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DIE SUCHE NACH DEM SINN

Nachwort

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In einer hervorragenden zusammenfassenden Studie über die Entwicklung der Vereinigten Staaten in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts und einer Vorschau auf das folgende Jahrzehnt* stellt der amerikanische Publizist Francis Bello fest, daß ein entscheidendes Merkmal der neuesten Entwicklung in Wissenschaft und Technik der Übergang von der Bemühung um das Überdimensionale, das «Große» und «Größte», zur Beschäftigung mit dem «Kleinsten» sei.

Das ist eine außerordentlich fruchtbare und sicherlich zutreffende Beobachtung. Das Eindringen in die Welt der winzigsten Dimensionen auf nahezu allen Gebieten der Naturwissenschaft und der daraus resultierende Versuch, mit diesen nur noch unter dem Mikroskop oder sogar nur dem elektronischen Super-Mikroskop wahrnehmbaren Erscheinungen zu operieren, ja sie womöglich in «überverkleinerten» Geräten zu imitieren, ist wirklich als Vorstoß in eine ganz neue Welt zu betrachten.

Erstmals wird unserem Zeitgenossen, dem Menschen der Jahrtausendwende, im Elektronenmikroskop und in den großen Atombeschleunigungsmaschinen oder der «Bläschenkammer» das Innerste der lebendigen Zellen, das geheime «Alphabet» der Erbmasse, die erst halbverstandene — von den Kernphysikern als «Zoo voller seltsamer Biester» bezeichnete — Vielfalt der subatomaren Partikelchen sichtbar. Es scheint, als hätten die Forscher erstmals nicht mehr nur mit den Gestalten der Natur als solcher zu tun, sondern mit dem, was diese Gestalten hervorbringt und verändert, mit den bisher unsichtbaren innersten «Sprungfedern» der belebten und unbelebten Schöpfung (eine Zweiteilung übrigens, die gerade in dieser Welt des Winzigsten nicht mehr ganz klar zu ziehen ist, da sich hier die Grenzen zwischen lebendiger und «toter» Materie zu vermischen beginnen).

In diesen «neuen Territorien» werden täglich, ja stündlich so zahlreiche neue Einzelheiten entdeckt, daß es selbst den Spezialisten immer schwerer wird, mit der Fülle letzter Informationen Schritt zu halten. Die «Lawine» von immer neuen Forschungsergebnissen auf allen Gebieten der Wissenschaft läßt sich an folgenden Zahlen ablesen.

* Veröffentlicht in «America in the Sixties» by The Editors of «Fortune», New York 1960.


Es erschienen im Jahre 1960 in der Welt etwa 100.000 Forschungsberichte, 60.000 wissenschaftliche Bücher und bereits zwischen 50.000 und 100.000 Fachzeitschriften in über 60 Sprachen. Sie enthielten an die zwei Millionen wissenschaftliche und technische Artikel, etwa dreimal mehr, als an der Schwelle des zweiten Weltkrieges erschienen waren.(2)

Ein mit der Geschichte der Wissenschaften beschäftigter Historiker am «Institute of Advanced Study» in Princeton glaubte 1958 noch, eine Art «Gesetz» über die mengenmäßige Entwicklung der Wissenschaft aufstellen zu können, indem er auf Grund seiner bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückgehenden Studien konstatierte, daß die Zahl der Wissenschaftler sich durchschnittlich alle zehn Jahre verdoppele. Diese Prognose scheint aber nach den Ende 1960 auf der Jahressitzung der «Association for the Advancement of Science» gemachten Mitteilungen über die forcierte Heranbildung neuer Wissenschaftler im kommunistischen China bereits wieder überholt zu sein. Die Flut der Forschungsberichte, genährt nicht nur durch die Entdeckungen der Wissenschaften, sondern auch dadurch, daß neue, in dieser Richtung bisher wenig aktive Völker die Wissenschaft nun für sich entdeckt haben, wächst und wächst und wächst.

 

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Lee A. DuBrigde, Rektor des «California Institute of Technology» hat noch Ende 1959 dieses Problem der «Informationslawine» in einer vielachteten Ansprache als fast unlösbar angesehen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, so führte er aus, nähmen heutzutage schneller zu als die Möglichkeiten des Menschen, sich die neuen Erkenntnisse anzueignen, ja sie auch nur zu überblicken.

 wikipedia  Lee_DuBridge  1901-1994

Hier sind nun bald darauf einige wichtige «Durchbrüche» erzielt worden, an denen speziell für diese Zwecke vorbereitete «Elektronen-Gehirne» (oder, genauer gesagt, «elektronische Datenverarbeitungsgeräte») einen wichtigen Anteil haben. Der ihrem «Gedächtnis» anvertraute Titel- und Stichwortkatalog stellt in Minuten- oder in einigen Fällen sogar Sekundenschnelle ein zu einem bestimmten Problem verlangtes Literaturverzeichnis zusammen. Das kann für die Forschung von größter praktischer Bedeutung sein, denn es werden sich dann Wissenschaftler nicht mehr um die Lösung von Problemen kümmern müssen, je Kollegen von ihnen schon längst gelöst und bekannt gemacht haben.

Pannen wie die jenes amerikanischen Elektrokonzerns, der acht Millionen Dollar für zwei Erfindungen zahlte, die — wie sich etwas später erausstellte — längst von früheren Erfindern gemacht und patentiert worden waren, oder Enttäuschungen wie die der amerikanischen Luftwaffe, deren Forscher nach mehrjähriger angestrengter Forschungsarbeit 1958 herausfanden, daß die Russen die Lösung eines von ihnen bearbeiteten Problems bereits 1950 publiziert hatten, wird es dann nicht mehr geben.

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Doch liegt auf lange Sicht die Bedeutung dieser sich in stürmischer Entwicklung befindenden Wissenschaft des «Information Retrieval», des «Wiederauffindens von Information», viel tiefer. Denn mit ihrer Hilfe könnte es möglich werden, den Fluch einer zu engen wissenschaftlichen Spezialisierung zu überwinden. Je tiefer die forschenden «Gehirne» graben, desto häufiger treffen sie nämlich nun auf Gänge und Schächte anderer «Fakultäten». Der Physiker bricht durch eine Mauer und sieht sich plötzlich im «Bau» der Biologie; der Biologe vernimmt neben sich das Scharren der Mathematiker, die Signale der Soziologen und Philosophen. Es gäbe unzählige Querverbindungen zu ziehen, es wäre möglich, diese Entwicklung der «Konvergenz», des heute erst zufälligen Aufeinanderzukommens der Erkenntniswege, bewußt zu fördern und damit ein Zeitalter größter geistiger Fruchtbarkeit einzuleiten. Aber das könnte nur geschehen, wenn es gelänge, die Unmenge der neuen Einsichten zu übersehen und derart in ihren tieferen Bezügen zu erkennen.

Noch dringlicher wäre solche «Schau des Ganzen» für diejenigen, die aus der Auswertung der Geistesarbeit Kraft und Macht schöpfen. Welche Katastrophen haben Politiker und Techniker über die Menschheit gebracht, weil sie «nicht wußten, was sie taten», weil sie die Wirkungen der neuen von der Forschung freigesetzten Gewalten nicht in allen ihren Folgen zu beurteilen versuchten. Die Befreiung der in der Materie eingebetteten radioaktiven Strahlung und die heute schon fast sichere Möglichkeit, das Lebendige durch Eingriffe ins Erbgefüge zu verändern, ja vielleicht sogar künstlich zu «erzeugen», verlangen eine gereifte Menschheit, die das Neue nicht mehr so unbekümmert auf die Welt losläßt. Übersicht wäre ein erster Schritt zu Voraussicht und Vorsicht.

Die Tatsache, daß 1961 mit dem neuen Präsidenten der USA die Elektronengehirne ins Weiße Haus eingezogen sind, ist daher nicht besorgniserregend, sondern eher beruhigend. Denn diese Datengeräte ermöglichen es dem Staatschef, das vielfältige und verworrene Gewebe der Wirklichkeit, die zahllosen aufeinander einwirkenden Prozesse und Tatsachen genauer zu erfassen, und erlauben so den führenden Politikern, die im Besitze solchen Wissens sind, vernünftiger zu handeln, als es eine Führung vermöchte, die nur ihren Eingebungen und Launen vertrauen würde.

Anfang 1961 gab es bereits 524 «elektronische Datenverarbeitungsgeräte» in den Regierungsbüros von Washington (gegenüber einem im Jahre 1950), und rund 6000 Spezialisten waren damit beschäftigt, diese «Elektronenorakel» mit immer neuen Informationen über die ständig sich wandelnde Lage zu füttern und sich von ihnen das «Rohmaterial» der Entscheidungen liefern zu lassen.

Alles deutete aber schon damals darauf hin, daß dieser neue «trend», diese hochwichtige Entwicklung erst begonnen hätte.

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Die elektronischen Datenverarbeitungsgeräte können dem Menschen vielleicht die unter der «Informationslawine» begrabene «große Sicht» wiedergeben, ihm jedoch nicht die Frage nach dem Sinn und der wünschbaren Richtung seines stürmischen Fort-Stürzens beantworten.

Diese Frage aber, die Frage nach den «Zielen», die es eigentlich verfolge, hat sich das amerikanische Volk in der letzten Zeit mit immer größerer Beharrlichkeit gestellt. Die Zahl der selbstkritischen Äußerungen amerikanischer Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und Staatsmänner ist von Jahr zu Jahr gestiegen. Diese schonungslosen Schilderungen und Analysen fast jeden Aspektes der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Kultur haben nur vorübergehend zu Verleumdung und Verfolgung der Kritiker geführt.

Die kurze Periode undemokratischer Unduldsamkeit, die durch das Auftreten des unseligen Senators Joe McCarthy gekennzeichnet war, hat allen gezeigt, «it could happen here» («es könnte vielleicht hier geschehen»), und so als Schutzimpfung gegen neue ähnliche Anfälle von totalitärer Intoleranz gewirkt.

  wikipedia  Joseph_McCarthy  1908 bis 1957 (48, Alkoholismus)

Gerade aus der Minorität von kritischen Köpfen, die aufzeigten, daß die USA seit ihrem Aufstieg zur «Super-Großmacht» manchen Irrweg gegangen waren, sind heute zum Teil die führenden Mitarbeiter der neuen Regierung rekrutiert worden. Sie versuchen nun — ob mit oder ohne Erfolg wird sich erst in Jahren zeigen —, ihre Vorstellungen von 'nem menschlicheren Amerika in die Wirklichkeit umzusetzen.

Typisch für diese Entwicklung ist die Tatsache, daß Professor Jerome B. Wiesner, Gründer und langjähriger Direktor des «Lincoln Communiations Center» am «Massachusetts Institute of Technology», zum ersten wissenschaftlichen Berater von Präsident Kennedy gewählt wurde. Dieses «Center» bemüht sich um eben jene «große Perspektive», die mit Hilfe (aber ohne Überschätzung) der Elektronengehirne wiedergewonnen werden könnte, indem es Forscher verschiedenster Sparten zu großen Gemeinschaftsprojekten zusammenspannt.

 wikipedia  Jerome_Wiesner  

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«Psychologen, Sprachforscher, Neurophysiologen, Mathematiker, Physiker, Elektroingenieure und Informations-Theoretiker treffen sich hier und tauschen ihre Gedanken aus ...» schreibt der amerikanische Publizist John Lear über diese ungewöhnliche Forschungsstätte. «Es ist der Sammelpunkt Hunderter Geister, die sich Gedanken darüber machen, wie Menschen sich anderen Menschen mitteilen, wie sie sich mit Maschinen verständigen können und wie Maschinen mit anderen Maschinen verkehren.»

Jerome B. Wiesner hat sich schon seit 1957 für den Gedanken verwendet, daß die Bemühung um eine kontrollierte Abrüstung alle anderen Zielsetzungen der USA überschatten müßte. Es sollte ein besonderes «Friedensministerium» geschaffen werden, außerdem aber in allen anderen Ministerien — vor allem im Staatsdepartement und im Verteidigungsministerium — «kleine aktive Gruppen qualifizierter Friedensforscher» dafür sorgen, daß die Bemühungen des Staatsoberhauptes um eine friedliche Welt von diesen Behörden wirklich unterstützt und nicht sabotiert würden.

Schließlich hat Professor Wiesner — laut John Lear — vorgeschlagen,

«es müßten die Konstellationen brillanter Gehirne, die hier und dort im Lande — an Orten wie Los Alamos, dem Lincoln-Laboratorium, der Johns-Hopkins-Universität — versammelt seien, von der Regierung durch Stipendien und feste Aufträge veranlaßt werden, einzeln oder in Gruppen Expeditionen in jene dunklen, unerforschten Dschungel zu wagen, in deren Lichtlosigkeit die Hindernisse für den Frieden verborgen sind

 

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Die Amerikaner stellen heute nicht nur die zentrale Position der Aufrüstung als Hauptantrieb der wissenschaftlichen Betätigung in Frage, sondern auch das Übergewicht einer auf praktische Anwendung und materielle Erfolge hinarbeitenden Naturforschung. Gerade die einsichtigen «Gehirne» erkennen an, daß der Geist sich nicht nur in den Reagenzgläsern und Zyklotronen, sondern auch anderswo offenbare. Die Gelehrten der «humanistischen Fächer» reichen nun endlich den «Anderen» die Hand, wie folgendes Zitat aus der vom «Parlament der Wissenschaft» (einer aus über hundert repräsentativen Forschern bestehenden Versammlung der «American Association for the Advancement of Science») gefaßten Entschließung vom März 1958 zeigt. Dort heißt es:

«Die besonderen Kenntnisse des Naturwissenschaftlers sind sicherlich notwendig, aber dieses Wissen wäre machtlos oder sogar gefährlich, wenn es nicht alle Gebiete der Wissenschaft einschlösse und mit den Beiträgen der Humanisten, der Staatsmänner und Philosophen vereinigt würde ... Obwohl die Naturforschung eine Menge praktischer

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und nützlicher Ergebnisse zeitigt und obwohl wir nicht die geringste Absicht haben, die Bedeutung dieser praktischen Resultate zu verkleinern, wollen wir betonen, daß die Wissenschaft im Grunde und in Wirklichkeit ein Ausdruck der geistigen Neugier des Menschen ist, mit der er auf die Ordnung und Schönheit des Universums, in dem er sich befindet, reagieren will. Sie ist in keiner Weise die einzige Antwort auf diese Ordnung und Schönheit, und daher fühlt sich die Wissenschaft mit anderen Bestrebungen wie den Künsten und den humanistischen Studien verbunden, keineswegs aber ihnen entgegengesetzt.»

Diese Washingtoner Resolution des repräsentativen Forums der Naturwissenschaftler, die im Sommer 1960 noch einmal feierlich bekräftigt und erweitert wurde, muß als Ereignis von größter geistiger Bedeutung gewertet werden. Denn hier kündigt sich eine Überbrückung der jahrhundertealten Kluft zwischen der Naturwissenschaft und den Künsten an. Das Resultat dieser Trennung war — in den Worten des Engländers C. P. Snow — die Entstehung von «zwei getrennten Kulturen», einer sich immer mehr in den Vordergrund schiebenden naturwissenschaftlich-technischen neben der alten humanistischen, auf Ethik und Ästhetik gegründeten Kultur.

Jetzt aber erweist es sich in den mutigen und auf ihre Art ergreifenden Worten des Parlaments der Naturwissenschaftler, daß sie, erschüttert von den unvorhergesehenen und noch zu erwartenden Folgen ihrer Arbeiten, ohne geistig-moralische Grundsätze nicht mehr auskommen können und wollen. Denn nun erklären sie feierlich:

«Wir sagen tatsächlich, daß der Mensch abermals vor einer Schwelle steht, vor einer neuen Beziehung zum Atomkern, zur Zelle, zu seinem eigenen Innersten und zum All. — Viele Kräfte haben dahin gewirkt, aber es ist klar, daß die Wissenschaft hauptverantwortlich für das Werden dieser neuen Situation ist. Diese neue Lage wird alle Kraftquellen des Menschen beanspruchen, besonders aber seine Fähigkeit, die neue Macht mit Weisheit, Zurückhaltung und Anstand zu verwalten.»

In dieser Erklärung ist der menschliche Geist über die Grenzen, die er sich selbst durch die Einseitigkeit seiner so erfolgreichen, aber auch bedrückend gefährlichen Bemühungen setzte, hinausgewachsen.

So hat mit der «Resolution von Washington» vielleicht schon eine sinnvollere und schönere Zukunft begonnen.

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Nachwort

BRIEF AN EINEN, DER AN DER ZUKUNFT VERZWEIFELN MÖCHTE

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Lieber Freund,

so will ich Sie ansprechen, obwohl wir uns nur ein einzigesmal begegnet sind, denn seither habe ich mich im Geiste oft mit Ihnen unterhalten und Sie sind mir ein vertrauter Gefährte geworden. Da ich jedoch weder Ihren Namen noch Ihre Adresse kenne, so kann ich nicht unmittelbar mit Ihnen in Verbindung treten und muß auf den guten Zufall hoffen, der Ihnen diese Ausgabe meines Buches vielleicht ebenso in die Hände spielen wird wie die frühere.

Es war nach einem Vortrag, den ich vor Studenten in Oslo gehalten hatte. In der sich anschließenden öffentlichen Debatte standen Sie auf und sagten zu mir:

«Ich will Elektro-Ingenieur werden. Jedoch das Bild, das Sie von der in den Vereinigten Staaten und anderen hochzivilisierten Ländern begonnenen technischen Entwicklung entwerfen, läßt mich an meinen Berufsplänen zweifeln. Darf ich denn mithelfen am Bau einer kalten, künstlichen, lebensfeindlichen, entmenschlichten Welt? Ist es nicht konsequenter, an dieser Zukunft zu verzweifeln?»

Es war Ihnen bitter ernst. Das spürten wir alle, die im Saale saßen. Wir sahen, wie blaß Sie waren, und hörten, wie Ihre Stimme zitterte. Sie hatten uns unvermittelt vor eine der großen Fragen unserer Zeit geführt, eine Frage, die erst brennend geworden ist, seitdem der Mensch durch die von ihm geschaffenen Machtmittel selbst über das Wohl und Wehe der Welt bestimmen kann.

Nachdem ich mich von meiner Betroffenheit etwas erholt hatte, versuchte ich Ihnen damals ungefähr auf folgende Weise zu antworten:

«Bitte bleiben Sie bei Ihrer Berufswahl. Sie sollen nicht nur Elektroingenieur werden, Sie müssen es sogar! Denn erst wenn es mehr Techniker geben wird, die ihr Gewissen fragen, ob das, was sie tun, zum Gemeinen oder zum Erhabenen, zum Häßlichen oder zum Schönen, zum Bösen oder zum Guten führe, können die Schatten der Vernichtung von uns weichen.»

Aber diese impulsiv gegebene Antwort erschien mir in den kommenden Monaten immer unbefriedigender. Hatte ich Sie mit meinem Rat nicht vielleicht in andere, noch ärgere Konflikte hineingehetzt?

Würde es Ihnen, der später, dem technischen Gefüge entsprechend, doch wohl nur ein Rädchen in der Maschinerie einer großen Organisation sein könnte, überhaupt möglich sein, Sinn und Ziel Ihrer Arbeit mitzubestimmen?

Versuchten Sie es, dann würden Sie wohl zerrieben, gebrochen oder einfach ausgeschieden, das heißt entlassen werden. Gäben Sie aber den Versuch einer aktiven Einwirkung auf die Natur und die Früchte Ihrer Arbeit auf, so würden Sie nach einem solchen Akt der Resignation vermutlich schlimmer dran sein als zuvor.

Über diese sehr reale Problematik kann man sich nicht mit irgendwelchen schönen Worten hinwegschwindeln. Das sah ich besonders deutlich, als sie mir in der Folgezeit bei den Vertretern eines anderen Berufes in dramatischer Zuspitzung entgegentrat. Ich hatte nämlich begonnen, Material für ein Buch über das so eigenartige und erschütternde Schicksal der Atomforscher in unserer Zeit zu sammeln. Als ich nun mit diesen Männern sprach, als ich begann, ihre Lebensläufe zu studieren, ihre hohe Hoffnung von einst mit ihrer oft bis zur Verzweiflung gehenden Bedrücktheit von heute zu vergleichen, da hörte ich immer wieder die Entschuldigung:

«Ich konnte nicht anders. Gewiß: Ich wollte keine Atomwaffen bauen. Aber ich wurde dorthin gedrängt, ließ mir eine Konzession nach der anderen abringen und wurde so Schritt um Schritt gezwungen, etwas zu tun, was ich eigentlich nicht tun wollte.»

Ist das nicht eine Situation, die, wenn auch meist in weniger zwingender Form, heute viele berufstätige Menschen kennen? Haben wir uns nicht fast alle angewöhnt, im Berufsleben hinzunehmen, was wir im Privatleben niemals dulden würden? Das «Mitmachen» wider besseres Wissen und Gewissen scheint geradezu ein Charakteristikum unserer Zeit geworden zu sein.

Doch fand ich, daß es unter den Atomforschern auch eine Minderheit gab, die sich zum Teil schon sehr früh, zum Teil erst später, teilweise konsequent und teilweise wenigstens in kurzen heftigen Aufwallungen des Gewissens gegen die von ihnen heraufbeschworene Entwicklung gewehrt hatte. Einige Wissenschaftler hatten sich, auch wenn dies beträchtliche materielle Opfer nach sich zog, von der Mitarbeit an Waffenprojekten abgewandt, hatten auf Macht und gute Bezahlung verzichtet, um sich lieber der reinen Forschung zu widmen. Andere wollten oder konnten sich einen solchen radikalen Schritt nicht leisten. Aber sie erhoben wenigstens in Wort und Schrift ihre Stimme, um in beredter Weise vor den gefährlichen Früchten ihres eigenen Schaffens zu warnen.

Das ist aber etwas ganz Neues für unser industrielles Zeitalter, ist vielleicht das erste Anzeichen zu einem gewandelten Berufsethos, das nicht mehr nur fragt: «Was produziere ich?» oder «Wieviel produziere ich?» sondern «.Wozu produziere ich?» oder «Für wen produziere ich?»

Und schließlich: «.Welche Wirkung hat meine Arbeit? Ist sie gut? Ist sie böse?»

Erstaunlich ist es, daß diese ethische Fragestellung von einem Menschenkreis aufgeworfen wurde, der sich in seiner Mehrheit um moralische Maßstäbe bis dahin wenig zu kümmern pflegte. Die Naturwissenschaftler und die auf ihren Erkenntnissen aufbauenden Techniker glaubten meist ohne die Wertmaßstäbe der Religionen und Sittenlehren auskommen zu können. Nun aber sind sie durch die Konsequenzen der ihnen zugefallenen technischen Allmacht gezwungen worden, sich mit den bisher als überflüssig erachteten Fragen der Philosophie, Theologie und Soziologie auseinanderzusetzen.

Eine ähnliche Wendung läßt sich heute bereits überall dort beobachten, wo technische Höchstleistung erzielt und gegen Grenzen vorgestoßen wird, die man jahrtausendelang für unüberwindlich hielt. Gerade in den Vereinigten Staaten, wo der Glaube an einen «blinden Fortschritt» besonders weit gediehen war, zeigen sich neuerdings Anfänge von etwas, das ich den «sehenden Fortschritt» nennen möchte.

Man beginnt sich über die moralischen, psychologischen und sozialen Folgen neuer Erfindungen Gedanken zu machen und ist sogar geneigt, gewisse übertriebene Neuerrungenschaften wieder preiszugeben. Solche Neuorientierung wird nur möglich, wo vorläufig noch kleine Gruppen von Wissenschaftlern und Technikern ohne Rücksicht auf mögliche Zurücksetzungen und Berufsschwierigkeiten für eine höhere Sinngebung ihrer Arbeit kämpfen. Ist dieser Protest erst einmal stark genug geworden, so kann sich die ja im Grunde durchaus anpassungsfähige Technik dem neuen Begehren fügen. Sie wird dann hier und dort vielleicht ihren übersteigerten Grad von efficiency etwas zurückschrauben müssen, dafür aber bei den mit ihr lebenden Menschen größerer Zufriedenheit begegnen. Geschieht das, so könnte die Technik, statt Problem zu sein, schließlich Selbstverständlichkeit werden und der schöpferische Geist sich wieder höheren Zwecken als der Eroberung und Ausnutzung von Himmel, Erde, Arbeitskraft und Seele zuwenden.

In einer solchen Übergangszeit zu leben ist nicht leicht, aber für Menschen, die wirklich gestalten wollen und können, von großem Reiz. Die Zukunft nämlich, mag sie auch zur Zeit noch auf gefährlich falschem Weg laufen, beginnt mit jedem Tage und jedem Menschen wieder neu.

Sie mögen, lieber Freund, in Ihrem Ingenieurberuf eine Zeitlang als Außenseiter gelten. Aber vielleicht wird man Sie einmal als Vorläufer einer neuen Zeit betrachten, die aus dem Grauen über manche entmenschlichenden Einflüsse der Technik und dem Glauben an den gottgeschaffenen Menschen gezeugt wurde.

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Ihr Robert Jungk

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Robert Jungk  (1952)  Die Zukunft hat schon begonnen - Amerikas Allmacht und Ohnmacht --- Entmenschlichung: Gefahr unserer Zivilisation.