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5. Wir dürfen das Leben nicht belasten, indem wir uns einfach gehenlassen 

Allgemeine Jüdische Wochenzeitung mit Wolfgang Scheller

 

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1) Herr Professor Jonas, Sie sind als Dreißigjähriger aus Deutschland emigriert. Ihr Vater starb 1938. Ihre Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Wann haben Sie erkannt, daß die Situation für Sie in Deutschland unhaltbar geworden war?

J:  Seit Ende der zwanziger Jahre war mir klar, daß da eine große Gefahr heraufzog. Das mußte jeder sehen: In dem Anwachsen der Nazi-Partei sah ich, noch bevor Hitler an die Macht kam, eine gewisse Unaus­weich­lichkeit, nämlich, daß die Kerle einmal an die Macht kommen würden. Was ich aber absolut nicht dachte, war, daß sie sich halten würden. Aber ich erkannte sehr bald, daß ich mich getäuscht hatte, daß sich die Nazis fest in den Sattel setzten und daß es mit dem Antijuden-Programm ernst war. Mir wurde klar: Mit einigem Stolz kann ich in diesem Lande nicht bleiben, ganz abgesehen davon, daß meine Berufsaussichten, jemals an die Universität zu kommen, damit vernichtet waren.

2) Haben Sie es damals für möglich gehalten, daß die Nazis zum Mord an den europäischen Juden fähig sein könnten?

J:  Nein, das habe ich nicht gedacht, und ich zweifle auch, daß irgend jemand das gedacht hat. Aber sie wollten sie ausscheiden aus dem deutschen Volkskörper, soviel war sicher. Sie begannen sofort, uns unsere Rechte zu nehmen, unsere Ehre, unsere Berufsmöglichkeiten, unsere politische und rechtliche Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Ich stellte mir vor, daß man die Juden in ein Ghetto sperren würde wie im Mittelalter, als Juden abgesondert leben mußten und ihnen nur ganz bestimmte Beschäftigungen erlaubt waren. Austreibung ja, an Ausrottung habe ich damals nicht gedacht.

3) Während des Krieges waren Sie Soldat in der britischen Armee und sind 1945 nach Deutschland zurückgekehrt. Wie waren Ihre Empfindungen: Rache, Genugtuung, Trauer? 

J: Trauer, was ich über das Schicksal der Juden erfahren hatte. Man hatte ja nur dunkle Gerüchte über die Todeslager gehört, aber Genaueres erfuhr man erst, als man an Ort und Stelle war. Gegenüber den Deutschen empfand ich Zorn, und zwar nicht gegenüber den Nazis, sondern "Die Deutschen". Denn daß das deutsche Volk mehr oder weniger hinter Hitler stand und diese ganze Sache mitgemacht hatte, war unverkennbar Und natürlich sah ich die zerstörten Städte mit einem Gefühl halbbefriedigter Rache an. Das schien mir eine gerechte, aber nicht hinlängliche Strafe zu sein für das absolut Ungeheuerliche, was hier geschehen war. 

Aber gleichzeitig wußte ich auch, daß ja nicht jeder Deutsche innerlich mitgemacht hatte und manche auch äußerlich nicht. Aber im ganzen war meine Stimmung damals doch so, daß es einen Abgrund gibt zwischen Juden und Deutschen, der nie wieder zu überbrücken ist ... Dann täuscht man sich natürlich auch. Die Zeit tut vieles, und man lernt sehr viel mehr kennen. Und so kommt es, daß sich dieser Abgrund in vielen Fällen überbrückt hat — in vielen Fällen. Was aber geblieben ist, ist, daß ich nie wieder nach Deutschland zurückkehren wollte. Ich habe mich niemals mehr dazu entschließen können, meinen Wohnsitz wieder nach Deutschland zu verlegen und unter Deutschen zu leben.

Ihre akademischen Lehrer waren Heidegger und Bultmann. Wo liegen aus Ihrer heutigen Sicht die Unterschiede? War es für Sie eine Enttäuschung, als Sie von Heideggers Freiburger Rektoratsrede hörten ...?

JONAS  Es war für mich eine grausame, eine bittere Enttäuschung, die sich nicht nur auf die Person bezog, sondern auf die Kraft der Philosophie, Menschen vor so etwas zu bewahren. Daß die Philosophie nicht die Kraft hatte, Heidegger vor diesem Irrweg zu schützen, empfand ich damals wie ein Fiasko der Philosophie. Welch ein Bankrott der Philosophie. Das durfte nicht sein. Alles Mitläufertum, alles Umfallertum, alle Gleichschalterei konnte man als dumm oder feige anführen ... Aber daß der bedeutendste, originalste Denker meiner Zeit da mitmachte, war ein ungeheurer Schlag für mich.

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Heidegger und Bultmann haben beide auf Sie gewirkt?

J:  Gedanklich hat Heidegger zweifellos den größeren Einfluß gehabt. Er war auch eine viel gewaltigere Figur in der Geistesgeschichte als Bultmann. Bultmann war ein hoch zu achtender Neutestamentier, aber was die Originalität des Denkens anbelangt, war Heidegger ein Bahnbrecher, Heidegger hat Neuland erschlossen, das kann man von Bultmann nicht sagen. Und Bultmann geriet ja selber sehr stark unter den Bann Heideggers und hat sich ihm philosophisch gewissermaßen unterworfen. Er hat die Heideggersche Existentialanalyse ganz akzeptiert und für sich fruchtbar zu machen versucht... für die Hermeneutik des Neuen Testaments. 

Aber Bultmann war ein sehr viel edlerer Mensch als Heidegger, ein sehr viel reinerer. Bultmann hat auch absolut zu mir gehalten, zu mir, seinem jüdischen Schüler, was eine paradoxe Sache war. Hier erscheint jemand in seinem neutestamentarischen Seminar, der nicht Theologe ist, der nicht Christ ist. aber Bultmann hat Gefühle väterlicher Freundschaft für mich gehabt. Außerdem verdanke ich ihm das Thema meiner späteren philosophischen Forschungstätigkeit, nämlich die Gnosis. So kam es zu dem eigenartigen Weg, daß ich bei Heidegger über ein Thema meine Doktorarbeit schrieb, das ihm selbst sehr wenig bekannt war... Aber das war damals in Marburg eine Abmachung zwischen Heidegger und Bultmann.

Wenn Sie über Bultmann sprechen, hört sich das sehr warm und freundschaftlich an. War Heidegger kälter?

J:  Es war sehr schwer zu sagen, was Heidegger eigentlich fühlte. Natürlich, das, was er vom Katheder zu sagen hatte, das hörte man ja und versuchte es zu verstehen so gut man konnte und lernte ungeheuer davon. Was aber eigentlich in seinem Inneren vor sich ging, darüber war man sich nie ganz klar.

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Auch menschlich nicht. Also: wie steht der eigentlich zu einem? Ja, er war menschlich neugierig, er hörte ganz gerne, was mit anderen los ist, er fragte einen auch schon mal aus... Wie war Heidegger? Man wußte nicht so recht. Irgendwie hatte man das Gefühl: er lebte eben in seiner Gedankenwelt und ließ das Persönlich-Menschliche seiner Studenten nicht so recht an sich herankommen. Aber ich bin dessen nicht sicher. Er war sehr verschlossen.

War es für Sie eine Erfahrung, die in diese Richtung der Kälte ging, als Sie nach dem Krieg Heidegger wieder begegnet sind?

J. Als sein 80. Geburtstag nahte, da hatte ich das Gefühl: Ich möchte eigentlich nicht, daß der Tod hier einschreitet, bevor ich den Mann noch einmal gesehen habe, der so viel in meinem Leben bedeutet. Es war ein großer Kummer für mich. Aber andererseits habe ich nie aufgehört, das hoch zu werten, was ich von Heidegger gelernt hatte.

 

Wenn man über Hans Jonas spricht, fällt einem sogleich auch der Name von Hannah Arendt ein. Was hat sie Ihnen bedeutet?

J:  Sie war die beste Freundin, die ich je gehabt habe — und sehr lange. Ein Jahr vor ihrem Tod — ich war damals gerade in Israel — habe ich ihr ein Telegramm zum 50. Jahrestag des Beginns unserer Freundschaft geschickt ... übrigens ein Telegramm auf lateinisch ... Wir waren sehr nah und eng befreundet. Wir hatten nie ein Liebesverhältnis. Aber eine wirkliche Freundschaft, die einmal einen schweren Schock erlitt durch ihr Eichmann-Buch, das ich ihr sehr übelnahm, wo eine Zeitlang die Beziehung abbrach, aber dann wieder aufgenommen wurde. Sie war die bedeutendste Frau, die ich je gekannt habe.

War sie für Sie eine Mitdenkerin?

J:  Durchaus nicht. Wir gingen verschiedene Wege und zeigten uns nie unsere Arbeiten. Die einzige Ausnahme: Ich hatte ihr ein wichtiges Kapitel des "Prinzips Verantwortung" gezeigt, und nachdem sie es gelesen hatte, sagte sie zu mir: Soviel steht fest, Hans, das ist das Buch, das der liebe Gott mit dir im Sinne gehabt hat.

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"Das Prinzip Verantwortung", nach Jahrzehnten das erste Buch, das Sie wieder auf deutsch geschrieben haben, ... war das von Ihrer Seite eine Geste der Versöhnung?

J.  Nein, ich hatte ein großes Thema in Angriff genommen, das ich für ungeheuer wichtig hielt und legte Wert darauf, daß ich noch damit fertig wurde. Es war nur das Bewußtsein meines vorgerückten Alters, das mich zu der Entscheidung brachte, mich hier auf deutsch auszudrücken, weil es auf englisch zwei- bis dreimal so lange gedauert hätte.

Wie ist es zu diesem Versuch gekommen, eine Verantwortungsethik zu etablieren?

J.  Man brauchte sich ja nur umzuschauen, um zu erkennen, was geschah. Durch den Zustand der Welt, den man beobachten konnte. Es war nicht zu übersehen, daß die Folgen der Technik zweideutig zu werden begannen. Nachdem man ein Jahrhundert lang oder noch länger die Gewinne des technischen Fortschritts geerntet hatte, kam dann allmählich die Einsicht, daß das auch seine Kehrseite hatte. Mir wurde mehr und mehr klar, daß wir uns unter Umstanden unser eigenes Verderben bereiten... mit all dem Guten, was wir uns jetzt erlauben, auf Kosten der Zukunft... und daß man das eben nicht darf. Wir dürfen nicht das Leben künftiger Generationen belasten, indem wir uns jetzt einfach gehen lassen.

Aber diese Erkenntnis hatte in der Philosophie doch schon sehr viel früher auftreten müssen?

J:  Nicht eigentlich: Was das technische Wohlergehen, das wir uns bereiten, etwa der menschlichen Psyche antut und der menschlichen Moral — das ist eine Frage für sich. Da hatte man vielleicht schon früher seine Bedenken haben können. Aber daß es bedrohlich für den ganzen Haushalt der Erde ist, das trat doch erst in den Gesichtskreis, als die Großenordnungen so wurden, daß sie wirklich einen entscheidenden Einfluß hatten auf den Zustand der Biosphäre. Und das ist erst relativ jungen Datums. 

Die Diagnose ist die eine Seite des Buches, auch die Prognose, vor allem aber lag mir daran, darauf hinzuweisen, daß die marxistische Ideologie mit ihrer Vorstellung von einer durch Technik von Lebensnot befreiten Gesellschaft als Ideal nicht mehr haltbar ist. Das war Blochs "Prinzip Hoffnung". 

Daß wir hier bescheidener werden müssen, daß wir uns hier gewisse Rosinen nicht mehr leisten können, vielmehr Pflichten ganz neuer Art auf uns zukommen, das sollte dieses Buch auf philosophische Weise auseinandersetzen.

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