7. Ohne Opferbereitschaft gibt es wenig Hoffnung
<Stern>, Christine Claussen und Heinrich Jaenecke
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S -Herr Professor Jonas, für Sie als Philosoph sei heute nicht mehr die Lust des Erkennens das Hauptmotiv Ihres Denkens, schrieben Sie einmal, sondern die Furcht vor dem Kommenden, die Furcht um den Menschen. Ist der Mensch durch die Technik sich selbst zur größten Gefahr geworden?
J: Ich kritisiere nicht die Technik oder die technische Zivilisation als solche. Ich halte sie nicht für eine unerlaubte menschliche Verirrung. Aber ich bin Diagnostiker und Prognostiker — einer, der zeigt, was vor sich geht und wozu es führen kann. Da muß man auch Rolle des Unheilpropheten spielen. Denn wir dürfen uns und unsere Nachkommen nicht in eine Situation bringen, aus der es kein Aus und Ein mehr gibt. -- Die technische Zivilisation trägt die starke Tendenz in sich, ins Maßlose und Unkontrollierbare auszuarten. Hier sind wirtschaftliche und andere Kräfte am Werk, die die Sache vorantreiben und sie uns aus der Hand nehmen. Wir befinden uns in einer Art Notstand, einer klinischen Situation, an einem Krankenbett. Und dabei sind wir Patienten und Ärzte zugleich.
S - Sie sagen: »Wir haben es in der Hand, die Schöpfungsabsicht zu vereiteln; und wir sind vielleicht kräftig dabei, es zu tun.« Wo sehen Sie in dieser Entwicklung die größten Gefahren?
J: Das läßt sich nicht so leicht auf einen Nenner bringen. Ohne Zweifel ist die nukleare Gefahr da. Atombomben werden gebaut, um den größtmöglichen Schaden anzurichten. Aber ich richte meine Aufmerksamkeit mehr auf Dinge, die wir nicht mit böser, nicht mit Zerstörungsabsicht, sondern unschuldig tun. -- Die chemischen Düngemittel zum Beispiel werden zu einem wohlmeinenden Zweck geschaffen und angewandt, nämlich um den Ertrag der Landwirtschaft und die menschliche Ernährung zu verbessern. Diese friedfertige Technik ist viel schwerer unter Kontrolle zu bringen, weil sich zu viele unterschiedliche Interessen damit verbinden.
S - Ist dieses System denn überhaupt aus sich heraus reformierbar? Führt das wirtschaftliche und technische Leistungsprinzip nicht zu einer immer größeren Ausplünderung des Planeten?
J: Ja, eine solche Dynamik ist am Werk. Wenn man diese Entwicklung sich selbst überläßt, wird es eine Regulierung nur über Katastrophen geben.
S - Heißt das, wir dürfen nicht alles, was wir können?
J: Ja. Und auch unser Konsumappetit darf nicht mehr ständig wie bisher steigen. Wir werden uns in unserem Lebensstandard etwas bescheiden müssen. Ohne Opferbereitschaft gibt es wenig Hoffnung.
S - Unter Philosophen, Naturwissenschaftlern und sogar unter Technokraten wächst das Bewußtsein für die Gefährlichkeit der technologischen Entwicklung. Aber zwischen diesen Erkenntnissen und der praktischen Politik beziehungsweise den Interessen der Industrie klafft doch eine Riesenlücke. Wie wollen Sie etwa einen Autokonzern davon überzeugen, daß es genug Autos auf der Welt gibt und daß es besser wäre, aufs Fahrrad umzusteigen?
JONAS Das wäre sicher etwas zuviel verlangt. Man kann aber die Autohersteller dazu zwingen, sehr viel bessere, unschädlichere Verbrennungsmethoden einzuführen. Es wäre sehr wohl möglich, obere Begrenzungen in der Verkehrsbelastung festzulegen. Im übrigen: Wenn ein Philosoph sieht, wie die Dinge laufen, und sagt, es ist unbedingt notwendig, daß wir uns von unseren eigenen technischen Errungenschaften nicht überrennen lassen, hat er nicht auch gleich die zur Veränderung notwendigen politischen und psychologischen Rezepte parat.
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Aber dieser Philosoph macht sich doch zweifellos Gedanken darüber, wie die Menschen zur Einsicht ins Notwendige, etwa zu Konsumverzicht, gebracht werden könnten.
J. Zunächst ist dauerndes Predigen nicht ganz unwirksam. Es ist ja nicht zu leugnen, daß in den letzten zehn bis zwanzig Jahren ein Umweltbewußtsein erwachsen ist, das es vorher nicht gegeben hat. Außerdem kommen die Schreckschüsse von der Natur selber. -- Was wir bisher erlebt haben, Waldsterben, Tschernobyl, war noch gar nichts: Es wird noch Schlimmeres kommen.
Ist es dann für eine Umkehr nicht schon zu spät?
J. Wenn die Menschen - besonders die mit Einfluß - erst in dem Moment einsichtig werden, wo sie eindeutig schon zu weit gegangen sind, wäre das tragisch. Man kann nicht skeptisch genug sein; skeptisch aber nicht fatalistisch. Wenn wir fatalistisch sind, haben wir die Schlacht schon verloren.
Bisher hat der Mensch immer getan, was er wollte und konnte. Und er ist damit im großen und ganzen ungeheuer erfolgreich gewesen. Was soll ihn jetzt dazu bringen, plötzlich nicht mehr zu tun, was er kann? Nehmen wir als extremes Beispiel die Gentechnologie. Entstehen hier nicht ethische Probleme, die es in dieser Entschiedenheit bisher nicht gegeben hat?
J. In dieser Hinsicht bin ich sehr pessimistisch. Gerade weil dies ein Gebiet ist, auf dem keine Erfahrung zur Verfügung steht, die lehren könnte, wie verderblich die Folgen eventuell sind. Wenn man jetzt gestattet, die Sache experimentell weiterzutreiben, dann wird eine spätere praktische Anwendung im Großen überhaupt nicht aufzuhalten sein. Bei diesen genetischen Experimenten, genetischen Abenteuern, kann man keine Voraussagen machen. Man kann nur an etwas appellieren, das der religiösen Scheu gleichkommt: Es gibt Dinge, die man nicht machen darf.
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Ist mit der Aufklärung, dem rationalistischen Zeitalter diese »religiöse Scheu« nicht unwiederbringlich verlorengegangen?
J. Ja, es sieht oft so aus. Die Art, wie gewisse alte Tabus sich auflösen und durch Anarchie ersetzt werden, ist alarmierend. Andererseits entstehen Bewußtseinsformen, die an die Stelle der sakralen treten. Wieso regen sich Menschen, und zwar gerade in der Jugend, darüber auf, daß anderen Menschen Unrecht geschieht? Die Civil-Rights-Bewegung in Amerika beispielsweise geht keineswegs nur von den Benachteiligten selbst aus, sondern ganz wesentlich gerade von Leuten, denen es gut geht und die nicht eigene Not, sondern ihr Gewissen antreibt. Das ist ein neues Phänomen.
Aber diese Menschen haben in der Regel wenig Einfluß oder Macht. Liegt das Problem der Verantwortung nicht gerade in der Anonymität, in der zentrale gesellschaftliche Bereiche wie etwa große Wirtschaftsunternehmen betrieben werden?
J. Das ist das Schlimmste, die größte Schwierigkeit. Niemand kann mehr individuell verantwortlich gemacht werden. Es geht so anonym zu, daß der einzelne privat ein höchst sittlich empfindender, mitfühlender, wohltätiger Mensch sein kann und doch in Direktorien und anderen Gremien zu ganz anderen Entscheidungen beiträgt. Das ist sehr, sehr schwierig.
Wie ist diese Entwicklung überhaupt noch steuerbar? Denn man müßte ja an Großunternehmen, Großorganisationen Anforderungen stellen, die sich gegen ihren eigenen existentiellen Mechanismus richten: Expansion, Profitmaximierung, Gewinn. Hieße das nicht vom Ochsen verlangen, daß er Milch gibt?
J. Die ganze Situation ist sehr komplex, und die eventuellen Heilmittel können auch nur komplex sein. Immerhin hat es der moderne Staat schon zu so etwas wie einem Wohlfahrtsstaat mit einem großen Sozialapparat gebracht. Nach einer Epoche der wildesten Ausbreitung reinen individualistischen Wettbewerbs haben sich die Dinge in Richtung eines gewissen Sozialismus entwickelt. Es treten ja durchaus politische Kräfte ins Werk, die das sogenannte freie Unternehmertum etwas weniger frei machen.
Sie sind im Jahr 1903 geboren, Herr Professor Jonas. Sie überblicken das Jahrhundert. Wie ist Ihr Ausblick heute auf die Zukunft der Menschheit?
J: Ungewiß, sehr ungewiß. Eine Mischung aus Furcht und Hoffnung. Es ist durchaus möglich, daß es tragisch zugehen wird mit der Menschheit. Regional und lokal wird das sogar bestimmt eintreten. Aber andererseits hoffe ich doch auf Selbstheilungsprozesse im Organismus der Menschheit.
Wenn wir nicht mit dem Wahnsinn eines Atomkriegs zu einem plötzlichen Ende treiben, dann könnte noch Zeit sein, im Immunsystem der Menschheit Abwehrkräfte zu erzeugen, die nicht zu spät kommen. Aber anders als im Organismus müssen wir selber und unsere Nachkommen bewußt etwas dafür tun.
Der Mensch ist immerhin so frei, daß er lernen und aus manchen Erfahrungen Lehren ziehen kann. Die aber werden sehr bitter sein, ehe genügend Vernunft da ist, um der Katastrophe wirklich vorzubeugen.
Mein Ausblick ist nicht sehr rosig, aber auch nicht verzweifelt.
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