmungskonstanzen bilden sich allesamt ununterbrochen während jeder Minute unseres Wachlebens, ja sogar unseres Traumlebens, ohne daß wir uns dessen im mindesten bewußt wären. Und diese Beispiele sind nur ein winziger Bruchteil jener Vielzahl von Vorgängen, deren wir uns früheren Definitionen des Bewußtseins zufolge eigentlich bewußt sein müßten — was aber entschieden nicht zutrifft. Ich denke etwa an Titcheners Definition des Bewußtseins als «die Summe aller psychischen Vorgänge, die im gegenwärtigen Augenblick stattfinden». Von dieser Auffassung sind wir heute meilenweit entfernt.

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Aber wir wollen noch einen Schritt weiter gehen. Das Bewußtsein macht einen sehr viel geringeren Teil unseres Seelenlebens aus, als uns bewußt ist — weil wir kein Bewußtsein davon haben, wovon wir kein Bewußtsein haben. Leicht gesagt, aber schwer einzusehen! Es ist, als verlange man von einer Taschenlampe, daß sie in einem dunklen Zimmer einen Gegenstand ausfindig macht, der im Dunkeln bleibt. Weil es überall hell ist, wohin die Lampe ihren Strahl richtet, müßte sie daraus schließen, daß der ganze Raum erleuchtet ist. Genauso kann der Eindruck entstehen, als ob das Bewußtsein das gesamte Seelenleben durchdringe, auch wenn dies nicht im entferntesten der Fall ist.

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Ein weiterer interessanter Aspekt ist die zeitliche Dimension des Bewußtseins. Sind wir uns, wenn wir wachen, in jedem Augenblick bewußt? Wir glauben es. Wir sind sogar absolut überzeugt davon. Ich schließe die Augen und versuche an nichts zu denken — trotzdem fließt das Bewußtsein weiter, ein mächtiger Strom von Inhalten in wechselnden Zuständen, die ich als Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, innere Dialoge, Kummergefühle, Wünsche oder Entschlüsse zu bezeichnen gelernt habe und die innig verflochten sind mit den in unablässigem Wechsel vorüberziehenden äußeren Eindrücken, die mein Bewußtsein selektiv aufnimmt. Nirgendwo ist da eine Unterbrechung. So stellt es sich für uns jedenfalls dar. Bei allem, was wir tun, behalten wir das Empfinden, daß unser ureigenstes Selbst, unser tiefstes Tiefen-Ich letztlich in diesem kontinuierlichen Fluß besteht, der nur im traumlosen Schlaf unterbrochen ist, so lautet unsere Erfahrung. Und viele Denker hielten dieses Erlebniskontinuum für die Ausgangsbasis aller Philosophie, die eigentliche Heimstatt unbezweifelbarer Gewißheit. «Cogito, ergo sum.»

Aber wie hat man diese Kontinuität zu deuten? Eine Minute ist unterteilbar in sechzigtausend Millisekunden: Haben wir während jeder einzelnen Millisekunde Bewußtsein? Sollten Sie in der Tat dieser Meinung sein, dann unterteilen Sie noch weiter, in immer kleinere Zeiteinheiten, wobei Sie bitte bedenken wollen, daß die Impulsfrequenz der Neuronen begrenzt ist. Wir wissen zwar nicht das mindeste darüber, wie das mit unserem Empfinden von der Kontinuität des Bewußtseins zusammenhängt, doch wird kaum jemand ernstlich behaupten wollen, das Bewußtsein schwebe gleichsam wie ein Ätherhauch durch das Nervensystem und über dem Nervensystem, frei von aller irdischen Bedingtheit durch neutrale Refraktärperioden.

Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß wir im Fall der augenscheinlichen Kontinuität des Bewußtseins der gleichen Täuschung erliegen wie bei den meisten anderen Metaphern vom Bewußtsein. Um es in unserem Gleichnis von der Taschenlampe auszudrücken: Daß sie brennt, wäre der Lampe nur bewußt, solange sie brennt.

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Auch wenn sie zwischendurch für längere Zeitspannen ausgeknipst war, müßte es der Lampe selbst (unter sonst gleichen Umständen) so vorkommen, als habe sie ununterbrochen gebrannt. Die zeitliche Erstreckung unseres Bewußtseins ist also kürzer, als wir meinen, weil wir uns nicht bewußt sein können, wann wir uns nicht bewußt sind. Und das Gefühl von einem reich und ununterbrochen dahinströmenden Innenleben, einem Strom, der sich bald gemächlich durch träumerische Stimmungen windet, bald reißend in die Schluchten jäher Einsichten hinabstürzt, ein andermal wieder gleichmäßig durch unsere hochgestimmten Tage rauscht — dieses Gefühl ist nichts anderes als das, was es auf dieser Buchseite ist: eine Metapher dafür, wie das subjektive Bewußtsein dem subjektiven Bewußtsein erscheint.

Das läßt sich anders noch besser verdeutlichen. Wenn Sie Ihr linkes Auge schließen und dann den Blick fest auf den linken Rand der Buchseite richten, sind Sie sich nicht im mindesten der großen Leerstelle in Ihrem Gesichtsfeld bewußt, die dabei etwa zehn Zentimeter rechts vom Blickpunkt auftritt. Doch wenn Sie jetzt — noch immer nur das rechte Auge offen und auf den Rand geheftet — den Zeigefinger längs einer Zeile von links nach rechts über die Seite führen, werden Sie beobachten, wie die Fingerspitze in dieser Leerstelle verschwindet und auf der anderen Seite wieder auftaucht. Das Phänomen ist auf die im nasenseitigen Teil der Netzhaut gelegene Leerstelle von zwei Millimeter Durchmesser zurückzuführen, wo der Gesichtsnerv in das Augeninnere eintritt und die lichtempfindlichen Elemente fehlen.1 Sie wird gewöhnlich «blinder Fleck» genannt. Interessant an dieser Leerstelle ist aber für uns, daß es sich nicht so sehr um einen blinden als vielmehr um einen Nicht-Fleck handelt. Ein Blinder sieht das Dunkel, das ihn einhüllt.2 

1) Noch besser läßt sich der blinde Fleck mit Hilfe zweier quadratischer Stücke Papier von etwa eindreiviertel Zentimeter Seitenlänge darstellen. Man hält mit jeder Hand ein Papierstück ungefähr 45 Zentimeter weit vor sich, schließt ein Auge, fixiert mit dem offenen Auge eines der Papierstücke und bewegt das andere zur Seite des offenen Auges hin vom Blickpunkt weg, bis es verschwindet.
2)  Mit Ausnahme der Fälle, in denen die Ursache der Blindheit im Gehirn liegt. Beispielsweise sind sich Soldaten mit einer Läsion in einem der Hinterhauptfelder der Großhirnrinde, durch die ein großer Teil des Gesichtsfelds zerstört wird, keiner Beeinträchtigung ihres Sehvermögens bewußt. Geradeaus blickend haben sie die Illusion, alles Sichtbare ebenso vollständig wahrzunehmen wie jedermann sonst.

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Sie, der Leser, dagegen sehen keinerlei Lücke in Ihrem Gesichtsfeld, geschweige denn, daß Sie sich einer solchen im geringsten bewußt wären. Und genauso, wie die Löcher in der Raumwahrnehmung, die der blinde Fleck hervorruft, «gestopft» werden, ohne daß die kleinste Lücke hinterbleibt, schließt sich das Bewußtsein über seinen Zeitlöchern und gibt sich den täuschenden Anschein eines Kontinuums.

 

Die Beispiele dafür, wie gering der Anteil des Bewußtseins an unserem Alltagsverhalten ist, lassen sich beliebig vermehren; man findet sie fast allenthalben. Greifen wir ein besonders schlagendes heraus: das Klavierspiel.3)

Der Klavierspieler bewältigt die vielfältigsten, verschiedenartigsten Aufgaben alle zu gleicher Zeit, ohne ein nennenswertes Bewußtsein davon zu haben: Zwei unterschiedliche Zeichenfolgen von nahezu hieroglyphischem Aussehen müssen entschlüsselt und die eine davon der rechten, die andere der linken Hand zugeordnet werden. Jeder einzelne von zehn Fingern hat unterschiedliche Aufgaben und damit unterschiedliche motorische Probleme zu lösen, ohne daß der Spieler dessen gewahr würde, und ebensowenig wird er gewahr, wie er erhöhte, erniedrigte und normale Noten in Anschläge der schwarzen und weißen Tasten übersetzt, das Zeitmaß von ganzen oder Viertel- oder Sechzehntelnoten einhält. Pausen oder Triller einlegt, die eine Hand womöglich einen Dreiviertel- und die andere einen Viervierteltakt spielen läßt, während er zugleich mit den Füßen einzelne Töne dämpft, bindet oder hält.

3)  In ähnlicher Form bediente sich W. B. Carpenter dieses Beispiels, um zu verdeutlichen, was er unter «unbewußter Gehirntätigkeit» verstand. Es war dies vermutlich die erste ernst zu nehmende Formulierung dieses Gedankens im 19. Jh. Sie findet sich erstmals in der 4. Aufl. von Carpenters Human Physiology (1852) und weiter ausgerührt dann in seinen späteren Schriften, etwa in dem einflußreichen Buch Principles of Mental Physiology, London: Kegan Paul 1874, Buch 2, Kap. 13.

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Und während alledem befindet sich der Pianist mit dem bewußten Teil seines Selbst vielleicht im siebten Himmel vor Verzückung über das künstlerische Ergebnis dieser staunenswerten Geschäftigkeit; oder er gibt sich der Betrachtung des zarten Geschöpfes hin, das ihm die Notenblätter umwendet und dem er zu Recht sein tiefstes Inneres zu offenbaren glaubt. Selbstverständlich spielt das Bewußtsein in der Regel eine gewisse Rolle beim Erlernen derart komplizierter Verrichtungen, hingegen nicht unbedingt auch bei ihrer Ausführung — und nur das ist der Punkt, auf den es mir hier ankommt.

Bewußtsein ist häufig nicht nur überflüssig — es kann sogar störend wirken. Würde unser Pianist mitten in einer rasend gespielten Folge von Arpeggios sich plötzlich seiner Finger bewußt, müßte er sein Spiel abbrechen. Nijinski hat einmal gesagt, beim Tanzen habe er immer das Gefühl gehabt, als ob er im Orchestergraben sitze und sich selber zusehe. Er war sich also nicht jeder einzelnen seiner Bewegungen bewußt, sondern des Bildes, das er für die anderen abgab. Ein Sprinter ist sich vielleicht seiner Position im Feld bewußt, mit Sicherheit jedoch ist ihm nicht bewußt, wie er ein Bein vor das andere setzt, denn das könnte ihn unter Umständen sogar zum Straucheln bringen. Und jedermann, der auch nur so laienhaft Tennis spielt wie ich, kennt den Ingrimm, der einen übermannt, wenn plötzlich der Aufschlag «beim Teufel ist» und man aus den Doppelfehlern nicht mehr herauskommt. Je mehr Doppelfehler, desto bewußter wird man sich seiner Haltung, seiner Bewegungen (und seiner Laune!), und desto schlimmer wird alles nur noch.4

Erscheinungen wie die genannten, die im Zusammenhang mit Hochleistungen auftreten, kann man nicht mit dem Hinweis auf die körperliche Anspannung wegdiskutieren, denn die gleichen Erscheinungen in bezug auf das Bewußtsein treten auch bei weniger anstrengenden Beschäftigungen auf. In diesem konkreten Augenblick ist Ihnen nicht bewußt, wie Sie dasitzen, wie Sie Ihre Hände halten, wie schnell Sie lesen, wenngleich Sie dieser Dinge, im selben Moment, da ich sie erwähnte, gewahr wurden.

4)  Der Schreiber dieser Zeilen übt sich von Zeit zu Zeit in der Kunst des Improvisierens auf dem Klavier, und er leistet immer dann sein Bestes in der Erfindung neuer Themen und ihrer Ausführung, wenn er sich des Vorgangs nicht als einer geforderten Leistung bewußt ist, sondern die Sache in schlafwandlerischer Manier betreibt: seines Spiels in einer Weise gewahr werdend, als handle es sich um das Spiel eines anderen Menschen.

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Beim Lesen sind Sie sich weder der Buchstaben noch der Wörter, noch des Satzbaus oder der einzelnen Sätze und der Zeichensetzung bewußt, sondern nur der Bedeutung von alledem. Wenn Sie sich einen Vortrag anhören, verschwinden die artikulierten Laute hinter den Wörtern, die Wörter hinter den Sätzen und die Sätze hinter dem Gemeinten, der Bedeutung. Sich als Zuhörer der Elemente der Rede bewußt zu werden heißt den Sinn der Rede zunichte machen.

Das gleiche gilt für den Sprecher. Versuchen Sie einmal, mit einem klaren Bewußtsein Ihrer Artikulation zu sprechen. Sie werden einfach nicht mehr weitermachen können.

Nicht anders beim Schreiben: Es ist, als ob der Bleistift oder der Füller oder die Schreibmaschine von sich aus die Wörter buchstabierte, Abstand zwischen ihnen ließe, die Zeichensetzung wählte, auf die neue Zeile überwechselte. Wortwiederholungen vermiede und hier eine Frage, dort einen Ausruf einschaltete, während wir selbst nichts anderes im Kopf haben als dies: was wir sagen wollen, und den Menschen, dem wir es sagen.

Denn beim Sprechen und Schreiben sind wir uns unseres faktischen Tuns nicht wirklich bewußt. Das Bewußtsein betätigt sich in der Entscheidung darüber, was wir sagen wollen und wie und wann es am besten zu sagen ist; aber was dann kommt: die geordnete und zweckentsprechende Aneinanderreihung von artikulierten Lauten oder geschriebenen Buchstaben, wird uns irgendwie abgenommen.

 

   Das Bewußtsein ist kein Abbild unseres Erlebens  

 

Zwar kommt die Metapher von der Seele als einem leeren Informationsspeicher — etwa nach Art einer unbeschriebenen Wachstafel — schon in den Aristotelischen Schriften vor, aber erst seit John Locke im siebzehnten Jahrhundert seinerseits die Seele mit einer «tabula rasa» verglich, ist dieser Speicheraspekt des Bewußtseins so weit in den Vordergrund gerückt, daß wir es uns heute als ein übervolles Archiv oder eine Registratur von Erinnerungsbildern vorstellen, die in der Selbstbeobachtung wieder hervorgeholt werden können. Wäre Locke ein Zeitgenosse unseres Jahrhunderts, hätte er wohl zum Bild von der Kamera statt von der Wachstafel gegriffen. Die Leitvorstellung ist jedoch in beiden Fällen die gleiche.

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Und die meisten Menschen würden heute im Brustton der Überzeugung vorbringen, die Hauptaufgabe des Bewußtseins bestehe darin. Erlebniseindrücke zu speichern, sie abbildlich festzuhalten wie eine Kamera, damit sie für spätere Betrachtung zur Verfügung stehen.

So könnte man meinen. Aber beantworten Sie jetzt die folgenden Fragen: Schlägt die Tür des Zimmers, in dem Sie sich befinden, rechts oder links an? Welches ist Ihr zweitlängster Finger? Ist an der Verkehrsampel das rote oder das grüne Licht oben? Wie viele Zähne sehen Sie beim Zähneputzen? Falls Sie Raucher sind: Welche Marken außer Ihrer eigenen befinden sich in dem Automaten, aus dem Sie gewöhnlich Ihre Zigaretten ziehen, und in welcher Reihenfolge von links nach rechts sind sie in den Schächten plaziert? Und falls Sie sich augenblicklich in einem Zimmer befinden, das Ihnen vertraut ist: Schreiben Sie, ohne sich umzudrehen, alle Gegenstände auf, die sich an der Wand hinter Ihrem Rücken befinden, und prüfen Sie dann nach.

Ich schätze, Sie werden staunen, wie wenig Sie sich von jenen vermeintlichen Bildern, die Sie aus soviel vorangegangenem aufmerksamem Erleben aufgespeichert haben, bewußt vergegenwärtigen können. Wenn die vertraute Tür plötzlich links statt rechts anschlüge, wenn einer Ihrer Finger über Nacht länger geworden wäre, oder wenn Sie plötzlich einen Zahn mehr als früher im Gebiß hätten, wenn eine Zigarettenmarke im Automaten ausgetauscht oder die Lichter an der Ampel versetzt worden wären, oder wenn das Fenster in Ihrem Rücken einen neuen Griff bekommen hätte, dann würden Sie das auf Anhieb erkennen, womit bewiesen wäre, daß Sie auch den früheren Zustand «kannten», wenngleich er Ihnen nicht bewußt war. Dies ist der — für Psychologen altvertraute — Unterschied zwischen Wiedererkennen und Erinnerung. Was Sie erinnern, das heißt bewußt ins Gedächtnis zurückrufen können, ist nur ein Fingerhut voll im Vergleich zu dem gewaltigen Ozean Ihres faktischen Wissens.

Experimente wie das vorige beweisen, daß das bewußte Gedächtnis nicht, wie manchmal angenommen, im Aufspeichern von Wahrnehmungsbildern besteht. Nur wenn Sie irgendwann zuvor einmal bewußt auf die Länge Ihrer Finger oder auf die Tür geachtet oder Ihre Zähne gezählt haben, können Sie sich an diese Dinge erinnern, mögen Sie sie sonst auch noch so oft wahrgenommen haben.

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Falls Sie nicht irgendwann einmal auf die Gegenstände an Ihrer Wand besonders geachtet oder nicht zufällig diese Wand vor kurzem geputzt oder frisch gestrichen haben, werden Sie staunen, was alles Sie bei Ihrer Aufzählung ausgelassen haben. Und jetzt überprüfen Sie das Ganze einmal im Licht Ihrer Selbst­beobachtung. Haben Sie sich nicht in jedem einzelnen Fall gefragt, was da sein müßte? Waren es nicht vielmehr Überlegungen und Schlußfolgerungen und nicht so sehr irgendein Bild, wovon Sie sich dabei leiten ließen? Die bewußte Rückschau besteht nicht im Wiederauffinden von Wahrnehmungsbildern, sondern im Wiederauffinden von Sachverhalten, deren wir uns zu einem früheren Zeitpunkt einmal bewußt waren,5 und in der Verarbeitung dieser Elemente zu einem rationalen oder plausiblen Zusammenhang.

 

Das gleiche läßt sich noch auf anderem Wege beweisen. Denken Sie bitte daran zurück, wie Sie das Zimmer betraten, in dem Sie jetzt sind, und dieses Buch zur Hand nahmen. Betrachten Sie den Vorgang in der Innenschau, und fragen Sie sich jetzt: Entsprechen die Wahrnehmungsvorstellungen, die Sie haben, Ihren tatsächlichen Wahrnehmungsfeldern, während Sie eintraten, sich hinsetzten und zu lesen begannen? Sehen Sie sich in Ihrer Vorstellung nicht vielmehr in ganzer Person durch die Tür treten — das Ganze vielleicht sogar aus der Vogelperspektive? Sehen Sie sich nicht — und sei es auch nur verschwommen — Platz nehmen und das Buch ergreifen?

Dinge, die Sie niemals so erlebt haben, außer eben jetzt in Ihrer Introspektion! Und können Sie sich die mit dem Vorgang verbundenen Geräuschfelder vergegenwärtigen? Oder Ihre Hautempfindungen, während Sie sich niederließen, das Gewicht von den Füßen auf den Sitz verlagerten und das Buch aufschlugen? Selbstverständlich wären Sie in der Lage, wenn Sie lange genug nachdenken, das rückblickend vorgestellte Geschehen so zu überarbeiten, daß Sie in der Tat das «sehen», was Sie genauso beim Betreten des Zimmers gesehen haben könnten; daß Sie das Stuhlrücken und das Geräusch beim Aufschlagen des Buches «hören» und die Hautempfindungen «spüren».

5)  Vgl. hierzu Robert Woodworth, Psychological Issues, New York: Columbia University Press 1939, Kap. 7.

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Ich behaupte jedoch, daß dabei ein starkes Element von schöpferischer Phantasie — wir werden es unter der Bezeichnung «Narrativierung» in kurzem noch näher kennenlernen — am Werk ist, Phantasie, die das Erleben nicht wiedergibt, wie es tatsächlich war, sondern wie es hätte gewesen sein können.

Oder vergegenwärtigen Sie sich introspektiv das letzte Mal, da Sie beim Schwimmen waren: Ich vermute, Sie haben die Vorstellung von einem Strand oder einem See oder einem Schwimmbecken, die weitgehend ein Erinnerungsbild ist, doch wenn Sie jetzt zu Ihren Schwimmerlebnis kommen, holla! — wie Nijinski sich selber tanzen sieht, sehen Sie sich schwimmen, etwas, das Sie nie im Leben direkt beobachtet haben! Da ist verschwindend wenig von Ihren tatsächlichen Empfindungen während des Schwimmens vorhanden — von der konkreten Wasserlinie über Ihrem Gesicht, dem Gefühl des Wassers an der Haut oder davon, wie weit die Augen unter Wasser waren, wenn Sie den Kopf zum Atemholen drehten.6

Ähnlich, wenn Sie sich an das letzte Mal erinnern, da Sie unter freiem Himmel übernachteten oder beim Eislaufen waren oder — wenn's gar nicht anders geht — sich öffentlich blamiert haben: Sie werden die Dinge nicht mehr so sehen, hören, empfinden, wie Sie sie ursprünglich erlebt haben, sondern sich mehr oder weniger wie eine fremde Person in einer Szene auftreten sehen. Bei der erinnernden Rückschau ist also eine gehörige Portion Erfindung mit im Spiel: Man sieht sich so, wie andere einen sehen. Die Erinnerung ist das Medium des «So muß es gewesen sein». Allerdings bezweifle ich nicht, daß Sie in jedem der genannten Fälle auch in der Lage wären, sich auf dem Wege der Schlußfolgerung eine subjektive Sicht des Erlebnisses zu erfinden und dabei sogar überzeugt zu sein, es handle sich um ein wirklichkeitsgetreues Erinnerungsbild.

6)  Das Beispiel ist einem streitbaren Aufsatz von Donald Hebb entnommen: The Mind's Eye, Psychology Today 2/1961.

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  Das Bewußtsein ist nicht notwendig für die Begriffsbildung  

 

Einen weiteren schweren Irrtum in Bezug auf das Bewußtsein stellt die Meinung dar, es sei der primäre und einzige Ort der Begriffsbildung. Es ist dies eine altehrwürdige Vorstellung: Wir machen im Bewußtsein erst eine Reihe konkreter Erfahrungen, an denen wir dann Gleichförmigkeiten beobachten, die wir zu einem Begriff verdichten. Von dieser Leitvorstellung ging sogar eine ganze Menge von Laborversuchen aus, mit denen manche Psychologen allen Ernstes den Vorgang der Begriffsbildung darzustellen meinten.

In einer seiner faszinierenden Arbeiten fand Max Müller, ein Psychologe des vergangenen Jahrhunderts, für das Problem eine pointierte Formulierung, indem er fragte, wer schon jemals einen Baum gesehen habe. «Niemand hat jemals einen Baum gesehen, sondern immer nur diese oder jene Tanne oder Eiche, diesen oder jenen Apfelbaum... <Baum> ist also ein Begriff und kann als solcher nie gesehen oder sonstwie mit den Sinnen wahrgenommen werden.»7 Draußen in der Landschaft gebe es nur das konkrete Einzelexemplar und nur im Bewußtsein den Allgemeinbegriff des Baumes.

Hier könnte jetzt eine längere Abhandlung über das Verhältnis zwischen Begriff und Bewußtsein folgen. Doch genügt für unsere Zwecke der einfache Nachweis, daß zwischen beiden kein notwendiger Zusammen­hang besteht. Wenn Müller meint, noch nie habe jemand einen Baum gesehen, dann verwechselt er sein Wissen über den Gegenstand mit dem Gegenstand selbst. Jeder von einem kilometerweiten Marsch in der heißen Sonne erschöpfte Wanderer kann mühelos einen Baum erblicken. Desgleichen jede Katze, der ein Hund auf den Fersen ist. Die Biene hat einen Begriff von der Blume als solcher, der Adler einen Begriff von einer unzugänglichen Felsnase und die Drossel einen Begriff von einer hochgelegenen Astgabel im Schutz des grünen Laubes.

7)  Max Müller, The Science of Thought, London: Longmans Green 1887, S. 78 f. Einen ähnlichen Einwand wie ich erhebt Eugenio Rignano: The Psychology of Reasoning, New York; Harcourt, Brace 1923, S. 108 f.

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Begriffe sind nichts weiter als Klassen von in bezug auf das Verhalten gleichwertigen Dingen. Wurzelformen der Begrifflichkeit gehen aller Erfahrung voraus als Fundamentaleigenschaften der aptischen Strukturen, welche manifestes Verhalten überhaupt erst möglich machen.8 Müller hätte besser sagen sollen, daß niemand sich jemals eines Baumes als solchen bewußt gewesen ist. Denn das Bewußtsein ist in der Tat nicht nur nicht der Speicher der Begriffe, sondern es funktioniert in der Regel gänzlich ohne sie! Denken wir bewußt an den Baum als solchen, dann sind wir uns in Wirklichkeit eines konkreten Einzelexemplars — der Tanne, der Eiche oder der Ulme vor unserem Haus — bewußt und lassen es stellvertretend für den Begriff stehen, so wie wir auch ein Wort für einen Begriff stehen lassen können. Es ist ja eine der großen Leistungen der Sprache, daß sie ein Wort an die Stelle eines Begriffes setzt, und genau das tun wir jedesmal, wenn wir über Begriffsverhältnisse reden oder schreiben. Und wir können auch gar nicht anders, weil Begriffe im Bewußtsein normalerweise überhaupt nicht vorkommen.

 

   Das Bewußtsein ist nicht notwendig für das Lernen   

 

Ein drittes gravierendes Mißverständnis sieht im Bewußtsein die Grundlage des Lernens. Insbesondere für die nicht gerade kleine Schar erlauchter Geister, die der führenden psychologischen Richtung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, dem Assoziationismus, huldigten, bestand das Lernen darin, daß sich aufgrund von Ähnlichkeiten, räumlicher oder zeitlicher Nähe oder irgendeiner sonstigen Beziehung Zusammenhänge zwischen den Vorstellungen im Bewußtsein herstellten.

8)  «Aptische Strukturen» sind die neurologische Grundlage aller Fähigkeiten. Ihre Komponenten sind zum einen ein angeborenes, evolutionär bedingtes Paradigma und zum anderen der Niederschlag der Erfahrungen im Zuge der individuellen Entwicklung. Der Begriff der «Befähigungsstruktur» soll problematische Ausdrücke wie «Instinkt» u. ä. ersetzen. «Befähigungsstrukturen» sind — teils angeborene, teils erworbene — Organisationsschemata des Gehirns, die den Organismus dazu befähigen, sich unter bestimmten Bedingungen auf bestimmte Weise zu verhalten.

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Ob Mensch oder Tier, spielte dabei keine Rolle: Alles Lernen war «aus der Erfahrung gewonnen», war also die Verbindung von Vorstellungen im Bewußtsein (wie in der Einführung bereits erwähnt). Von daher hat sich unserer Gegenwart, gleichsam als Teil ihres kulturellen Erbes, die fast allenthalben kritiklos hingenommene Überzeugung eingeprägt, das Bewußtsein sei eine notwendige Vorbedingung für das Lernen.

Der Sachverhalt, um den es hier geht, ist einigermaßen verwickelt. Zudem wird er von den Psychologen unglücklicherweise verzerrt durch ein manchmal haarsträubendes Kauderwelsch, das im Grunde eine unzulässige Verallgemeinerung der Reflexbogenterminologie des neunzehnten Jahrhunderts darstellt. Doch für unsere Zwecke dürfen wir uns die Labor­unter­suchungen des Lernens als im wesentlichen auf drei Haupttypen bezogen vorstellen: auf das Erlernen von Signalen, Geschicklichkeiten und Problemlösungen. Diese drei Typen wollen wir jetzt der Reihe nach besprechen, um uns bei jedem von ihnen die Frage zu stellen, ob er notwendigerweise Bewußtsein voraussetzt.

 

Signallernen (die klassische oder Pawlowsche Konditionierung) ist der einfachste Fall. Trifft ein Lichtsignal, unmittelbar gefolgt von einem Luftstrom aus einem Gummischlauch, ungefähr zehnmal auf das Auge einer Versuchsperson, beginnt das Augenlid, das vorher nur auf den Luftstrom hin geblinzelt hat, auf das Lichtsignal allein zu blinzeln, und dies mit wachsender Zahl der Versuche immer regelmäßiger.9 Versuchs­personen, die sich diesem bekannten Verfahren des Signallernens unterzogen haben, berichten, daß dabei keinerlei bewußte Komponente im Spiel ist. In der Tat verhindert das Einschalten des Bewußtseins — in diesem Fall der Versuch, das Signallernen durch willentliches Augenzwinkern zu unterstützen — den Lernerfolg.

An alltäglicheren Beispielen läßt sich zeigen, daß sich dieses einfache, assoziative Lernen vollzieht, ohne dem Betroffenen bewußt zu werden. Wird ein charakteristisches Musikstück gespielt, während Sie eine besonders schmackhafte Mahlzeit zu sich nehmen, wird Ihnen dieses Musikstück, wenn Sie es das nächste Mal hören,

9)  G. A. Kimble, Conditioning äs a Function of the Time between Conditioned and Unconditioned Stimuli, Journal of Experimental Psychology 37/1947, S. 1-15.

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ein bißchen besser gefallen, und Sie werden sogar mit leicht verstärkter Speichelproduktion reagieren. Das Musikstück ist zu einem Signal für Lust geworden, die in Ihr Urteil mit einfließt. Das gleiche Ergebnis läßt sich mit Bildern erzielen.10

Versuchspersonen, die sich solchen Tests im Labor unterzogen hatten, wußten keine Antwort auf die Frage, warum ihnen die Musik oder die Bilder nach dem Essen besser gefielen. Es war ihnen nicht bewußt, daß sie etwas gelernt hatten. Das wirklich Interessante an der Sache ist jedoch, daß der Lernprozeß nicht stattfindet, wenn man vorher Bescheid weiß und sich des Zusammenhangs zwischen dem Essen und der Musik oder dem Gemälde bewußt ist. Demnach ist es in diesem Bereich sogar so, daß das Bewußtsein die Lernfähigkeit vermindert, ganz zu schweigen davon, daß es eine notwendige Voraussetzung wäre.

 

Was wir schon bei der Ausübung von Geschicklichkeiten feststellen konnten, ist auch beim Erlernen von Geschicklichkeiten der Fall: Das Bewußtsein ähnelt einem hilflosen Zuschauer, der bei der Sache nicht viel zu tun hat. Zum Beweis dafür ein einfaches Experiment: Sie nehmen in jede Hand eine Münze, werfen die beiden Geldstücke über Kreuz in die Luft und fangen sie jeweils mit der anderen Hand wieder auf. Wenn man das ein dutzendmal geübt hat, beherrscht man es. Und während Sie jetzt probieren, fragen Sie sich, ob Sie sich dessen, was Sie da tun, restlos bewußt sind. Wird das Bewußtsein dazu überhaupt gebraucht?

Meiner Meinung nach werden Sie feststellen, daß der Lernerfolg sich eher auf «organischem» als auf bewußtem Weg einstellt. Das Bewußtsein führt Sie an die Aufgabe heran und nennt Ihnen das Ziel. Alles Weitere jedoch — von möglichen Selbstzweifeln neurotischer Natur abgesehen — läuft so, als würde Ihnen das Lernen von irgendwoher abgenommen. Im neunzehnten Jahrhundert allerdings, als man sich die gesamte Verantwortung für das Verhalten in der Hand des Bewußtseins dachte, hätte man den Vorgang so erklärt, daß die «guten» und die «schlechten» Bewegungen bewußt erkannt und daß erstere aus freiem Entschluß wiederholt und letztere ausgeschieden werden!

10)  Meine Darstellung stützt sich hier auf Gregory Razran, Mind in Evolution, Boston: Houghton Mifflin 1971, S. 232. Dazu kritisch mit Rücksicht auf das ganze Problem des nichtintentionalen Lernens: T. A. Ryan, Intentional Behaviors, New York: Ronald Press 1970, S. 235 f.

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Mit dem Erlernen komplizierterer Geschicklichkeiten steht es in dieser Hinsicht durchaus nicht anders. So wurde beispielsweise das Schreibmaschineschreiben eingehend untersucht, wobei man zu der allgemein akzeptierten Ansicht gelangte, «daß sämtliche Verbesserungen und Vereinfachungen der Technik unbewußt vorgenommen wurden, das heißt, die Schüler verfielen ganz unabsichtlich darauf. Irgendwann einmal bemerkten sie, daß sie bestimmte Teile ihrer Arbeit auf neue und bessere Weise ausführten.»11

Bei dem Experiment mit den Münzen haben Sie vielleicht sogar bemerkt, daß eine Beteiligung des Bewußt­seins Ihren Lernerfolg nur behinderte. Diese Feststellung läßt sich im Zusammenhang mit dem Erlernen von Geschicklichkeiten immer wieder machen, und wie wir weiter oben schon gesehen haben, ebenso auch bei ihrer Ausübung. Lassen Sie das Lernen geschehen, ohne sich seiner übermäßig bewußt zu sein, dann verläuft alles glatter und wirkungsvoller. Manchmal sogar zu wirkungsvoll. Denn bei komplizierten Geschicklichkeiten wie dem Schreib­maschine­schreiben kann man sich beispielsweise angewöhnen, ständig «dei» statt «die» zu tippen. Das Gegenmittel besteht darin, den Vorgang umzukehren, nämlich bewußt den Fehler «dei» zu üben, woraufhin er — im Widerspruch zu der gängigen Vorstellung von «Übung macht den Meister» — verschwindet (ein Phänomen, das man als negative Übung bezeichnet).

Bei der Leistungsmessung des allgemeinen Bewegungsgeschicks, wie sie beispielsweise mit «pursuit rotor»- oder «mirror tracing»-Tests vorgenommen wird, schneiden die Versuchspersonen, die aufgefordert wurden, sich ihrer Bewegungen klar bewußt zu bleiben, stets schlechter ab.12

11  W. F. Book, The Psychology of Skill, New York: Gregg 1925.
12   H. L. Waskom, An Experimental Analysis of Incentive and Forced Application and Their Effect upon Learning, Journal of Psychology 2/1936, S. 393 - 408.

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Und im Zuge meiner Umfragen habe ich erfahren, daß Sporttrainer unbewußt laborgetestete Grundsätze anwenden, indem sie ihre Schäflein auffordern, nicht soviel mit dem Kopf zu machen. Die Art und Weise, wie im Zen die Kunst des Bogenschießens erlernt wird, ist in dieser Hinsicht äußerst aufschlußreich; Dem Schützen wird geraten, sich nicht als einen Menschen zu erleben, der die Sehne spannt und losläßt, sondern das Bewußtsein eigenen Tuns ganz aufzugeben, bis der Bogen sich von selbst spannt, die Sehne sich von selbst löst und der Pfeil von selbst sein Ziel sucht.

 

Lösungslernen (instrumentales Lernen oder operante Konditionierung) ist ein komplexerer Typ. Im Normalfall spielt das Bewußtsein eine beträchtliche Rolle bei der Suche nach einer Lösung für ein Problem oder nach einem Weg zu einem Ziel, indem es das Problem auf eine bestimmte Weise aufbereitet. Doch keineswegs ist es unter allen Umständen notwendig. Es lassen sich Fälle anführen, in denen die Versuchsperson nicht das mindeste Bewußtsein davon hat, welches Ziel sie anstrebt, noch auf welchem Lösungsweg sie es zu erreichen sucht.

Dazu ein weiteres einfaches Experiment: Bitten Sie jemanden, sich Ihnen gegenüberzusetzen und nach Belieben Wörter aufzusagen, wie sie ihm einfallen, aber nach jedem Wort eine Pause von zwei oder drei Sekunden einzulegen, damit Sie es aufschreiben können. Wenn Sie nach jedem Pluralsubstantiv (oder Adjektiv oder abstraktem Begriff, oder was immer Sie wollen) «gut» oder «richtig» oder auch nur «Mhm!» murmeln, während Sie es niederschreiben, oder dabei lächeln oder das Pluralwort freundlich wiederholen, wird die Häufigkeit von Pluralsubstantiven (oder was immer) im weiteren Fortgang des Experiments erheblich zunehmen. Bemerkenswerterweise jedoch wird Ihre Versuchsperson gar nicht gewahr, daß sie einen Lernprozeß durchläuft.13 

13)  J. Greenspoon, The Reinforcing Effect of Two Spoken Sounds on the Frequency of Two Responses, American Journal of Psychology 68/1955,8.409-416. Allerdings bestehen hier beträchtliche Meinungsverschiedenheiten, insbesondere hinsichtlich der Formulierung und der Reihenfolge der postexperimentellen Fragen. Es könnte sogar sein, daß sich zwischen Versuchsperson und Versuchsleiter eine stillschweigende Übereinkunft herstellt (vgl. Robert Rosenthal, Experimental Effects in Behavioral Research, New York: Appleton-Century-Crofts 1966).
     Ich selbst teile vorderhand die Ansicht von Postman, daß der Lernerfolg eintritt, bevor die Versuchsperson sich der Verstärkungsbeziehung bewußt wird, ja daß es andernfalls gar nicht zu dieser Bewußtwerdung käme (vgl. L. Postman und L. Sassenrath, The Automatic Action of Verbal Rewards and Punishment, Journal of General Psychology 65/1961, S. 109-136.

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Weder ist sie sich bewußt, daß sie noch mehr ermutigende Bemerkungen aus Ihnen herauszulocken sucht, noch wie sie diese Aufgabe löst. Tag für Tag, in jeder Unterhaltung, richten wir uns fortwährend gegenseitig auf diese Weise ab, aber wir sind uns dessen nie bewußt.

Unbewußtes Lernen ist keineswegs auf das Sprachverhalten beschränkt. Die Hörer einer Psychologie­vorlesung wurden beauftragt, jedem Mädchen auf dem Universitätsgelände, das Rot trug, Komplimente zu machen. Binnen einer Woche war die Cafeteria ein Meer von Rot (und Freundlichkeit), und keine der Damen war sich bewußt, daß sie manipuliert worden war. Die Hörer einer anderen Vorlesung probierten eine Woche, nachdem sie mit dem unbewußten Lernen und Abrichten bekannt gemacht worden waren, ihr neues Wissen an ihrem Professor aus. Jedesmal, wenn er sich zur rechten Seite des Hörsaals bewegte, zollten sie ihm gespannteste Aufmerksamkeit und lachten schallend über seine Witze. Es wird berichtet, daß sie ihn fast zur Tür hinausdressiert hätten, während ihm selbst nicht das geringste auffiel.14

Der kritische Punkt bei den meisten dieser Experimente ist der, daß die Versuchsperson nicht ahnen darf, worum es geht, weil sie sonst natürlich bewußt auf derartige Verstärkungsverhältnisse achten würde. Man umschifft diese Klippe, indem man sich auf solche Verhaltensreaktionen stützt, die von der Versuchs­person selbst nicht wahrgenommen werden können. Einschlägige Experimente wurden mit einem winzigen Muskel im Daumen gemacht, dessen Bewegungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen und nur unter Zuhilfenahme eines elektronischen Geräts registriert werden können. Den Versuchspersonen wurde gesagt, es gehe darum, welche Auswirkungen periodisch auftretender unangenehmer Lärm während einer Musikdarbietung auf die Muskelspannung habe.

14   W. Lambert Gardiner, Psychology: A Story of a Search, Belmont, California: Brooks/Cole 1970, S. 76.

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An ihrem Körper wurden jeweils vier Elektroden angebracht, die einzige echte über dem kleinen Daumen­muskel, die anderen drei waren nur Attrappen. Die Versuchsanordnung war so getroffen, daß jedesmal, wenn die unwahrnehmliche Daumenmuskelzuckung elektronisch erfaßt wurde, das Störgeräusch 15 Sekunden lang unterbrochen oder, wenn es gerade abgeschaltet war, sein neuerliches Auftreten um 15 Sekunden verzögert wurde. Bei sämtlichen Personen verstärkte sich die Häufigkeit der unwahrnehmlichen Muskelzuckungen, die den quälenden Lärm unterbanden, ohne daß auch nur das geringste Bewußtsein davon vorhanden war, daß man lernte, den unangenehmen Lärm abzustellen.15

Somit steht fest: Das Bewußtsein ist kein notwendiger Bestandteil des Lernvorgangs, gleichgültig, ob es sich um das Lernen von Signalen, Geschicklichkeiten oder Problemlösungen handelt. Es gibt natürlich noch viel mehr zu diesem faszinierenden Thema zu sagen, denn es ist der Brennpunkt der gesamten zeitgenössischen Verhaltensforschung. Aber hier war lediglich der Nachweis zu erbringen, daß die ältere Auffassung, derzufolge bewußtes Erleben die unerläßliche Grundlage alles Lernens darstellt, eindeutig und absolut falsch ist. Wir dürfen jetzt zumindest den Schluß ziehen, daß es möglich ist — ich sage: möglich ist —, sich menschliche Wesen vorzustellen, die kein Bewußtsein haben und dennoch lernen und Probleme lösen können.

 

   Das Bewußtsein ist nicht notwendig zum Denken   

 

Auf dem Weg von den einfachen zu den komplizierteren Aspekten des Seelenlebens gelangen wir auf immer unübersichtlicheres Gelände, wo unsere gängigen Begriffe nur mehr fragwürdige Reisebegleiter sind. Von solcher Fragwürdigkeit ist zweifellos auch der Begriff des Denkens. Sträubt sich denn nicht alles in uns, wenn wir hören, das Bewußtsein sei nicht notwendig zum Denken?

 

15)  R. F. Hefferline, B. Keenan, R. A. Harford, Escape and Avoidance Conditioning in Human Subjects without Their Observation of the Response, Science, 130 / 1959, S. 1338 f. - Eine weitere klare Beschreibung des unbewußten Erlernens von Problemlösungsverhalten gibt J. D. Keehn, Experimental Studies of the Unconscious: Operant Conditioning of Unconscious Eye Blinking, Behavior Research and Therapy 5/1967, S. 95-102.

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Ja, ist denn nicht das Denken geradezu das Herz- und Kernstück des Bewußtseins?! Gemach! Mit dieser Meinung beziehen wir uns auf jenen Denktyp des freien Assoziierens, den man als «Denken an...» oder «Nachdenken über ...» bezeichnen könnte und der in der Tat stets von allen Seiten umschlossen und umströmt zu sein scheint von der Bilderflut der Bewußtseinswelt. In Wirklichkeit jedoch ist die Sache nicht entfernt so klar, wie sie scheint.

Beginnen wir mit dem Denktyp, der zu einem Ergebnis führt, auf das wir die Prädikate «wahr» oder «falsch» anwenden können. Es wird gemeinhin als «Urteilen» bezeichnet und hat große Ähnlichkeit mit einem Extremfall des Lösungslernens, den wir gerade kennengelernt haben.

Ein einfaches Experiment — so einfach, daß es banal erscheinen mag — wird uns direkt zum Kern der Sache führen. Nehmen Sie zwei ungleiche Gegenstände, beispielsweise einen Kugelschreiber und einen Bleistift oder zwei ungleichmäßig gefüllte Gläser, und legen oder stellen Sie sie vor sich auf den Tisch. Schließen Sie dann halb die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, heben Sie die Gegenstände nacheinander mit Daumen und Zeigefinger hoch und urteilen Sie, welcher schwerer ist. Beobachten Sie dabei mittels Introspektion genau, was Sie tun. Sie werden feststellen, daß Sie sich der Empfindung der Gegenstände an der Haut Ihrer Finger bewußt sind, daß Sie sich des leichten Zugs nach unten bewußt sind, den das Gewicht der einzelnen Gegenstände vermittelt, daß Sie sich etwaiger Unebenheiten auf der Oberfläche der Gegenstände bewußt sind, und so weiter.

Und jetzt das eigentliche Urteil, welcher Gegenstand schwerer ist. Wo ist das? Holla! Gerade der Vorgang der Urteilsfindung mit dem Ergebnis: Dieser Gegenstand ist schwerer als der andere, ist Ihnen nicht bewußt. Das Ergebnis erhalten Sie einfach fix und fertig irgendwoher aus dem Nervensystem. Wenn wir diesen Urteilsvorgang Denken nennen, müssen wir einräumen, daß solches Denken ganz und gar nicht bewußt ist. Ein zugegebenermaßen einfaches, aber äußerst wichtiges Experiment. Es zerstört mit einem Schlag total den überlieferten Glauben, daß solche Denkvorgänge das Gerüst des bewußten Seelenlebens darstellen.

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Experimente dieser Art wurden zu Beginn des Jahrhunderts in großem Umfang von der sogenannten Würzburger Schule angestellt. Ausgangspunkt war eine im Jahr 1901 veröffentlichte Untersuchung von Karl Marbe, der in ähnlicher Weise wie eben beschrieben vorging, nur daß er kleinere Gewichte benutzte.16)

Die Versuchsperson wurde aufgefordert, zwei vor ihr stehende Gewichte emporzuheben und das schwerere von beiden vor den Versuchsleiter zu stellen, der ihr gegenüber saß. Und es war sowohl für den Versuchsleiter selbst als auch für seine hochgradig geschulten Versuchspersonen, die allesamt in der Selbstbeobachtung geübte Psychologen waren, eine verblüffende Entdeckung, daß der Prozeß des Urteilens als solcher nie bewußt war. Physik und Psychologie weisen immer interessante Gegensätze auf, und es ist eine der Ironien der Wissenschaft, daß das Marbe-Experiment, das in seiner Einfachheit fast albern wirken könnte, für die Psychologie von ebenso großer Bedeutung war wie das so schwierig durchzuführende Michaelson-Morley-Experiment für die Physik. Genauso, wie anhand des letzteren bewiesen wurde, daß der Äther — jene Substanz, die vermeintlich den ganzen Raum erfüllt — nicht existiert, so zeigte sich in dem Gewichtbeurteilungsexperiment, daß Urteilen, jenes vermeintliche Kennzeichen des Bewußtseins, im Bewußtsein überhaupt nicht vorkommt.

Dazu läßt sich allerdings ein Einwand vorbringen. Vielleicht vollzog sich die Urteilsfindung beim Empor­heben der Gegenstände so schnell, daß wir den Vorgang vergessen haben. Schließlich fassen wir bei der Selbstbeobachtung immerzu etwas in Hunderte von Wörtern, was sich innerhalb weniger Sekunden zuträgt. (Was für eine erstaunliche Tatsache dies doch ist!) Und unser Gedächtnis für eben Geschehenes beginnt zu schwinden, noch während wir es auszudrücken versuchen. Vielleicht war es dies, was sich bei Marbes Experiment zutrug, und dieser «Urteilen» genannte Denktyp ließe sich vielleicht doch im Bewußtsein finden, wenn wir uns nur besser erinnern könnten.

 

16)  K. Marbe, Experimentell-psychologische Untersuchung über das Urteil. Eine Einleitung in die Logik, Leipzig: Engelmann 1901.

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In dieser Form stellte sich das Problem einige Jahre nach Marbes Versuch für Watt.17 Für die Lösung benutzte er ein anderes Verfahren, nämlich den Assoziationsversuch. Der Versuchsperson wurden Kärtchen mit aufgedruckten Hauptwörtern vorgelegt, und sie mußte so rasch wie möglich mit einem Bezugswort antworten.

Es handelte sich also nicht um freie Assoziation, sondern um etwas, das man als teilweise gelenkte Assoziation bezeichnet: In verschiedenen Durchgängen wurde die Versuchsperson aufgefordert, zu dem gesehenen Wort einen übergeordneten Begriff (zum Beispiel Eiche/Baum), einen gleichgeordneten Begriff (zum Beispiel Eiche/ Ulme) oder einen untergeordneten Begriff (Eiche/Balken) zu assoziieren — oder ein Ganzes (Eiche/Wald), einen Teil (Eiche/Eichel) oder einen anderen Teil eines gemeinsamen Ganzen (Eiche/Waldpfad).

Die Aufgabenstellung bei der gelenkten Assoziation bot die Möglichkeit, das Bewußtsein der Versuchsperson in vier Phasen einzuteilen: 1. Instruktion über die erwünschte Assoziationsrichtung, (zum Beispiel «übergeordneter Begriff»), 2. Darbietung des Reizwortes (zum Beispiel« Eiche »), 3. Suche nach einer passenden Assoziation und 4. die gesprochene Antwort (zum Beispiel «Baum»). Die Versuchspersonen wurden aufgefordert, ihre Selbstbeobachtung zunächst ganz auf die erste Phase und dann der Reihe nach auf jeweils eine andere zu konzentrieren, um auf diese Weise genauer Rechenschaft von ihrem Bewußtheitsstand in jeder Einzelphase geben zu können.

Man rechnete nun damit, daß sich anhand dieses präzisen Aufteilungsverfahrens Marbes Schlüsse würden als falsch erweisen lassen und daß die Bewußtheit des Denkens in Watts dritter Phase — bei der Suche nach einem Wort, das die angegebenen Bedingungen erfüllte — zum Vorschein kommen werde. Doch nichts dergleichen geschah. Alles deutete daraufhin, daß das Denken automatisch und nicht eigentlich bewußt erfolgte, sobald ein Reizwort dargeboten und zuvor der gewünschte Assoziationstyp von der Versuchsperson richtig verstanden worden war. Ein bemerkenswertes Ergebnis. Es besagt mit anderen Worten: Man denkt sich etwas, bevor man konkret weiß, was es ist, woran man denken soll.

17)  H. J. Watt, Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens, Archiv für die Geschichte der Psychologie 4/1905, S. 289-436.

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Das Wichtigste an der Sache ist die Instruktion als Voraussetzung dafür, daß alles andere automatisch abläuft. Für diese Phase möchte ich die Bezeichnung «Struktion» einführen, die die Bedeutung sowohl von «Instruktion» als auch von «Konstruktion» in sich vereinen soll.18

 

Das Denken geschieht also nicht bewußt. Es ist vielmehr ein automatischer Vorgang nach Maßgabe einer Struktion und des Materials, in dem die Struktion getätigt werden soll.

Und wir brauchen auch nicht bei Wortassoziationen stehenzubleiben. Aufgaben jedes beliebigen anderes Typs erfüllen den gleichen Demonstrationszweck, auch solche, die Willenshandlungen näherkommen. Wenn ich mir vornehme, an eine Eiche im Sommer zu denken, so ist dies eine Struktion, und was ich «denken an» nenne, ist im Grunde genommen eine Kette von Bildassoziationen, die aus einem unbekannten Meer an die Küste meines Bewußtseins gespült werden, genau wie die gelenkten Assoziationen in Watts Experiment.

Sehen wir die Ziffern 6 und 2 und zwischen ihnen einen vertikalen Strich: 6 | 2, dann bringt dieser Reiz die Vorstellung «acht», «vier» oder «drei» hervor, je nachdem, ob die vorgeschriebene Struktion Addition, Subtraktion oder Division lautet. Wichtig dabei ist, daß die Struktion selbst — der Prozeß der Addition, Subtraktion oder Division —, ist sie erst einmal aufgestellt, im Nervensystem verschwindet. Aber sie ist offensichtlich «im Geiste» mit dabei, da ein und derselbe Reiz dreierlei Reaktionen hervorbringen kann. Allerdings — wie das jeweils vor sich geht, ist uns nicht im mindesten bewußt.

 

Betrachten wir uns jetzt eine Reihe geometrischer Figuren:

 

18)  Die Begriffe «Einstellung», «determinierende Tendenz» und «Struktion» müssen auseinandergehalten werden. «Einstellung» ist der umfassendere Begriff: Er bezeichnet eine gebundene Befähigungsstruktur, deren Stufung bei Säugern von einer (limbischen) Allgemein­komponente qua «Bereitschaft» bis hin zur (korrikalen) spezifischen Komponente qua «determinierende Tendenz» reicht. Die Endstufe der letzteren wiederum ist beim Menschen häufig eine Struktion.

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Welche Figur kommt als nächste in der Reihe? Wie sind Sie auf die Antwort gekommen? Sobald ich Ihnen die Struktion gegeben habe, «sehen» Sie automatisch, daß es ein Dreieck sein muß. Wenn Sie sich jetzt mittels Selbstbeobachtung davon überzeugen wollen, wie Sie zu Ihrer Antwort gelangt sind, dann — so behaupte ich — vergegenwärtigen Sie sich in Wirklichkeit nicht den Vorgang, der tatsächlich stattgefunden hat, sondern Sie erfinden, wie es stattgefunden haben muß, indem Sie sich zu diesem Behufe selbst eine neue Struktion geben. Während des Vollzugs der Aufgabe selbst waren Sie sich lediglich der Struktion, der Figuren auf dem Blatt vor Ihnen und dann der Lösung bewußt.

Nicht anders verhält es sich mit der gesprochenen Sprache (ein Beispiel, das ich weiter oben schon erwähnt habe). Beim Reden sind wir uns weder der Suche nach Wörtern noch der Zusammenfügung der Wörter zu Satzteilen, noch der Zusammenfügung der Satzteile zu ganzen Sätzen wirklich bewußt. Bewußt ist uns lediglich eine fortgesetzte Folge von Struktionen, die wir uns selbst geben und die dann automatisch, ohne irgendwelches Bewußtsein, in sprachlichen Äußerungen resultieren. Die Rede selbst können wir uns im Augenblick des Vollzugs bewußt halten, wenn wir wollen: Dadurch entsteht dann ein gewisses Feedback, das zu neuen Struktionen führt.

Somit wäre erwiesen, daß der eigentliche Denkvorgang, der gemeinhin als das Herz- und Kernstück des Bewußtseins betrachtet wird, überhaupt nicht bewußt ist und daß lediglich seine Vorbereitung, sein Material und sein Endergebnis im Bewußtsein wahrgenommen werden.

 

   Das Bewußtsein ist nicht notwendig für die Vernunfttätigkeit   

 

Die lange Tradition, die den Menschen als das vernunftbegabte Lebewesen definiert und ihn als Homo sapiens zur Krone der Schöpfung erhebt, ruht mit ihrem ganzen päpstlichen Absolutheitsanspruch auf dem schmalen Fundament der Annahme, das Bewußtsein sei der Sitz der Vernunft.

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Eine kritische Durchleuchtung dieser Annahme wird durch die Unbestimmtheit des Begriffs Vernunft erschwert, eine Unbestimmtheit, die das Erbe der alten «Vermögens»psychologie ist, für welche die Vernunft ein — selbstverständlich «im» Bewußtsein angesiedeltes — «Seelenvermögen» war. Und diese erzwungene Verbindung von Vernunft und Bewußtsein wurde noch vermengt mit der Idee der Wahrheit und des richtigen Vernunftgebrauchs, das heißt der Logik — alles jeweils ganz verschiedene Dinge. Demzufolge galt dann die Logik als das Funktionsprinzip der bewußten Vernunfttätigkeit oder, mit anderen Worten, des Schließens, was Generationen von bedauernswerten Gelehrten in Verlegenheit brachte, denn sie wußten sehr gut, daß logische Syllogismen nicht zu dem gehörten, was sich ihrer Selbstbeobachtung darbot.

Vernunfttätigkeit oder schlußfolgerndes Denken und Logik verhalten sich zueinander wie Gesundheit und Medizin oder, besser, wie Verhalten und Moral. Das Schließen umfaßt eine Reihe natürlicher Denkprozesse des täglichen Lebens. Die Logik umfaßt Vorschriften, wie wir denken müssen, wenn unser Ziel die objektive Wahrheit ist — und im täglichen Leben geht es höchst selten um die objektive Wahrheit. Die Logik ist die Wissenschaft von der Begründung jener Schlüsse, zu denen wir mit Hilfe unserer natürlichen Vernunft gelangt sind. Meine These ist, daß das Bewußtsein für die natürliche Vernunfttätigkeit nicht benötigt wird. Der eigentliche Grund, warum wir die Logik überhaupt benötigen, ist der, daß das Schließen meistenteils ganz und gar nicht bewußt geschieht.

 

Denken Sie zunächst an die vielen Phänomene, von denen wir bereits festgestellt haben, daß sie ohne begleitendes Bewußtsein ablaufen, und die als elementare Formen des Schließens bezeichnet werden können. Das Auswählen von Lösungswegen, Wörtern, Tönen; Körperbewegungen und die Korrekturen an Größen- und Farbeindrücken, die Wahrnehmungskonstanzen ergeben — das alles sind Primitivformen des Schließens, die keinerlei Hilfestellung oder Eselsbrücke von Seiten des Bewußtseins, ja nicht einmal des geringsten Funkens von Bewußtsein bedürfen.

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Aber auch die geläufigeren Formen des Schließens können ohne Beteiligung des Bewußtseins stattfinden. Ein Junge, der einmal oder mehrmals beobachtet hat, daß ein bestimmtes Stück Holz in einem bestimmten Teich an der Oberfläche schwamm, schließt in einer neuen Situation auf unmittelbarem Weg, daß ein anderes Stück Holz in einem anderen Teich ebenfalls oben schwimmen wird. Es findet nicht etwa ein bewußtes Sammeln und Vergleichen von früheren Situationen statt, und es ist auch sonst überhaupt kein Bewußtseinsvorgang vonnöten, damit das neue Stück Holz unmittelbar als «oben schwimmend» gesehen wird. Man bezeichnet dies gelegentlich als Schließen aus dem Besonderen, und es ist nichts weiter als eine auf Generalisierung beruhende Erwartung. Daran ist nichts Außergewöhnliches. Es handelt sich um eine Fähigkeit, die alle höheren Wirbeltiere besitzen. Dieses Schließen ist ein Funktionsprinzip des Nervensystems und nicht des Bewußtseins.

Aber ständig finden auch komplexere Formen des Schließens ohne Beteiligung des Bewußtseins statt. Unser Geist arbeitet so schnell, daß unser Bewußtsein nicht Schritt halten kann. Allgemeinaussagen aufgrund vorausgegangener Erfahrungen treffen wir in aller Regel vollkommen automatisch, und nur im nachhinein sind wir manchmal in der Lage, uns von den vorausgegangenen Erfahrungen, auf denen solche Aussagen beruhen, irgend etwas wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wie oft gelangen wir nicht zu absolut zuverlässigen Schlüssen, ohne sie im geringsten begründen zu können. Weil das Schlußfolgern nicht bewußt geschieht. Und denken Sie an die Schlüsse, die wir in bezug auf die Gefühle und den Charakter anderer Menschen oder in bezug auf die Motive ihrer Handlungen ziehen. Hier haben wir es eindeutig mit automatischen Schlußfolgerungen unseres Nervensystems zu tun, einem Vorgang, bei dem Bewußtsein nicht nur überflüssig ist, sondern wahrscheinlich sogar ebenso hinderlich wäre, wie wir es schon bei der Ausübung motorischer Geschicklichkeiten festgestellt haben.19)

19)  Vorgänge dieser und ähnlicher Art wurden schon früh als nichtbewußt erkannt und mit Namen wie «automatisches Schlußfolgern» oder «gesunder Menschenverstand» belegt. Einschlägige Darlegungen findet man bei Sully, Mill und anderen Psychologen des 19. Jh.

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Dies mag ja alles sein, so höre ich einwenden, aber auf keinen Fall gilt das auch für die höchsten Formen der Denktätigkeit. Hier gelangen wir endlich in das eigentliche Herrschaftsgebiet des Bewußtseins, wo alles in goldener Klarheit daliegt und alle Gedankenarbeit der Vernunft fein ordentlich im Lichte voller Bewußtheit getätigt wird. Aber so glanzvoll geht es in der Wirklichkeit nicht zu. Der Wissenschaftler, der sich mit seinen Problemen hinsetzt und bewußte Induktionen und Deduktionen auf sie anwendet, ist genauso ein Fabelwesen wie das Einhorn. Die größten Einsichten der Menschheit sind auf mysteriöse Weise zustande gekommen. Helmholtz hatte seine glücklichen Einfälle, die sich «oft genug heimlich in mein Denken einschlichen, ohne daß ich ihre Bedeutung geahnt hätte... in anderen Fällen waren sie auf einmal da ohne irgendein Bemühen von meiner Seite... sie stellten sich besonders gern ein, wenn ich bei sonnigem Wetter einen Spaziergang im Bergwald machte!»20)

Und Gauß schrieb über ein arithmetisches Theorem, das er jahrelang erfolglos zu beweisen versucht hatte, daß «sich das Rätsel plötzlich wie durch einen Blitzschlag löste. Ich vermag selbst nicht zu sagen, welcher Faden mein bisheriges Wissen mit den Bedingungen des Gelingens verknüpfte.»21

Der brillante Mathematiker Poincare widmete der Art und Weise, wie er zu seinen Entdeckungen gelangte, besonderes Augenmerk. In einem berühmten Vortrag vor der Pariser Societe de Psychologie schilderte er seine Teilnahme an einer geologischen Exkursion: «Die Reiseerlebnisse ließen mich meine mathematische Arbeit vergessen. In Coutances angekommen, bestiegen wir einen Omnibus, der uns irgendwohin bringen sollte. In dem Augenblick, als ich meinen Fuß auf das Trittbrett setzte, überraschte mich völlig unvorbereitet der Gedanke, daß die Transformationen, die ich zur Definition der Fuchsschen Funktionen benutzt hatte, mit denen der nichteuklidischen Geometrie identisch waren.»22

20)  Zitiert nach Robert S. Woodworth, Experimental Psychology, New York: Holt 1938, S. 818.
21)  Zitiert nach Jacques Hadamard, The Psychology of Invention in the Mathematical Field, Princeton; Princeton University Press 1945, S. 15.

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Allem Anschein nach ist dieses Phänomen der jäh hereinbrechenden Einsicht am offenkundigsten in den abstrakten Wissen­schaften, in denen das Untersuchungsmaterial zunehmend weniger mit der Alltagserfahrung zu tun hat. Ein guter Bekannter Einsteins erzählte mir, daß dem Physiker viele seiner hervorragendsten Ideen beim Rasieren kamen, und zwar so überfallartig, daß er sein Rasiermesser morgens mit größter Vorsicht handhaben mußte, um sich im Moment der Überraschung nicht zu schneiden. Und ein bekannter englischer Physiker äußerte einmal gegenüber Wolfgang Köhler: «Wir sprechen oft von den drei B's — Bus, Bad und Bett. An diesen Orten werden in unserer Wissenschaft die großen Entdeckungen gemacht.»

Worauf es hier ankommt, ist, daß das kreative Denken verschiedene Stadien durchläuft, zuerst ein Präliminarstadium, in dem das Problem bewußt durchgearbeitet wird, dann eine Inkubationsphase ohne irgendwelche bewußte Konzentration auf das Problem und darauf die Erleuchtung, die hinterher logisch begründet wird. Die Parallele zwischen diesen Problemen hochbedeutsamer und komplexer Natur und einfachen Problemen wie dem Beurteilen von Gewichten oder dem Fortsetzen einer Figurenfolge liegt auf der Hand. Die Präliminarphase besteht im wesentlichen im Aufstellen einer komplexen Struktion bei gleichzeitiger bewußter Aufmerksamkeit gegenüber dem Material, auf das die Struktion sich beziehen soll. Aber was dann eintritt — der Schlußvorgang als solcher, der Sprung ins Unbekannte der großen Entdeckung —, hat ebensowenig eine Vertretung im Bewußtsein wie in dem simpler gelagerten Fall der Beurteilung von Gewichtsunterschieden. In der Tat scheint es manchmal fast so, als habe das Problem vergessen werden müssen, damit sich die Lösung zeigen konnte.

22)  Henri Poincare, Mathematical Creation, in: ders., The Foundations of Science, übs. von G. Brucc Halstedt, New York; The Science Press 1913, S. 387.

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   Der Sitz des Bewußtseins  

 

Der letzte Irrtum, auf den ich hier eingehen möchte, ist ebenso bedeutsam wie aufschlußreich. Ich habe seine Analyse an den Schluß gestellt, weil sie meiner Meinung nach den geläufigen Auffassungen vom Bewußtsein den sicheren Todesstoß versetzt. Wo hat das Bewußtsein seinen Sitz?

Jedermann (oder so gut wie jedermann) antwortet darauf ohne Zögern: In meinem Kopf. Denn bei der Selbstbeobachtung kehren wir scheinbar den Blick nach innen in einen Raum irgendwo hinter den Augen. Aber was um alles in der Welt soll das heißen, daß wir den «Blick» dorthin richten? Manchmal schließen wir sogar die Augen, um in der Selbstbeobachtung (die ja auch Innenschau — Introspektion — genannt wird) desto besser zu sehen. Aber wohin? Daß es sich um irgendeine Art Raum handelt, scheint unbezweifelbar. Außerdem scheinen wir uns — oder zumindest unseren «Blick» — einmal hierhin, einmal dorthin zu wenden. Und wenn wir uns zu sehr anstrengen, diesen Raum (nicht seine vorgestellten Inhalte) genauer zu charakterisieren, empfinden wir ein schwer zu definierendes Unbehagen, so als ob da etwas wäre, das sich gegen das Erkanntwerden sperrt, ein Etwas, das unter die Lupe zu nehmen fast ebenso ungebührlich ist wie grobes Betragen in freundlicher Gesellschaft.

Nicht nur in unserem Kopf glauben wir diesen Bewußtseinsraum zu finden, wir setzen ihn auch bei anderen Menschen voraus. Wenn wir mit einem Bekannten sprechen und dabei immer wieder Blickkontakt aufnehmen (ein Überbleibsel aus unserer Primatenvergangenheit, als Blickkontakt mit dazu diente, Stammeshierarchien herzustellen), setzen wir hinter den Augen unseres Gesprächspartners immer einen Raum voraus, in den wir hineinsprechen, ähnlich dem Raum in unserem eigenen Kopf, aus dem wir unserer Vorstellung nach heraussprechen.

Und damit kommen wir zum Kern der Sache. Wir wissen nämlich ganz genau, daß in keines Menschen Kopf ein solcher Raum vorhanden ist! In meinem wie in Ihrem Kopf befindet sich nichts als irgendwelches physiologisches Gewebe. Und die Tatsache, daß es sich dabei vorwiegend um Nervengewebe handelt, ist in diesem Zusammenhang belanglos.

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Sich an diesen Gedanken zu gewöhnen erfordert allerdings ein bißchen Denkaufwand. Das Ganze bedeutet, daß wir diesen Raum in unserem eigenen Kopf und in den Köpfen anderer Leute immer neu erfinden, während wir genau wissen, daß er in der Anatomie nicht existiert; und die Ansiedlung dieses «Raumes» erfolgt denn auch ganz willkürlich.

Die aristotelischen Schriften23 beispielsweise siedelten das Bewußtsein, den Sitz des Denkens im Herzen und knapp darüber an und betrachteten das Gehirn als bloßes Kühlorgan, da es sich unempfindlich zeigte gegenüber Berührungen und Verletzungen. Und manchen Lesern wird das bisher Gesagte einfach deshalb nicht eingeleuchtet haben, weil ihr denkendes Selbst nach ihrem eigenen Dafürhalten irgendwo im oberen Brustraum angesiedelt ist.

Für die meisten von uns ist es jedoch eine so eingefleischte Gewohnheit, sich das Bewußtsein im Kopf zu denken, daß wir uns kaum etwas anderes vorstellen können. Aber in Wirklichkeit könnten Sie, ohne sich von der Stelle zu rühren, die nächstbeste Ecke zwischen Wand und Fußboden im Zimmer nebenan zum Sitz Ihres Bewußtseins erklären und Ihr Denken ebensogut dort wie in Ihrem Kopf vor sich gehen lassen. Nein, nicht ebensogut. Es gibt einige sehr gute Gründe, die dafür sprechen, daß Sie sich Ihren Seelenraum innerhalb Ihrer Person angesiedelt vorstellen, Gründe, die sowohl mit dem bewußten Wollen und den inneren Empfindungen als auch mit der Beziehung zwischen Ihrem Körper und Ihrem «Ich» zu tun haben und die hier in der Folge noch deutlicher zutage treten werden.

Daß keinerlei objektiv feststellbare Notwendigkeit besteht, das Bewußtsein im Gehirn anzusiedeln, wird des weiteren durch verschiedentlich auftretende Anomalien bekräftigt, bei denen sich das Bewußtsein außerhalb des Körpers zu befinden scheint. Einer meiner Bekannten, der sich eine Kriegsverletzung im linken Frontallappen zugezogen hatte, fand sein Bewußtsein wieder an der Decke des Lazarettsaals, von wo er in gehobener Stimmung auf seinen Körper hinabblickte, der mit bandagiertem Kopf auf dem Feldbett lag.

23)  Ich wähle diese Bezeichnung, weil die dem Aristoteles zugeschriebenen Werke ganz eindeutig von mehreren Verfassern stammen.

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Personen, die LSD geschluckt haben, berichten häufig von ähnlichen — sogenannten exosomatischen — Erlebnissen außerhalb des Körpers. Derartige Vorkommnisse haben keinerlei metaphysische Bedeutung, sie zeigen lediglich, daß es vom Zufall abhängen kann, wo wir unser Bewußtsein ansiedeln.

Um einem Irrtum vorzubeugen, sei klargestellt: Im Zustand der Bewußtheit benutze ich fraglos immer bestimmte Teile des Gehirns in meinem Kopf. Das gleiche tue ich jedoch auch, wenn ich Fahrrad fahre, und das Fahrradfahren spielt sich nicht in meinem Kopf ab. Die beiden Fälle liegen natürlich verschieden, weil das Fahrradfahren einen klar bestimmten geographischen Ort hat und das Bewußtsein nicht. Tatsächlich hat das Bewußtsein überhaupt keinen Ort außer dem, den wir ihm in unserer Vorstellung zuweisen.

 

   Ist Bewußtsein überhaupt erforderlich?  

 

Wir wollen noch einmal rekapitulieren, wie weit wir gekommen sind, denn wir haben uns gerade einen Weg durch ein ungeheures Materialdickicht gebahnt und dabei vielleicht mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet. Wir haben gesehen, daß das Bewußtsein nicht das ist, wofür wir es im allgemeinen halten. Es ist nicht mit der Reaktionsfähigkeit zu verwechseln. Es ist an vielen Wahrnehmungsvorgängen nicht beteiligt. Es ist nicht beteiligt an der Ausübung von Geschicklichkeiten und stellt oft sogar eine Behinderung für sie dar. Es ist nicht notwendigerweise am Sprechen, Schreiben, Zuhören oder Lesen beteiligt. Es ist keine originalgetreue Aufzeichnung unseres Erlebens, wie die meisten Menschen meinen.

Das Bewußtsein spielt beim Signallernen überhaupt keine Rolle und wird auch nicht unbedingt gebraucht für das Erlernen von Geschicklichkeiten und Problemlösungen, das ganz ohne Bewußtsein vonstatten gehen kann. Es ist nicht erforderlich zum Urteilen noch für die einfachen Formen des Denkens. Es ist nicht der Sitz der schlußfolgernden Vernunft, und tatsächlich finden selbst komplizierteste Formen kreativer Vernunfttätigkeit ganz ohne Mitwirkung des Bewußtseins statt. Und das Bewußtsein hat keinen konkreten Sitz außer einem eingebildeten! Da erhebt sich denn unmittelbar die Frage: Existiert das Bewußtsein überhaupt? Auf sie wollen wir jedoch erst im nächsten Kapitel eingehen.

An dieser Stelle genügt es, den unabweislichen Schluß zu ziehen, daß das Bewußtsein bei den meisten menschlichen Aktivitäten keine ausschlaggebende Rolle spielt.

Wenn es richtig ist, was ich bisher gesagt habe, dann ist es auch durchaus möglich, daß zu irgendeiner Zeit einmal Menschen gelebt haben, die sprachen, urteilten, Schlüsse zogen und Probleme lösten, ja die so gut wie alles, was wir tun, zu tun vermochten, die aber nicht das geringste Bewußtsein besaßen.

Dies ist die hochbedeutsame und in mancher Hinsicht verwirrende Vorstellung, die sich uns an diesem Punkt als Schlußfolgerung aufdrängt. In der Tat war dies der Ausgangspunkt all meiner Überlegungen, und ich messe diesem Anfangskapitel große Bedeutung bei, denn falls Sie an diesem Punkt nicht davon überzeugt sind, daß eine Zivilisation ohne Bewußtsein möglich ist, werden Sie die nachfolgenden Ausführungen unglaubhaft und widersinnig finden.

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