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Technologie (125)    Unlösbarkeit (136)       Revolution (140)    Verhaltenskontrolle (143-160)

 

 

 Untrennbarkeit von <gut> und <böse> in der Technologie 

121.

Ein weiterer Grund dafür, weshalb die industrielle Gesellschaft nicht im Sinne von mehr Freiheit reformfähig ist, liegt darin, daß die moderne Technologie ein Einheitssystem darstellt, in welchem alle Teile voneinander abhängig sind. Man kann die "schlechten" Seiten der Technologie nicht los werden und nur die "guten" Teile behalten. Ein Beispiel dafür gibt die moderne Medizin. 

Der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft hängt vom Fortschritt der Chemie, Physik, Biologie, Computerwissenschaft und anderer Gebiete ab. Moderne medizinische Behandlung erfordert eine teure High-Tech-Ausrüstung, welche nur in einer fortgeschrittenen technologischen und wirtschaftlich wohlhabenden Gesellschaft möglich ist. Somit ist deutlich, daß der medizinische Fortschritt nicht denkbar ist ohne das gesamte technologische System und alles was dazu gehört.

122.

Selbst wenn man den medizinischen Fortschritt ohne das übrige technologische System erhalten könnte, wäre er nicht ohne Nachteile. Angenommen, man würde ein Heilmittel gegen Diabetes entdecken. Menschen mit einer genetischen Anlage zu Diabetes können dann überleben und sich wie jeder andere fortpflanzen. Die natürliche Auslese gegen Diabetesgene wird dann aufhören und diese Gene werden sich in der gesamten Bevölkerung verbreiten. (Dies ist in gewissem Umfang bereits geschehen, seitdem Diabetes zwar nicht heilbar ist, aber mit Hilfe von Insulin unter Kontrolle gebracht werden kann.) 

Dasselbe wird mit vielen anderen Krankheiten geschehen, die sich durch genetische Defekte in der Bevölkerung verbreitet haben. Die einzige Lösung wird eine Art von Eugenetikprogramm sein oder weitreichende genetische Eingriffe in die menschliche Natur, so daß der Mensch der Zukunft nicht mehr ein Geschöpf der Natur, des Zufalls oder Gottes sein wird (je nach den religiösen oder philosophischen Überzeugungen), sondern ein künstlich hergestelltes Produkt.

123.

Wenn jemand denkt, daß sich der Staat JETZT zu sehr in das Privatleben einmischt, dann sollte er ruhig abwarten, bis der Staat die genetischen Anlagen seiner Kinder bestimmen wird. Solche Gesetze werden die unvermeidbare Folge der Einführung genetischer Manipulationen an Menschen sein, weil die Folgen einer nicht kontrollierten genetischen Manipulation verheerend sein würden.[19]

124.

Die übliche Antwort auf solche Besorgnisse ist, daß über "medizinischer Ethik" spricht. Aber ein Ethikgesetz würde nicht dazu dienen, die Freiheit gegenüber dem medizinischen Fortschritts zu schützen. Es würde die Sache eher verschlimmern. Ein Ethikgesetz, das auf genetische Manipulation anwendbar ist, wäre selbst ein Mittel, um die genetische Verfassung des Menschen zu regulieren. Irgend jemand (wahrscheinlich die obere Mittelschicht) würde entscheiden, daß diese oder jene Anwendung von genetischer Manipulation "ethisch" sei, andere dagegen nicht, so daß sie letztlich der Bevölkerung ihre eigenen Wertvorstellungen über eine genetische Verfassung aufzwingen würden. Selbst wenn ein Ethikgesetz auf völlig demokratischer Grundlage eingesetzt würde, hätte damit die Mehrheit, ihre Wertvorstellungen einer Minderheit aufgezwungen, die ihrerseits eine andere Vorstellung davon hat, wie der "ethische" Umgang mit genetischer Manipulation sein sollte. Das einzige ethische Gesetz, das wirklich einen Schutz der Freiheit gewährleisten könnte, wäre das Verbot JEGLICHER genetischer Manipulation von Menschen, doch mit Sicherheit wird in einer technologischen Gesellschaft ein solches Gesetz nicht erlassen werden.

Kein Gesetz, das genetische Manipulation einschränkt, würde bestehen können, weil die unglaublich große Macht der Biotechnologie eine unwiderstehliche Versuchung darstellt, besonders aber, weil viele praktische Anwendungsmöglichkeiten für die Mehrheit der Bevölkerung eindeutig als gut angesehen werden (die Ausmerzung von Krankheiten, die Anwendung von Mitteln, um Menschen wieder in die heutige Gesellschaft zu integrieren). So wird es unvermeidlich sein, daß genetische Manipulation in weitem Umfang angewendet wird, jedoch nur soweit sie den Bedürfnissen des industriellen-technologischen System entspricht.[20] [19] (§ 123) Man kann sich vorstellen, was passiert, wenn ein unverantwortlicher Genetiker eine Anzahl von Terroristen herstellt. [20] (§ 124) Ein weiteres Beispiel unerwünschter Folgen des medizinischen Fortschrittes wäre eine sichere Heilmethode für Krebs. Selbst wenn die Behandlung zu teuer für die Allgemeinheit wäre und deshalb nur der Elite zugute kommen könnte, würde dies nur den Anreiz mindern, sich für eine Beseitigung der krebserregende Stoffe in der Umwelt einzusetzen.

    

 

Technologie und Freiheit

 

 125.

Es ist unmöglich, einen DAUERHAFTEN Kompromiß zwischen Technologie und Freiheit zu finden, weil Technologie als weitaus stärkerer gesellschaftlicher Zwang mit Hilfe von IMMER NEUEN Kompromissen andauernd in die Freiheit eingreift. Man stelle sich zwei Nachbarn vor, von denen jeder ein Stück Land besitzt, aber einer von ihnen ist der stärkere. Nun verlangt dieser Stärkere, daß der andere ihm einen Teil seines Besitzes abtreten soll. Der Schwächere lehnt das ab. Dann sagt der Stärkere: "Gut, machen wir einen Kompromiß. Gib mir die Hälfte von dem, was ich verlange." Der Schwache hat keine andere Wahl als einzuwilligen. Etwas später verlangt der stärkere Nachbar wieder ein Stück von dem Land, und wieder wird es mit einem Kompromiß geregelt, und so fort. Auf diese Weise wird der Starke mit fortgesetzten Kompromissen schließlich das ganze Land des anderen in seinen Besitz bringen. Ähnlich verläuft der Konflikt zwischen Technologie und Freiheit.

126.

Nun wollen wir erklären, warum Technologie ein stärkerer gesellschaftlicher Zwang ist als das Streben nach Freiheit.

127.

Auch wenn ein technischer Fortschritt die Freiheit zunächst nicht zu bedrohen scheint, zeigt sich später, daß er sie sehr ernsthaft gefährdet. Nehmen wir zum Beispiel das motorisierte Transportwesen. Wenn früher ein Mensch zu Fuß ging, konnte er gehen, wo er wollte, ohne irgendeine Verkehrsvorschrift beachten zu müssen, er war unabhängig von einem technologischen Hilfssystem. Die Erfindung motorisierter Fahrzeuge schien die Freiheit des Menschen zunächst zu vergrößern. Sie schränkte die Freiheit des unmotorisierten Menschen nicht ein, denn niemand mußte ein Auto haben, wenn er nicht wollte. Wer sich dafür entschieden hatte, ein Auto zu kaufen, konnte viel schneller vorwärts kommen als zu Fuß. Die Einführung des motorisierten Transportwesens begann aber bald die Gesellschaft in einer Weise zu verändern, durch die die menschliche Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt wurde.

Nachdem die Anzahl der Autos anstieg, mußte man den Verkehr durch Vorschriften regeln. In dicht besiedelten Gebieten kann man sich mit einem Auto nicht einfach bewegen, wie man will, sondern man muß sich dem Verkehrsfluß und den Verkehrsregeln anpassen. Man hat alle möglichen Verpflichtungen: Antrag auf Fahrerlaubnis, Fahrprüfung, Erneuerung der Registrierung, Versicherung, Vorrichtungen für die Sicherheit, monatliche Haltungskosten. Inzwischen ist aber der motorisierte Transport nicht mehr optimal. Seit der Einführung des Transportwesens haben sich die städtebaulichen Anlagen dermaßen verändert, daß die Mehrzahl nicht mehr in der zu Fuß erreichbaren Nähe ihrer Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten oder Freizeiteinrichtungen lebt, so daß man nun ABHÄNGIG von Autos als Transportmittel geworden ist. Oder man muß öffentliche Transportmittel benutzen, wodurch die eigene Bewegungsfreiheit noch stärker eingeschränkt wird, als bei der Benutzung eines Autos.

Ein Fußgänger ist in seiner Freiheit stark eingeschränkt. In den Städten muß er ständig an den Fußgängerampeln warten, die hauptsächlich dem Autoverkehr dienen. Auf dem Lande ist der Autoverkehr gefährlich und unangenehm, wenn man entlang der Autobahn läuft. 

(Wir weisen nochmals am Beispiel des motorisierten Transportwesens darauf hin, daß anfangs der einzelne zwar die Wahl hatte, später aber nicht mehr. In vielfältiger Weise verändert die neue Technologie die Gesellschaft so sehr, daß Menschen GEZWUNGEN sind, sie anzunehmen.)

128.

Während der technologische Prozeß ALS GANZES unsere Freiheit kontinuierlich einengt, scheint jeder einzelne Fortschritt FÜR SICH BETRACHTET wünschbar. Elektrizität, fließendes Wasser in Häusern, schnelle Kommunikationsmittel auf weite Entfernung ... wie könnte man diese Dinge oder andere der unzähligen technischen Fortschritte ablehnen, die die moderne Gesellschaft entstehen ließ? 

Es wäre absurd, sich zum Beispiel gegen die Einführung des Telephons aufzulehnen. Es hat viele Vorteile und keine Nachteile. Wie wir aber bereits in den Paragraphen 59-76 erklärten, haben alle diese technischen Fortschritte zusammen die Welt geschaffen, in der das Schicksal des Durchschnittsbürger nicht mehr in seiner eigenen Hand oder in der von Nachbarn und Freunden liegt, sondern von Politikern, Großunternehmen, Verwaltungen, verborgenen, anonymen Technikern und Bürokraten gesteuert wird, auf die er als einzelner keinen Einfluß ausüben kann.[21] 

Dieser Prozeß wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Ein Beispiel ist die Genmanipulation. Nur wenige werden sich der Einführung von Gentechnik widersetzen, die Erbkrankheiten vernichtet. Sie richtet keinen Schaden an und verhindert viel Leiden. Im ganzen gesehen werden aber die genetischen Verbesserungen den Menschen in ein manipuliertes Produkt verwandeln, der nichts mehr mit einer freien Schöpfung des Zufalls (oder Gott, je nach religiösen Glaubensvorstellungen) zu tun hat.

129.

Ein anderer Grund, weshalb die Technologie eine so starke gesellschaftliche Kraft ist , liegt darin, daß in einer Gesellschaft der technologische Fortschritt nur in eine Richtung geht und nicht rückgängig gemacht werden kann. Wenn einmal eine technische Neuheit erfunden ist, entsteht eine Abhängigkeit von ihr, so daß man darauf nicht wieder verzichten kann, außer wenn sie durch eine noch fortschrittlichere Neuheit ersetzt wird. Die Menschen werden nicht nur individuell abhängig von einer neuen technologischen Erfindung, sondern das System als Ganzes ist abhängig davon. (Man muß sich nur vorstellen, was passieren würde, wenn beispielsweise Computer aus dem Verkehr gezogen würden). 

Somit kann das System nur in die Richtung einer noch stärkeren Technologisierung gehen. Während die Freiheit vor der Technologie zurückweichen muß, kann diese niemals einen Schritt hinter ihre eigene Entwicklung zurückgehen, weil dies das gesamte technologische System vernichten würde.

130.

Technologie entwickelt sich mit großer Geschwindigkeit und bedroht die Freiheit in unterschiedlichster Weise (Übervölkerung, Gesetze, Vorschriften, wachsende Abhängigkeit der einzelnen von großen Organisationen, Propaganda und andere psychologische Techniken, genetische Manipulation, Beeinträchtigung des privaten Bereichs durch Vorrichtungen zur Überwachung und Computer). Es würde einen langwierigen sozialen Kampf kosten, die Bedrohung der Freiheit in JEDEM einzelnen Bereich abzuwenden. Diejenigen, die die Freiheit schützen wollen, werden allein durch die Anzahl der neuen Angriffe und die Schnelligkeit der Technologieentwicklung überwältigt. Sie können dem nicht standhalten und es wäre nutzlos;, jeder einzelnen Bedrohung den Kampf anzusagen. Einen Erfolg könnte man nur erreichen, wenn das ganze technologische System bekämpft würde. Aber dies wäre Revolution und keine Reform.

131.

Techniker (wir gebrauchen diese Bezeichnung hier in einem weiten Sinn, um alle diejenigen mit einzubeziehen, die eine Spezialausbildung erhalten haben) neigen dazu, sich besonders intensiv mit ihrer Arbeit (als einer Ersatzhandlung) zu identifizieren, so daß sie sich in jedem Fall, falls es zu einem Konflikt zwischen ihrer technischen Arbeit und der Freiheit käme, für ihre Arbeit entscheiden würden. Dies betrifft die Wissenschaftler, jedoch auch andere Bereiche. Erzieher, Menschenrechtsgruppen, Organisationen haben keine Skrupel, Werbekampagnen oder andere psychologische Techniken zu benutzen, die ihnen beim Erreichen der von ihnen angepriesenen Ziele helfen. Körperschaften und andere Staatsunternehmen zögern nicht, wenn es ihnen nützlich scheint, über Personen Informationen zu sammeln, auch wenn dies die Privatsphäre verletzt. Rechtsinstitutionen versuchen oft die Verfassungsrechte von Verdächtigen und häufig ganz unschuldigen Menschen mit legalen Mitteln (manchmal auch mit illegalen) einzuschränken oder zu vereiteln. Die meisten dieser Regierungsbeamte und Rechtsvertreter glauben persönlich an Freiheit, Achtung der Privatsphäre und die Verfassungsrechte, wenn es aber im Rahmen ihrer Arbeit erforderlich scheint, setzen sie sich darüber hinweg.

132.

Bekanntlich arbeiten Menschen besser und ausdauernder, wenn sie dafür eine Belohnung erhalten als wenn sie damit eine Strafe oder eine negative Folge abwenden wollen. Wissenschaftler und andere Techniker werden hauptsächlich durch Belohnungen motiviert, die sie durch ihre Arbeit erhalten können. Diejenigen, die sich gegen die technologische Bedrohung der Freiheit wenden, versuchen damit etwas negatives zu verhindern, was zur Folge hat, daß sich nur wenige ausdauernd und intensiv dieser entmutigenden Aufgabe widmen. Wenn es durch solche Reformern endlich einmal gelingt, einen Sieg zu erringen, der eine weitere Aushöhlung der Freiheit durch technologischen Fortschritt unterbindet, besteht die Neigung, sich erst einmal auf den Lorbeeren auszuruhen. Die Wissenschaftler dagegen arbeiten unermüdlich in ihren Laboratorien weiter. Technologie wird sich gegen alle Widerstände ihren Weg bahnen, immer größere Kontrolle über die Menschen gewinnen und sie mehr und mehr vom System abhängig machen.

133.

Es gibt keine gesellschaftlichen Übereinkommen, seien es Gesetze, Institutionen, Bräuche oder ethische Normen, die einen permanenten Schutz gegen die Technologie gewähren können. Die Geschichte hat gezeigt, daß alle Gesellschaftsverträge nur vorübergehend gelten. Sie ändern sich im Laufe der Zeit oder werden schließlich aufgehoben, während der technologische Fortschritt einer Zivilisation überdauert. Angenommen, man würde eine gesellschaftliche Übereinkunft dahingehend erreichen, daß genetische Manipulationen an Menschen oder da, wo sie Freiheit und Würde bedrohen, nicht zugelassen sind, dann würde die Technologie dafür doch schon vorhanden sein. Kurz über lang könnte der diesbezügliche Gesellschaftsvertrag ungültig werden, eher früher als später, wenn man die Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen betrachtet. Dann würde genetische Manipulation unsere Freiheit bedrohen und diese Bedrohung wäre unumkehrbar (kurz vor dem Zusammenbruch der ganzen technologischen Zivilisation). 

Man sollte sich keinen Illusionen hingeben, daß man durch Übereinkunft eine dauerhafte Veränderung erreichen könnte, so wie man es jetzt durch Umweltgesetzgebung versucht. Noch vor einigen Jahren dachte man, daß es juristische Hürden gäbe, die wenigstens EINIGE der schlimmsten Formen von Umweltzerstörung verhindern könnten. Nachdem ein politischer Klimawechsel erfolgte, zerbröckeln diese Schutzwälle allmählich.

134.

Aus den aufgezeigten Gründen ist die Technologie eine viel stärkere gesellschaftliche Kraft als das Streben nach Freiheit. Aber diese Behauptung erfordert eine wichtige Einschränkung. Es scheint, daß das industrielle-technologische System in den nächsten Jahrzehnten unter wirtschaftlichen und umweltbedingten Problemen leiden wird, besonders werden auch Probleme bei menschlichen Verhaltensformen auftreten (Geisteskrankheiten, Aufruhr, Feindseligkeit, andere soziale und psychologische Schwierigkeiten). Wir hegen die Hoffnung, daß das System diesem Druck nicht standhalten wird und in sich zusammenbricht, oder wenigstens so geschwächt wird, daß dadurch eine Revolution möglich ist. Sollte eine Revolution stattfinden und erfolgreich sein, würde dies beweisen, daß das Streben nach Freiheit stärker ist als Technologie.

135.

In Paragraph 125 haben wir das Beispiel eines schwachen Nachbarn gegeben, der von einem starken Nachbarn in Not gebracht wird, indem dieser ihn zu immer neuen Kompromissen zwingt. Angenommen aber, daß der starke Nachbar plötzlich krank wird, so daß er sich nicht verteidigen kann, dann könnte der schwache Nachbar den starken dazu zwingen, ihm das Land zurückzugeben oder ihn töten. Läßt er den starken Mann überleben und zwingt ihn nur zur Rückgabe seines Landes, müßte man ihn für närrisch halten, weil der starke Mann ihm das Land wieder wegnehmen würde, sobald sich sein Zustand gebessert hätte. Dem Schwachen bleibt keine vernünftige Alternative als den Starken zu töten, wenn er einmal die Chance dazu hat. Genauso müssen wir das industrielle System vernichten, wenn es einmal geschwächt ist. Wenn wir mit ihm einen Kompromiß eingehen und warten, bis es sich wieder erholt hat, dann wird es unsere gesamte Freiheit endgültig auslöschen.

 

Anmerkungen zu Technologie und Freiheit

[21] (§ 128) Da es für die meisten paradox klingt, daß eine großen Anzahl von guten Dingen dennoch eine schlimme Sache zur Folge haben kann, wollen wir ein vergleichbares Beispiel anführen. Nehmen wir an, daß A mit B Schach spielt. Dabei schaut C, ein Großmeister im Schach, A über die Schulter. Natürlich möchte A das Spiel gewinnen, wenn daher C ihm einen guten Zug empfiehlt, tut er A damit einen Gefallen. Angenommen aber, daß C ihm ALLE notwendigen Züge sagt. In jedem einzelnen Moment tut er A einen Gefallen, indem er ihm den besten Zug zeigt, aber wenn er ALLE Züge für ihn tut, dann verdirbt er das Spiel, denn nun ist A gar nicht mehr am Spiel beteiligt, da jemand anderes alle seine Züge macht. Die Situation des modernen Menschen gleicht A. Das System erleichtert das Leben des einzelnen auf vielerlei Weise, handelt es aber so, dann beraubt es ihn der Kontrolle über sein eigenes Schicksal.

    

 

Die Unlösbarkeit von Gesellschaftsproblemen

 

136.

Sollte irgend jemand noch immer davon überzeugt sein, daß man das System mit Reformen ändern könnte, um die Freiheit vor den Auswirkungen der Technologie zu bewahren, so wäre es angebracht, seinen Blick darauf zu lenken, wie erfolglos und ungeschickt unsere Gesellschaft bisher mit anderen Problemen umgegangen ist, die wesentlich einfacher und leichter zu handhaben waren. 

Unter anderem konnte das System weder Umwelt­zerstörung noch politische Korruption oder Drogenhandel unterbinden.

 

137.

Ein Beispiel sind unsere Umweltprobleme. Hier liegt der Konflikt ganz klar auf der Hand: wirtschaftlicher Nutzen gegenüber der Rettung natürlicher Ressourcen für kommende Generationen.[22] In dieser Diskussion ist bisher nichts weiter als Geschwätz und Konfusion von den Verantwortlichen zu hören gewesen. Es läßt sich keine klare Handlungsalternative erkennen. Die Umweltprobleme wachsen weiter und unsere Enkel werden damit leben müssen. 

Versuche, Umweltfragen zu lösen, haben Streit und Kompromisse unter den verschiedenen Fraktionen ausgelöst, die gegenwärtig noch zunehmen, und immer neue tauchen auf. Die Auseinandersetzung verlagert sich ständig je nach der öffentlichen Meinung. Es handelt sich weder um einen rationalen Vorgang noch besteht die Aussicht auf eine erfolgreiche Lösung des Problems. 

Die meisten sozialen Probleme werden selten oder niemals mit Hilfe eines vernünftigen Planes gelöst, wenn sie überhaupt "gelöst" werden. Sie lösen sich meistens von selbst, indem verschiedene miteinander konkurrierende Gruppen ihre (kurzlebigen) Eigeninteressen [23] geltend machen und damit eher zufällig einen mehr oder weniger stabilen Modus vivendi erreichen. 

Tatsächlich lassen die von uns dargelegten Paragraphen 100-106 daran zweifeln, daß vernünftige langfristige gesellschaftliche Planung JEMALS erfolgreich sein kann.

 

138.

Damit wird deutlich, daß die Menschheit höchstens begrenzte Fähigkeiten besitzt, um auch nur relativ einfache soziale Probleme zu lösen. Wie aber könnte sie es schaffen, das viel schwierigere und kompliziertere Problem zu lösen, die menschliche Freiheit in Einklang mit der Technologie zu bringen? Während die Technologie ganz klar den materiellen Fortschritt repräsentiert, ist Freiheit eine Abstraktion, die von Menschen unter­schiedlich definiert werden kann und deren Verlust durch Beeinflussung und Geschwätz verschleiert wird.

 

139.

Man sollte den wichtigen Unterschied beachten: es ist denkbar, daß unsere Umweltprobleme eines Tages durch vernünftiges und einsichtiges Vorgehen geregelt werden könnten. Wenn das geschieht, dann nur deshalb, weil eine solche Lösung langfristig im Interesse des Systems wäre. Es ist aber NICHT im Interesse des Systems, die Freiheit oder Autonomie kleiner Gruppen zu bewahren. Im Gegenteil, es ist im Interesse des Systems, menschliche Verhaltensformen im umfänglichsten Maße zu kontrollieren.[24] Somit kann sich das System zwar aus praktischen Gründen zu einer klugen Handlungsweise hinsichtlich der Umweltprobleme gezwungen sehen, gleichzeitig wird das System aus praktischen Erwägungen menschliches Verhalten immer stärker regulieren (vorzugsweise durch indirekte Maßnahmen, die die Beschränkung der Freiheit verschleiern). Das ist nicht nur unsere Meinung. Bekannte Sozialwissenschaftler (z.B. James O. Wilson) haben die Bedeutung der menschlichen "Anpassung" ausführlich dargelegt. 

 

 

Anmerkungen zu Unlösbarkeit von Gesellschaftsproblemen

[22] (§ 137)  Wir betrachten hier nur die allgemein anerkannten Interessenkonflikte. Wegen der Vereinfachung verzichten wir auf eine Darstellung von Außenseiterinteressen wie der Idee, daß die ursprüngliche Natur generell Vorrang vor wirtschaftlichen Verbesserungen für Menschen hat. 

[23] (§ 137)  Eigeninteresse bedeutet nicht immer MATERIELLES Eigeninteresse. Es kann auch in der Erfüllung psychologischer Bedürfnisse bestehen, zum Beispiel bezüglich einer eigenen Ideologie oder Religion.

[24] (§ 139)  Eine Einschränkung: Es ist im Interesse des Systems, in einigen Gebieten eine gewisse genau umschriebene Freiheit zu gewähren. Zum Beispiel hat die wirtschaftliche Freiheit (in begrenztem Umfang) dem Wirtschaftswachstum genützt. Im Interesse des System liegt aber nur eine geplante, fest umrissene und begrenzte Freiheit. Der einzelne soll an der Leine geführt werden, selbst wenn diese Leine manchmal lang ist (vgl. § 94, 97)

 

  

 

Revolution ist einfacher als Reform

140.

Wir hoffen, daß wir den Leser davon überzeugen konnten, daß man das System nicht durch Reformen verändern kann, um Freiheit und Technologie in Einklang zu bringen. Der einzige Ausweg ist, das gesamte industrielle-technologische System abzuschaffen. Das bedeutet Revolution, nicht unbedingt ein bewaffneter Aufstand, aber auf jeden Fall eine radikalen und fundamentale Veränderung der gesamten Gesellschaft.

141.

Die meisten glauben, daß durch Revolution eine viel größere Veränderung erreicht wird als durch Reformen und diese deshalb bedeutend schwieriger zu realisieren wäre. Dennoch ist eine Revolution unter bestimmten Umständen leichter durchführbar als Reformen. Der Grund liegt darin, daß eine revolutionäre Bewegung mit viel größerem Engagement und Intensität geführt wird als eine Reformbewegung. Diese sucht nach Lösungen für einzelne gesellschaftliche Probleme. Eine revolutionäre Bewegung geht davon aus, mit einem Schlag alle Probleme zu lösen und eine ganz neue Welt zu schaffen. Für das von ihr angestrebte Ideal nehmen Menschen bereitwillig Risiken und große Opfer auf sich. Deshalb wäre es viel leichter das ganze technologische System zu vernichten als effektive, andauernde Beschränkungen der Entwicklung einzelner technologischer Unternehmungen vorzunehmen, wie zum Beispiel hinsichtlich genetischer Manipulation.

Es wird nicht viele Menschen geben, die sich mit ganzer Kraft der Aufgabe widmen, genetische Manipulation zu verhindern. Aber unter günstigen Umständen werden sich viele Menschen begeistert einer Revolution gegen das industrielle-technologische System anschließen. Wie wir in Paragraph 132 darlegten, versuchen Reformer bestimmte Aspekte der Technologie zu begrenzen, indem sie die negativen Folgen zu verhindern suchen. Das Ziel der Revolutionäre ist dagegen die Erfüllung ihrer Vision und dafür können sie sich ungleich stärker und andauernder einsetzen als die Reformer.

142.

Reform wird immer durch die Angst behindert, daß die Folgen der Veränderungen zu weitgehend sein könnten. Wenn aber einmal die ganze Gesellschaft vom revolutionären Fieber ergriffen ist, dann werden die Menschen um ihrer eigenen Revolution willen auch unbegrenzte Mühen auf sich nehmen. Ein Beispiel dafür haben die Französische und die Russische Revolution gegeben. Es ist möglich, daß nur eine Minderheit der Bevölkerung die Revolution wirklich unterstützt, aber diese Minderheit ist stark und aktiv genug, um die beherrschende Kraft der Gesellschaft zu werden. Über Revolution werden wir noch eingehend in den Paragraphen 180-205 sprechen.

 

    

Verhaltenskontrolle

 

143.

Seit es Zivilisation gibt, haben organisierte Gesellschaften Druck auf Menschen ausgeübt, damit der soziale Organismus funktionieren konnte. Die Art der Unterdrückung ist von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Es gibt physische (Hungerrationen, Zwangsarbeit, Umwelt­verschmutzung), und psychische Unterdrückung (Lärm, Bevölkerungsdichte, Einengung der Bewegungsfreiheit).

In der Vergangenheit hat sich die menschliche Natur kaum oder jedenfalls nur geringfügig verändert. Deshalb konnte auf Menschen nur begrenzt Druck ausgeübt werden. Sind diese Grenzen des menschlichen Ertragens erreicht, dann entsteht etwas Unerwartetes: Aufruhr, Verbrechen, Korruption, Arbeitsverweigerung, Depression oder andere mentale Probleme, erhöhte Todesrate, Geburtenrückgang. Es tritt etwas ein, das den Zusammenbruch der Gesellschaft zur Folge hat oder sie durch Eroberung, Niedergang oder Veränderungen dermaßen schwächt, daß sie von einer leistungsfähigeren Gesellschaft abgelöst wird.[1]

144.

Auf diese Weise hat die menschliche Natur in der Vergangenheit der Entwicklung von Gesellschaften gewisse Grenzen gesetzt. Der Mensch konnte nur bis zu einem bestimmten Punkt Druck ertragen. Gegenwärtig setzt eine Veränderung ein, weil die moderne Technologie Wege gefunden hat, die menschliche Natur zu verändern.

145.

Man stelle sich eine Gesellschaft vor, die Menschen Lebensbedingungen unterwirft, die sie sehr unglücklich machen: Daraufhin verabreicht sie ihnen Drogen, die ihr Unglück beseitigen. Science fiction? Dies ist bereits in gewissem Umfang in unserer Gesellschaft üblich. Weithin bekannt ist, daß die Anzahl von Menschen mit klinischen Depressionen in den letzten Jahrzehnten dramatisch gestiegen ist.

Wir vermuten, daß dies auf die Zerstörung der Selbstverwirklichung zurückzuführen ist, wie in Paragraphen 59-76 dargelegt wurde. Auch wenn wir uns irren sollten, ist dieser Anstieg von Depressionen auf jeden Fall das Ergebnis EINIGER Lebensbedingungen, der heutigen Gesellschaft. Anstelle die Bedingungen zu beseitigen, die Depressionen bei Menschen hervorrufen, verabreicht ihnen die moderne Gesellschaft antidepressive Medikamente. Damit wird der innere Zustand der Person so verändert, daß er nun die sozialen Bedingungen aushalten kann, die für ihn sonst nicht zu ertragen sind. (Ja, wir wissen, daß Depression oft rein genetisch bedingt sein kann. Wir beziehen uns hier auf die Fälle, in denen die Umwelt dafür verantwortlich ist).

146.

Drogen, die auf das Bewußtsein einwirken, sind nur ein Beispiel für die Methoden der Kontrolle über menschliche Verhaltensformen, die die moderne Gesellschaft hervorbringt. Werfen wir einen Blick auf andere Methoden.

147.

Zuerst die Überwachungstechniken. Versteckte Kameras werden in den meisten Läden und an vielen anderen Orten zur Überwachung benutzt. Üblich ist der Einsatz von Computern, um in großem Ausmaß Informationen über Personen zu sammeln und auszuwerten. Mit den auf solche Weise gesammelten Informationen läßt sich verstärkt Druck ausüben (i.e. Rechts­vollstreckung).[2] 

Dann gibt es die Propagandamethoden der Massenmedien. Es wurden wirksame Methoden entwickelt, um Wahlen zu gewinnen, Produkte zu verkaufen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Unterhaltungsindustrie dient als wichtiges psychologisches Werkzeug des Systems, auch dann, wenn ihre hauptsächlichen Themen Sex und Gewalt sind. Unterhaltung ermöglicht dem modernen Menschen seiner Realität vorübergehend zu entfliehen. Während er vor dem Fernseher, Video o.ä. sitzt, kann er seine Ängste, Enttäuschungen, Unzufriedenheit vergessen. 

Der primitive Mensch ist im Einklang mit sich selbst und der Welt, er kann deshalb, wenn er seine Arbeit getan hat, stundenlang herumsitzen ohne etwas zu tun. Der moderne Mensch dagegen muß immer beschäftigt oder unterhalten werden, sonst fühlt er Langeweile, d.h. er wird unruhig, fühlt sich unbehaglich und gereizt.

 

148.

Andere Techniken gehen weiter als die zuvor beschriebenen. Erziehung besteht nicht mehr darin, einem Kind den Hintern zu versohlen, wenn es seine Schulaufgaben nicht gelernt hat und ihm über den Kopf zu streichen, wenn es sie gut gemacht hat. Es ist inzwischen eine wissenschaftliche Aufgabe, die Entwicklung eines Kindes zu überwachen. Das Sylvian Learning Center war sehr erfolgreich darin, Kinder beim Lernen zu motivieren, auch psychologische Methoden wurden in vielen herkömmlichen Schulen erfolgreich eingesetzt. Eltern werden darin geschult, ihren Kindern die Grundwerte des Systems richtig zu vermitteln und ihr Verhalten in einer dem System dienenden Weise anzupassen.

"Mentale Gesundheitsprogramme", Methoden der Vermittlung, Psychotherapie u.a. wurden vorgeblich zum Nutzen der Menschen entwickelt, in Wirklichkeit dienen sie dazu, das Denken und Verhalten der Menschen dem System anzupassen. (Hierin liegt kein Widerspruch: eine Person, deren Verhalten zu Konflikten mit dem System führt, stellt sich gegen eine Macht, die sie nicht überwinden und der sie nicht entkommen kann. Somit wird sie unter psychischen Druck, Niedergeschlagenheit und Frustration leiden. Sie hat es wesentlich leichter, wenn sie sich so verhält und denkt wie das System es erfordert. In diesem Sinne handelt das System für das Wohlergehen des einzelnen, wenn es ihn durch Gehirnwäsche dem Anpassungsprozeß unterzieht.) 

In allen Kulturen wird Kindesmißbrauch in seinen erschreckenden und offensichtliche Formen verurteilt und grundlose Gewalt gegen Kinder abgelehnt. Viele Psychologen haben aber eine breitere Auslegung von Mißbrauch entwickelt. Ist Prügel als Teil eines bewußt eingesetzten Mittels zur Disziplinierung eine Form des Mißbrauchs? Diese Frage wird letztlich dadurch entschieden werden, ob Prügelstrafe dazu dient, das Verhalten einer Person dem Gesellschaftssystem anzupassen. Das Wort "Mißbrauch" wird in der Praxis für alle Arten von Kinderaufzucht benutzt, die nicht system-gemäßes Verhalten fördern. Wenn sie also über das Verhindern von offenbar sinnloser Grausamkeit hinausgehen, richten sich Programme zur Verhinderung von "Kindes­mißbrauch" auf die Kontrolle von Verhalten zugunsten des Systems.

149. 

Vermutlich werden Forschungen sich verstärkt damit befassen, die Leistungsfähigkeit psychologischer Methoden zur Kontrolle menschlichen Verhaltens zu verbessern. Wir denken aber, daß psychologische Methoden allein nicht ausreichen werden, um Menschen einer Gesellschaft anzupassen, wie sie durch Technologie geschaffen wird. Man wird wahrscheinlich auch biologischen Methoden anwenden müssen. Wir haben bereits den Gebrauch von Drogen in diesem Zusammenhang erwähnt. Neurologie könnte ein anderer Weg zur Veränderung des menschlichen Bewußtseins sein. Genetische Manipulation des Menschen wird bereits in Form von "Gentherapie" angewendet, es gibt keinen Grund anzunehmen, daß solche Methoden nicht auch angewendet werden, um bestimmte körperliche Aspekte zu verändern, die einen Einfluß auf mentale Funktion haben.

150. 

Wie wir in Paragraph 134 erwähnten, gerät die industrielle Gesellschaft gegenwärtig durch Umwelt- und Wirtschaftsprobleme sowie durch Verhaltensweisen unter starken Druck. Ein beachtlicher Teil dieser Wirtschafts- und Umweltprobleme wird durch menschliche Verhaltensweisen verursacht. Geisteskrankheit, mangelndes Selbstbewußtsein, Depressionen, Feindseligkeit, Widerstand, Lernverweigerung bei Kindern, Jugendbanden, Drogenmißbrauch, Vergewaltigung, Kindesmißhandlung, Kriminalität, frühzeitige Schwangerschaften, ungeschützter Sex, Bevölkerungsexplosion, politische Korruption, Rassenhaß, ethnische Auseinandersetzungen, ideologische Konflikte, politischer Extremismus, Terrorismus, Sabotage, Regierungsgegner bedrohen das Überleben des Systems. Es sieht sich dadurch GEZWUNGEN, alle praktischen Möglichkeiten der Kontrolle über menschliches Verhalten anzuwenden.

151. 

Die heute sichtbare gesellschaftliche Zerstörung ist keineswegs Ergebnis eines Zufalls, sondern kann nur aus den Lebensbedingungen hervorgegangen sein, die das System den Menschen auferlegt hat. (Wie wir bereits dargelegt haben, ist einer der Hauptgründe die Zerstörung der Selbstverwirklichung. Wenn es dem System gelingen sollte, menschliches Verhalten einer totalen Kontrolle zu unterwerfen, um dadurch sein eigenes Überleben zu sichern, würde die Menschheitsgeschichte in ein neues Stadium eintreten. Während die menschlichen Grenzen des Ertragens früheren Gesellschaften ihre Begrenzung vorschrieben (wie wir in Paragraphen 143,144 erklärten), wird die industrielle-technologische Gesellschaft in der Lage sein, diese Grenzen zu überschreiten, indem sie Menschen verändert, sei es durch psychologische oder biologische Methoden oder durch Anwendung beider Methoden. In Zukunft werden Gesellschaftssysteme nicht mehr den menschlichen Bedürfnissen, sondern die Menschen den Bedürfnissen des Systems angepaßt werden.[3]

152. 

Im allgemeinen läßt sich sagen, daß technologische Kontrolle über menschliches Verhalten nicht unbedingt aus totalitären Gründen eingeführt wird oder aus einem bewußten Verlangen, die menschliche Freiheit zu beschränken.[4] Jeder Schritt dieser Kontrolle über menschliches Bewußtsein wird eine rationale Antwort auf ein Problem sein, mit dem die Gesellschaft konfrontiert ist, wie der Kampf gegen Alkoholismus, Verminderung der Kriminalität oder Motivation der Jugend zum Studium von Wissenschaft und Technik.

In den meisten Fällen wird es eine humanitäre Rechtfertigung geben. Zum Beispiel, wenn ein Psychiater einem depressiven Patienten ein antidepressives Medikament verschreibt, tut er es, um ihm zu helfen. Es wäre geradezu unmenschlich, demjenigen das Medikament vorzuenthalten, der es benötigt. Wenn Eltern ihre Kinder in ein Lern-Center schicken, damit sie dort zum Lernen motiviert werden, dann tun sie das zum Wohle ihrer Kinder. Vielleicht sind einige Eltern der Meinung, daß es besser wäre, ihre Kinder müßten nicht wegen der Perfektion am Computer auf diese Weise manipuliert und einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Aber was bleibt ihnen übrig? Sie können die Gesellschaft nicht ändern, und ihre Kinder bekommen vielleicht keine Arbeit, wenn sie nicht bestimmte Fähigkeiten gelernt haben. So werden sie also ihre Kinder in das Lernzentrum schicken.

153.

Somit wird Kontrolle über menschliches Verhalten nicht als vorsätzliche Entscheidung von Behörden eingesetzt, sondern im Zuge des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses (SCHNELLE Entwicklungen). Es ist unmöglich, sich diesem Prozeß entgegen­zustellen, weil jeder Fortschritt für sich gesehen nützlich ist, oder wenigstens wird das im Fortschritt enthaltene Schlechte von Nutzen scheinen, oder der Nachteil wird scheinbar den Vorteil nicht überwiegen (vgl. § 127). Propaganda wird beispielsweise für viele gute Zwecke benutzt, wie gegen Kindesmißbrauch oder Rassenhaß. Sexuelle Erziehung ist zweifellos nützlich, dennoch wird durch sexuelle Erziehung (wenn sie erfolgreich ist) der Familie die Einflußnahme auf sexuelles Verhalten genommen und dem Staat als Vertreter des öffentlichen Schulsystems übertragen.

154.

Angenommen, man würde eine biologische Anlage entdecken, die die Vermutung bestätigt, daß ein Kind verbrecherische Neigung hat und eine bestimmte Gentherapie könnte diese Anlage ausschalten [5], dann würden die meisten Eltern, deren Kinder solche Anlagen hätten, sie einer Therapie unterziehen. Etwas anderes wäre inhuman, da das Kind sonst vielleicht ein elendes Leben als Verbrecher führen müßte. Aber die meisten primitiven Gesellschaften haben eine niedrige Verbrecherrate im Vergleich mit unserer Gesellschaft, obwohl sie weder über High-Tech-Methoden für Kindererziehung verfügen noch ein strenges Strafsystem anwenden. Es gibt bisher keinen Grund zu der Annahme, daß der moderne Mensch mehr kriminelle Anlagen hätte als der primitive Mensch. Deshalb muß die hohe Anzahl von Kriminellen in unserer Gesellschaft auf den Druck heutiger Lebensbedingungen zurückgeführt werden, dem sich viele Menschen nicht anpassen wollen oder können. Eine Behandlung, die zur Unterdrückung potentieller krimineller Neigungen führt, ist bereits zum Teil Manipulation von Menschen, um sie damit den Anforderungen des Systems anzupassen.

155.

Unsere Gesellschaft neigt dazu, jede Art des Denkens oder Verhaltens, die dem System unbequem ist, als "Krankheit" anzusehen, . Verständlicherweise, denn wenn eine Person sich nicht dem System unterwirft, ist dies einerseits für die Person schmerzhaft und verursacht andererseits Probleme für das System. In der Manipulation von Menschen zwecks Anpassung an das System sieht man die "Heilung" der "Krankheit" als etwas positives an.

156.

In § 127 haben wir festgestellt, daß wenn der Nutzen einer neuen technologischen Erfindung ANFANGS optimal ist, er nicht immer so BLEIBEN muß, weil die neue Technologie die Gesellschaft dahingehend verändert, daß es schwierig oder unmöglich für den einzelnen wird, ohne diese Technologie auszukommen. Das läßt sich auch auf Verhaltenstechnologien anwenden. In einer Welt, in der die meisten Kinder mittels eines Programms zum Lernen motiviert werden, werden Eltern weitgehend gezwungen, ihre Kinder einem solchen Programm zu unterziehen. Würden sie das nicht tun, wären ihre Kinder vergleichsweise ungebildet und würden später keine Arbeit finden. 

Angenommen, man würde eine biologische Behandlungsmethode entdecken, die keine unerwünschten Nebenwirkungen hätte und mit der die psychologischen Belastungen weitgehend verringert werden können, unter denen ein großer Teil der Menschen in unserer Gesellschaft leidet. Wenn ein großer Teil der Menschen sich dieser Behandlung unterziehen würde, wäre damit der allgemeine Grad der Belastung vermindert und das System hätte einen größeren Spielraum, den psychologischen Druck zu erhöhen. Tatsächlich ist dies in unserer Gesellschaft bereits geschehen, nämlich durch die Massenunterhaltung, die als psychologisches Mittel bei Menschen Stress reduziert (oder wenigstens vorübergehend entlastet) (vgl. § 147).

Unser Gebrauch der Massenunterhaltung ist "optimal": kein Gesetz zwingt uns dazu fernzusehen, Radio zuhören, Zeitungen zu lesen. Dennoch ist Massenunterhaltung ein Mittel, den Stress zu verringern, von dem die meisten von uns abhängig geworden sind. Jeder beschwert sich über die schlechten Fernsehsendungen, aber jeder sieht sie sich an. Nur wenige haben das Fernsehen aufgegeben, aber selten gibt es heute noch jemanden, der überhaupt KEINE Form der Massenunterhaltung wahrnimmt (in der Menschheits­geschichte haben die meisten bis vor kurzem keine andere Unterhaltung gekannt, als in ihrer eigenen Gemeinschaft und waren damit zufrieden ) Ohne die Unterhaltungsindustrie würde das System nicht in der Lage sein, uns in diesem Ausmaß einer Stressbelastung auszusetzen.

157.

Angenommen, daß die industrielle Gesellschaft überlebt, wird die Technologie wahrscheinlich in der Lage sein, menschliches Verhalten total zu kontrollieren. Es gibt keinen rationalen Zweifel daran, daß menschliches Bewußtsein und Verhalten vor allem eine biologische Grundlage hat. Wie Versuche gezeigt haben, können Gefühle wie Hunger, Freude, Ärger und Angst durch elektrische Stimulierung gewisser Gehirnteile abgestellt oder hervorgerufen werden. Das Erinnerungsvermögen kann zerstört werden, indem man Teile des Gehirns auslöscht oder durch elektrische Stimulation wiederbelebt. Halluzinationen und Stimmungen können durch Drogen verändert werden. Möglicherweise gibt es eine immaterielle menschliche Seele, die aber nicht in dem Maße wie die biologischen Mechanismen auf das Verhalten einwirkt. Wenn dies nicht der Fall wäre, würden die Forscher nicht in der Lage sein, menschliche Gefühle und Verhalten mittels Drogen und Elektroschocks so leicht zu manipulieren.

158.

Vermutlich wäre es nicht durchführbar, allen Menschen Elektroden einzupflanzen, damit sie von den Behörden kontrolliert werden können. Aber die Tatsache, daß das menschliche Bewußtsein und Gefühlsleben biologischen Eingriffen offensteht, macht deutlich, daß es sich bei der Kontrolle menschlichen Verhaltens lediglich um ein technisches Problem handelt: nämlich ein Problem von Neuronen, Hormonen und komplexen Molekülen. Diese Problemstellung ist mit wissenschaftlichen Mitteln zu lösen, und die bisherigen Leistungen der Gesellschaft bei der Lösung technischer Probleme machen es wahrscheinlich, daß auch bei der Verhaltenskontrolle große Fortschritte erzielt werden.

159.

Würde öffentlicher Widerstand die Einführung technologischer Kontrolle über menschliches Verhalten verhindern? Dies könnte durchaus möglich sein, wenn eine solche Kontrolle ganz plötzlich umfassend eingesetzt würde. Da aber eine technologische Kontrolle nur ganz allmählich in verschiedenen Abschnitten eingeführt wird, ist es unwahrscheinlich, daß es nachhaltigen öffentlichen Widerstand dagegen geben wird. (vgl. § 127, 132, 153.)

160.

Wir möchten diejenigen, die meinen daß sich alles hier gesagte zu sehr nach Science Fiction anhört, daran erinnern, daß die Science Fiction von gestern die Tatsachen von heute sind. Die Industrielle Revolution hat die Umgebung und die Lebensweise des Menschen radikal verändert. Deshalb ist zu erwarten, daß je mehr die Technologie sich mit dem menschlichen Körper und Bewußtsein befaßt, der Mensch sich genauso radikal verändern wird wie seine Umwelt und seine Lebensweise.

 

 

Anmerkungen zu Verhaltenskontrolle

 

[1] (§ 143)  Wir wollen damit nicht ausdrücken, daß die Leistungsfähigkeit oder das Überleben einer Gesellschaft in einem Zusammenhang mit der Unterdrückung oder schlechten Behandlung der Menschen durch diese Gesellschaft steht, das ist sicherlich nicht der Fall. Es gibt ausreichende Anhaltspunkte dafür, daß viele primitive Gesellschaften Menschen weniger unterdrückt haben als die europäische Gesellschaft. Aber die europäische Gesellschaft hat sich als wesentlich leistungsfähiger erwiesen als irgendeine primitive Gesellschaft und war wegen ihres technologischen Fortschritts diesen Gesellschaften immer überlegen. 

[2] (§ 147)  Falls man annimmt, daß eine verschärfte Gesetzgebung eindeutig dazu dient, Verbrechen zu verhindern, dann muß man sich klar machen, daß nicht alle vom System als Verbrechen eingestufte Handlungen von einem SELBST so eingestuft werden. Heute bedeutet der Konsum von Haschisch ein "Verbrechen", dasselbe gilt für den Besitz von Handfeuerwaffen in einigen Staaten der USA, egal, ob sie registriert sind oder nicht. Auch hinsichtlich der Bestrafung von Kindern gibt es verschiedene Rechtsauffassungen. In einigen Staaten ist die Äußerung von politischem Protest ein Verbrechen und es gibt keine Gewißheit darüber, daß das nicht eines Tages auch in den USA passiert, denn keine Verfassung oder politisches System dauert für immer. Wenn eine Gesellschaft eine umfassende Verschärfung der Gesetze verlangt, ist etwas ernsthaft nicht in Ordnung mit dieser Gesellschaft. Sie ist dann genötigt, Menschen unter Druck zu setzen, da offenbar viele sich weigern den Vorschriften freiwillig Folge zu leisten. In der Vergangenheit haben viele Gesellschaften ohne eine starke Gesetzgebung Bestand gehabt.

[3] (§ 151) Mit Sicherheit hatten auch vergangene Gesellschaften Einflußmöglichkeiten auf das Verhalten, diese waren aber verhältnismäßig primitiv und ohne große Auswirkungen, verglichen mit den technoligischen Möglichkeiten, die jetzt entwickelt werden.

[4] (§ 152) Einige Psychologen haben eine öffentliche Stellungnahme abgegeben, daß sie menschliche Freiheit mißachten und der Mathematiker Claude Shannon wird in Omni (August 1987) zitiert: "Ich stelle mir eine Zeit vor, wenn uns Roboter auf die gleiche Weise betrachten, wie Menschen heute Hunde. Und ich stimme für die Maschinen."

[5] (§154) Das ist keine Science Fiction! Nachdem wir den § 154 niedergeschrieben hatten, stießen wir auf einen Artikel in Scientific American, wonach Wissenschaftler daran arbeiten, Methoden zu entwickeln, mit denen möglicherweise zukünftig Verbrecher identifiziert und mit biologischen und psychologischen Mitteln behandelt werden können. Einige Wissenschaftler setzen sich nachdrücklich für die Anwendung von Behandlungen ein, die in nächster Zeit verfügbar sein werden. (vgl. "Seeking the Criminal Element" von W. Wayt Gibbs, Scientific American, März 1995.)

Man mag denken, daß dies in Ordnung sei, weil damit die potentiellen Schwerverbrecher behandelt werden. Dort würde man sicher nicht stehen bleiben. Als nächstes würde man auf diese Weise potentielle Alkoholiker am Steuer behandeln (die auch Menschenleben bedrohen), dann würde man sich diejenigen vornehmen, die ihre Kinder prügeln, dann die Umweltschützer, die Holzfällertransporte sabotieren, schließlich jedermann, dessen Verhalten nicht systemkonform scheint.

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Kaczynski (1995) Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft