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16  "Geben Sie nicht auf"

(1988-1992)

 

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1.

»Nein, ich kann nichts mehr für dich tun!« Das war das niederschmetternde Urteil, das mir ankündigte, ich würde als Folge der <Hanau-Affäre> nicht länger meine monatliche Kolumne zum Thema <Wissenschaft und Gesellschaft> veröffentlichen können. 

Daß dieser Satz aus dem Munde eines engen Freundes kam, machte die Affäre noch trauriger. Heinz Haber, Herausgeber und Begründer der Zeitschrift <Bild der Wissenschaft>, hatte sich gegen Ulrich Planitz, dem Verlagsleiter der DVA, nicht durchsetzen können. 

Schon seit Jahren hatte man dem langjährigen Weggefährten nahegelegt, er müsse mich zu einer weniger kritischen Schreibweise überreden oder auf meine weitere Mitarbeit verzichten. Es hätten sich sowohl Inserenten wie Persönlichkeiten der Bosch-Stiftung und der Thyssen-Stiftung über meine »negative Haltung« zur Industrie beklagt. Die Tatsache, daß der Chefredakteur Wolfram Huncke ebenso wie die Redaktion diesen über ihren Kopf verfügten »Rausschmiß« nicht dulden wollten, half nichts. Der Verlagsleiter berief sich stur darauf, daß ich wegen Aufforderung zu Gewalttätigkeiten angeklagt worden sei, und war nicht gewillt, den Ausgang des Gerichts­verfahrens abzuwarten.

Auch als die Verhandlung gezeigt hatte, daß die Vorwürfe gegen mich haltlos waren, gab es aus Stuttgart kein Einlenken und nicht einmal eine Entschuldigung. Ich hatte leider nie einen Vertrag verlangt, denn es war ja mein Freund Haber, für den ich zu arbeiten meinte. So bin ich Anfang 1987 nach 14jähriger monatlicher Mitarbeit an einer der erfolgreichsten deutschen Zeitschriften entschäd­igungslos <in die Wüste geschickt> worden.

    

Damals habe ich erfahren, wie wichtig und notwendig politische und berufliche Solidarität ist. Ich war Manfred Bissinger, dem berühmten »Blattmacher«, der die Zeitschrift »natur« zu einem aktuelleren, umfassenderen und zupackenderen Organ gemacht hatte, persönlich noch nie begegnet, als er in einem Leitartikel für mich und gegen die Hanauer Ankläger eingetreten war.   wikipedia / Manfred_Bissinger *1940, natur:85-89 laut wiki

Daß er mir einige Monate später anbot, meine monatlichen Kommentare in voller Freiheit und ohne jegliche Rücksichtnahme auf irgendwelche wirtschaftliche Interessen­gruppen nun bei ihm zu publizieren, war eine erfreuliche Überraschung.

So kam es zu einer journalistischen Partnerschaft, die zweifellos beträchtlichen Einfluß auf das sich entwickelnde Umweltbewußtsein hatte, weil wir zeigen konnten, daß ein Schutz der Natur und des Menschen nur erfolgreich sein konnte, wenn man sich kritisch mit den verursachenden Kräften der Wirtschaft auseinander­zusetzen wagte, denen ihre Geldinteressen meist wichtiger waren als die Erhaltung der — auch ihrer! — Lebensgrundlagen.

Allerdings — das war zu schön, um wahr zu sein. Eines Tages — es war schon zu Anfang der Neunziger — ging dieser kühne Chefredakteur. Mußte er gehen? Hatte man ihm so lange zugesetzt, bis er die Lust verlor? War es wirklich nur die Sehnsucht, aus München wieder zurück nach dem gewohnten Hamburg ziehen zu können? Wir wissen es nicht. 

Jedenfalls begann nach Bissingers Weggang die Linie des Blattes sich allmählich zu ändern. Mehr Unterhaltung war angesagt. Nichts »Bissi(n)geres«. Ich bemerkte, daß die Zahl der Industrieinserate stieg. Fast alles, was die Texte der Zeitschrift in Frage stellten, wurde durch wirksames Reklamedesign in Bild und großem Druck auf anderen Seiten übertönt. Als erstmals in einer doppelseitigen, sachlich irreführenden Anzeige für Atomenergie geworben wurde, war für mich die Grenze des Tolerierbaren erreicht. Ich konnte nun nicht mehr für <natur> schreiben, wollte nicht dafür herhalten, <Werbeträger> einer Industrie zu werden, deren Folgen für Mensch und Umwelt ich — wie immer mehr Einsichtige — für verhängnisvoll hielt, ein Urteil, das durch die immer schlimmeren Berichte über die Folgen der Tschernobyl­katastrophe leider Woche um Woche bestätigt wurde. 

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Ich wußte, daß die Stromindustrie noch mindestens weitere sechs oder sieben Monate lang ihre besonders hoch bezahlte Anzeigenserie in »natur« schalten wollte. Ließ sich das verhindern? Man hatte mir versichert, der Blattinhaber Michael Ringier, einer der Brüder, die den reichen Schweizer Verlag geerbt hatten, sei ein »Idealist« und lasse mit sich reden. So bin ich speziell nach Zürich gereist, habe mich in dem weitläufigen, mir bisher nur von außen bekannten Hauptsitz des Zeitschriftenimperiums mit einem seiner Herrscher auseinandergesetzt und erlebt, was für ein armer Kerl das doch war. Er wollte zwar gerne anders, aber er konnte es nicht, weil die Bilanzen mehr Macht über ihn hatten als die besten Vorsätze.

Als ich wieder auf der mir aus vielen wechselvollen Emigrationsjahren fast heimatlich vertrauten Dufourstraße stand, war ich zwar enttäuscht über den Mißerfolg meiner Intervention, aber zugleich glücklich und stolz wie selten, weil ich es mir leisten konnte, unabhängig zu sein und zu bleiben. Welch ein tolles Gefühl kann die Freiheit sein!

 

2.

Daß ich dennoch trotz der wachsenden Anpassung des Großteils der öffentlichen Meinungsträger immer wieder kritischen Informationen und abweichenden Meinungen Gehör verschaffen konnte, verdanke ich Redakteuren, die sich nicht als »Torhüter« begriffen, sondern als »Toröffner«, und die Pressefreiheit oft genug unter erheblichen Risiken gegen Direktiven von oben verteidigten, welche ihnen Verheimlichung und Vorsicht empfahlen.

Ich meine, daß man diesen Schmugglern der Wahrheit bisher viel zu wenig Anerkennung erwiesen hat. Sie sind die notwendigen Partner für jene anderen unbekannten Helden des Kampfes um mehr Öffentlichkeit, die als Angestellte oder Beamte bewußt die Informationsprivilegien von Firmen und Behörden unterlaufen, um ihre Mitmenschen vor Gefährdungen zu warnen, die sonst unbekannt bleiben würden: die »whistle blowers«, wie man in den angelsächsischen Ländern diese Verpfeifer von Behörden­vertuschungen und Firmen­geheimnissen nennt.

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In meiner Korrespondenz oder über mein Telefon habe ich, wie auch andere Kernkraftkritiker im Laufe der Jahre, oft belastende Informationen über geheim­gehaltene Vorgänge in der Atomindustrie erhalten, deren Urheber verdeckt bleiben mußten. Man sollte in einer Demokratie öffentliche und geschützte Anlaufstellen für solche Mitteilungen schaffen. Auch wenn sie zunächst anonym sind, können sie doch den Prozeß notwendiger Wahrheitsfindung einleiten und zur Aufdeckung von Umweltverbrechen dienen.

Heimliche Hinweise, die aus den Kreisen der Betreiber des Wiederaufbereitungskomplexes Wackersdorf kamen, haben zum Beispiel von Anfang an wesentlich dazu beigetragen, die Bevölkerung der Oberpfalz über mögliche katastrophale Störfälle sowie die unvermeidliche Gefährdung der Luft und des Grundwassers aufzuklären. Die unerwartet starke, von Heimatliebe getragene Widerstandsbewegung einer bis dahin überwiegend konservativen und regierungstreuen Bevölkerung, gegen die sich selbst die Einschüchterungs­bemühungen von Tausenden Polizisten und schließlich sogar der Einsatz von chemischen Reizgasen als vergeblich erwiesen, wäre ohne das Bekanntwerden dieser bis dahin verheimlichten Informationen wohl nicht entstanden. Einen ganz wesentlichen Anteil an diesen Aufklärungs­bemühungen trug die von Anita Aschenbrenner herausgegebene Alternativzeitschrift »Radiaktiv«, aber auch die Regionalausgabe der »Mittelbayrischen Zeitung«.

Mehrere Male bin ich von 1985 an nach Schwandorf, Wackersdorf und vor allem im Juli 1988 nach Neunburg vorm Wald gekommen, wo die bayrische Staats­regierung gezwungen war, sich gegen die 881.000 Einwendungen Betroffener — darunter auch Zehntausende Bürger meiner Heimatstadt Salzburg — zu wehren.

Wir wußten genau, daß die Behördenvertreter unter dem Vorsitz des anfänglich selbstgewissen Ministerialrats Rudolf Mauker diese gesetzlich vorgeschriebenen Verhandlungstage nur als Formalität ansahen, die sie durchstehen wollten, ohne nachher etwas zu verändern. Aber die Berichterstattung der Medien über die brisanten Auseinandersetzungen in der viel zu engen, stets überfüllten Versammlungshalle schuf weit über die Oberpfalz hinaus eine Stimmung der Verweigerung, der sich sogar die Betreiber schließlich nicht mehr entziehen konnten.

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In meiner eigenen Aussage habe ich damals vor allem die demokratiefeindliche Haltung der Behörden angegriffen, die in dem verächtlichen Ausspruch »Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter« ihren zynischen Ausdruck fand. »Wir sind keine Hunde. Wir sind besorgte Bürger. Und wir werden erreichen, daß die Karawane endlich haltmachen muß«, rief ich in den überhitzten Saal und wurde durch minutenlangen Applaus bestätigt.

Der schließliche Verzicht auf das Projekt, für dessen Bau bereits zahllose Bäume gemordet und viele Millionen Mark verschleudert worden waren, war von fast niemandem erwartet worden. Alle hatten sie die Kraft des heimattreuen Widerstandes unterschätzt. 

 

3.

Am Kampf gegen die »WAA« hatten die führenden Politiker von Land und Stadt Salzburg sich intensiv beteiligt. Denn sie waren sich klar darüber, daß ein Unfall in Wackersdorf auch für die Festspielstadt und ihre Umgebung desaströse Folgen haben müßte. Es kam zu einer engen nachbarlichen Zusammenarbeit zwischen Salzburgs Bürgermeister Josef Reschen und dem großartigen oberpfälzischen Landrat Hans Schuirer. Auf dem »Alten Markt« von Salzburg wurde als Mahnmal ein hohes Gitter aufgestellt, das einem Teilstück des kilometerlangen Zaunes um das Werkgelände der »WAA« in Originalgröße nachgebildet war. Auf einem endlosen Papierband wurden Tausende persönliche Unterschriften gesammelt. Nicht einmal die ÖVP, Österreichs christlich-soziale Schwesterpartei der bayrischen CSU, konnte sich diesem so deutlich ausgedrückten Volkswillen entziehen, ihre Umweltministerin Marie-Louise Fleming gehörte zu den beredtesten Einwendern bei der öffentlichen Anhörung.

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Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in Übereinstimmung mit einer Regierung. Hatte ich vielleicht etwas falsch gemacht? Ließ ich mich nun auch vereinnahmen? Nein, ich konnte mir sagen, daß nicht ich mich der Macht angepaßt hatte, sondern sie sich meiner Position genähert hatte, weil endlich an der Spitze etwas mehr Vorsicht und Einsicht dämmerten. Jahrelange Überzeugungsarbeit begann also endlich Früchte zu tragen.

Schon in einer anderen Angelegenheit, die mir am Herzen lag, hatte ich begonnen, mit Repräsentanten der beiden führenden politischen Parteien Salzburgs zusammenzuarbeiten. Seit Jahren war ich in Artikeln und Reden dafür eingetreten, man möge rechtzeitig anfangen, die ständig zunehmende Zahl von Studien über die vermutete, gewünschte und befürchtete Zukunft auf allen Gebieten menschlichen Tuns in einer Bibliothek zu sammeln, um dadurch zur Verbreitung von mehr Verantwortungsbewußtsein für das Kommende beizutragen.

Nun endlich begann sich ein politischer Entscheidungsträger dafür zu interessieren. Wilfried Haslauer, der Salzburger Landes­hauptmann, hatte ein Rundfunk­interview zu meinem siebzigsten Geburtstag gehört, in dem ich auf die Frage von Professor Gerhard Bruckmann nach meinem liebsten Geschenk­wunsch geantwortet hatte, man möge es mir möglich machen, die Tausende Bücher und Papiere, die ich im Laufe der Jahre zur Thematik der Welt von morgen zusammengebracht hatte, in einigen Räumen unterzubringen, zu ordnen und möglichst vielen Interessierten zugänglich zu machen.

Sollte ich in der Tat bereit sein, meine privaten Bestände der Öffentlichkeit zu stiften, versprach der Landeshauptmann, so werde man mir Räume und Personal zur Verfügung stellen. Daran, daß es dem christlichsozialen Politiker mit diesem Angebot Ernst war, zweifelte ich nicht, weil ich wußte, wie großzügig er unlängst eine Tagung des »Club of Rome« ausgerichtet hatte. Vermutlich hatte ihm Aurelio Peccei, der Gründer dieser vorausschauenden Vereinigung, bei dieser Gelegenheit schon von meinen Absichten erzählt.

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Es hat dann allerdings noch fast drei Jahre gedauert, ehe wir die Bibliothek eröffnen konnten. Ich hatte darauf bestanden, daß unser Lesesaal nicht irgendwo am Stadtrand angesiedelt sein dürfe, sondern mitten im städtischen Leben, so daß möglichst viele Menschen leicht dort hinfänden. Das »Haus der Erwachsenen­bildung« am Ufer der Salzach war ein idealer Platz, aber ehe ein Lokal zu ebener Erde frei wurde, mußte noch eine Ersatzunterkunft für die bisherigen Mieter, eine Kärntner Heimatgruppe und eine Sozialhilfeorganisation, gefunden werden. Doch als dieses Problem endlich gelöst war und der Tag, an dem die erste Spezial­bibliothek der Welt für Zukunfts­fragen ihre Arbeit endlich beginnen sollte, schon nahe bevorstand, gab es noch ein Hindernis, das wir nicht vorhergesehen hatten.

Wenn nämlich diese für Salzburg eher ungewöhnliche Institution wie geplant Ende Juli 1986, während der ersten Woche der Festspiele, mit einer Zeremonie eröffnet werden sollte, dann war es unvermeidlich, den wie stets zu diesem Zeitpunkt in Salzburg weilenden Bundespräsidenten Kurt Waldheim einzuladen. Nun hatte ich aber eingedenk der Zweifel an der von Kompromissen mit dem Dritten Reich überschatteten Vergangenheit des ersten Mannes im Staate mehrmals öffentlich gegen ihn Stellung bezogen. Ihn nun als Ehrengast zu empfangen, erschien mir ganz unmöglich.

Die Schatten der Vergangenheit sind also schuld daran, daß die »Internationale Bibliothek für Zukunftsfragen« mit einem Vierteljahr Verspätung erst im Oktober 1986 eröffnet wurde. Sie hat sich seither unter der kompetenten, engagierten Leitung von Dr. Walter Spielmann und der intensiven, klugen Mitarbeit von Dr. Alfred Auer ausgezeichnet weiterentwickelt. Die Zahl der einschlägigen Bücher und Zeitschriften nimmt ständig zu, auch die Benutzung durch Leser im In- und Ausland steigt. Immer mehr Zukunftsinteressierte wollen von uns Adressen oder Informationen, und die zwei großen hellen Räume, in denen inzwischen fünf Mitarbeiter ganz- oder halbtägig tätig sind, wurden zu einem Ort der Begegnung für Menschen, die über die Gegenwart hinausschauen wollen.

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4.

Eine der interessantesten und bedeutendsten Persönlichkeiten, die unsere Bibliothek in Salzburg besuchten, ist Mahdi Elmandjara, Rektor der Universität Rabat. Schon in früheren Jahren, als er noch zum Spitzenteam der UNESCO gehörte, hatte dieser blitzgescheite und dynamische Marokkaner sich für Zukunftsfragen interessiert und war vorübergehend auch in führender Position in den internationalen Vereinigungen tätig, die sich mit dem Nachdenken über die Welt von morgen beschäftigten. Aber seine bewunderungswürdige Eigenwilligkeit und Kompromißlosigkeit, sobald es um die Rechte der sogenannten »Dritten Welt« ging, hatten ihn dazu veranlaßt, seinen Weg schließlich alleine weiterzugehen.

Als sich 1989 amerikanische und europäische »futurists« bei uns zu Gesprächen über die Jahrtausendwende und die Möglichkeit des Wandels, die sich in dieser besonderen Zeit bieten könnten, zusammenfanden, hat Mahdi zwei Tage lang zugehört, ohne sich auch nur einmal zu Wort zu melden. 

Erst am letzten Vormittag, knapp eine Stunde vor Abschluß unserer Veranstaltung, stand er plötzlich auf und hielt uns eine Standpauke, die wohl niemand vergessen wird, der sie mit anhörte. Denn er geißelte mit so scharfen Worten, wie wir sie noch nie gehört hatten, die Kurzsichtigkeit der Seminarteilnehmer, die eine fatale Folge unserer Zugehörigkeit zu den Ländern des reichen Nordens der Welt sei.

»Wer seid ihr denn, die ihr meint, die Zukunft der ganzen Menschheit beurteilen zu können? Angehörige einer Minderheit, die immer kleiner werden wird, weil die Asiaten, die Afrikaner, die Lateinamerikaner nicht nur an Menschenzahl, sondern auch an Kenntnissen ständig dazugewinnen. Sie sind es — nicht ihr! —, die vermutlich im nächsten Jahrtausend die Geschicke bestimmen werden. Wer das nicht sehen will, ist zukunftsblind.«

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Ich habe mir damals in meiner Aufregung, die ich mit den anderen teilte, keine Notizen gemacht. Da stillschweigend vereinbart worden war, auf ein Protokoll zu verzichten, um eine unbekümmertere Aussprache zu ermöglichen, kann ich die Genauigkeit des Wortlauts dieser Philippika nicht garantieren. Aber sinngemäß glaube ich den zornigen Ausbruch unseres Freundes richtig wiedergegeben zu haben. Im Gedächtnis blieb mir vor allem ein Ton der Selbst­sicherheit, ja Überlegenheit, der mir klarmachte, daß hier in der Tat etwas im Kommen war, mit dem wir uns bisher zuwenig beschäftigt hatten: ein neuer Stolz und ein neuer Anspruch der Milliarden Benachteiligten, die nicht länger passiv bleiben würden.

Ich hatte Mahdi schon mehr als zwei Jahrzehnte zuvor bei einer UNESCO-Konferenz in der Nähe von Albany (New York State) über Fragen internationaler Wissens­vermittlung kennengelernt und wegen seiner schnellen und zupackenden Intelligenz bewundert. Als Ruth und ich noch unter dem Schock seiner aggressiven Rede uns nachher mit dem alten Freund zusammensetzten, versuchte er zu erklären, weshalb er so schroff gesprochen habe. 

Es sei ihm in den Jahren seiner Tätigkeit im Pariser Hauptquartier der UNESCO klargeworden, daß die internationale Entwicklungshilfe auch auf dem Bildungs­sektor in Wahrheit die mächtigen Industrienationen nur noch mächtiger gemacht habe. Studenten der Medizin, der Architektur, der Planung und Landwirtschaft, denen man es ermöglicht habe, sich auf amerikanischen, englischen, französischen und deutschen Universitäten weiterzubilden, seien in großer Mehrzahl vom Lebensstil der reichen überentwickelten Länder so sehr angezogen worden, daß sie nicht, wie vereinbart, in ihre Heimatländer zurückkehrten, wo man sie dringend gebraucht hätte, sondern statt dessen das mächtige Potential der herrschenden Nationen noch weiter verstärkten.

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»Ich empfehle meinen marokkanischen Hörern jetzt, in Kairo, Beijing, Neu-Delhi, Sao Paulo oder einer anderen Metropole der aufstrebenden <dritten Welt> zu studieren, um Querverbindungen zu denen zu knüpfen, die sich aus den Verstrickungen einer dem Untergang geweihten industriellen Zivilisation zu lösen beginnen.«

»Aber sind nicht auch diese Hochschulen noch von unserem <weißen Wissen> dominiert?« wandte ich ein.

»Meist schon. Aber es beginnt sich in den Ländern der Benachteiligten ein eigener Wissenschaftsstil zu entwickeln, der den menschlicheren, naturnäheren und von vielen sozialen Kräften mitbestimmten Traditionen eingeborener Kulturen entspricht. 1945 waren wir in der Mehrzahl noch <Kolonialvölker>, dann kam die Periode der von falschen nördlichen Vorbildern geprägten Eigenstaatlichkeit, und seit Beginn der siebziger Jahre hat sich etwas entwickelt, das Marc Nerfin <das dritte System> nennt: Das sind Tausende von lokalen autonomen Gruppen, die sich weder dem <Prinzen> noch dem <Kaufmann> unterordnen wollen, sondern angefangen haben, sich politisch wie wirtschaftlich selbst zu verwalten.«

 

5.

Es war nicht zum ersten Mal, daß ich den Namen Marc Nerfin hörte. Bereits im November 1980, während des denkwürdigen vierten Russell-Tribunals für die Verteidigung der Rechte eingeborener Völker, an dem ich als Jurymitglied teilgenommen hatte, war sein Name mehrmals zustimmend erwähnt worden. Nach einer der Sitzungen, in denen wir wie in den vorhergehenden Tagen mit erschreckenden Berichten über die Benachteiligung, Verfolgung und Vernichtung von Indianern, Eskimos, Molukken und australischen Ureinwohnern überhäuft worden waren, warf ich die Frage auf, ob und wo es wohl bereits Ansätze einer Selbstverteidigung der Bedrängten gebe. Da müsse ich Marc fragen, hieß es immer wieder. Er wisse mehr als jeder andere über die neuentstandenen Volksbewegungen der Dritten Welt. 

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Damals war ich noch von Furcht erfüllt, daß eine solche Entwicklung sich früher oder später zu einem Rachefeldzug der nun schon seit Beginn des Entdeckungs­zeitalters Ausgebeuteten und Gequälten entwickeln könnte, und habe das auch in einem zum Teil sehr kritisch aufgenommenen Interview mit dem deutschen Berichterstatter Gerd Hensel öffentlich bekannt. 

Aber die Informationen, die ich im Laufe der folgenden Jahre durch das von der »International Foundation for Development Alternatives« (IFDA) unter der Leitung von Nerfin herausgegebene »IFDA Dossier« erhielt, zeigten, daß die Gekränkten und Betrogenen nicht an Vergeltung, sondern in erster Linie an praktische Veränderung dachten. Ohne auf die Hilfe ihrer Regierungen zu warten, hatten sie sich selbst geholfen und eigene ökonomisch und ökologisch überlebensfähige Organisationen aufgebaut, die jedem Arbeit und Brot gaben. Dabei griffen sie oft zurück auf die alten Traditionen ihrer Vorfahren und bereicherten sie nur dann mit modernen Methoden oder Instrumenten, wenn dadurch keine neuen Abhängigkeiten entstanden.

Als ich den Mann, der mir ein so ganz anderes Bild von den Vorgängen in der weiten Welt vermittelt hatte als die gängige Berichterstattung, endlich in der Westschweiz besuchen konnte, war ich erstaunt, mit einem wie kleinen Apparat er es geschafft hatte, sich und damit allen Interessierten Einblick in das Leben so vieler Initiativen auf entfernten Kontinenten zu geben. Nicht einmal ein halbes Dutzend Helferinnen und Helfer hatten von der Waadtländer Provinzstadt Nyon aus unter seiner energischen und ideenreichen Leitung ein globales Netz gegenseitiger Verständigung und Hilfe gesponnen. Da waren Mitteilungen, Flugblätter, Plakate, Tätigkeitsberichte aus Bangladesch ebenso zu finden wie von den Salomon-Inseln im Pazifik, aus Neu-Delhi wie aus Kenia oder Brasilien. Es meldete sich die »asiatische Koalition für die Rechte der Mieter« aus Bangkok ebenso wie die höchst erfolgreichen, betont unpolitischen »Women for Housing«, die dabei waren, in Guarari (Costa Rica) Dörfer für 3000 Slumbewohner zu bauen, und ihre Erfahrungen gerne mit indischen oder thailändischen Frauen vergleichen wollten.

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Wie einst, als ich das öffentlich fast unbekannte Universum der Atomforscher für mich entdeckt hatte, begegnete ich jetzt abermals einer Wirklichkeit, die mir wie den meisten anderen Europäern und Amerikanern noch unbekannt war: einer vielfältigen Volksbewegung in den ehemaligen Kolonialländern, die nicht nur manifestierte, sondern zu handeln begonnen hatte und daran war, das Bild der Weltgesellschaft von morgen entscheidend zu verändern.

Überzeugend und hoffnungsvoll hörte sich das an, was mir Marc Nerfin bei einem langen Spaziergang hoch über den Ufern des Genfer Sees von der Mitwirkung aller — auch der Kinder! — an Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten und kultureller Projekte erzählte. Im »dritten System«, das da entstand, würden nicht nur materielle und politische Veränderungen für alle Beteiligten erreicht, sondern auch psychologische Verbesserungen. Die Vereinsamung der Menschen, ihre Ohnmachtsgefühle, ihre Angst vor Armut und Gewalt seien überall dort im Verschwinden, wo sie selber an den Entwicklungen hin zu einem besseren Leben beteiligt seien, berichtete er.

Ich mußte bei diesem Gespräch oft an manches Befremdliche denken, was ich ein Jahr zuvor bei der »Zehnten Weltkonferenz« der vor allem auf Initiative der engagierten italienischen Katholikin und Soziologin Eleonora Masini gegründeten WFSF (World Future Studies Federation) in Beijing erfahren hatte.

Über die möglichen Zukünfte der Entwicklungspolitik war dort im September 1988 von Persönlichkeiten aus mehr als fünfzig Ländern diskutiert worden. Aber einige Zukunftsmodelle, die bei dieser Gelegenheit vorgestellt worden waren, ähnelten fatal den zweifelhaften Projekten der hochentwickelten Nationen, ja übersteigerten noch deren Hang zum Gigantismus.

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Besonders unsere Gastgeber, chinesische Institutsleiter, Professoren und Funktionäre, wetteiferten in der Vorstellung gewaltiger hochtechnologischer Entwürfe. Der einzige Ausweg gegen eine durch Überbevölkerung ausgelöste große Hungersnot, globale Umweltverschmutzung und weltweite Arbeits­losigkeit sei die möglichst schnelle und energische Vorbereitung der Auswanderung von Milliarden in die Weiten des Weltraums, behauptete zum Beispiel der Professor Boa Zhong-Hang. Er stellte sogar einen detaillierten Fahrplan in fünf Etappen für diese gewaltige Umsiedlung vor. Nach seinem Programm sollte schon gegen Ende des 21. Jahrhunderts oder spätestens zum Beginn des 22. Säkulums die massenhafte Migration zu anderen Sternen möglich werden. Damit würden uralte chinesische Vorstellungen der YAO-Epoche verwirklicht, in denen zum allerersten Mal die Möglichkeit einer Eroberung des Himmels durch die Erdbewohner erwähnt worden seien. 

Ein anderer chinesischer Sprecher plädierte trotz zunehmender Überbevölkerung für die massenhafte Entwicklung von Robotern und die Ersetzung der »Familien­produktion« von Menschen durch eine sozialisierte kontrollierte Hochtechnologie der Bevölkerungsreproduktion in »Baby-Fabriken« mit Hilfe verbesserter Methoden künstlicher Befruchtung. Gegen alle Fortschrittskritiker proklamierte der chinesische »futurist« Deng Shoupeng: »Wir glauben, daß jüngst aufgetretene Fehler in der Entwicklung der Hochtechnik Nebenerscheinungen sind, welche ihre Weiterentwicklung nicht verhindern werden.«

Als Teilnehmer dieses internationalen Treffens erlebten wir nun eine bezeichnende Umorientierung: die aus den Industrieländern kommenden Teilnehmer warnten fast alle vor einer Nachahmung ihres rasanten und rücksichtslosen Fortschrittstils. Diese Botschaft wurde aber von einigen unserer Kollegen aus Dritte-Welt-Ländern als egoistische Verhinderungsstrategie der Reichen interpretiert, die sich vor der zunehmenden Konkurrenz neuer Industrieländer fürchteten.

Dabei hätten sie in unmittelbarer Nachbarschaft unseres Tagungssaales am Beispiel Beijings erleben können, wie nachteilig eine mißverstandene und übereilte Modernisierungspolitik sich für die Betroffenen auswirkt. Es war einer der uns als Dolmetscher zur Verfügung gestellten chinesischen Studenten, der mir zeigte, wie schlecht es sich in den während der letzten Jahre hastig erstellten Hochhaus-Siedlungen lebte. 

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Zu deren obersten Stockwerken gelangten nämlich weder Wasser noch Heizung. Unser kritischer Freund brachte mich auch in die älteren, vom Umbau bedrohten Viertel Beijings. Dort waren bescheidene zweistöckige Häuser um einen rechteckigen großen Hof herumgebaut, auf dem sich ein reges, von keinem Stadtverkehr gestörtes Familienleben abspielte. Aber alle diese angeblich »altmodischen Baracken« sollten nun abgerissen werden. Und man hatte bereits damit begonnen.

 

6.

Keiner hat mir auf diesem Treffen in der chinesischen Hauptstadt so sehr aus dem Herzen gesprochen wie der alte Freund und Kampfgefährte Johan Galtung, als er in seiner Rede zu Beginn der Konferenz darüber klagte, daß »wir, gemeint ist damit die Menschheit, in dieser Periode keine einzige überzeugende Utopie hervorgebracht haben«

Er sah darin den Grund dafür, daß das riesige Interesse, welches die Zukunftsstudien in den sechziger und siebziger Jahren erweckt hatten, seither abgeflaut sei. »Die Zukunft hat andere und mächtigere Träger gefunden im Establishment und im Gegen­establishment«, konstatierte Galtung. »Die Bewegung der Zukunftsforschung blieb zurück. Sie hatte viel von ihrer Energie verloren und vielleicht nicht einmal verstanden, was eigentlich geschehen war«, diagnostizierte er selbstkritisch, und ich — nicht als einziger — mußte ihm durchaus recht geben.

Wie konnte es aber weitergehen? Die Aufforderung, die Galtung an das Ende seiner aufregenden Rede stellte, empfand ich auch als ganz persönliche Aufforderung. »Versuchen wir einen besseren Job zu machen: mehr packende Voraussagen und schöpferischere, zwingendere utopische Entwürfe.«

Beim Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa während der folgenden drei Jahre zeigte es sich, daß diese Aufforderung Galtungs kein zeitferner Wunsch gewesen war, sondern eine ganz aktuelle politische Notwendigkeit.

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Denn im Machtvakuum, das im Osten entstanden war, hätten Veränderer mit brauchbaren Entwürfen, die anderen Zielen dienten als der Befriedigung des Hungers nach Konsum und Meinungsfreiheit, einzigartige, vielleicht sogar einmalige Chancen gehabt. Ich mache mir zurückschauend Vorwürfe, daß auch ich in dieser Situation zu wenig unternommen habe, um die neue Lage zu nutzen. Meine Bücher, Artikel und Sendungen waren ja in den Jahren der Unter­drückung und Kontrolle erstaunlich häufig über die Mauer in die DDR gelangt. Ich war »drüben« bekannt und hätte gut daran getan, die Einladungen anzunehmen, die mich jetzt aus dem einst verbotenen Land erreichten.

Aber ich wollte warten, bis man klarer sehen konnte, und mich nicht voreilig festlegen. Dieses Zögern war erklärlich, aber sicherlich falsch. So habe ich einen wichtigen Augenblick verpaßt, und er ist nicht wiedergekommen.

 

Gewiß, ich fuhr schon einige Male nach Ostberlin und reiste zum Beispiel nach Leipzig, der Buchstadt, die zur Bananenstadt verkommen war. Sprach mit den lange Zeit heimlichen Bundesgenossen im protestantischen Lager, besuchte Ugo Piacentini, den Altphilologen und Freund seit unserer Begegnung am Fastenlager Danilo Dolcis, nahm Verbindung auf mit Hans Coppi, der darangegangen war, mit anderen Historikern die in der DDR bisher unterdrückte Geschichte des »Gegner-Kreises« und der »Roten Kapelle« bekanntzumachen, und bemühte mich, meine Streitschrift <Projekt Ermutigung>, die nun auch im Ostverlag »Volk und Welt« erschienen war, unter die Leute zu bringen. In der Leipziger »Bastei«, einem lichtlosen Lieblings­treffpunkt der Bürger­bewegungen, sprach ich über den Aufbruch zu einer »neuen Zivilisation«. 

Aber das war alles viel zu wenig und kam schon zu spät. 

Etwas bewirkt habe ich vielleicht nur auf einer Protestversammlung der Humboldt-Universität. Eigentlich hatte ich im Frühjahr 1992 bei einem nostalgischen Erkundungsgang »Unter den Linden« nur wieder einmal meine »Alma mater« in Augenschein nehmen wollen, in der ich 1932 mein Studium begonnen hatte und Ende Februar 1933 verhaftet worden war. 

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Als ich mich dem vertrauten Gebäude näherte, wurde ich sofort von der bewegten Atmosphäre eines ungewöhnlichen Vormittags erfaßt. Auf dem Platz vor dem Haupteingang standen heftig debattierende Gruppen. Um jeden der improvisierten Bücher- und Zeitschriftenstände scharten sich erregte Menschen.

Worum ging es? Die neuen Behörden, so hieß es, wollten diese traditionsreiche Hochschule im Zuge der sogenannten »Abwicklung« ganz schließen. Und das zu einem Zeitpunkt, da das Bedürfnis nach vielfältigem Wissen und nicht gelenkter Klärung besonders in der Hauptstadt der ehemaligen DDR so groß war wie nie zuvor.

Die Aula war übervoll. Sogar auf dem Boden und auf den Fensterbrettern war kein Platz mehr frei. Während ich mich durchdrängte und suchte, wo ich mich hinsetzen oder wenigstens hinstellen könnte, hörte ich, wie der Redner, der von der erhöhten Kanzel aus sprach, sich mitten im Satz unterbrach und in den Saal hineinrief: »Robert Jungk, kommen Sie hier herauf. Sagen Sie uns doch ein paar Worte.« - »Das war Rektor Fink«, flüsterte mir ein junges Mädchen zu, das mir einen Weg durch die Menge bahnte. »Ihm wollen die jetzt auch an den Kragen. Helfen Sie uns!«

Ob ich geholfen habe, weiß ich nicht. Aber daß ich völlig unvorbereitet wie in Trance die wohl eindringlichste Rede meines Lebens gehalten habe, meine ich schon, obwohl ich mich an keinen einzigen Satz mehr genau erinnere. Die Freude über diese Rückkehr und die erwartungsvolle Haltung der vielen besorgten jungen Menschen haben mir Worte der Ermutigung eingegeben, die Zustimmung fanden und die Zuhörer bestärkten, sich nicht abermals unter obrigkeitliche Kuratel stellen zu lassen.

Mein »Projekt Ermutigung« war nicht nur Papier geblieben: die Humboldt-Universität konnte gerettet werden.

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7.

Der letzte Tag des Jahres hat für mich immer eine besondere Bedeutung gehabt. Seit ich als Zwölfjähriger auf einer Wanderung im verschneiten Riesen­gebirge zufällig von der Gruppe der Kameraden abgekommen, zuerst voller Angst, dann in wachsender Neugier und Erlebnisoffenheit einen ereignisreichen 31. Dezember erlebt habe, ist die einsame Wanderung an diesem besonderen Kalendertag für mich zum jährlichen Ritual geworden. 

Es sind Stunden des Nachdenkens über Vergangenes und der freigesetzten Phantasien über Kommendes, denen ich mich besonders an diesem Tag planlos gehend, fahrend, an unbekannten Tischen, auf unbekannten Bänken sitzend überlasse.

Dann notiere ich nichts, lasse absichtslos Gedanken kommen und gehen aus einer Scheu vor ihrer Verfestigung oder gar Verwertung. Ein paar Jahre lang bildete ich mir ein, daß alles, was mir in diesem kurzen Zeitraum begegnete, Hinweise auf Künftiges sei, von orakelhafter Bedeutung und voller Zeichen, die ich zu deuten hätte. So hatte ich am Jahresende 1938 als erster entsetzter Zeuge auf einer Landstraße in der Nähe von London mit angesehen, wie in der beginnenden Dämmerung ein angetrunkener Mann überfahren wurde. Der Anblick seines geborstenen Schädels ließ mich damals das Schreckliche ahnen, das nun kommen sollte, kommen mußte.

Am 31.12.1989, an der Schwelle des letzten Jahrzehnts unseres zweiten Jahrtausends, konnte ich abermals das Gefühl der Bedrückung nicht abschütteln, obwohl ich mich auf meinem Silvesterspaziergang dagegen zu wehren versuchte: eine Ahnung neuen Unheils, eine Anwandlung ohnmächtiger Verzweiflung, die meinem Temperament nicht entsprach und von ihm nicht zugelassen wurde, ließ sich nicht abschütteln.

Stand denn nicht alles zum besten? 

Die Untergangsgefahr schien gebannt, seit es keine hochriskante Rivalität zweier hochgerüsteter Supermächte mehr gab. Die Einsicht, daß der ungehemmte industrielle Fortschritt gebremst und umgelenkt werden mußte, war weiter verbreitet denn je. Die Berliner Mauer war endlich gefallen, und in vielen Teilen der Erde konnten jetzt kritische zukunftsweisende Informationen frei verbreitet werden, und es gab immer weniger, die ahnungslos bleiben mußten. Wir, die Warner, hatten mehr und schneller Erfolg gehabt, als wir je hoffen durften. Eine gute Zukunft war nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich.

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Auch persönlich durfte ich zufrieden sein. Meine Frau war wie stets voller Neugier und Lebensfreude. Mein nun in Paris lebender Sohn hatte für seine ersten Bücher viel Zustimmung erhalten. Besonders seine Biographie über Franz Werfel fand im In- und Ausland Anerkennung, und ich war stolz, wenn ich jetzt in Katalogen unser beider Namen nebeneinander lesen konnte. 

In Salzburg waren wir nun schon über zwanzig Jahre zu Hause, länger als je in einer anderen Stadt, und die Menschen auf der Straße, die Verkäufer in den Geschäften, die Kellner und Kellnerinnen in Restaurants und Kaffeehäusern begrüßten uns stets höflich, ja freundlich als Nachbarn und Mitbürger.

Mit zunehmender Freude erlebte ich auch, wie die »Bibliothek für Zukunftsfragen« nun schon als eine besondere, nicht mehr aus der Stadt wegzudenkende Institution von internationaler Bedeutung akzeptiert wurde. Daß man mir aus Dankbarkeit für meine Stiftung die Ehrenbürgerwürde verleihen wollte, machte mir allerdings anfangs einiges Kopfzerbrechen. Gerade in dieser schönen Stadt waren antisemitische Strömungen nicht erst unter Hitler, sondern schon früher besonders stark gewesen. Durfte ich da eine »Wiedergutmachung« annehmen für etwas, das nie wiedergutzumachen war? Auf materielle Entschädigungen der Bundesrepublik, die mir wie allen, die das Schreckliche überlebt hatten, zugestanden hätten, hatte ich seinerzeit aus Stolz verzichtet. Mußte ich nicht auch diese gutgemeinte Geste ablehnen? 

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Aber sowohl der Vorsteher der kleinen in Salzburg wiedererstandenen jüdischen Gemeinde wie die befreundete Schicksalsgefährtin Hilde Spiel rieten zur Versöhnlichkeit gegenüber denen, die jetzt in der Stadt das Wort hatten. So habe ich denn mit meiner Frau im herrlichen Hochzeitssaal des Schlosses Mirabell aus den Händen des sozialistischen Bürgermeisters Josef Reschen die Urkunde empfangen, die mir bestätigen sollte, daß ich endlich einmal von einer behördlichen Instanz anerkannt, ja sogar lobend hervorgehoben wurde. Meine Dankesrede, in der ich die Leidensgeschichte der Salzburger Juden darstellte und mein Zögern bekundete, wurde von den befreundeten Teilnehmern der Zeremonie mit Verständnis aufgenommen. Weniger Zustimmung fand sie allerdings bei der führenden Zeitung der Stadt.

 

8.

Allerdings — die bösen Ahnungen meiner letzten Silvesterwanderung sind tägliche, unbegreifliche Wirklichkeit geworden. Zuerst aus der fernen Golfregion, dann aus dem benachbarten, mir so vertrauten Jugoslawien kamen und kommen immer noch wahrhaft bestürzende Nachrichten.

Waren wieder einmal alle Bemühungen der Nachkriegsjahrzehnte gescheitert? Hatten die sicherlich verstärkten internationalen Anstrengungen, der Menschheit Frieden und Gerechtigkeit zu verschaffen, wirklich nichts gefruchtet? Ergab es überhaupt noch einen Sinn, für eine menschliche Zukunft zu kämpfen, wenn jetzt so viel darauf hinwies, daß eine zunehmende Verelendung der unaufhaltsam zunehmenden Erdbevölkerung so gut wie unvermeidlich schien? Machte ich mir nicht wieder einmal etwas vor, wenn ich meinte, an dieser fast aussichtslosen Lage noch etwas ändern zu können? 

Weder zorniges Aufbegehren noch hoffendes Bemühen hatten bisher Entscheidendes bewirkt.

Nicht zuletzt um meiner eigenen wachsenden Skepsis entgegenzuarbeiten, habe ich damals noch einmal ein neues Projekt begonnen: den »Katalog der Hoffnung«. In ihm wollte ich mit Hilfe unserer Bibliothek kurze Berichte über die vielen humanen Projekte veröffentlichen, in denen veränderte Haltungen und neue Entwürfe bereits Wirklichkeit geworden waren.

525


Angeregt dazu wurde ich durch die Berge von Anträgen, in die ich bei einem Besuch im Londoner Büro Jakob von Uexkülls kurzen Einblick erhalten konnte. In der Hoffnung, einen <alternativen Nobelpreis> zu gewinnen, hatten Mitarbeiter lebenserhaltender Projekte oder ihre Freunde über ihre Tätigkeit berichtet. Natürlich mußten der Stifter und seine Mitarbeiter jedes Jahr eine Auswahl treffen. Sie hatten im Laufe der Zeit überraschend viele Frauen und Männer ausgezeichnet, die auf dem <Weg in eine hellere Zukunft> waren, und damit die notwendige Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese erfolg­reichen Lebensretter gelenkt. Was aber geschah mit den Berichten derjenigen, die keinen oder noch keinen Preis erhalten hatten? Steckte in diesen Unterlagen nicht eine Unmenge von ermutigenden Mitteilungen, die weiter bekanntgemacht werden müßten?

Ich sprach darüber mit meinen Mitarbeitern in der Bibliothek und fand mit der Idee, von den Medien meist noch ignorierten Berichte über zukunftsweisende soziale Experimente in einem Buch zu sammeln, besonders bei Helmut von Loebell Anklang, einem idealistisch gesinnten Mann der Wirtschaft, der uns bereits beim Aufbau unserer Sammlung unverzichtbare Dienste geleistet hatte. So haben wir im Laufe der nächsten Monate mit Hunderten von Versuchen Bekanntschaft gemacht, bei denen andere Formen der Arbeit und des Zusammenlebens, Anstrengungen zur Regeneration zerstörter Natur, intensive Bemühungen um Entspannung von unten und globale Vernetzung bereits angegangen wurden, statt auf den großen Tag der Wandlung zu warten.

Unter den 51 Modellen für die Zukunft, die wir dann 1990 in einem ersten Sammelband vorstellten, gab es zwei Projekte, mit denen ich mich besonders verbunden fühlte, weil zu ihrer Vorbereitung und Durchführung die von Norbert Müllert und mir in unserem Buch »Zukunftswerkstätten« vorgeschlagene Methode des schöpferischen Mitwirkens Betroffener an der Veränderung ihrer Verhältnisse angewendet worden war.

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In einem Fall hatten die in der dänischen Fischindustrie von Esbjerg in unerträglichen Zuständen Arbeitenden eine grundlegende Veränderung ihrer Produktions­bedingungen entworfen und zum Teil bereits durchgesetzt. Dieser Erfolg des von Birger Steen Nielsen, dem Übersetzer der dänischen Ausgabe unseres Leitfadens, und zwei anderen Mitarbeitern des Vorhabens »Industrie und Glück« (Industri og lykke) geleiteten Projekts hatte sowohl im eigenen Land wie in anderen nordischen Ländern Aufsehen erregt und bereits erste Nachahmer auf den Plan gerufen. Eine solche beispielhafte Wirkung von Realität gewordenen Träumen konnte uns der neuen menschenwürdigen Zivilisation Schritt um Schritt näher bringen und mehr erreichen als eine zentrale, am Schreibtisch ausgedachte und von oben dirigierte Revolution.

Große Hoffnungen setzte ich auch auf ein anderes Projekt. »Ökostadt Basel« war eine Initiative, die unter dem schockierenden Eindruck des großen Chemie­unglücks vom November 1986 entstanden war. Angeregt durch einen utopischen Roman des einfallsreichen und temperamentvollen Journalisten Daniel Wiener, hatten sich Bürger zusammengetan, um an Entwürfen für eine lebenswerte Stadt zu arbeiten, deren Einwohner nicht mehr unter Umwelt­verschmutzung, zu vielen Autos, unerträglichem Fluglärm, zunehmender Entfremdung und der ständigen Angst vor einer neuen, vielleicht noch verheerenderen Industrie­katastrophe leiden müßten. In allen zwölf Bezirken der Stadt sowie in den Vororten Riehen und Binningen wurden kreative Zusammenkünfte organisiert, die bei der Bevölkerung viel Anklang fanden und zahlreiche interessante, meist auch machbare Vorschläge »für ein lebendiges Quartier« ausarbeiteten.

Zu einer abschließenden, die einzelnen Lokalbefunde zusammenführenden Zukunftswerkstatt, die unter dem Motto »Gemeinsam für eine lebendige Stadt« stand, wurde ich mit meiner Frau eingeladen. Sie fand in einem eindrucksvollen Rahmen statt, dem Saal des Bischofshofs, in dem vor Jahrhunderten, während des Basler Konzils, die höchsten geistigen Würdenträger getagt hatten. Keineswegs eingeschüchtert durch solche historischen Erinnerungen debattierten 61 Baslerinnen und Basler über das, was sie die »Krankheitssymptome« ihres Gemeinwesens nannten. 

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Auf einer »Krisenkarte« war durch schwarze Symbole sofort erkennbar, wo es »Gefährdung durch industrielle Risiken« gab, wo zu viele Lastwagen und Gifttransporte rollten, wo es mit der Abfallbeseitigung haperte und wo öffentliche Verkehrsmittel fehlten. Auch auf seelische Probleme wurde hingewiesen. Fehlende Begegnungsorte, ungemütliches Einkaufen hatten eine einst anziehende Wohnstadt so sehr verändert, daß jetzt mehr und mehr in Isolation Geratene, der Anonymität Überdrüssige abwanderten.

Dieser Bevölkerungsschwund hatte auch viele politische Mandatare und Behördenvertreter alarmiert. Deshalb unterstützten sie das »Projekt Ökostadt« finanziell und nahmen persönlich an den Beratungen der zentralen Zukunftswerkstatt teil. Es bestand also berechtigte Hoffnung, daß viele Verbesserungsvorschläge »von unten« nicht nur Ideen bleiben müßten, sondern verwirklicht werden könnten.

In dem beispielhaften Bericht »Erste Schritte in Richtung Ökostadt Basel«, den die Projektleitung veröffentlichte, findet man neben der bereits erwähnten Krisenkarte auch eine Projektkarte. Auf dem Hintergrund des Stadtplans werden Themenschwerpunkte durch schwarze Symbole dargestellt, die als Ergebnisse der Zukunftswerkstätten weiterverfolgt werden. Da gibt es. zum Beispiel neue Quartiertreffpunkte, Straßenzüge, in denen der Verkehr verlangsamt werden sollte, Ansätze zu einer intensiveren Begrünung der Stadt und mehrere Kulturinitiativen.

Aber die wirklich kritischen, schwer zu lösenden Probleme wie die Forderungen nach Umstellung der riskanten Industrieverfahren auf »sanfte Chemie«, die Beschneidung der behördlichen — vor allem der polizeilichen — Vorrechte (Projekt »gleich lange Spieße«), die Gründung einer kritischen Universität für interessensunabhängige Forschung und Bürgerberatung wurden »vorläufig nicht weiterverfolgt«. Bilanz: es wurde zwar etwas erreicht, aber nicht das tatsächlich Entscheidende. »Immerhin haben wir einen Anfang gemacht«, sagte mir ein Sprecher des Projekts, als ich ihn etwa ein Jahr nach der Zusammenkunft im Bischofshof anrief. Aber in seiner Stimme klang doch mehr Enttäuschung mit als Hoffnung.

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9. 

Im September 1990 wurde mir seit langem zum ersten Mal wieder ein Buch zu einem wegweisenden Erlebnis. Am Rande einer internationalen Koferenz über Stadtentwicklung im New Yorker Hauptquartier der UNO schenkte mir ein kanadischer Teilnehmer einen Band mit dem Titel <The End of the Century>.  

Die Hauptthese des Autors war, daß große historische und geistige Umwälzungen der Neuzeit meist gegen Ende eines Jahrhunderts begonnen hätten: 1492 hatte zum Beispiel Kolumbus auf der Suche nach der »neuen Welt« Europa hinter sich gelassen. Die große Französische Revolution von 1789 war, wie behauptet wurde, ebenfalls ein Hinweis darauf, daß bedeutende historische und geistige Ereignisse besonders dann aufbrechen, wenn der Kalender einen Jahrhundertwechsel ankündigt. So hatte Freud nicht zufällig gegen Ende des 19. Jahrhunderts, im ausgehenden »fin de siecle«, das weite dunkle Land des Unterbewußtseins entdeckt, hatten Einstein und Planck das physikalische Weltverständnis radikal verändert.

Es konnte in der Tat so sein, daß eine Zeitenwende Geist und Phantasie beflügelt und ein besonderes Datum auch besondere Leistungen und Ereignisse fördert.

»Und jetzt stehen wir sogar vor einer Jahrtausendwende«, meinte ein brasilianischer Delegierter, dem ich in einer Sitzungspause von meiner literarischen Entdeckung erzählte. »Aber wo ist denn diesmal der neue Impetus?« zweifelte ich. Dennoch ließ mich von nun an die Vorstellung nicht mehr los, daß sich noch in den letzten Augenblicken des zweiten Jahrtausends etwas Außerordentliches ereignen müsse.

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Vorboten einer kommenden Zivilisation des 21. Jahrhunderts meinte ich bereits in den Arbeiten einiger befreundeter Wissenschaftler zu sehen. Fritjof Capra, bei dem ich in Elmwood, einem von Intellektuellen und Künstlern bewohnten Viertel Berkeleys, einige Tage wohnen durfte, sprach vom »neuen Paradigma«; Helmut Krauch und Frederic Vester entdeckten das systemische und vernetzte Denken; Hazel Henderson, die aus England stammende Ökonomin, hatte den Kreis ihres Wissens erweitert und entdeckte nach dem »Sonnenzeitalter« nun das »Age of Light«; Ervin Laszlo sah, beeinflußt von Ilya Prigogine, neue Möglichkeiten der Evolution, die von einem offenen Denken geprägt sein würde, in dem nicht wissenschaftliche Logik, sondern Überraschungen und Schwankungen die vielen möglichen Zukünfte ungewiß, aber lebendig bestimmen würden.

Die durch die aufkommende Chaostheorie gewonnene Erkenntnis, daß in labilen Situationen schon minimale Ereignisse sich zu gewaltigen Wirkungen verstärken könnten, bedeutete, auf die widerspruchsvolle und unsichere gesellschaftliche Lage der Jahrtausendwende angewendet, daß nicht erst Massen, sondern schon wenige entschiedene Einzelne oder kleine Gruppen entscheidenden Einfluß auf den Lauf der Dinge ausüben könnten. Wir waren also nicht zur Ohnmacht verurteilt. Selbst die vielen in Zukunftswerkstätten erarbeiteten Bürgervorschläge und die bescheidenen sozialen Experimente, die wir von nun an in unserer »Datenbank der Hoffnung« sammelten, konnten — wenn auch nicht sofort — Wirkung ausüben und zumindest am Entstehen eines neuen Zeitgeists mitwirken.

So war es historisch von Bedeutung, daß mein Bruder im Geiste, Rudolf Bahro, in seinen Seminaren »Wege zur reinen menschlichen Natur« suchte, indem er sich bemühte, vernachlässigte physische und psychische Potentiale für das Überleben zu wecken, und es war durchaus keine Überschätzung der eigenen Kräfte, wenn auf der anderen Seite des Atlantik der Kampfgefährte Lester Brown mit den Mitarbeitern seines »World Watch Institute« es wagte, eine »ökologische Revolution« zu verkünden. Das große Echo, das die monatlichen Berichte und Jahrbücher dieser hervorragend informierten und weitschauenden Beobachter auslösten, zeigte, wie viel schon ein kleiner Kreis von zeitoffenen Aufklärern leisten konnte. 

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Die Einsicht, daß einzelne und wenige Einfluß auf die Entwicklung des Schicksals Vieler haben können, war einer der Gründe, weshalb ich im Dezember 1991 die mir ganz überraschend angetragene Kandidatur für die Wahl des österreichischen Staatspräsidenten annahm. Ich hatte dem Vorsitzenden der grünen Landtagsfraktion in Salzburg, Christian Burtscher, ohne lange zu zögern meinen Einsatz zugesagt, obwohl ich wußte, daß ich mit der Unterstützung einer Partei, die bei den letzten Wahlen knapp unter fünf Prozent geblieben war, nicht die kleinste Chance besaß, das höchste Amt im Staate zu erringen. Aber ich hatte die Möglichkeit, in dieser für mich neuen Rolle mehr Menschen anzusprechen als je zuvor. Als einem der vier Anwärter, die im ersten Wahlgang antraten, mußten die Medien Österreichs meinen Vorstellungen von einer guten Zukunft erhöhte Aufmerksamkeit schenken, die ich mit aller Energie nutzen wollte.

 

10.

Die viereinhalb Monate von Dezember 1991 bis Ende April 1992, in denen ich, begleitet von meinem umsichtigen und opferwilligen Begleiter, dem Psychologen Werner Kienlechner, kreuz und quer durch die Bundesrepublik Österreich reiste, um auf rund 160 großen und kleinen Veranstaltungen, auf Pressekonferenzen und in Funkhäusern aufzutreten, haben mich nicht erschöpft, sondern unglaublich angeregt. Deshalb hatte ich für die immer wieder gestellte Frage: »Weshalb tun Sie sich das in ihrem Alter noch an?« wenig Verständnis. 

Ich bekam so viel Zustimmung und Zuwendung, vor allem von jungen Menschen wie nie zuvor. Sie alle hatten Fragen, waren oft ratlos und erwarteten Direktiven. Die wollte ich ihnen nur sparsam geben, weil ich sie auf ihre eigenen Ideen und ungenutzten Fähigkeiten hinweisen wollte. Das hat sicherlich einige enttäuscht. Sie verstanden nicht, daß ich nicht Verführer, sondern Anreger sein mochte, daß ich sie aufforderte, mir zwar zuzuhören, aber mir nicht blind zu vertrauen.

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Das gehörte sich nicht für einen »Wahlkämpfer«. Es paßte auch nicht ins gewohnte Bild, daß ich stets offen zugab, wie gering meine Chancen waren. Ein Präsidentschafts­kandidat mußte aber so tun, als sei ihm der Sieg so gut wie sicher, wie mir die Routiniers versicherten. Doch ich sträubte mich, mir selber und den Wählern etwas vorzumachen. Schon die Tatsache, daß mir für meine Kampagne nur der zwanzigste Teil an finanziellen Mitteln zur Verfügung stand, über welche die Kandidaten der etablierten Großparteien verfügten, entschied in einem Zeitalter der Werbung von Anfang an gegen mich.

Trotzdem kamen zu meiner ersten Wahlversammlung in Salzburg viermal mehr Menschen, als erwartet worden waren. Aus dem zweihundert Plätze fassenden Saal des »Mozarteums« mußten wir schnell entschlossen und ohne Vorbereitung in das »Große Studio« übersiedeln. Für dessen Benutzung waren aber keine Erlaubnis der Polizei und keine zusätzliche Bereitstellung der Feuerwehr eingefordert worden. Deshalb verlangten die behördlichen Instanzen den sofortigen Rückzug aus dem Vorraum des großen Saals, in dem sich Hunderte drängten. Nur der Hausherr, Rektor Röscher, konnte die Situation retten. Nur wenn er sich zu so später Stunde noch bereit erklären würde, die Veranstaltung unter seine Obhut zu nehmen und das auch durch seine persönliche Anwesenheit zu bekunden, wollten die Behörden nachgeben.

Ich versuchte auf einem Tisch stehend den Wartenden die schwierige Situation zu erklären und telefonierte dann, umringt von ungeduldigen Menschen, den großartigen Mann aus der Pförtnerkabine an. Inzwischen sperrten die Musikstudenten schon die Flügeltüren zu dem großen Saal auf und ließen die drängende Menge ein. Der jäh aus seiner verdienten Abendruhe gerissene Gelehrte begriff sofort, daß sich hier eine explosive Situation entwickeln könnte, und versprach, sofort zu kommen. 

532


Das sagte er so ruhig, so selbstverständlich und freundlich zu, wie er meinen Mitarbeitern ein paar Wochen zuvor einen Vortrag zu einem in der Bibliothek veranstalteten Symposion »Für eine mozartische Zukunft« versprochen hatte. Als er, über das ganze gütige Gesicht lächelnd, erschien, bekam der Retter unseres Abends von den fast tausend Anwesenden spontanen Beifall.

»Robert Jungk im Gespräch« hatten die wenigen Plakate versprochen. Ich wollte den Dialog, nicht die Ansprache. Freda Meissner-Blau, die gescheite und tapfere Kandidatin der Grünen im sechs Jahre zurückliegenden Wahlkampf gegen Kurt Waldheim, begann die Unterhaltung mit mir auf dem Podium und zog bald auch die Zuhörer in eine klärende Debatte, die erst spätnachts zu Ende ging. Niemand hatte in all diesen Stunden gelangweilt die Veranstaltung verlassen. Die Spannung hielt bis zum Schluß an. Ein neuer dialogischer Wahlkampfstil hatte die erste Probe bestanden.

Auch in Graz und Klagenfurt, in Wien, Linz, Innsbruck und Bregenz waren unsere Treffen mehr als gut besucht. Eine Wahlüberraschung schien sich anzukündigen. Der Kandidat Jungk zwang seine Kontrahenten, auf »heiße Themen« wie den Beitritt zur EG und die wirklichen, von ihnen verschwiegenen Folgen für die Neutralität und die Unabhängigkeit Österreichs endlich genauer als bisher einzugehen. 

Als überzeugter Europäer, der in den sechziger Jahren vom Europarat eingeladen worden war, den Entwurf einer vorausschauenden Institution zu verfassen, hatte ich mit zunehmender Ablehnung die immer dominierendere Rolle wahrgenommen, welche die Wirtschaft, ihre mächtigsten Vertreter und ihre Lobbies im Brüsseler Hauptquartier der Europäischen Gemeinschaft spielten. Nun fand ich viel Zustimmung zu meiner EG-Kritik und meinem Vorschlag, Österreich solle seine Neutralität ohne Kompromisse bewahren und als ein Hauptort des Friedens in den kommenden spannungsreichen Jahren eine hervorragende Vermittlerrolle, vor allem zwischen Süden und Norden, wahrnehmen. 

Daß ich allerdings so weit ging, für die Abschaffung des teuren und überflüssigen Bundesheeres sowie das Verbot der durch seine Existenz begründeten Produktion von Mordwaffen einzutreten, stieß besonders im Süden des Landes, wo man sich zu Unrecht vor einem Übergreifen der jugoslawischen Wirren fürchtete, auf Widerstand. 

Ich bekam jetzt die ersten anonymen Haßbriefe voller antisemitischer Tiraden und brutaler Drohungen. Sie waren durchweg in einer falschen, auch ortho­graphisch meist fehlerhaften Sprache geschrieben, obwohl die Absender ihre glühende Liebe zu allem Deutschen bekundeten.

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11.

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Solche Epistel brauchte man nicht besonders ernst zu nehmen. Dr. Steyrer, der sozialistische Kandidat bei der vorigen Präsidentschaftswahl, den ich bei einem für Lester Brown gegebenen Mittagessen im Parlament kennenlernte, erzählte mir, er habe Hunderte und Aberhunderte Schmutzbriefe erhalten, und ihr Ton sei damals im Jahr 1986 viel blutrünstiger gewesen.   * wikipedia / Epistel  Apostelbrief   

Sorgen — und wie es sich später zeigte —, berechtigte Sorgen, mußte mir eine Attacke machen, die Jörg Haider, der skrupellose Chef der Freiheitlichen, am Ende einer sonntäglichen Pressestunde des Fernsehens gegen mich losließ.  

wikipedia  Jörg_Haider 

Er schwenkte das 1991 unter meiner Mitarbeit und Zustimmung erschienene Taschenbuch <Deutschland von außen> vor der Kamera und behauptete ebenso ahnungslos wie dreist, es handle sich bei dieser Sammlung meiner im Zweiten Weltkrieg von der »Weltwoche« veröffentlichten kritischen Artikel über die Zustände im Dritten Reich um eine »Jubelbroschüre« für das Hitler-Regime, das meine Familie, mich und Millionen meiner Glaubens­genossen grausam verfolgt hatte.

Durch ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat eines seinerzeit im Januar 1942 vielbeachteten kritischen Artikels, in dem ich den schlechten Gesundheits­zustand der deutschen Bevölkerung unter Zitierung der führenden medizinischen Wochenzeitung geschildert hatte, wollte der rechte Demagoge diese unsinnige Behauptung beweisen. 

Fast alle seriösen österreichischen Organe haben zwar auf Grund der genauen Lektüre meiner Ausführungen diese Beschuldigung als »skandalös« und »ungustiös«* zurückgewiesen, ja Stimmen aus der Schweiz bestätigten öffentlich, wie seinerzeit meine unter persönlichen Risiken geschriebenen Berichte den Widerstandsgeist ermutigt hatten, aber der Tiefschlag saß dennoch und erreichte, was er wollte. Ich mußte mich von nun an viel zu oft mit der Abwehr dieser »lügenhaften Entstellungen« (so urteilten später die Gerichte darüber!) beschäftigen, statt die »Stimme der Hoffnung« zu sein. 

*   duden.ungustiös  unappetitlich (österreichisch)

Von einer Grazer Richterin wurde Haider sogar dazu verurteilt, sich über das Fernsehen bei mir zu entschuldigen. Aber die Kosten von 700.000 Schilling für diese Sendung sollten zunächst einmal meine Unterstützer zahlen. Sie könnten das dann nachträglich bei dem Beleidiger einklagen, hieß es. Doch dazu fehlten ihnen die Mittel. Einmal mehr mußte meine Kampagne unter dem Fehlen genügender Geldmittel leiden. 

Übrigens meldete sich noch eine kritische Stimme zu meinem Wahlkampf, die viel Beachtung fand. 

Ruth ließ sich im Gespräch mit einem Rundfunkreporter, das scheinbar ohne ihr Wissen aufgezeichnet wurde, dazu verleiten, meine scharfen Angriffe auf die Gegenkandidaten zu verurteilen. »Was hat er das nötig?« sagte sie und pries sowohl den Sozialdemokraten Streicher, mit dem wir einmal im Speisewagen ein so freundliches Gespräch geführt hatten, wie den »lieben Doktor Klestil«, den wir während seiner Amtszeit als österreichischer Konsul in Los Angeles von seiner freundlichsten Seite kennengelernt hatten.   

Das ging dann im vielgehörten <Morgenjournal> über den Sender des ORF. Und obwohl manche meinten, das habe mir genützt - weil es gezeigt habe, daß ich meiner Frau eine Meinungsfreiheit erlaube, die in den meisten Ehen nicht gestattet ist -, war wohl die negative Wirkung stärker. Die ganze Nation freute sich über einen Ehestreit, der im Grunde keiner war. 

Mir wird vor allem die große Abschlußkundgebung am Freitag vor der Wahl auf dem sonnenbeschienenen Wiener Stephansplatz — für diese Gelegenheit in »Platz der Zukunft« umbenannt — ebenso unvergeßlich bleiben wie die Protestversammlung gegen das Atomkraftwerk Temelin, die am folgenden Tag im tschechischen Budweis stattfand, und ich erwartete eigentlich eine deutliche Steigerung der <grünen Stimmen> für den Wahlgang vom 26.04.1992. 

Daß es dann zwar zu einer Überwindung der kritischen Fünfprozenthürde, aber eben doch nur zu einer Zunahme um Prozentbruchteile kam, hat mich und die vielen wunderbaren Wahlhelfer zwar enttäuscht, aber nicht entmutigt. Ich hatte viele Samen ausgestreut. Sicher werden sie eines Tages aufgehen. Noch jetzt, viele Monate nach der Wahl, kommen immer wieder unbekannte Menschen auf mich zu und sagen mir: »Danke schön!« oder: »Geben Sie nicht auf!« 

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»Die Zahl der Fehlleistungen steigt bedenklich!« Mein Sohn hat mich vor nicht allzu langer Zeit in ironischem Ton an das erinnert, was ich nicht wahrhaben will: Ich gehe auf den achtzigsten Geburtstag, das neunte Jahrzehnt meines Lebens zu. 

Schon einmal — damals war ich erst wenig über sechzig — hatte er etwas Ähnliches gesagt. Wir waren auf einer unserer Wanderungen zum Essen in einem schönen behaglichen Gasthof des Friaul eingekehrt und hatten vor, wie gewohnt, noch in die ungewisse Nacht hinein weiterzugehen. Aber an diesem Abend meinte ich: »Bleiben wir doch. Wer weiß, was wir später finden?« Die enttäuschte Antwort Peters: »Vater, du wirst alt.« 

Das tat weh, obwohl es nicht böse, sondern fürsorglich gemeint war. Ich bin immer nach vorne gestürmt, habe nie gerastet, mich immer wieder übernommen und wollte einfach nicht wahrhaben, daß die körperlichen Kräfte und die geistige Aufmerksamkeit abnehmen. 

Es stimmt: meine Unordnung, die ich gerne als schöpferisches Chaos entschuldigen will, wächst mir über den Kopf. Meine Vergeßlichkeiten schaffen oft peinliche Situationen. Plötzliche Ermüdung zwingt mich immer häufiger, die Arbeit abzubrechen. Wenn ich mich dann überwinde, um weiterzumachen, resigniert meine liebe Frau mit betontem Wiener Akzent: »Das ist halt der Preuß in dir. Immer brav seine Pflicht tun.« 

Trotzdem macht mich das alles nicht unglücklich. Meine Lebenslust ist so wach wie eh und je. Ich bin bisher von Depressionen, die so vielen meiner Alters­genossen zu schaffen machen, verschont geblieben. Nur wenn ich an die vielen unschuldigen Opfer der Vergangenheit und der wahrscheinlichen Zukunft denke, packt mich tiefe Trauer, aus der verzweifelte Entschlossenheit wächst.

Wer lange lebt, hat oft genug erfahren, daß sich zwar nicht alles, aber doch vieles mit der Zeit zum Besseren wenden kann. Das eigene Ende ist unvermeidlich, aber von jedem kreativen, aktiven Menschen geht ein Anstoß aus, der auf unvorhersehbare Weise in die Zukunft weiter­geleitet wird.

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Ende

 

 

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