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3.6.  Die Augurien der Wissenschaft (Schluß)

 Augurien = Vorzeichen (z.B. Vogelflug)
Inauguration = Deutung der Vorzeichen  
wikipedia Inauguration   

 

529-546

In den inhaltlich so verschiedenen Kapiteln dieses Dritten Buches habe ich mich so gut ich kann zu erklären bemüht, wieso und weshalb bestimmte Züge unserer verhältnismäßig jungen Weltepoche die sozialen Institutionen des Orakels und der Religion(en), die psychologischen Phänomene Besessenheit, Hypnose und Schizophrenie, die Kunstübungen Musik und Dichtung — teilweise als Relikte einer älteren Organisation der menschlichen Natur zu begreifen sind.

Die behandelten Themen ergeben zusammen keineswegs den vollständigen Katalog der möglichen Verlängerungen unserer früheren Mentalität in die Gegenwart: Sie sind bloß eine Auswahl von besonders augenfälligen Beispielen daraus. Und das Studium von deren Wechselbeziehungen zum Bewußtsein, das ihnen mit fortschreitender Entfaltung stets mehr Terrain streitig macht, verhilft uns zu originären Einsichten, auf die wir sonst verzichten müßten.

In diesem abschließenden Kapitel nun möchte ich mich der Wissenschaft selbst zuwenden und verdeutlichen, warum auch sie — wie übrigens auch mein ganzes Buch — als eine Reaktion auf den Zusammenbruch der bikameralen Psyche interpretiert werden kann. 

Denn worin besteht das Wesen dieses Mit-Gewißheit-gesegnet-Werdens, um das die «Natur»-Wissenschaft mit ihrem Gegenstand so inbrünstig ringt wie der biblische Jakob mit dem Unbekannten? 

Wie kommen wir auf die Idee, vom Universum zu verlangen, daß es sich uns verständlich macht? Was scheren wir uns überhaupt um dergleichen?

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Wir wollen uns nichts vormachen: Zu einem gewissen Teil ist der wissenschaftliche Erkenntnisdrang nichts weiter als pure Neugier — die Lust, noch nie Gefaßtes zu fassen, noch nie Beobachtetes zu beobachten. Wir sind allesamt Kinder in fremder Umgebung. 

Es ist gewiß nicht die Reaktion auf den Verlust unserer früheren Mentalität, wenn wir aus dem Häuschen geraten vor Entzücken über die Enthüllungen des Elektronen­mikroskops oder solche Dinge wie Quarks oder die Antigravitation von Schwarzen Löchern am Sternenhimmel. Die Technologie ist der zweite und noch mächtigere Impulsgeber für das Wissen­schafts­ritual: Mit ihrer stets wachsenden, unkontrollier­baren Eigendynamik sorgt sie zugleich für den Weitertransport ihrer naturwissenschaftlichen Basis durch die Geschichte. Und vielleicht steuert zudem noch eine tief in der Menschennatur verankerte aptische Struktur für die Jagd, eine Veranlagung, Probleme aufzuscheuchen und zu stellen wie ein Wild, das Ihre an treibender Kraft zur Jagd nach der Wahrheit mit bei.

Doch hinter diesen wie manch anderen Existenzgründen der Wissenschaft und über sie hinaus ist da noch etwas anderes am Werk, etwas Universelleres, wovon in unserem Zeitalter der Spezialisierung höchst selten noch die Rede ist. Etwas, bei dem es darum geht, die Totalität des Seienden, das innerste Wesen alles Wirklichen, den Kosmos und die Stellung des Menschen darin zu begreifen. Da wird zwischen den Sternen nach abschließenden Antworten auf letzte Fragen gefischt, da wird das unendlich Kleine nach dem unendlich Allgemeinen durchstreift, da ist eine Pilgerfahrt im Gange, die immer tiefer und tiefer ins Unbekannte führt. Eine Pilgerfahrt, deren weit zurückliegender Ausgangspunkt sich durch die Nebelschleier der Geschichte hindurch eben noch ausmachen läßt in der Suche nach den verlorenen Direktiven, wie sie vom Zusammenbruch der bikameralen Psyche in die Wege geleitet wurde.

Augenfällig wird diese Suche in der assyrischen Omenliteratur, mit der — wie wir im Vierten Kapitel des Zweiten Buches (Seite 291) sahen — die Wissenschaft anhebt. Nicht minder augenfällig wird sie ein bloßes halbes Jahrtausend später in der griechischen Kultur, wenn Pythagoras die entschwundenen Invarianten des Lebens in einer Theologie der göttlichen Zahlen und ihrer Relationen dingfest zu machen sucht und damit die Mathematik begründet. Und das geht ohne Wandel in den Motiven über zwei Jahrtausende hin weiter, bis Galilei die Mathematik als die Sprache Gottes bezeichnet und Pascal und Leibniz, das Stichwort aufnehmend, in der ehrfurchtgebietenden Ordnung der Mathematik die Stimme Gottes zu vernehmen meinen.


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Wir haben uns die Vorstellung gebildet — und finden mitunter sogar eine Genugtuung darin —, daß jene beiden Bestrebungen, die den größten Einfluß auf die Menschheit ausübten, die Religion und die Wissenschaft, seit jeher Erbfeinde sind, die uns in gegensätzliche Richtungen zu locken suchen. Doch das ist blanker Unsinn, denn hier werden wieder einmal die sprichwörtlichen Äpfel mit den sprichwörtlichen Birnen verglichen. Nicht zwischen Religion und Wissenschaft, sondern zwischen Kirche und Wissenschaft tobte der Streit. Und der Anlaß war Konkurrenz, nicht Gegensätzlichkeit. Beide Gegner waren religiöse Instanzen: zwei Riesen, die sich wutschnaubend um ihren Anspruch auf dasselbe Stück Grund und Boden schlugen. Jeder der beiden hatte sich selbst zum einzigen Weg erklärt, der zur göttlichen Offenbarung führe.

Es war ein Konkurrenzkampf, der erstmals im ausgehenden Renaissancezeitalter in das volle Rampenlicht der Geschichte rückte, und zwar namentlich mit der Einkerkerung Galileis im Jahr 1633. Als Vorwand dafür wurde geltend gemacht, er habe seine Schriften ohne päpstliche Druckerlaubnis herausgebracht. Aber man darf sicher sein, daß der wahre Grund nicht eine derart belanglose Äußerlichkeit war. Denn die inkriminierten Schriften enthielten nichts weiter als die kopernikanische heliozentrische Theorie des Sonnensystems, die der ermländische Dompropst bereits hundert Jahre zuvor völlig unbeanstandet veröffentlicht hatte.

Der wahre Streitpunkt lag tiefer und läßt sich meines Erachtens nur verstehen, wenn man ihn dem drängenden menschlichen Verlangen nach göttlichen Gewißheiten zuordnet. Der wahre Zwiespalt eröffnete sich zwischen der politischen Autorität der Kirche und der Autorität der individuellen Erfahrung. Und worum es in Wahrheit ging, war die Frage, ob wir unsere verlorene Autorisierung wiedergewinnen, indem wir uns den jeweils letzten Gliedern der Kette apostolischer Nachfolger der alten Propheten, die noch die göttliche Stimme gehört haben, unterwerfen, oder ob wir nicht besser fahren, wenn wir zu diesem Behufe ohne priesterliche Vermittlung das Himmelreich unserer eigenen Erfahrung hier und jetzt in der objektiven Welt durchforschen.


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Bekanntlich hat die Entscheidung für die zweite Option zum Protestantismus geführt und unter rationalistischem Vorzeichen zu jener Bewegung, die als «Wissenschaftliche Revolution» in die Geschichte eingegangen ist.

Wenn wir die Wissenschaftliche Revolution richtig verstehen wollen, sollten wir niemals vergessen, daß ihre mächtigste Antriebskraft eine beharrliche Suche nach der verborgenen Gottheit war. So gesehen steht sie im Verhältnis der direkten Nachkommenschaft zum Zusammenbruch der bikameralen Psyche.

So sind es, um augenfällige Beispiele zu wählen, drei britische Protestanten — Amateurtheologen und glühende «religiosi» allzumal —, die im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert die Fundamente für die Wissenschaft von der Physik, der Psychologie und der Biologie legen: der Paranoiker Isaac Newton, der die Sprache Gottes in den erhabenen Universalgesetzen der himmlischen Gravitation vernimmt und ins Schriftbild übersetzt; der asthenische Literat John Locke, der sich der Erkenntnis des «Most Knowing Being» in den Reichtümern der erkennenden Erfahrung versichert; und der Peripatetiker John Ray, ein unkomplizierter Kirchenmann und Kanzelprediger, der sich damit vergnügt, das Wort des Schöpfers in der vollkommenen Ordnung seiner Tier- und Pflanzenwelt abzumalen. Ohne diese religiöse Motivation wäre die Naturwissenschaft reine Technologie geblieben, die sich in einem ausschließlich von wirtschaftlichen Notwendigkeiten diktierten — und entsprechend schneckenhaften — Tempo fortbewegt hätte.

Im darauffolgenden Jahrhundert komplizieren sich die Verhältnisse durch den Rationalismus der Aufklärungs­bewegung (auf deren hauptsächliche Antriebskraft ich sogleich noch zu sprechen kommen werde). Aber auch im riesenhaften Schatten der Aufklärung verharrte die Wissenschaft im Bann dieser Suche nach göttlicher Urheberschaft. Deren klarster Ausdruck war der sogenannte Deismus (in Deutschland als «Vernunftreligion» bezeichnet).

Der Deismus warf den Kirchenglauben an das «Wort» über Bord, verspottete Altar und Sakramente und predigte ernsthaft Vernunft und Wissenschaft als Weg zu Gott. Das ganze Universum ist Epiphanie, eine Erscheinung Gottes! Gott ist direkt hier, da draußen in der freien Natur, unterm weiten Sternenhimmel, zu finden und ansprechbar und kommt nicht in dem dunklen Gemurmel kostümierter Priester jenseits der Chorschranke, sondern in der ganzen Herrlichkeit der Vernunft glanzvoll zu Wort.


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Unter den wissenschaftlichen Deisten herrschte keineswegs universelle Übereinstimmung. Für manche — so zum Beispiel für Hermann Samuel Reimarus, den Begründer der modernen Ethologie und Gegner jeglicher positiven Religion — waren die tierischen «Triebe» in Wahrheit Gedanken Gottes und ihr grenzenloser Variantenreichtum dessen Geist selbst. Für andere hingegen — wie etwa den Physiker Maupertuis kümmerte Gott sich wenig um etwas so Unbedeutendes wie den Variantenreichtum der Erscheinungen: Er lebte ausschließlich in der reinen Abstraktion, in den großen allgemeinen Naturgesetzen, welche die menschliche Vernunft mittels der subtilen Andachtsübungen der Mathematik hinter all der bunten Erscheinungsvielfalt zu erkennen vermochte.1)

Dem prosaisch-nüchternen, beinhart materialistischen Wissenschaftler von heute dürfte recht unbehaglich zumute werden bei dem Gedanken, daß die Wissenschaft — bei aller vorhandenen Unterschiedlichkeit in Ansatz und Fragerichtung — noch vor zwei Jahrhunderten ein religiöses Unterfangen war, dessen Absicht sich mit der des Psalmisten deckte, nämlich das Bestreben, die elohim erneut «von Angesicht zu Angesicht» zu schauen.

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In welchem Drama, welchem Mammutspektakel, die Menschheit auf diesem Planeten seit nunmehr vier­tausend Jahren auftritt, wird klar, wenn wir unsere Perspektive auf die zentrale Tendenz der Universalgeschichte des Geistes ausdehnen. Im zweiten Jahrtausend v.Chr. begannen die Stimmen der Götter für uns zu verstummen. Im ersten Jahrtausend v.Chr. ging es auch mit denjenigen, die nach wie vor die Stimmen hörten, mit Orakeln und Propheten, dem Ende zu. Im ersten nachchristlichen Jahrtausend ist der Gehorsam gegenüber deren in «heiligen» Schriften überlieferten dicta und audita zugleich auch Gehorsam gegenüber den verschwundenen Gottheiten.

 

1) Ausführlicher behandle ich diese Zusammenhänge in einem gemeinsam mit William Woodward verfaßten Aufsatz: In the Shadow of the Enlightenment, Journal of the History of the Behavioral Sciences 10/1974, S. 3-15 und 144-159.


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Und im zweiten Jahrtausend n.Chr. beginnen diese Schriften ihre Autorität zu verlieren. In der Wissenschaft­lichen Revolution wendet die Menschheit sich ab von den alten Sprüchen, um die verlorengegangene Autorisierung in der Natur wiederzufinden. Seit viertausend Jahren befindet sich unsere Spezies im Prozeß allmählicher unaufhaltsamer Profanisierung, Säkularisierung. Und im ausgehenden zweiten Jahrtausend n.Chr. scheint sich dieser Prozeß allen Anzeichen nach seiner Vollendung zu nähern.

Die große Ironie des größten und edelsten menschheitsgeschichtlichen Bestrebens auf diesem Planeten liegt darin, daß wir bei unserer Suche nach Autorisierung, beim Entziffern von Gottes Sprache im Buch der Natur, so unmißverständlich zu lesen bekommen, daß wir einem Irrtum aufgesessen sind.

*

Diese Säkularisierung der Wissenschaft, die heute ein offenkundiges Faktum ist, wurzelt, wie vorhin angedeutet, fraglos in der französischen Aufklärung. Handgreiflich ernst wurde es mit ihr jedoch in Deutschland im Jahr 1842 mit dem Freundschaftsbund der vier brillanten jungen Physiologen Emil Du Bois-Reymond, Ernst Brücke (der Lehrer Freuds), Hermann Helmholtz und Carl Ludwig, von denen Helmholtz zweifellos der hervorragendste war. Die vier unterzeichneten das Manifest ihrer «Verschwörung», gleich Piraten, allen Ernstes mit dem eigenen Blut.

Des Hegelschen Idealismus und seiner quasireligiösen Interpretation alles Materiellen überdrüssig, waren sie entschlossen, aus ihrer wissenschaftlichen Betrachtung alle Kräfte außer den gewöhnlichen physikalisch-chemischen auszuklammern: «... [wir] haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen physikalisch-chemischen...»2) Keine geistigen Wesenheiten. Keine göttliche Substanz. Keine Vitalenergie. Dies war die bislang bündigste und schärfste Formulierung des wissenschaftlichen Materialismus. Und sie hatte enorme Konsequenzen.

 

2)  Jugendbriefe von Emil Du Bois-Reymond an Eduard Hallgarten, hg. von Estelle Du Bois-Reymond, Berlin: Dietrich Reiner 1918, S. 108.


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Fünf Jahre später proklamierte einer aus der Gruppe, der namhafte Physiker und Physiologe Hermann Helmholtz, das Prinzip von der Erhaltung der Energie. James Prescott Joule hatte es in verbindlicherer Form so ausgedrückt, daß «die großen Wirkkräfte der Natur unzerstörbar» seien und daß es ein und dieselbe ewige Energie sei, die im Meer, in der Sonne, in der Kohle, im Gewitter, in der Hitze und im Wind sich auswirke. Helmholtz dagegen verabscheute romantische Schwammigkeit. In seiner vom mathematischen Geist inspirierten Fassung des Energieerhaltungsprinzips hob er vor allem den Punkt hervor, der fortan stets als der wichtigste gelten sollte: daß keine Kräfte von außen in unsere geschlossene Welt der Energieumwandlungen gelangen. Nirgendwo im ganzen Sternenfeld gibt es einen Schlupfwinkel für irgendeinen Gott, nirgendwo in diesem geschlossenen Universum aus reiner Materie eine Ritze, durch die auch nur der kleinste göttliche Einfluß einsickern könnte.

Das alles hätte ein bloßes Arbeitsprinzip der Wissenschaft und als solches diskret hinter den Kulissen bleiben können, wäre es nicht unmittelbar darauf zu einer noch verblüffenderen Profanisierung der Idee von einer Beimischung des Heiligen in den menschlichen Angelegenheiten gekommen. Verblüffend vor allem deswegen, weil sie just aus den Reihen der religiös motivierten Wissenschaft lanciert wurde. In Großbritannien diente das Studium der sogenannten Naturgeschichte vom siebzehnten Jahrhundert an dem tröstlichen Vergnügen, die Vollkommenheiten eines gütigen Schöpfers in den Naturwesen wiederzuentdecken.

Welch vernichtenderer Schlag hätte diesen zarten Motiven und Tröstungen versetzt werden können als der, daß gleich zwei aus der Mitte ihrer Anhänger, beide Amateur-Naturforscher großen Stils, unabhängig voneinander verkündeten, daß nicht göttlicher Ratschluß, sondern die Evolution all diese Naturwesen hervorgebracht hatte. Auch das war zuvor schon in milderer Form von anderen ausgesprochen worden, so etwa von Charles Darwins Großvater Erasmus Darwin oder von Lamarck und Robert Chambers; ja sogar aus der Naturbegeisterung eines Goethe oder Emerson war es herauszuhören gewesen. Aber jetzt war der Sachverhalt in ein blendend starkes, unbarmherziges Licht getaucht.


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Der nackte Zufall ohne irgendwelche Berechnung dahinter hatte die menschliche Spezies Generation um Generation blindlings, ja grausam aus der Materie und aus nichts anderem als der Materie geformt, indem er die einen überlebenstauglicher im Daseinskampf und damit reproduktionsfähiger als die anderen machte. Wo diese Theorie von der Evolution durch natürliche Zuchtwahl in Personalunion mit dem deutschen Materialismus vereinigt wurde, wie dies — wir haben es im Einleitungskapitel dieses Buches gesehen — in dem schneidend analytischen Geist eines T. H. Huxley der Fall war, läutete sie all die verklärenden traditionellen Anschauungen vom Menschen als wohldurchdachter Schöpfung Höchster Herrlichkeit, der Elohim, zu Grabe — jene Tradition, die sich in gerader Linie bis in die bewußtseinslosen Tiefen des bikameralen Zeitalters zurückverfolgen läßt.

Die Botschaft lautet jetzt in einem Wort: Es gibt keine Autorisierung von draußen. Seht her — da draußen ist nichts! Unsere Handlungsanweisungen müssen wir aus uns selber nehmen. Der König zu 'Arn Mallaha mag aufhören, zum Berg Hermon hinüberzustarren: Der tote König darf endlich sterben. Wir — die gebrechliche menschliche Spezies am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrtausends — müssen unsere eigene Autorisierung werden. Und hier, am Ende des zweiten und im Übergang zum dritten Jahrtausend, hat uns dieses Problem förmlich eingekreist. Es gehört zu den Aufgaben, die das kommende Jahrtausend früher oder später lösen wird — und sei es auch auf dem Wege weiterer Veränderung unserer Mentalität.

Der Ausverkauf des religiösen Menschenbilds, wie er im letzten Abschnitt des zweiten Jahrtausends stattfindet, ist noch ein Stück vom Zusammenbruch der bikameralen Psyche. In allen Lebensbereichen bewirkt er allmählich ernst zu nehmende Veränderungen. Im Wettbewerb um neue Mitglieder, wie er heutigentags zwischen den verschiedenen religiösen Vereinigungen ausgetragen wird, sehen sich die Altorthodoxien, die mit ihren Ritualen der langen, aus bikameraler Vergangenheit sich herschreibenden Apostelkette am nächsten stehen, vom logischen Bewußtsein auf die hintersten Plätze verwiesen. Die Neuerungen, die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche vorgenommen wurden, folgen dem Schema des Rückzugs vom Heiligen, der mit dem Auftauchen des Bewußtseins in der menschlichen Spezies in Gang gekommen ist.


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Unter dem Druck der rationalistischen Wissenschaften zerbröckeln die religiösen kollektiven kognitiven Imperative und sind, faktisch an die unablässige Revision der traditionellen theologischen Begriffswelt gefesselt, nicht mehr in der Lage, die tragfähige Grundlage für die metaphorischen Bedeutungen hinter den Ritualen abzugeben. Rituale sind Metaphern im Medium des Verhaltens, sind inszenierte Glaubensinhalte, sind geweissagte Zukunftsweisungen, sind exopsychisches Denken. Rituale sind Mnemotechniken zum Andenken der grandiosen Narrativierungen, die den Dreh- und Angelpunkt des kirchengesteuerten Glaubenslebens bilden.

Sind sie erst einmal ihres tiefen Ernstes entkleidet und zu Spontaneitätskulten verwässert und werden sie ohne Gefühlsbeteiligung vollzogen und zum Gegenstand teilnahmslos-objektiver Räsonnements gemacht, so ist damit das Kirchenleben seiner Mitte beraubt und in ungesteuerte zentripetale Bewegung versetzt. Die Ergebnisse sind in unserem Zeitalter der Massenkommunikation weltweit verbreitet: eine in Belanglosigkeiten zerlaufende Liturgie, Verflachung des Ehrfurchtsschauders zu «Relevanzbewußtsein» und Aushöhlung der identitätsstiftenden historischen Kategorien, die dem Menschen zudiktierten, was er war und was er sein sollte.

Diese kläglichen Anpassungsmaßnahmen — oftmals von bestürzten Kirchenleuten inauguriert3) — bewirken nichts weiter, als die große historische Flutwelle, die sie einzudämmen suchen, noch zu verstärken. Unsere paralogische Willfährigkeit gegenüber sprachlicher Realitätsvermittlung hat abgenommen: Wir stolpern jetzt über die Stühle auf unserem Weg, statt einen Bogen um sie zu machen; wir halten lieber den Mund, als daß wir behaupten, wir verstünden unsere eigene Sprache nicht; und wir lassen uns nicht von dem physikalischen Grundsatz abbringen, daß ein und derselbe Körper sich nicht gleichzeitig an zwei Raumstellen befinden kann.

 

3)  Die Theologen sind sich über diese Probleme durchaus im klaren. Wer einen Einstieg in ihre diesbezüglichen Diskussionen sucht, beginnt am besten mit Harvey Cox' The Secular City, Mary Douglas' Natural Symbols und Charles Davis' Aufsatz «Ghetto or Desert: Liturgy in a Cultural Dilemma» (Worship and Secularization, hg. von Wiebe, Vos/Holland: Bussum 1970, S. 10-27), um dann mit James Hitchcocks The Recovery of the Sacred (New York: Seabury Press 1974) fortzufahren.


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Wir leben mitten in der Göttlichen Tragödie oder der Profanen Komödie — je nachdem, ob es die Auslöschung der Vergangenheit oder die Wegweisung in die Zukunft ist, was wir als hervorstechendsten Zug daran registrieren.

Die Begleiterscheinungen dieser modernen Auflösung der kirchlichen Autorisierungsmacht erinnern von fern an das, was sich, vor langer Zeit, nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche selber zutrug. Allenthalben florieren in der Welt der Gegenwart Ersatzreligionen und Alternativverfahren, Autorisierung zu erlangen.

Zum Teil bestehen sie in der Wiederbelebung uralter Vorläuferpraktiken: man denke an die Popularität von Besessenheitskulten in Südamerika, wo die Kirche einmal eine solche Vormachtstellung innegehabt hatte; an den — im Verhältnis des Einzel-Ichs zum «Geist» gründenden — extremen religiösen Absolutismus, der genau besehen das Avancement des Paulus in die religiöse Führungsposition vor Jesus bedeutet; an die alarmierende Zunahme der ernsthaften Beschäftigung mit der Astrologie, jener direkten Erbschaft aus der Periode des Zusammenbruchs der bikameralen Psyche im Vorderen Orient; oder an die nicht ganz so bedeutende Praxis des Orakulierens anhand des Buchs «I Ching», das seinerseits ein direktes Erbstück aus der Periode unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Bikameralität in China ist.

Dann sind da noch — mit gewaltigen kommerziellen und mitunter auch psychologischen Erfolgen — alle möglichen Meditations-, Sensitivity Training-, Mind Control- und Encounter-Gruppen-Praktiken.

Andere Strömungen scheinen sich häufig dem Bemühen zu verdanken, einer neuen Langeweile der Ungläubigkeit zu entfliehen, zeugen jedoch ebenfalls von dieser Suche nach Autorisierung: man glaubt an die verschiedensten Pseudowissenschaften — wie zum Beispiel in der Scientology Church — oder an UFOs als Autoritätsträger aus fernen Bereichen des Universums oder daran, daß die Götter einst selber solche Kosmonauten waren; man vergräbt sich hartnäckig in ein wirrköpfiges Interesse für «außersinnliche Wahrnehmung», die angeblich den Beweis erbringt, daß unser Leben in spirituelle Zusammenhänge eingebunden ist, von denen wir uns eine gewisse Autorisierung erwarten dürfen; oder man sucht auf dem Weg über psychedelische Drogen den Kontakt mit einer anderen, tieferen Wirklichkeit, wie dies seinerzeit, beim Zusammenbruch ihrer Bikameralität, auch die meisten amerikanischen Indianerkulturen praktiziert hatten.


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Ebenso wie der Verfall des institutionalisierten Orakulierens zur Pflege der induzierten Besessenheit in kleineren Kulten führte (vgl. Seite 418 ff), ruft auch der gegenwärtige Niedergang der institutionellen Religionen kleinere, privatere Kultübungen jeglicher Couleur auf den Plan. Und dieser historische Prozeß dürfte sich bis zum Ende des Jahrhunderts noch verstärken.

Man kann auch nicht behaupten, daß in der modernen Wissenschaft selber vergleichbare Strukturen gänzlich fehlen. Denn die intellektuelle Landschaft der Moderne ist geprägt von den gleichen Bedürfnissen, und häufig begegnet man dort in groben Umrissen dem gleichen quasireligiösen Zeremoniell, sei's auch in leicht verschleierter Form. Bei den fraglichen «Szientismen» — wie ich sie nennen möchte handelt es sich jeweils um ein Ensemble von wissenschaftlichen Ideen, die, nachdem sie zusammengefunden hatten, fast möchte man sagen: vor lauter Überraschung und Freude über sich selber zu Glaubensartikeln und einer wissenschaftlichen Mythologie wurden und die empfindliche Leerstelle tilgten, die das Auseinanderrücken von Religion und Wissenschaft in unserer Zeit geschaffen hatte.4)

Von der klassischen Wissenschaft und ihren allgemeinen Debatten unterscheiden sich die Szientismen nicht zuletzt dadurch, daß sie bei ihren Adressaten auf die gleichen Reaktionen hinwirken wie die Religionen, die sie zu entmachten suchen. Im übrigen haben sie mit den Religionen viele ihrer hervorstechendsten Merkmale gemein: eine argumentative Brillanz, die alles zu erklären weiß; einen charismatischen Führer oder eine Folge solcher Führer, die eine überragende Position im allgemeinen Aufmerksamkeitsfeld einnehmen und jeglicher Kritik entzogen sind; eine Sammlung kanonischer Texte, die aus unerfindlichen Gründen davon dispensiert sind, sich vor dem allgemeinen Forum der wissenschaftlichen Kritik behaupten zu müssen; charakteristische Denkfiguren und Interpretationsrituale sowie die Forderung nach bedingungsloser Gefolgschaft.

 

4) Von «Mythologien» sprach George Steiner in seiner prägnanten Massey-Vorlesung (1974), in der er auf das Problem ausführlicher einging.


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Seinerseits findet der gläubige Adept hier, was die Religionen einst in universellerem Maßstab zu bieten hatten: ein geschlossenes Weltbild, eine Werthierarchie sowie Augurien und Auspizien, die darüber belehren, wie man denken und handeln soll, kurzum: eine Totalerklärung des Menschen. Die Totalität wird freilich nicht dadurch erreicht, daß tatsächlich alles und jedes erklärt würde, sondern durch die Einengung des Erklärungsbereichs, die radikale und bedingungslose Verkürzung des Aufmerksamkeitsradius, dergestalt, daß alles, was nicht im Erklärungsbereich liegt, auch gar nicht erst ins Blickfeld tritt.

Der Materialismus, von dem ich weiter oben gesprochen habe, war einer der ersten von diesen Szientismen. Wissenschaftler gerieten fast in Taumel vor Erregung, als um die Mitte des vorigen Jahrhunderts spektakuläre Entdeckungen über den Zusammenhang zwischen der Ernährung und der körperlichen wie geistigen Befindlichkeit des Menschen gemacht wurden. Der Medizinische Materialismus kam auf, eine Bewegung, die sich mit der Befreiung von Armut und Leid gleichsetzte und einen Teil der Formen, doch ungeteilt den Eifer der ringsum absterbenden Religiosität annahm. Der Medizinische Materialismus bemächtigte sich der interessantesten Geister seiner Zeit, und was er als Programm zu bieten hatte, kommt uns noch heute irgendwie vertraut vor: Bildung statt Beten, gesunde Ernährung statt heiliger Kommunion, Arznei statt Liebe und Politik statt Predigten.

«Irgendwie vertraut», weil der Medizinische Materialismus, in dem noch der Geist Hegels spukte, sich mit Marx und Engels zum Dialektischen Materialismus mauserte, der dann noch mehr vom Formenwesen der verschlissenen Kirchengläubigkeit seiner Umwelt in sich aufnahm. Sein zentraler Aberglaube damals wie heute ist die Theorie des Klassenkampfs, eine Art Mantik, die eine Totalerklärung der Vergangenheit liefert und die «richtige» Verhaltensweise für jede erdenkliche Lebenslage vorausbestimmt. Und obgleich die faktische Existenz von Volkstumsbewegungen, Nationalismen und Gewerkschaftsorganisationen — dieser Schibboleths der modernen Kollektividentität — das Klassenkampfkonzept schon vor langer Zeit unter die Mythologeme verwiesen hat, führt der Marxismus noch heute Armeen von Millionen ins Treffen, um die seit Menschengedenken autoritärsten Staatswesen zu errichten.


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Der hervorstechendste Szientismus im medizinischen Bereich ist nach meiner Einschätzung die Psycho­analyse. Ihr zentraler Aberglaube liegt in der Idee von der unterdrückten kindlichen Sexualität. Eine Handvoll Fälle von Hysterie aus der Pionierzeit der Bewegung, die sich in diesem Sinne interpretieren ließen, avancierten zu Metaphoratoren, kraft deren nun das Wesen aller Persönlichkeit und Kunst, aller Kultur und allen Unbehagens in der Kultur verständlich gemacht wurde. Und wie der Marxismus fordert die Psychoanalyse von ihren Anhängern uneingeschränkte Gefolgschaft, ein andächtiges Verhältnis zu ihren kanonischen Texten und das Absolvieren einer Initiationsprozedur; als Gegengabe spendet sie die gleichen Entscheidungshilfen und Handreichungen in Fragen der Lebensführung, die vor wenigen Jahrhunderten noch die Domäne der Religion waren.

Um schließlich auch ein Beispiel anzuführen, das meinem eigenen Traditionshintergrund näher steht, möchte ich noch den Behaviorismus erwähnen. Denn auch der Behaviorismus macht aus einer Handvoll Experimente mit Tauben und Ratten sein zentrales Augurium, indem er sie als Metaphoratoren für jegliches Verhalten und die gesamte Geschichte benutzt. Auch er händigt jedem seiner Anhänger mit dem Konzept der Verhaltenssteuerung durch verstärkende Begleitumstände einen Talisman aus, der die ganze Welt mit all ihren Kapricen und Schnörkeln seinem Verständnis offenlegt. 

Mag auch jene radikalisierte Milieutheorie, die hinter dem Behaviorismus steckt — die Vorstellung vom Organismus als einer Art Tabula rasa, der sich mittels Verstärkung jeder beliebige Inhalt einprägen lasse —, angesichts der biologisch entwickelten aptischen Strukturen jedes Organismus schon längst ihrer Fragwürdigkeit überführt sein, so findet diese Denkweise doch immer wieder Anhänger, die von einer neuen, in dieser Art Verhaltenssteuerung gründenden Gesellschaftsform träumen.

Es ist unbestreitbar, daß diese «Humanszientismen» (wenn man sie in Analogie zu dem Ausdruck «Human­wissen­schaften» so nennen darf) jeweils von wahren Sachverhalten ausgehen. Wahr ist, daß körperliche wie geistige Gesundheit durch zweckentsprechende Ernährung verbessert werden kann.


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Der Klassenkampf, wie Marx ihn im französischen Zweiten Kaiserreich studierte, war ein Faktum. Sehr wahrscheinlich ist es tatsächlich vorgekommen, daß Patientinnen mit hysterischen Symptomen nach der Analyse ihrer sexuellen Erinnerungen von diesen Symptomen befreit waren. Und fraglos eignen sich hungrige Tiere und ängstliche Menschen auf dem Weg des instrumentellen Lernens Reaktionsweisen an, die ihnen Futter oder Beifall einbringen. Das alles sind unleugbare Fakten. Aber ein ebenso unleugbares Faktum ist auch die Leber eines Opfertiers.

Und ebenso sind auch die Aszendenten und Himmelsmeridiane der Astrologen oder die Form einer Öllache auf einem Wasserspiegel unleugbare Fakten. In Aberglauben schlagen die Fakten um, sobald sie in praktischer Anwendung auf die Welt als Repräsentanten der Welt im ganzen behandelt werden. Ein Aberglaube ist ja letzten Endes nichts anderes als ein zur Stillung eines Wissensbedürfnisses übersteuerter Metaphorator. Wie das Tiereingeweide oder der Vogelflug wird ein wissenschaftlicher Aberglaube zum rituell umhegten Ort, wo wir Vergangenheit und Zukunft des Menschen entziffern und die Antworten finden können, die unser Handeln zu autorisieren vermögen.

All ihrem Pochen auf das Faktische zum Trotz ist also die Wissenschaft zuweilen von den zungenfertig abqualifizierten Auswüchsen der Pseudoreligiosität gar nicht so weit entfernt. In der Periode der Ablösung von ihrer religiösen Basis, in der wir sie gegenwärtig erleben, kongruiert sie in ihrer Sehnsucht nach der Letztgültigen Antwort, der Einen Wahrheit, der Einzigen Ursache häufig mit den Himmelskarten der Astrologie und hundert anderen Irrationalismen.

Mühsale und Enttäuschungen der Laboratoriumsarbeit machen sie anfällig für die Verlockungen der Abgötterei, und sie beginnt den Habiru auf ihrem Wanderzug zu gleichen, wenn sie sich in der Trockenwüste der beinharten Fakten auch einmal nach irgendwelchen satten und prallen Bedeutsamkeiten umtut, aus denen sie reichlich Wahrheit und Entzücken saugen kann. Und das Ganze mit allem Drum und Dran — einschließlich meiner Metapher — gehört mit hinein in den Kontext der gegenwärtigen Übergangsperiode, deren Beginn auf den Zusammenbruch der bikameralen Psyche datiert.

Und nicht weniger mit hinein in diesen Kontext gehört auch das ganze vorliegende Buch.


 

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Merkwürdigerweise verrät uns keine dieser zeitgenössischen Denkströmungen irgend etwas darüber, wie es mit uns voraussichtlich bestellt sein wird, wenn erst einmal alle Ungereimtheiten unserer Ernährungs­weise abgestellt sind oder das «Absterben des Staates» eingetreten ist oder unsere Libidobesetzungen alle so verteilt sind, wie sie sein sollen, oder Ordnung in das Chaos der Verstärkungen gebracht ist.

Vielmehr geben sie sich meistenteils rückwärtsorientiert, klären uns darüber auf, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist und lassen dabei irgendeinen kosmischen Makel, irgendeine Verkümmerung unseres ursprünglichen Potentials mit anklingen. Darin entdecke ich ein weiteres Merkmal des religiösen Schematismus, den sich diese Denkströmungen in dem von den schwindenden kirchlichen Gewißheiten hinterlassenen Vakuum angeeignet haben — nämlich das Vorstellungsschema von einem ursprünglichen Fall des Menschen.

Diese kuriose und, wie ich meine, täuschende Phantasie von einer verlorengegangenen Unschuld hat ihren Ausgangspunkt nirgendwo anders als im Zusammenbruch der bikameralen Psyche: Es ist die erste vom Bewußtsein geschaffene große Narrativierung der Menschheitsgeschichte. Man begegnet ihr in assyrischen Psalmen und hebräischen Klageliedern, im Mythos von der Vertreibung aus dem Garten Eden wie in den anderen Geschichten von einem Ur-Fall des Menschen aus der Gunst Gottes, den die großen Weltreligionen als ihr treibendes Motiv voraussetzen. 

Nach meiner Deutung handelt es sich dabei um den ersten, tastenden Versuch einer seit neuestem mit Bewußtsein ausgestatteten Menschheit, zu narrativieren, was ihr widerfahren ist: das Verschwinden der göttlichen Stimmen und Sicherheiten hinter einem Chaos menschengemachter Direktiven und egozentrischer Partikularismen. Das Thema vom verlorenen Glanz und von der verlorenen Gewißheit finden wir nicht nur in allen Religionen der Menschheit, sondern immer wieder auch in der profanen Geistesgeschichte angeschlagen.


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Es bleibt virulent von der platonischen Anamnesis-Lehre — derzufolge alles Neue lediglich die Wieder­erinnerung einer verlorengegangenen besseren Wirklichkeit ist — bis hin zu Rousseaus Klage über die Verderbnis der ursprünglichen Menschennatur durch die Künstlichkeiten der Kultur. Und wir begegnen ihm auch in den erwähnten modernen Szientismen wieder, so etwa in Marx' — in den «Ökonomisch-philosophischen Manuskripten» von 1844 deutlich formulierter — Annahme eines sozialen Kindheitszustands der Menschheit, in dem sich das Menschenwesen in vollkommener Schönheit entfaltet; einer späterhin durch das Geld korrumpierten Unschuld; eines wiederzugewinnenden paradiesischen Zustands.

Oder in Freuds Insistieren auf die tiefreichende Verwurzelung der Neurose in der Kultur, auf in der Vergangenheit der menschlichen Rasse wie des Individuums angesiedelte grauenhafte Ur-Taten und Ur-Wünsche und damit indirekt auf eine vorausgegangene (ansonsten durchaus im unklaren belassene) Unschuld, zu der wir kraft Psychoanalyse zurückkehren. Oder — wenngleich in weniger klarer Form — auch im Behaviorismus, wo der unverbürgte Glauben genährt wird, man müsse die chaotischen Verstärkungen von individueller Entwicklung und Gesellschaftsprozeß unter Kontrolle und in eine geregelte Ordnung bringen, damit der Mensch zu dem (ansonsten durchaus im unklaren belassenen) Idealzustand zurückkehre, in dem er sich befunden hatte, bevor jene Verstärkungen seine wahre Natur entstellten.

Darum betrachte ich diese (wie außer ihnen noch zahlreiche andere) zeitgenössischen Denkströmungen als ebenso viele Reprisen und Variationen eines allumfassenden, im Zusammenhang mit dem Verlust einer älteren Organisation der Menschennatur stehenden Grundmotivs unserer Zivilisation. Es sind allesamt Versuche, etwas Entschwundenes wiederzubringen — wie die Dichter die abwesenden Musen wieder herbeizubeschwören versuchen — und als solche charakteristisch für die Übergangsjahrtausende, die unser historisches Umfeld bilden.

Mit alldem will ich nicht sagen, daß der einzelne Denker — ob Galilei oder Marx, ob Leser oder Autor dieser Zeilen — so desolaten Wesens sein könnte, daß er in bewußter, klarer Absicht, sei's nach den göttlichen Absolutheiten, sei's nach einer vorbewußten Unschuld strebt.


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Derlei Ausdrücke sind, aus dem großen historischen Kontext herausgelöst und auf Einzelexistenzen angewandt, bedeutungsleer. Erst wenn wir in den Generationsfolgen unser «Subjekt» erkennen und dessen Lebensstunden in Jahrhunderten messen, tritt das Strukturschema unverhüllt hervor.

Als Individuen sind wir auf Gnade oder Ungnade unseren jeweiligen kollektiven Imperativen ausgeliefert. Durch den Spiegel unserer Alltagsinteressen — unseres Gärtchens und unserer Anteilnahme am politischen Geschehen und unserer Kinder — sehen wir die Formen unserer Kultur wie im Rätsel. Und unsere Kultur ist unsere Geschichte. Bei unseren Versuchen, mit anderen zu kommunizieren, sie zu überzeugen oder einfach nur ihr Interesse zu gewinnen, bedienen wir uns kultureller Modelle, bewegen wir uns zwischen kulturellen Modellen, unter deren Varianten wir zwar eine Auswahl treffen, deren Totalität wir uns jedoch nicht entziehen können. Und eben in dieser Appellfunktion — in ihrer Art und Weise, Hoffnungen, Interesse, Anerkennung oder Beifall für uns selbst oder unsere Ideen zu erwecken — werden unsere Mitteilungen in diese historischen Schemata, diese Matrizen des Überzeugens gegossen, die bereits im Akt des Mitteilens selbst zum integralen Bestandteil der Mitteilung werden. 

Und das vorliegende Buch bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Absolut keine Ausnahme. Es begann mit etwas, das sich in meinen persönlichen Narrativierungen als individuelle Wahl eines Problems darstellte, das mich dann die meiste Zeit meines Lebens in Atem hielt: die Frage nach dem Wie und Was und Woher dieses ganzen unsichtbaren Reichs körperloser Erinnerungen und niemandem vorzeigbarer Träumereien, dieses inneren Universums, das mehr mein Selbst ist als alles, was mir der Spiegel zeigen kann. Aber war dieser Drang, zur Quelle des Bewußtseins vorzudringen, das, als was er sich mir darstellte?

Das Konzept der Wahrheit selbst ist eine kulturell gesetzte Orientierung, gehört mit zu jener allgegen­wärtigen Sehnsucht nach einer vorzeitlichen Gewißheit. Die schiere Vorstellung von universeller Stabilität, ewigwährender Prinzipiensicherheit da draußen, nach der man die Welt durchjagen kann, wie etwa ein Ritter der Tafelrunde dem Gral hinterhergejagt sein mochte, enthüllt sich in geschichtsmorphologischer Betrachtung als unmittelbarer Ableger jener Suche nach den verlorenen Göttern, die die ersten zwei Jahrtausende nach der Zersetzung der bikameralen Psyche beherrschte.

Was damals die Augurienschau zwecks Gewinnung von Handlungsorientierung in den Trümmern der archaischen Mentalität gewesen ist, ist heute die Suche nach dem Unschuldszustand der Gewißheit in den Mythologien des Faktischen.

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E n d e  

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