6. Mitleid allein begründet keine Ethik — Über Euthanasie und Ethik
<Die-Zeit>, Marion Dönhoff und Reinhard Merkel
detopia-vgl- Neuffer-1992
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D - Professor Jonas, Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel <Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation>. Warum brauchen wir eigentlich eine neue Ethik? Könnte man nicht meinen, daß wir mit den Zehn Geboten auskommen?
J: Also, mit denen allein ganz gewiß nicht. Sie sind ja nur das Rahmenwerk für eine Gesellschaftsordnung und für die persönliche Lebensführung. Eine Ethik muß ja eine Lehre darüber sein, wie man sich im Handeln verhalten soll. Alles Handeln hat mit der Wirklichkeit zu tun, ein großer Teil davon ist aufgenötigtes Handeln, weil wir in einer Welt leben, von der wir etwas wollen und die ihrerseits ihre Gesetze hat, mit denen man nicht einfach nach Belieben umspringen kann.
Wir befinden uns seit einiger Zeit in einer Situation der Wirklichkeit, die Anforderungen an uns stellt oder uns Handlungszwänge auferlegt, aber uns auch Möglichkeiten bietet, die es früher gar nicht gegeben hat. In dieser neuen Situation muß man die ethischen Pflichten neu bedenken. Das heißt nicht notwendigerweise, daß wir eine neue Ethik brauchen, aber sicher gibt es ein völlig neues Anwendungsgebiet für Sittlichkeit, für Pflicht und für das "Du sollst" und "Du sollst nicht". Eine solche neue Situation, eben die des hochtechnischen Zeitalters, erfordert eine neue ethische Besinnung.
D: Sie sagen, die Macht hat eine Größenordnung angenommen, die eben deshalb auch neue Verhaltensweisen erzwingt, weil wir auf vielen Gebieten Dinge machen können, von denen man früher nicht einmal träumen konnte. Was sollte der Kompaß sein für dieses neue Verhältnis von Verantwortung und Macht?
J. Macht — im Deutschen liegt das Wortspiel nahe: Macht ist die Fähigkeit zu machen, etwas durchzusetzen, die Welt zu ändern, sie nach seinen Wünschen zurechtzubiegen oder andere zu zwingen, dem eigenen Willen zu Willen zu sein. Infolgedessen sind die Formen und das Ausmaß der Macht und ihre neuen Arten schon an und für sich ein direkter Appell an die Verantwortung. Die Verantwortung ist die Komplementärseite der Macht. Verantwortlich sind wir für das, was wir tun. Und wir tun eben, was wir tun können. Wenn wir zum Beispiel Menschen ändern können durch genetische Eingriffe, übernehmen wir eine Verantwortung, die es früher nie gegeben hat, weil so etwas gar nicht möglich war. Darum müssen wir Überlegungen anstellen, die wir früher nicht anzustellen brauchten.
Jetzt befinden wir uns fast unversehens vor einer Möglichkeit, die enorme Konsequenzen haben kann. Und da ist es doch klüger — jedenfalls ist es sittlich geboten —, daß wir uns die Frage stellen: Was darf man, was darf man nicht, wie weit soll man gehen, oder wo soll man sich zurückhalten?
D: In all Ihren Betrachtungen, Vorträgen, Büchern spürt man immer die Sorge vor der Hektik dieses dynamischen Prozesses, der sich ohne ein bestimmtes Ziel immer weiter fortsetzt. Frage: Kann man sich vorstellen, daß dieser Prozeß — Forschung um der Forschung willen, die uns in Gebiete trägt, wo wir eigentlich gar nicht hin wollten — irgendwie gestoppt werden kann?
J. Die Frage ist: Können wir Herr der Technik werden, die wir selber geschaffen haben? Es ist da eine Art von eigener Dynamik in der technischen Entwicklung, die die Eröffnung von Wegen in bestimmte Richtungen dann dazu treibt, in der gleichen Richtung immer weiter zu gehen, so daß einem die freie Entscheidung aus der Hand genommen wird. In Goethes Gedicht "Der Zauberlehrling" ist das ja wunderbar dargestellt: "Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los." Und Ihre Frage ist nun: Können wir das in die Hand bekommen.
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In einer Gesellschaft des freien Unternehmertums und des freien Marktes, das heißt in demokratischen und liberalen Gesellschaften, ist es außerordentlich schwierig, sich ein Stoppen vorzustellen.
Meine pessimistische Theorie ist, daß das, was Weisheit und politischer Verstand nicht fertigbringen, vielleicht der Furcht gelingt. Wir erhalten Warnschüsse von der Natur, und ich hoffe, daß eine Serie von kleinen Naturkatastrophen uns noch so rechtzeitig zur Vernunft bringt, daß wir vor der großen Katastrophe bewahrt werden.
Dö: Das finde ich sehr einleuchtend. Wir haben gerade jetzt ein gutes Beispiel dafür, nämlich den Stopp der Rüstungsspirale, der auf einen Sachzwang zurückzuführen ist, den wahrscheinlich die Furcht genährt hat.
Me - Wenn wir uns nun fragen: Gibt es im medizinischen Bereich, über den wir reden wollen, ein Regulativ - einen Kompaß - für das, was man machen will? Gibt es eine Möglichkeit vorzusehen, daß man nur macht, was man wirklich verantworten kann, oder taumeln wir immer weiter diesem Irrlicht des Fortschritts - beispielsweise im Gen-Bereich - nach?
J - Das Grenzensetzen ist natürlich ungeheuer schwer, weil jeder medizinische Fortschritt ein neues Hoffnungslicht für eine bestimmte Gruppe von Leidenden ist. Es wäre schon grausam, wenn man sagte, man soll in einer bestimmten Richtung nicht weitergehen, weil sie zu gefährlich ist. Die Gefahr ist natürlich der Mißbrauch. Nun könnte es aber sein, daß gewisse Techniken schon an und für sich ein Mißbrauch sind. Ich würde dazu den Versuch zählen, die genetische Substanz des Menschen irgendwie ändern oder verbessern zu wollen. Es ist außerordentlich schwer, die Grenze zu ziehen zwischen bloßer Reparatur von Schäden und einer kreativen Umformung, Weiterformung. Die Gefahren sind so ungeheuerlich, daß es vielleicht besser ist, auf gewisse Fortschritte zu verzichten, die vielleicht für einige Leidensfälle Hilfe bringen könnten. Die entscheidende Frage ist: Was ist die Grundlage für das Votum "Man darf" oder "Man darf nicht"?
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In meinem Buch "Das Prinzip Verantwortung" habe ich versucht, darauf eine bestimmte Antwort zu geben: durch eine bestimmte philosophisch-metaphysische Besinnung auf letzte Grundlagen der Moral und der menschlichen Bestimmung. Der Religiöse braucht diese Besinnung nicht, aber ich halte es für nötig, die Ethik unabhängig zu machen von einem bestimmten Glaubensbekenntnis. Die Pflichten und Verantwortungen müssen sich so begründen lassen, daß auch der Atheist sie anerkennen muß. Es gibt letzte Tabus. Ein solches letztes Tabu ist zum Beispiel der Selbstmord der Menschheit, die Vernichtung durch einen atomaren Holocaust.
Auch kommt es darauf an, daß die Menschheit in einem menschenwürdigen Zustand und nicht auf einem verarmten und verwüsteten Planeten lebt. Warum eigentlich ist das eine Pflicht für uns alle? Zur Begründung läßt sich auf etwas zurückgreifen, was in der Philosophie einmal als "Metaphysik" seinen Platz hatte, was aber in Verruf gekommen ist, weil die neuzeitliche kritische Entwicklung der Philosophie nur noch Fragen erlaubt, die beweisbare und widerlegbare Antworten zulassen.
Es ist aber klar, daß es sich hier um eine Dimension handelt, in der es so etwas nicht gibt. Denn auf die Frage, ob es eine Menschheit geben soll oder nicht, ob es gar eine Welt geben soll oder nicht, kann man gewiß nicht Antworten erwarten, die sich — wie in den Naturwissenschaften — als richtig oder falsch beweisen lassen. Wohl aber kann man in der Besinnung darauf, was es heißt, ein Mensch zu sein, zu letzten Grundsätzen vorstoßen, in denen sich doch ein Konsensus vernünftiger und zur Verantwortung disponierter Geister finden läßt. Und wir sind zur Verantwortung disponiert, der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Verantwortung übernehmen kann für das, was er tut, und mit diesem Kann ist er auch schon verantwortlich. Infolgedessen ist das Aufzeigen einer solchen basalen Auszeichnung des Menschen im Gesamtbild des Seins bereits der Anfang einer Begründung unserer Pflicht gegenüber dem Ganzen. Und im jetzigen Augenblick ist es möglicherweise der Anstoß, um ein Gefühl dafür zu wecken, daß unser gegenwärtiges Tun uns vor letzte Entscheidungen stellt, die unter Umständen ein Herumwerfen des Ruders oder mindestens eine Beschränkung unserer Macht verlangen. Das wäre eine Art Grenzsetzung.
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Dö: Damit wären wir nun bei dem Thema, über das wir im Grunde reden wollten und das leider mit dem anstößigen Wort "Euthanasie" überschrieben ist.
Me: Halten Sie, Herr Jonas, die Diskussion über Euthanasie gerade angesichts des medizinischen Hintergrunds, über den wir jetzt gesprochen haben, für notwendig, für zulässig oder für verboten — jedenfalls hier in Deutschland?
J. Für verboten auf keinen Fall, ob geraten, ob ratsam, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls ist Deutschland der Ort der Welt, wo eine Diskussion darüber am allerschwierigsten ist. Die Voraussetzungen sind denkbar ungünstig, denn die Vergangenheit wirft so schreckliche Schatten auf dieses Thema, daß es hier anscheinend zu einer ruhigen, sachgemäßen Diskussion nicht kommen kann.
Ich war etwas erschrocken, als ich durch die ZEIT von der Art erfuhr, wie hier die Debatte geführt wurde. In der angelsächsischen Welt, in der ich nun seit Jahrzehnten lebe, kennt man diese Form der Diskussion nicht, die vergiftet ist von Unterstellungen und Beschimpfungen, von Verdächtigungen der Motive des anderen — bis hin zum Anwurf des Faschismus. Und wer so diskutiert, käme sehr schlecht dabei weg. Die Art, wie Singer hier zum Teil niedergeschrien worden ist oder es ihm verwehrt wurde, aufzutreten, hat mich bestürzt. Andererseits finde ich, daß es keine glückliche Wahl war, sich gerade an Herrn Singer zu orientieren. Denn er ist für mich in keiner Weise beispielhaft für die Art, wie man diese Frage behandeln sollte, philosophisch und kasuistisch und als ethisches Problem. Im großen und ganzen lehne ich sowohl seine Prämissen ab — oder halte sie jedenfalls für viel zu flach — wie auch seine Folgerungen. Aber ich könnte mich doch ruhig mit ihm darüber unterhalten. Anscheinend ist das hier in Deutschland nicht möglich.
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Wenn Sie also fragen, ob man über so was in Deutschlanddiskutieren soll oder nicht, so wurde ich folgendes sagen: Es ist fast unausweichlich, daß man darüber diskutiert. Indem Sie die Frage totschweigen, geht sie ja nicht weg. Es mußte diskutiert werden, aber in einem anderen Stil, als es hier geschehen ist Ich denke an ein Beispiel: Der Vertreter der Krüppelbewegung, Herr Christoph (ich nehme an, daß er selber ein Behinderter ist), hat seinen Diskussionsbeitrag mit der Feststellung eröffnet, daß Peter Singer ihm und anderen Krüppeln das Lebensrecht bestreite. Das ist einfach nicht wahr. Das ist eine totale Entstellung des Sachverhaltes. Ich meine, es gibt genug bei Singer, wogegen man polemisieren kann, aber ihm etwas unterzuschieben, was er nie gesagt hat und was auch gar nicht zu seiner Einstellung paßt, das sind unsaubere und häßliche Diskussionssitten, die mich, wie gesagt, bestürzt haben und mir zeigten, woran Deutschland immer noch zu tragen hat. Auch dies ist noch ein Preis, der für die Verbrechen, die geschehen sind, und für das Ungeheuerliche der Hitlerzeit gezahlt wird.
Während es doch darum geht, bei einer solchen Diskussion zu einem wirklichen Verständnis und Einvernehmen über die Sache zu kommen, wird hier etwas aufgeführt, was vom Problem ablenkt. Ich glaube, daß der ausländische Betrachter, wenn er diese Debatte verfolgt, den Kopf schüttelt und sagt: "Mein Gott, können denn die Deutschen nicht lernen, sich bei solchen Diskussionen gegenseitige Achtung zu erweisen und einander zu glauben, daß es ihnen um dasselbe zu tun ist; der jeweils andere mag im Irrtum sein, aber dann versuche man, ihm das zu beweisen." Der Ausländer, der so denkt, wurde freilich einen Irrtum begehen, wenn er meinte, das liege im deutschen Charakter oder in der deutschen Kultur, während doch in Wirklichkeit ein spezielles Erbe der Hintergrund dafür ist.
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Me. Ich möchte eine Frage zum Kernproblem stellen. Für den Bereich der Euthanasie wird üblicherweise unterschieden zwischen der sogenannten Moribunden-Euthanasie, also der Sterbehilfe für schwerstleidende, kranke Alte, und der sogenannten Neugeborenen-Euthanasie. Gibt es für Sie eine denkbare, legitimierbare, moralisch ausweisbare Möglichkeit für Euthanasie in einem dieser Bereiche?
JONAS Sie meinen jetzt aktive Euthanasie?
MERKEL Ja, aktive Tötung.
JONAS Sie ist eine in extremen Fällen möglicherweise zu rechtfertigende Form, von der ich aber dringend abraten würde. Denn das, worauf man sich dann einlaßt, kann zu einer Mißachtung gewisser Grundgesetze verleiten, die unbedingt geschützt werden sollten. Aber das muß ich ausführen.
Wollen wir erst einmal, weil die Frage einfacher ist, bei den Todkranken bleiben. Ich habe darüber in meinem Buch "Technik, Medizin und Ethik" einen Aufsatz geschrieben, der betitelt ist "Das Recht zu sterben" (ausführlicher: "Techniken des Todesaufschubs und das Recht zu sterben"). Der Artikel beginnt zunächst mit der Feststellung des Befremdlichen, daß man von einem Recht zu sterben überhaupt sprechen soll; denn alle bisherigen Diskussionen über Rechte und alle ethischen und juristischen Bemühungen um Rechtsbegriffe gingen zunächst immer von einem Recht zum Leben aus, einem Recht auf Glück oder ähnlichem, jedenfalls von einem Recht auf etwas Positives. Daß man überhaupt von einem Recht zu sterben sprechen kann, gehört auch zu den neuen Dingen, die durch die Entwicklung der ärztlichen Technik, also im Vollzuge der Erweiterung unserer Macht durch technische Apparate, erst möglich geworden sind.
Moribunde werden am Leben erhalten, über ihre eigene Entscheidung hinweg und oft auch gegen den Willen ihrer nächsten Angehörigen. Die Grunde dafür sind zum Teil vielleicht sehr ehrenwerter Art, zum Teil aber beruhen sie auch auf der Furcht vor gerichtlichen Folgen oder beruflichen Schaden. Die Verantwortung, den Stecker herauszuziehen, der den Koma-Patienten an der Atmungsmaschine halt — dieser Akt konnte ausgelegt werden als aktive Tötung. Ich versuche diesem schrecklichen Dilemma zu entgehen, indem ich, und andere haben das auch getan, zwischen aktiver Tötung und Zulassen des Sterbens unterscheide.
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Es gibt klar definierte medizinische Fälle des irreversiblen Komas, des Bewußtseinsverlustes, in denen das Sterbenlassen die einzig wirklich humane Handlung ist und die Unterbrechung einer Behandlung das Gebotene. Das führt aber zu den Grenzfällen, in denen schwer zu unterscheiden ist, ob man nur etwas unterläßt oder ob man in Wirklichkeit etwas tut. Da liegt die Grenze, wo es kritisch wird.
Peter Singers sehr frisch-fröhlicher Gedankengang ist folgender: Wenn man schon so weit geht, zu sagen, daß hier das Sterben besser für den Patienten selber ist als das Weiterleben unter diesen Umständen, ist es dann nicht konsequent, daß der Arzt die Sache in die Hand nimmt und mit einer Spritze den Prozeß beendet? Meine Antwort ist: ein unbedingtes Nein. Die Rolle des Tötens darf dem Arzt nie zufallen, jedenfalls soll das Recht es ihm nie anerkennen, denn es würde die Rolle des Arztes in der Gesellschaft gefährden, vielleicht vernichten. Das aktive Töten darf nicht zu den Berufsaufgaben des Arztes gehören, es darf ihm nicht in Erweiterung seiner bisherigen Rolle als Heiler und Milderer von Leid zufallen. Nie darf ein Patient argwöhnen müssen, daß sein Arzt sein Henker wird.
Der Arzt darf nicht töten; darf es jemand anders?
Meine Antwort ist, daß dies ein Gebiet ist, für das sich keine rechtlichen Regeln aufstellen lassen. Der liebende Ehegatte oder die liebende Ehegattin, wissend um die Qualen des Partners, kann es riskieren, eventuell mit drohender Gefängnisstrafe die Leiden zu verkürzen. Darüber kann man aber keine Regeln aufstellen. Ich sage nur, dies ist eine Möglichkeit, die der Liebe und der Entscheidungsfähigkeit und -willigkeit dieser Personen offensteht. Das kann man aber nicht in einen allgemeinen Kodex binden.
Ich will, um das zu illustrieren, eine Episode erzählen, die sich kürzlich in Amerika zugetragen hat. Sie hat die Aufmerksamkeit der ganzen Nation erregt. Es war ein Fall in Chicago. Ein Kind wurde geboren mit schrecklichen Geburtsfehlern.
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Die Eltern wurden vom Arzt aufgeklärt, daß es da gewisse lebensrettende Operationen gebe, die zwar nicht zu einer Behebung dieses Geburtsfehlers — eines höchst pathologischen Zustandes — führen, aber dem Kind doch eine gewisse Zeit des Lebens verschaffen, während es andernfalls in kurzer Zeit sterben würde. Aber Vater und Mutter sprachen sich gegen die Behandlung aus. Vom Hospital wurde durch Intervention (sie kommt häufig vom Pflegepersonal) eine einstweilige Verfügung erwirkt; eine Art staatlicher Vormund wurde für das Kind eingesetzt, da die Eltern dessen Leben nicht wollten. Die Operation wurde vorgenommen. Es folgten mehrere Eingriffe, das Kind litt schrecklich. Die Eltern besuchten es immer wieder, protestierten immer wieder gegen die Fortsetzung der Behandlung, und dann, nach etwa sechs Monaten, erfuhren sie, daß das Hospital das Kind in ein anderes Krankenhaus, fern von Chicago, überweisen wollte, das eine gewisse Spezialbehandlung entwickelt hatte.
Daraufhin erschien der Vater im Hospital in der Intensivstation, zog einen Revolver aus der Tasche, hielt das Personal in Schach, trennte das Kind vom Beatmungsgerät, nahm sein Söhnchen weinend in die Arme, während der ganzen Zeit den geladenen Revolver auf die Pfleger und Ärzte gerichtet. Als das Kind in seinen Armen gestorben war, umarmte er es schluchzend und lieferte die Pistole aus. Natürlich folgte die Anklage wegen vorsätzlicher Tötung, er wurde jedoch durch die Jury von allen Anklagepunkten freigesprochen und nur eines einzigen Vergehens für schuldig befunden: des unbefugten Waffenbesitzes — unter dem Beifall von, wie man sagen kann, neunzig Prozent der amerikanischen Nation. Dies als ein Beispiel für das, was möglich ist und was man nicht in irgendein Gesetzbuch schreiben kann. Dem Arzt die Erlaubnis zu geben zu töten, würde ich für verderblich halten.
D. Sie haben vorhin in einem anderen Zusammenhang den Unterschied gemacht zwischen religiös bestimmten Menschen und Atheisten. Bedeutet die passive Tötung, also das Herausziehen des Steckers, für den religiösen Menschen etwas anderes als für den Atheisten? Der religiöse Mensch müßte doch eigentlich das, was Gott einem Gebrechlichen an Leiden zugemessen hat, akzeptieren. Ist das ein Gesichtspunkt oder nicht?
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J. Nein, das ist deswegen kein Gesichtspunkt, weil ja dem Willen Gottes sowieso schon in den Arm gefallen worden ist durch die Atmungsmaschine selber, ohne diese wäre der Patient schon gestorben. Es ist eher umgekehrt. Was ein Recht gibt, diese Frage überhaupt zu erwägen, ist ja nur dadurch entstanden, daß es hier möglich geworden ist, durch Intervention mit Apparaten und Medikamenten Lebenszustände aufrechtzuerhalten, die von der Natur nicht vorgesehen sind. Also ist die Frage von der religiösen Seite her umgekehrt. Jehovas Zeugen oder auch die Christian Scientists würden schon die Anwendung des Atmungsgeräts als Frevel, als unreligiös ansehen. Also: Religion kann dazu führen, daß man so oder so entscheidet. Es ist, soviel ich weiß, nur die christliche Religion, die den Selbstmord als Sünde ansieht.
Me: Herr Jonas, noch mal die Frage: Wie ist das mit der ethischen Relevanz der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Tötung? Kann es denn in gewissen Fällen überhaupt eine ethisch bedeutsame Unterscheidung sein, ob der Tod durch Unterlassen oder durch aktives Tun verursacht wurde und also jedenfalls verantwortet werden muß? Und die zweite Frage: Es gibt doch Fälle, wo es ersichtlich humaner ist — oder jedenfalls sein könnte —, den Tod schnell herbeizuführen. Wenn ich an Ihr Beispiel von dem schwerkranken Neugeborenen denke, dem der Vater endlich mit Waffengewalt zum Sterben verhalf — dieses Neugeborene ist ja sechs Monate gequält worden, obgleich die Ärzte wußten, daß es jedenfalls in absehbarer Zeit sterben würde. Wäre es da nicht humaner gewesen zu sagen: Da der baldige Tod feststeht, unweigerlich feststeht, wollen wir ihn schnell und schmerzlos herbeiführen, anstatt ihn langsam und quälend eintreten zu lassen?
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J: Das hört sich sehr logisch an, aber es steckt ein Fehler darin. Es ist richtig, die Grenze zwischen aktiver und passiver Euthanasie ist fließend. Ein gutes Beispiel — ich spreche im Moment vom moribunden Patienten, kehre dann aber zum Kinder-Beispiel zurück — ist: Der quälende Tod eines Krebskranken kann abgekürzt werden, indem ihm die Qual, soweit wie möglich, durch Drogen erleichtert wird. Die Dosierungen der schmerzstillenden Mittel, die da nötig sind, sind solche, die man in einem hoffnungsvolleren, also in einem Fall, der nicht unbedingt mit dem Tode enden muß, nicht anwenden dürfte, weil die schmerzstillenden Mittel selber Agenzien sind, die den Tod beschleunigen. Hier ist die Grenze also zwischen Erleichterung, Milderung der Schmerzen und Tötung fließend.
Dennoch ist es ein Unterschied, ob ein Arzt oder zwei Ärzte oder der Arzt mit den Angehörigen zusammen beschließen, daß der Patient mit der Spritze getötet werden soll oder ob die Maxime des Handelns ist, dem Sterbenden die Schmerzen zu erleichtern. Es ist ein Unterschied, ob der Arzt sagt, der Patient soll so wenig wie möglich leiden, ich gebe jetzt dieses Schmerzmittel (Morphium oder welches Schmerzmittel auch immer) in größeren Dosen und in kürzeren Abständen, als ich es in einem noch hoffnungsvollen Fall, in einem Fall, der noch Aussicht bietet, tun dürfte. Aber das ist doch etwas anderes, als die Verabfolgung einer Spritze zum Zweck des Tötens.
Obwohl die Grenzlinie hier etwas verwischt ist, ist es doch von Wichtigkeit, daß im zweiten Fall die direkte Absicht des Tötens sozusagen in das Arsenal des Arztes wie eine Routinehandlung eingereiht wird. Der Arzt kann vieles machen: heilen, erleichtern, mildern. Aber das Töten darf nicht dazugehören. Wenn erst das Töten zu den Rechten und Pflichten des Arztes gehört, in die Standesethik und in das Gesetzbuch aufgenommen wird, dann stellt dies ein verhängnisvolles Abweichen von der bisherigen Auffassung des ärztlichen Berufsbildes dar.
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D. Wenn in diesem Beispiel sich der Arzt bewußt ist, daß er hilft, den Tod herbeizuführen, dann frage ich mich, was der Unterschied ist zwischen dieser Art Mithilfe und der, den Stecker herauszuziehen?
J. Den Stecker herauszuziehen — wo das verlangt wird, bin ich auf jeden Fall dafür. Es handelt sich dabei gewöhnlich um eine Herz-Lungen-Maschine, etwas, was die Blutzirkulation und die Atmung aufrechterhält; der Patient hat gar nicht mehr die eigenen physischen Mittel, die Atmung noch in Gang zu halten; diese ist vom Gehirn her völlig gelahmt, er wird also von außen zu der Atmung genötigt. Wenn man jemandem über eine Krise hinweghilft, ist das richtig, aber dies als die permanente Bedingung des künstlichen Welterlebens dem Patienten aufzuzwingen, erscheint mir unstatthaft, nicht nur aus Mitleid, sondern um der Wurde des Menschen willen. Es ist in einem konkreten Sinne sinnlos. Also ist der Abbruch der Behandlung, nachdem einwandfrei festgestellt ist, daß mit einer Wiederkehr des Bewußtseins nicht zu rechnen ist, etwas anderes, als die Verabfolgung einer tödlichen Spritze.
Wenn der Organismus in einer Verfassung ist, die erfordert, daß man ihn auf diese Weise töten muß, dann ist das an und für sich schon ein Grund dagegen, es zu tun. Es gibt eine ganze Sammlung von Fällen, die zeigen, wie kompliziert dieses Gebiet ist. Ein berühmter Fall ist der der Karen Quinlan in Amerika. Da haben die Eltern einen richterlichen Beschluß erwirkt, die Tochter vom Atmungsgerät abzukoppeln. Als man das tat, begann spontane Atmung einzusetzen, und sie hat dann noch acht Jahre weitergelebt, oder vielmehr vegetiert, bewußtlos, künstlich ernährt. Für einen neuen richterlichen Beschluß, der gesagt hatte, man kann auch die Ernährung einstellen, hat sich kein Richter mehr gefunden. Karen Quinlan ist dann schließlich gestorben. Man sieht, auch Prognosen von großen Spezialisten können falsch sein. In diesem Fall hatte jeder gedacht, mit der Abschaltung der Maschine sei das Leben zu Ende.
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Es gibt, wie gesagt, fließende Übergänge, die sich schwer fassen lassen in Unterscheidungen. Aber in diesem Fall ist die Unterscheidung zwischen Abbruch der Behandlung und aktiver Tötung doch von Bedeutung. Denn generell kann man schwer sagen, ob die junge Frau gelitten hatte oder nicht, wenn man sie durch Austrocknung, durch Verhungern, hatte sterben lassen. Wir wissen es nicht. Es gibt nicht auf alles eine Antwort. Ihre Andeutung, daß es vielleicht keinen Unterschied zwischen dem Sterbenlassen und dem Töten durch einen darauf ausgerichteten, einmaligen Eingriff gibt, halte ich trotz der fließenden Grenzen für unstatthaft.
M. Ich meine, wir müssen auch die Konsequenzen bedenken, die wir uns in bestimmten Fallen damit einhandeln, daß wir sagen: Sterbenlassen, ja; Töten, nein. Sie haben das Stichwort Dehydration — Austrocknung — gebraucht. Es gibt Fälle schwerstleidender und schwerstbehinderter Neugeborener, bei denen die Ärzte wissen, daß es keine Überlebenschancen gibt. Aber es mag eine gewisse Möglichkeit der Lebensverlängerung um Tage, Wochen, manchmal Monate bestehen, wenn man schwere Operationen durchführt. Dann wird in solchen Fällen — wenn beispielsweise das Kind zudem keinen Darmausgang hat — die Operation unterlassen, und man läßt das Kind sterben, hier dann eben durch Verhungern.
Nun sagen manche, unter anderem auch Singer: "Das ist ein grausamer Tod. Ihr haltet euch fern von dem tabuisierten Bereich der aktiven Tötung; dafür gibt es gute Gründe. Aber ihr Ärzte müßt dann sehen, daß für die Reinhaltung dieses Tabus ein grausamer Preis gezahlt werden muß — wenn auch Gott sei Dank nur in Extremfällen. Doch nicht ihr zahlt ihn, sondern das leidende, sterbende Neugeborene." Zugespitzt: Würden Sie sagen, dieser Preis muß in Kauf genommen werden, damit nicht das gefährliche Terrain der erlaubten aktiven Tötung eröffnet wird?
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J. Ja, meine Antwort ist: ja. Dieser Preis muß in Kauf genommen werden. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber eine auf Mitleid allein gegründete Ethik ist etwas sehr Fragwürdiges.
Denn was da an Konsequenzen drinsteckt für die menschliche Einstellung zum Akt des Tötens, zum Mittel des Tötens als eines routinemäßig zu Gebote stehenden Weges, gewisse Notlagen zu beenden, was sich da auftut für eine, um es mal ganz scharf zu sagen, progressive und kumulative Gewöhnung an den Gedanken und die Praxis des Tötens, das ist unabsehbar. Da steht so viel auf dem Spiel, daß das Leiden des Säuglings dagegen nicht aufkommt.
Man darf sich nicht vom Gesichtspunkt einer Mitleidsethik bestimmen lassen, sondern nur von der Verantwortung für die Folgen, die aus unserer Einstellung resultieren, aus unserer Bereitschaft, unserer Willigkeit zu erwagen, hier und da das Mittel des Tötens zu gebrauchen. Damit soll man und darf man gar nicht anfangen. Das ist meine Einstellung, aber ich habe Verständnis dafür, wenn jemand anders entscheidet.
M. In der juristischen Diskussion wird das gern als das Dammbruch-Argument bezeichnet. Es konnte aber in der Situation eines strikten und ausnahmslosen Verbotes der aktiven Tötung einerseits und einer Legalisierung des Sterbenlassens andererseits einen anderen bedenklichen Gewöhnungseffekt geben, nämlich den Abstumpfungseffekt gegenüber dem Leiden. Halten Sie es für möglich, daß das häufige Zusehenmüssen, wie jemand qualvoll stirbt, einen Gewöhnungseffekt der Erbarmungslosigkeit mit sich bringt, der ebenfalls gefährlich sein konnte?
J. Eigentlich spricht die Erfahrung dagegen. Was Sie sagen, klingt ganz plausibel, es konnte so sein. Die allgemeine Erfahrung spricht dagegen. Nicht einmal in den Schlachten des Ersten Weltkrieges war das so: Die Zahl der Opfer war ]a ungeheuer groß, und die Kameraden mußten immer wieder sehen, wie andere zerfetzt wurden. Trotzdem ist mir weder aus den Erinnerungen von Soldaten noch aus der Literatur bekannt, daß das zur Abstumpfung geführt hatte. Es ist schon möglich, natürlich, aber die Unempfindlichkeit gegenüber menschlichem Leiden entsteht gewöhnlich nicht aus dem Anblick, sondern aus dem Gar-nicht-Hinschauen.
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Sowohl das Töten wie das Sterbenlassen haben ihre finstere Seite. Was ist hier das schlimmere, was ist das geringere Übel? Ich wurde sagen, die Zumutung eines über eine Woche oder langer sich hinziehenden Todes ist immer noch besser, als mit der Praxis zu beginnen, neugeborene Kinder einfach umzubringen. Das Ganze ist ja ein schreckliches Unglück, es fragt sich nur, was die allgemeine Dimension der Sittlichkeit gebietet, was man unbedingt vermeiden soll und was man noch hinnehmen kann.
Noch eine andere Frage drangt sich auf. Was eigentlich berechtigt uns, einem Wesen, indem wir es in die Welt setzen, das Dasein zuzumuten — einem Wesen, das sich an der Wahl nicht hat beteiligen können? Es gibt im Zeugen und Hervorbringen eines Kindes eine Art Urschuld. Denn nicht nur schenken wir dem Kinde das Dasein, wir erlegen es ihm auch auf — ungefragt. In der Voraussetzung, daß dieses sein eigenes Leben wollen wird, daß wir also ein Leben m die Welt setzen, das sich selber bejaht. Das ist in einem gewissen Sinn eine ungeheure Präsumtion. Jeder muß darauf gefaßt sein, auf diesen Schrei, der aus dem Munde des Propheten Jeremias gekommen ist: "Mutter, warum hast du mich geboren?" Die Antwort darauf kann nur sein: Weil es die Ordnung der Dinge in der Natur so will, daß es nur unter dieser Bedingung Menschen geben kann: allein mit diesem Wagnis, daß man sie eben zum Menschsein nicht nur befähigt, sondern auch verurteilt.
Die Bürde des Daseins ist groß, und vielleicht waren die Menschen, um die es sich am meisten gelohnt hat, manchmal die unglücklichsten. Ich erinnere mich, wie ich einmal Martin Buber fragte, wie denn Kafka, den er persönlich kannte, gewesen ist. Er antwortete mir, und das werde ich nie vergessen: "Ich kann eins sagen, er war der unglücklichste aller Menschen, die mir je vorgekommen sind." Trotzdem hat sich sein Dasein gelohnt — ein schreckliches Wort, ich meine, es war wirklich der Mühe wert. Ich will die Frage einmal umkehren.
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Nicht was wir dem Säugling zu seinem Weiterleben schulden — das ist die positive Verantwortung —, sondern wie weit wir gehen dürfen mit der Zumutung des Daseins an das von uns gezeugte Kind, ist hier das Problem. Da gibt es Grenzen um dieses Wesens selbst willen, wo man sagt: Nein, dazu dürfen wir es nicht verurteilen, und deswegen achten wir nicht nur das Recht zu leben, sondern wir müssen auch ein Recht zu sterben achten. Trotzdem dürfen wir das nicht auf dem Wege der aktiven Tötung tun, und zwar aus den Gründen, die ich dargelegt habe. Eine solche Gewöhnung würde eben jene Dammbruch-Situation schaffen. Aber es gibt Grenzen für das, wozu wir ein solches Wesen verurteilen dürfen, und darum könnte das Sterbenlassen wirklich ein sittliches Gebot sein.
Dö: Ja, mit leisem Zweifel. Wie kann ich das Unrecht so definieren, daß ich bei hin- und herschwankendem Gefühl zu einem Maßstab für mein eigenes Urteil kommen kann?
J. Die Frage ist sehr berechtigt. Ich habe bei dem, was ich vorhin gesagt habe, vorausgesetzt, daß es sich um Extremfälle handelt, wie sie in der Literatur vorkommen, wie sie in Ihrem Dossier geschildert und wie sie in Peter Singers Buch berichtet werden. Bei Extremfällen zu einem Befund zu kommen ist relativ leicht. Es gibt dann aber immer auch die Schattenzonen, in denen die Frage berechtigt ist: Wo nimmst du eigentlich den Maßstab her zu sagen, das ist nicht mehr "lebenswert" oder das ist noch "lebenswert"? Antwort: Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es zuviel verlangt, daß es hier solch eindeutige Kriterien geben soll. Letzten Endes wird dann eine Intuition und die Imagination der einzelnen Person eine Rolle spielen, und eben auch da waren wir wieder auf einem Gebiet, wo es unmöglich ist, eine allgemeine Regel aufzustellen.
Me: Sie haben gesagt, Herr Jonas, man mußte sich in bestimmten Fallen auch die Frage stellen: Wieviel dürfen wir dem Neugeborenen auferlegen, wozu dürfen wir es verurteilen? Damit kommen wir in die Nahe dessen, was mit einem schwer vorbelasteten Begriff als "lebensunwert" bezeichnet wird. Zwei Fragen dazu: Können wir die zugrundeliegende sachliche Überlegung: Ist dieses Leben noch irgendwie wünschbar — und zwar für den, der es leben muß — überhaupt vermeiden? Und die zweite Frage: Sollten wir dann nicht wenigstens das schwer desavouierte Wort "lebensunwert" vermeiden?
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Jo: Die Vokabel. Ja, die muß man wahrscheinlich vermeiden, weil sie eine rationale und abwagende Diskussion beinahe unmöglich macht. Wenn ich die Frage stelle: Wieviel dürfen wir auferlegen, bis zu welchem Grade ein Wesen zum Leben zwingen, wenn es dazu verdammt ist, ein total verkümmertes Leben zu fuhren, das es sich nie gewählt hatte, dann kommt natürlich der Begriff des "nicht lebenswert" hinein, aber für wen, "nicht lebenswert" für wen? Der Begriff ist belastet, erstens durch seine Vorgeschichte und zweitens durch seine Zweideutigkeit.
Sie haben in Ihrem Dossier, glaube ich, auch das Buch von Hoche und Binding, "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", erwähnt und das, was dann später die Nazis daraus gemacht haben. Aber schon bei Hoche und Binding war ein Grundirrtum im Gebrauch dieses Begriffes, denn der Gesichtspunkt, unter dem Wert oder Unwert gemessen wurde, war, wenn ich nicht irre, der der Gesellschaft. Auch wenn die Gesellschaft nicht Rasse genannt wird oder Volksgemeinschaft oder ähnlich, so ist eben doch nicht das Subjekt selber im Mittelpunkt, sondern etwas anderes. Es kann auch der Staat sein: "Der König braucht Soldaten!" Aber bei "lebensunwert" kann und darf nur gemeint sein: nicht wert zu leben für dieses Wesen selber. Die Gesichtspunkte, es koste soviel, es zu erhalten, und so große Anstrengungen seien nötig, und für welche besseren Sachen konnte man das Geld ausgeben ... — sie dürfen keine Rolle spielen.
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M. Mich überzeugt das vollständig, was Sie da sagen. Nun wird aber oft folgendes eingewendet: Ob das bevorstehende, nach allen unseren Kriterien grauenvolle Leben des Neugeborenen für dieses Wesen selbst ein noch wünschbares oder nicht mehr wünschbares Leben ist, das können wir niemals wissen. Gibt es denn für Sie Fälle, wo die Frage trotzdem von außen beantwortbar ist, obwohl man sich im strikten Sinne nie in ein anderes Wesen versetzen kann?
J. Ja, aber eben auch wieder nur für Extremfälle. Bei dem in dieser Debatte erwähnten Beispiel des Säuglings, der unaufhörlich schreit, ist doch wohl klar, daß dieses Schreien ein Protest gegen die Qualen ist, die er erleidet. Das ist ein klarer Fall. Aber wir haben es ja nicht nur mit solchen Extremfällen zu tun. Sobald sich eugenische Gesichtspunkte einmischen, wird die Sache überaus gefährlich.
Man stelle sich vor, man kann durch pränatale Diagnose feststellen, daß das Kind Epileptiker sein wird. Epilepsie ist ein Unglück für das Geschöpf selber und auch für die Umwelt. Machten wir dies zum Kriterium für Abtreibung oder Infantizid, hätten wir keinen Dostojewski gehabt. Das Glück zum Maßstab zu machen ist überhaupt ein sehr bedenklicher Weg — denken Sie daran, was Buber mir über Kafka sagte.
Ich habe mich gegen die aktive Tötung ausgesprochen. Ich würde auch sagen, daß man das Sterbenlassen ebenfalls sehr sorgfältig einhegen muß und es nicht dazu ausarten lassen darf, daß schließlich die Wünsche der Eltern, welche Sorte Kind sie haben wollen, mitsprechen. Da gibt es ein Beispiel bei Singer: Eine Mutter ist Trägerin des Gens der Hämophilie, es vererbt sich nur durch den männlichen Nachwuchs. Das Elternpaar hat ein Kind ohne Hämophilie, ein Mädchen. Nun kommt ein Junge zur Welt, und jetzt kommt die Überlegung von Singer: Da die Eltern entschlossen sind, nicht mehr als zwei Kinder zu haben, wurde das Lebenlassen dieses Bluterkindes die Möglichkeit ausschließen — die rein statistisch sehr gut ist —, daß das nächste Mal, wenn die Mutter wieder schwanger wird, ein Kind ohne Hämophilie zur Welt kommt.
Also ist im Sinne des Interesses aller Beteiligten, das Bluterkind umzubringen, damit die Frau es von neuem versucht. Singer merkt nicht einmal, daß ein schon vorhandenes Leben natürlich einem erst eventuell möglichen vorgeht. Dies sind unsinnige und leichtfertige Überlegungen, Singer nennt das Präferenz-Utilitarismus, das ist Unsinn. Denn das Recht des schon lebenden Kindes ist natürlich unveräußerlich.
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M: Singer sagt, daß das Neugeborene an sich kein eigenes Recht habe, denn er bindet das Recht auf Leben nicht an die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, sondern an Personenkriterien. Was Singer aber nach meiner Überzeugung falsch sieht, ist, daß auch eine potentielle menschliche Person, also etwa ein Säugling, ein eigenes, nicht bloß abgeleitetes Recht auf Leben haben muß. Was meinen Sie dazu?
J. Sie haben ja die Antwort gegeben. Das Kind ist uns doch anvertraut als etwas, was sich zur Personhaftigkeit unter unserer Obhut entwickeln soll. Ihre Einführung der Potentialität beantwortet die ganze Frage. Selbstverständlich ist das Neugeborene noch keine Person, aber es hat schon alle Anlagen und den Drang dazu. Wenn man beobachtet, wie sich das bei Kindern entwickelt, das ist doch das Aufregendste und Großartigste, was man überhaupt sehen kann: daß das Kind wirklich nach den Möglichkeiten des Spracherwerbs greift. Ein ungeheuerlicher Prozeß, was da zwischen erstem und zweitem Lebensjahr vor sich geht, die Syntax wird gemeistert, man stelle sich das vor, in einem so jungen Gehirn!
Die Diskussion dieser Frage in Begriffen von Recht scheint mir überhaupt verfehlt zu sein. Wir sorgen für das Neugeborene nicht, weil es Rechtsansprüche an uns hat, sondern weil es ein Existenzrecht hat, das wir achten müssen. Selbstverständlich ist es auch schon ein Rechtssubjekt (zum Beispiel in Erbschaftssachen), das eine Vertretung braucht, solange es sich selber noch nicht vertreten kann.
Aber was da allem vorangeht, ist zunächst ein ganz einseitiges Verhältnis der Verantwortung gegenüber einem werdenden Menschen, es ist vor allem Verantwortung und nicht die Respektierung seines Rechtes — die kommt später. Was zuerst da ist, ist etwas viel Elementareres und Fundamentaleres: die wirkliche Sorge um ein uns anvertrautes Leben.
Es ist uns als Pflicht auferlegt, leicht gemacht durch die Liebe. Ein Rechtsfall wird es bei gröblicher Mißachtung dieser Pflicht: Dann muß "das Gesetz" zum Schutze des Kindeswohles einschreiten. Dieser Schutz — um noch einmal zur Euthanasie-Frage zurückzukehren — schließt auch das gesetzliche Verbot der Tötung ein, und dabei sollte es bleiben — trotz der quälenden, humanitär drängenden Grenzfälle.
Öffentliches Recht und die viel persönlichere Sittlichkeit können nie zu vollkommener Deckung gebracht werden. Zuletzt und im Äußersten werden wir auf die einsamen Entscheidungen der Liebe zurückgeworfen, die selbst dem Gesetz zu trotzen wagt, aber hoffen darf, daß auch das verletzte Recht so gnädig urteilt, wie es der Bestand der Rechtsordnung erlaubt. Mit diesem ungelösten und unauflöslichen Rest in der Euthanasie-Frage — dem Verzicht also auf eine eindeutig regelnde ethische Antwort — müssen wir uns, so glaube ich, in Demut abfinden.
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