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  8   Ursprünge gesellschaftlicher Probleme  

Zusammenbruch des Power Process in der modernen Gesellschaft (59-76) 

 

45.  Alle bisher dargestellten Symptome können in jeder Gesellschaft auftreten. In der modernen industriellen Gesellschaft sind sie jedoch in verstärktem Maße vorhanden. Wir sind nicht die ersten, die darauf hinweisen, daß die heutige Welt aus den Fugen gerät.  

Es handelt sich um eine außer­gewöhnliche Situation innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Es gibt gute Gründe, die dafür sprechen, daß der primitive Mensch weniger unter Stress und Frustration gelitten hat und mit seiner Lebensweise zufriedener gewesen ist als der moderne Mensch. Natürlich war es auch in primitiven Gesellschaften nicht einfach zu überleben. Unter den australischen Eingeborenen war die Mißhandlung von Frauen üblich, bei den Indianerstämmen Amerikas war Transsexualität verbreitet. Dennoch läßt sich im Allgemeinen sagen, daß die in den vorangegangenen Abschnitten aufgeführten Probleme unter primitiven Völkern weit weniger vorhanden waren als in der modernen Gesellschaft.

46.  Zu den sozialen und psychologischen Probleme der modernen Gesellschaft muß die Tatsache hinzugefügt werden, daß diese Gesellschaft von den Menschen verlangt, unter gänzlich anderen Bedingungen zu leben, als jenen, unter denen sich die Menschheit bisher entwickelt hat. Sie fordert ein Verhalten, das nicht den Verhaltensmustern der Menschheit unter früheren Lebensbedingungen entspricht. 

Aus dem vorhergehenden wird deutlich, daß unserer Meinung nach das Fehlen der Selbst­verwirklichung (Power Process) das wichtigste Element der ungewöhnlichen Lebensbedingungen ist, denen die Menschen der modernen Gesellschaft unterworfen sind. Aber nicht allein das. Bevor wir den Auflösung der Selbstverwirklichung als einen Ursprung gesellschaftlicher Probleme behandeln, wollen wir einige andere Gründe erörtern.

47.  Zu den abnormen Bedingungen der modernen industriellen Gesellschaft gehört das ständig zunehmende Bevölkerungswachstum, die Isolation des Menschen von der Natur, die außerordentliche Schnelligkeit sozialer Veränderungen und der Zusammenbruch von natürlichen kleinen Gemein­schaften wie der Großfamilie, des Dorfes oder des Stammes.

48.  Bekanntlich werden Stress und Aggression durch Menschenmengen verursacht. Der Grad der heutigen Übervölkerung und die Isolation des Menschen von der Natur sind Folgen des technologischen Fortschritts. Alle vorindustriellen Gesellschaften waren überwiegend landwirtschaftlich organisiert. Die industrielle Revolution hat die Städte mit ihren Bevölkerungsanteil ungeheuer anwachsen lassen. Durch die moderne landwirt­schaftliche Technologie wurde in einem nie gekanntem Ausmaß die Möglichkeit geschaffen, die riesige Bevölkerung der Erde zu ernähren.

(Technologie verschlimmert die Folgen der Übervölkerung noch dadurch, daß sie den Menschen zerstörerische Kräfte zugänglich gemacht hat. Zum Beispiel lärmerzeugende Geräte wie Mähmaschinen, Radios, Motorräder usw. Wenn der Gebrauch dieser Geräte nicht beschränkt ist, werden ruhesuchende Menschen durch Lärm gestört. Wird der Gebrauch jedoch eingeschränkt, fühlen sich die Menschen, die die Geräte benutzen, durch die gesetzliche Einschränkung beeinträchtigt. Wären diese Maschinen nicht erfunden worden, gäbe es keine Konflikte.)

49.

Für primitive Gesellschaften stellt die natürliche Umwelt (die sich gewöhnlich nur langsam verändert) ein stabiles System dar und gibt ihnen Sicherheit. In der modernen Welt beherrscht die menschliche Gesellschaft die Natur eher als umgekehrt, und die moderne Gesellschaft verändert sich sehr schnell durch den technologischen Fortschritt. Deshalb existiert kein stabiles System.

50.

Die Konservativen sind Dummköpfe: sie jammern über den Verfall der traditionellen Werte, während sie den technischen Fortschritt und das Wirtschaftswachstum kräftig unterstützen. Offenbar fällt es ihnen nicht ein, daß man unmöglich schnelle und drastische Veränderungen in Technologie und Wirtschaft haben kann, ohne gleichzeitig in einer Gesellschaft Veränderungen aller ihrer Aspekte zu verursachen, dies muß zu einem unvermeid­lichen Zusammenbruch der traditionellen Werte führen.

51.

Der Zusammenbruch traditioneller Werte beinhaltet in einem gewissen Maß die Zerstörung der Bindungen, die traditionelle soziale kleine Gemein­schaften zusammenhalten. Das Auseinanderfallen kleiner sozialer Gruppen wird noch dadurch gefördert, daß die modernen Lebens­bedingungen einzelne oft dazu verleiten oder es erforderlich machen, neue Wohnorte zu suchen und sich von den ursprünglichen Lebens­gemeinschaften trennt. Darüber hinaus MUSS die technologische Gesellschaft die Familienbande und lokalen Gemeinschaften schwächen, damit sie leistungsfähig funktionieren kann. Die Loyalität des einzelnen muß in der modernen Gesellschaft an erster Stelle dem System gelten und erst dann einer kleineren Gemeinschaft, denn umgekehrt würden solche kleineren Gemeinschaft auf Kosten des Systems zuerst ihren eigenen Vorteil suchen.

52.

Angenommen, ein öffentlicher Beamter oder ein Verwaltungsangestellter gibt seinem Vetter, seinem Freund oder seinem Glaubensgenossen eher einen Posten, als einer Person, die für diese Arbeit am besten qualifiziert ist, dann hätte er seine persönliche Loyalität vor die Loyalität gegenüber dem System gesetzt. Wir haben es dann mit "Nepotismus" oder "Diskriminierung" zu tun, welche beide als schlimme Vergehen in der modernen Gesellschaft gelten. Sogenannte industrielle Gesellschaften, denen es nicht gelingt, persönliche oder ortsbedingte Loyalität der Loyalität gegenüber dem System zu unterstellen, sind gewöhnlich nicht leistungsfähig (Beispiel: Lateinamerika). Somit kann eine fortschrittliche industrielle Gesellschaft kleine Gemeinwesen nur dann tolerieren, wenn diese begrenzt sind und dem System als willfähriges Werkzeuge dienen. [7]

53.

Als Auslöser sozialer Probleme werden weitgehend Bevölkerungsdichte, schnelle gesellschaftliche Veränderungen und der Zusammenbruch von Gemeinschaften angesehen. Dennoch glauben wir nicht, daß damit alle heute auftretenden Probleme erklärt werden können.

54.

Einige vorindustrielle Stadtstaaten waren sehr ausgedehnt und hatten eine große Bevölkerung, dennoch haben ihre Einwohner nicht in diesem Ausmaß psychologische Schwierigkeiten gehabt wie der moderne Mensch. In Amerika gibt es heute noch dünn besiedelte ländliche Gebiete, aber auch dort finden wir dieselben Probleme wie in städtischen Umgebungen, obwohl sie weniger ausgeprägt sind. Somit scheint die Bevölkerungsdichte allein nicht der entscheidende Faktor zu sein.

55.

Mit der Ausdehnung des amerikanischen Grenzlandes (Wilder Westen) im 19. Jahrhundert hat die Bevölkerungsverschiebung wahrscheinlich in demselben Maße Großfamilien und kleine soziale Gemeinschaften auseinandergerissen, wie dies heute geschieht. Tatsächlich lebten damals viele Kleinfamilien freiwillig in völliger Abgeschiedenheit. Im weiten Umkreis gab es keine Nachbarn, keine Verbindung zu Ortschaften, dennoch scheint dies nicht zu Problemen geführt zu haben.

56.

Darüber hinaus veränderte sich die amerikanische Pioniergesellschaft schnell und tiefgehend. Ein Mensch konnte nun in einer Blockhütte geboren werden und außerhalb von Gesetz und Ordnung aufwachsen. Seine Nahrung bestand dann vor allem aus Wildfleisch. Und dann konnte es geschehen, daß er im Laufe der Zeit in einem geordneten Gemeinwesen lebte, das den Gesetzen unterstand und arbeitete. Das war eine größere Lebensumstellung, als die im heutigen modernen Leben eines Menschen vorkommenden Veränderungen. Dennoch scheint dies nicht zu gravierenden psychologischen Störungen geführt zu haben. Tatsächlich herrschte in der amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine optimistische und von Selbstvertrauen geprägte Lebenseinstellung vor, im Gegensatz zur heutigen Gesellschaft. [8]

57.

Der Unterschied, so meinen wir, liegt darin, daß der moderne Mensch das berechtigte Gefühl hat, daß ihm die Veränderung AUFGEZWUNGEN wird, während der Grenzbewohner des 19. Jahrhunderts das ebenso berechtigte Gefühl hatte, daß er selbst aus freiem Willen die Lebensveränderung gewollt hatte. Ein Pionier dieser Zeit suchte damals auf eigene Faust ein Stück Land, auf dem er sich ansiedelte und mit eigener Anstrengung daraus eine Farm entstehen ließ. So konnte in diesen Zeiten ein ganzer Landkreis nur zweihundert Einwohner haben und war im Vergleich zu einem modernen Bezirk viel abgeschiedener und autonomer. Der Farmer dieser Zeit gehörte einer verhältnismäßig kleinen Gruppe an, aus der ein neu geordnete Gemeinwesen entstand.

Man kann natürlich fragen, ob die Schaffung dieses Gemeinwesens ein Fortschritt war, jedenfalls aber befriedigte es die Bedürfnisse der Pioniere in ihrer Selbstverwirklichung (Power Process).

58.

Man könnte auch andere Beispiele anführen, wo Gesellschaften einem schnellen Wandel und/oder Mangel enger Gemeinschafts­bindungen unterworfen gewesen sind, ohne daß eine umfassende Verhaltensabweichung wie in der heutigen industriellen Gesellschaft aufgetreten ist. Wir behaupten, daß der wichtigste Grund sozialer und psychologischer Probleme in der modernen Gesellschaft darin liegt, daß die Menschen zu wenig Gelegenheit finden, auf normale Weise eine Selbstverwirklichung (Power Process) zu erleben. Wir wollen damit nicht behaupten, daß nur die modernen Gesellschaft den Prozeß der Selbst­verwirklichung zerstört. Wahrscheinlich haben fast alle Zivilisationsgesellschaften die Selbstverwirklichung in größerem oder kleinerem Umfang verhindert, aber in der modernen industriellen Gesellschaft zu einem akuten Problem geworden. Der Leftismus in seiner neuesten Form seit Mitte des 20. Jahrhunderts, ist teilweise ein Symptom des Verlustes der Selbstverwirklichung .

 

 

 Anmerkungen zu Ursprünge

[7] (§ 52)  Für einige Gruppierungen wie die Amish-Gemeinschaft kann es Ausnahmen geben, da diese kaum eine Auswirkung auf die Gesellschaft als ganzes haben und sich passiv auf sich selbst bezogen verhalten. Außer diesen gibt es noch andere kleine Gemeinschaften im heutigen Amerika. Dazu gehören Jugendbanden und Sekten. Im allgemeinen werden sie als gefährlich angesehen, was auch zutrifft, weil die Mitglieder dieser Gruppen vor allem untereinander eher solidarisch sind als gegenüber dem System, von dem sie deshalb nicht kontrolliert werden können.

Ein anderes Beispiel sind die Zigeuner. Sie sind dafür bekannt, daß sie stehlen und betrügen, wegen ihrer Loyalität zueinander wird sich immer ein Zigeuner finden, der für ihre "Unschuld" bürgt. Das System würde sicher ernsthafte Probleme bekommen, wenn sich die Zahl solcher Bevölkerungsgruppen erhöhen würde. Einige der chinesischen Denker des frühen 20. Jahrhunderts, die sich mit der Modernisierung Chinas beschäftigten, kamen zu der Erkenntnis, daß kleine Gesellschaftsgruppen wie die Familie verschwinden müßten:

"(Nach Sun Yat-sen) benötigt das chinesische Volk eine neue Welle von Patriotismus, die es von seiner Loyalität gegenüber der eigenen Familie zu einer Staatsloyalität führt... (Nach Li Huang) müssen die Familienbindungen verschwinden, wenn jemals Nationalismus in China entstehen sollte ." (Chester C.Tan, Chinese Political Thought in the Twentieth Century, p. 125, p. 297) [8] (§ 56)

Natürlich wissen wir, daß das Amerika des 19. Jahrhunderts auch seine ernsten Probleme hatte, wegen der hier gebotenen Kürze können wir aber nur eine vereinfachte Darstellung geben.

  


    Zusammenbruch des Power Process in der modernen Gesellschaft    

 59.

Wir teilen die menschlichen Triebkräfte in drei Gruppen ein: (1) Triebkräfte, die durch geringe Anstrengung befriedigt werden (2) Triebkräfte, die nur durch starke Anstrengung befriedigt werden (3) Triebkräfte, die trotz aller Anstrengungen nicht befriedigt werden können. Die Selbstverwirklichung ist jener Prozeß, der die Triebkräfte der zweiten Gruppe befriedigt. Je mehr Triebkräfte der dritten Gruppe vorhanden sind, um so stärker sind Gefühle von Enttäuschung, Niedergeschlagenheit, Depression usw.

60.

In der modernen industriellen Gesellschaft besteht die Tendenz, die natürlichen menschlichen Triebkräfte in die erste und dritte Gruppe einzufügen, während die zweite Gruppe immer stärker aus künstlich geschaffenen Bedürfnissen besteht.

61.

In primitiven Gesellschaften gehören physische Bedürfnisse im allgemeinen in Gruppe Zwei: Man kann diese nur auf Kosten großer Anstrengungen befriedigen. In der modernen Gesellschaft ist die Befriedigung der physischen Bedürfnisse des einzelnen bei geringem Aufwand zumeist gewährleistet.[9] Somit werden die physischen Bedürfnisse der Gruppe 1 zugeordnet. ( Man kann darüber streiten, ob die Erhaltung eines Arbeitsplatzes zu den geringen Bedürfnissen gehört; dennoch ist die einzige Voraussetzung dafür, einen einfachen oder mittleren Arbeitsplatz zu halten, nichts weiter als UNTERORDNUNG. Man steht oder sitzt an der Stelle, auf die man plaziert wird und tut der Anweisung gemäß, was einem übertragen wird. Nur selten sind ernsthafte eigene Anstrengungen nötig, eigene Entscheidungen bei der Arbeit kommen so gut wie nicht in Betracht. Damit wird die Selbstverwirklichung Power Process nicht gefördert).

62.

Soziale Bedürfnisse wie Sexualität, Liebe und gesellschaftliches Ansehen werden in der modernen Gesellschaft oft in Gruppe 2 verwirklicht, dies ist abhängig von der Situation des Einzelnen.[10] Aber abgesehen von Menschen, die ein starkes Bedürfnis haben, einen hohen Status zu erreichen, ist die notwendige Anstrengung zur angemessenen Befriedigung dieser sozialen Bedürfnisse als Selbstverwirklichungsprozeß ungenügend.

63.

Deshalb entstanden künstliche Bedürfnisse, die in der modernen Gesellschaft der Gruppe 2 zugeordnet werden und dem Bedürfnis der Selbstverwirklichung dienen. Es wurden Werbung und Marketingtechniken entwickelt, die bei vielen Menschen Bedürfnisse erwecken, von denen ihre Großeltern niemals geträumt hatten. Damit diese künstlichen Bedürfnisse befriedigt werden können, müssen ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, um genügend Geld dafür zu verdienen. Somit gehören sie in Gruppe 2 (vgl. § 80-82). Der moderne Mensch muß den für ihn notwendigen Selbstverwirklichungsprozeß weitgehend dadurch befriedigen, daß er sich die künstlich durch Werbung und Industrie-Marketing geschaffenen Bedürfnisse erfüllt [11] und indem er Ersatzhandlungen (Surrogate Activities) ausführt.

64.

Es scheint, daß diese künstlichen Formen der Selbstverwirklichung für viele Menschen, vielleicht für die Mehrheit, unbefriedigend sind. Ein immer wiederkehrendes Thema in den sozialkritischen Schriften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Zwecklosigkeit, unter der viele Menschen in der modernen Gesellschaft leiden. (Diese Zwecklosigkeit hat auch andere Bezeichnungen wie "anomic" oder "Mittelklasse-Vakuum"). Wir vermuten, daß die sogenannte "Identitätskrise" genaugenommen eine Sinnsuche, oftmals nach einer geeigneten Ersatzhandlung, ist. Es wäre möglich, daß der Existentialismus in weiten Teilen eine Antwort auf die Ziellosigkeit des modernen Lebens ist. [12] 

In der modernen Gesellschaft ist die Suche nach der "Erfüllung" sehr verbreitet. Wir sind aber der Ansicht, daß für die Mehrheit der Menschen eine Handlung, deren Hauptziel die Erfüllung ist (das heißt eine Ersatzhandlung), nicht zu einer wirklichen Erfüllung führen kann. Mit anderen Worten, das Bedürfnis der Selbstverwirklichung wird nicht gänzlich zufriedengestellt. (vgl. § 41). Dieses Bedürfnis kann nur durch Handlungen befriedigt werden, die ein äußeres Ziel haben, wie physische Bedürfnisse, Sexualität, Liebe, Ansehen, Vergeltung usw.

65.

Allerdings, wo das angestrebte Ziel darin besteht, durch Geldverdienen soziales Ansehen zu gewinnen oder an irgendeiner Stelle im System eine Rolle zu spielen, sind die meisten Menschen nicht in der Lage, ihre Ziele SELBSTBESTIMMT (AUTONOM) zu erreichen. Die meisten Arbeiter sind als Angestellte von jemandem abhängig und müssen, wie wir in § 61 dargelegt haben, ihren Tagesablauf nach Anweisungen verbringen. Auch diejenigen, die ein eigenes Unternehmen haben, gewinnen damit nur begrenzte Unabhängigkeit. Immer wieder beklagen Unternehmer und kleine Gewerbetreibende die zu weitgehenden staatlichen Vorschriften. Ein großer Teil von Unternehmern arbeitet mit dem Franchise System.

Das Wall Street Journal berichtete vor einigen Jahren daß viele Unternehmungen, die Franchise Darlehen vergeben, von den Antragstellern für diese Bürgschaften einen Personaltest verlangen, um damit diejenigen AUSZUSCHLIESSEN, die Kreativität und Eigeninitiative erkennen lassen. Denn solche Personen verfügen über nicht ausreichende Anpassungsfähigkeit, um sich dem Franchise System unterzuordnen. Damit sind viele kleine Unternehmen, gerade der auf Selbständigkeit angewiesene Personenkreis, ausgeschlossen worden.

66.

Heutzutage leben die Menschen eher von den Vorteilen, die das System ihnen zukommen läßt, als daß sie selbst etwas eigenes unternehmen. Und wenn sie etwas aus eigenem Antrieb tun, dann vor allem in der vom System vorgesehenen Weise. Dabei werden meistens die Möglichkeiten benutzt, die das System bereitstellt. Sie können nur in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Vorschriften [13] genutzt werden, nach denen die von Fachleuten ausgearbeiteten Anweisungen befolgt werden müssen, damit sie Aussicht auf Erfolg haben.

67.

Somit ist in unserer Gesellschaft keine Selbstverwirklichung (Power Process) möglich, denn es gibt keine wirklichen Ziele und keine Selbstbestimmung, um diese Ziele durchzusetzen. Sie ist auch wegen der Zugehörigkeit dieser menschlichen Triebkräfte zu Gruppe Drei unmöglich, diejenigen Triebkräfte also, die man nicht hinreichend befriedigen kann, ganz gleich welche Anstrengungen dafür unternommen werden. Eine dieser Triebkräfte ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Unser Leben hängt von den Entscheidung anderer Menschen ab. Wir haben keine Kontrolle über diese Entscheidungen und gewöhnlich kennen wir die Menschen nicht, die sie vornehmen. ("Wir leben in einer Welt, in der die wichtigen Entscheidung von nur wenigen Menschen, vielleicht 500 oder 1000, getroffen werden" Philip B. Heymann, Havard Law School, zitiert von Anthony Lewis, New York Times 21.April 1995).

Unser Leben hängen einzig davon ab, ob der Sicherheitsstandard eines Kernkraftwerkes gewährleistet ist, wieviel Pestizide in unsere Nahrungskette gelangen, oder wie hoch die Luftverschmutzung ist. Auch von den Fähigkeiten (oder Unfähigkeit) unseres Arztes. Ob wir eine Arbeitsstelle finden oder eine verlieren, hängt von den Wirtschaftsexperten der Regierung ab oder von der Exekutive usw. Die meisten Menschen sind nur sehr begrenzt in der Lage, sich gegen diese Bedrohungen abzusichern. Das individuelle Streben nach Sicherheit erfährt dadurch Frustration, was ein Gefühl der Machtlosigkeit zur Folge hat.

68.

Man könnte einwenden, daß der primitive Mensch äußerlich in größerer Unsicherheit lebte als der moderne Mensch, was auch durch seine kürzere Lebenserwartung bewiesen wird. Somit leidet der moderne Mensch eher unter geringerer, jedenfalls nicht größerer Unsicherheit als das für Menschen ursprünglich normale Maß. Jedoch besteht ein Unterschied zwischen psychischer und physischer Sicherheit. Was wir als sicher EMPFINDEN, ist nicht so sehr objektive Sicherheit als ein Gefühl des Vertrauens in unsere Fähigkeit, für uns selbst verantwortlich zu sein. Der primitive Mensch kann sich verteidigen, wenn ihn ein wildes Tier bedroht und anderswo Nahrung finden, wenn er dem Hunger ausgesetzt ist. Es gibt für ihn zwar keine Gewißheit, daß er dabei erfolgreich sein wird, jedoch ist er den Bedrohungen keineswegs hilflos ausgeliefert.

Dagegen ist der moderne Mensch vielen Bedrohungen hilflos ausgeliefert: nukleare Unfälle, krebserregende Stoffe in der Nahrung, Umweltverschmutzung, Krieg, Steuererhöhungen, Vereinnahmen seines Privatlebens durch große Organisationen, nationale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ereignisse, die sein Leben zerstören können.

69.

Es stimmt, daß auch der primitive Mensch machtlos gegen einige Bedrohungen ist, zum Beispiel bei Krankheiten. Diesem Risiko kann er aber gelassen entgegen sehen, denn es gehört zu den natürlichen Dingen, es ist niemandes Schuld, außer die von eingebildeten, unpersönlichen Dämonen vielleicht. Dagegen sind die Bedrohungen des modernen Menschen weitgehend durch den MENSCHEN entstanden. Sie sind nicht das Ergebnis von Zufällen, sondern werden ihm von anderen Personen, deren Entscheidungen er nicht beeinflussen kann, AUFERLEGT. Infolgedessen entstehen bei ihm Gefühle von Frustration, Demütigung und Wut .

70.

Somit bestimmt der primitive Menschen größtenteils über seine Sicherheit ( als Individuum und als Mitglied einer KLEINEN Gruppe), während die Sicherheit des modernen Menschen in den Händen von Menschen oder Organisationen liegt, die entweder nicht erkennbar oder zu umfassend sind, als daß er darauf Einfluß nehmen könnte. Damit wird das Bedürfnis des modernen Menschen nach Sicherheit in die Gruppen 1 und 3 eingeordnet. In einigen Bereichen wie Nahrung, Unterkunft usw. kann er seine Sicherheit mit geringen Anstrengungen erlangen. In anderen Bereichen ist es für ihn UNMÖGLICH Sicherheit zu erlangen. (Im Vorhergehenden wird die reale Situation stark vereinfacht dargestellt, verdeutlicht aber im allgemeinen den Unterschied der Lebensbedingungen des modernen zum primitiven Menschen).

71.

Die zahlreichen vorübergehenden Bedürfnisse oder Impulse des modernen Menschen, die nicht befriedigt werden können, werden somit der Gruppe Drei zugeordnet. Ist jemand wütend, wird er dadurch eingeschränkt, daß die moderne Gesellschaft körperliche Auseinandersetzung nicht zuläßt , in vielen Situationen ist nicht einmal verbale Aggression erlaubt. Wenn man zum Beispiel eilig irgendwohin will, oder aber man möchte langsam fahren, bleibt einem nichts weiter übrig als sich dem fließenden Verkehr anzupassen und die Verkehrszeichen zu beachten. Seine Arbeit kann man nur nach den allgemeinen Regeln des Arbeitgebers verrichten, auch wenn man eine andere Arbeitsweise vorziehen würde. Auf vielfältige Weise ist der moderne Mensch durch ein Netzwerk von direkten oder indirekten Vorschriften und Regeln gebunden, seine Triebe werden unterdrückt und damit der Prozeß der Selbstverwirklichung verhindert. Die meisten Vorschriften sind unverzichtbar, weil die industrielle Gesellschaft nur mit ihrer Hilfe funktioniert.

72.

In gewisser Hinsicht ist die moderne Gesellschaft sehr freizügig. Im allgemeinen können wir tun was wir wollen, sofern der reibungslose Ablauf des Systems nicht berührt wird. Wir können jeder beliebigen Religion angehören (wenn diese nicht ein Verhalten fördert, das eine Gefahr für das System darstellt.) Wir können unbegrenzt sexuelle Partner haben, solange wir "safer sex" praktizieren. Wir können alles tun, was wir wollen, solange es UNWICHTIG ist. In allen WICHTIGEN Bereichen wird das System jedoch in zunehmendem Maße unser Verhalten bestimmen.

73.

Verhalten wird nicht nur durch Vorschriften und nicht nur von der Regierung bestimmt. Oft wird Kontrolle durch indirekten Zwang oder durch psychologischen Druck oder Manipulation ausgeübt, sei es durch unabhängige Organisationen oder durch das System selbst. Die meisten großen Organisationen benutzen Formen der Propaganda [14], um damit allgemeine Einstellungen und Verhaltensweisen zu manipulieren. Propaganda beschränkt sich nicht allein auf Werbung und Reklame und mitunter wird nicht einmal bewußte Propaganda beabsichtigt. Zum Beispiel sind Unterhaltungsprogramme eine starke Propaganda. Ein Beispiel von indirektem Zwang: Es gibt kein Gesetz, daß uns zwingt, jeden Tag einer Arbeit nachzugehen und den Anordnungen unserer Vorgesetzten zu folgen. Vom Gesetz her kann uns niemand hindern, wie primitive Menschen in der Wildnis zu leben oder uns selbständig zu machen. In der Realität ist aber kaum noch Wildnis vorhanden, und in der Wirtschaft können sich nur eine bestimmte Anzahl von Selbständigen etablieren. Somit können die meisten von uns nur als Angestellte überleben.

74.

Nach unserer Ansicht ist das zwanghafte Streben des modernen Mensch nach Langlebigkeit bei andauernder physischer Vitalität und sexueller Attraktivität bis ins hohe Alter ein Symptom für die Unerfülltheit seines Lebens und wird durch den Verlust der Selbstverwirklichung bedingt. Dazu gehört auch die sogenannte "Midlife"-Krise und die in der modernen Gesellschaft weit verbreitete Kinderlosigkeit, die in primitiven Gesellschaften gänzlich unbekannt ist.

75.

In primitiven Gesellschaften bedeutet Leben die Aufeinanderfolge von Lebensabschnitten. Wenn die Bedürfnisse und der Zweck eines Lebensabschnitts erreicht ist, besteht keine Abneigung gegen den Übergang zum nächsten. Die Selbstver­wirklichungsprozeß eines jungen Mannes besteht darin, daß er Jäger ist, nicht als Sport oder Bedürfnis, sondern um das für seine Nahrung notwendige Fleisch zu bekommen. (für junge Frauen verläuft der Lebensprozeß komplexer und soll hier nicht weiter berücksichtigt werden). Wenn der junge Mann diese Lebensphase hinter sich hat, wird er ohne Widerstreben die Verantwortung für die Gründung einer Familie übernehmen. (im Gegensatz dazu schieben viele moderne Menschen auf unabsehbare Zeit hinaus, Kinder zu haben, weil sie zu sehr beschäftigt sind, eine Art von "Erfüllung" zu suchen. Unserer Meinung nach sollte die eigentliche Erfüllung in der Erfahrung der Selbstverwirklichung/power process bestehen, wobei anstelle von künstlichen Zielen durch Ersatzhandlungen wirklichen Ziele stehen sollten.) 

Nachdem der primitive Mensch seine Kinder aufgezogen und ihnen im Prozeß der Selbstverwirklichung die notwendigen physischen Fähigkeiten beigebracht hat, hat er seine Aufgabe erfüllt und ist bereit Alter und Tod zu akzeptieren, (falls er solange überlebt). Dagegen verstört viele moderne Menschen die Aussicht eines physischen Auflösungsprozesses an dessen Ende der Tod steht. Dies wird in den fortwährenden Anstrengungen deutlich, die sie für die Erhaltung ihrer körperlichen Kondition, des Aussehens und der Gesundheit unternehmen. Unserer Meinung nach ist diese Unzufriedenheit darauf zurückzuführen, daß sie ihre körperlichen Kräfte niemals genutzt und somit niemals ernsthaft die physische Selbstverwirklichung erlebt haben. Nicht der primitive Mensch, der täglich seine physische Kraft für das Erlangen praktischer Ziele einsetzt, fürchtet sich vor dem Alternsprozeß, sondern der moderne Mensch, der seine physischen Kräfte nie eingesetzt hat, außer daß er den Weg von seinem Auto ins Haus zurücklegt. Der Mensch, dessen Körper den Prozeß der Selbstverwirklichung im Laufe seines Lebens erfahren hat, ist am besten darauf vorbereitet, das Lebensende zu akzeptieren.

76.

Es könnte sein, daß jemand auf die in diesem Abschnitt vorkommenden Argumente antwortet: "Die Gesellschaft muß einen Weg finden, den Menschen Gelegenheit zur Selbstverwirklichung zu geben." Der Wert einer Gelegenheit wird aber gerade dadurch zerstört, daß die Gesellschaft sie ihnen gibt. Vielmehr besteht die Notwendigkeit darin, daß sie selbst ihre eigenen Gelegenheiten finden oder schaffen. Solange das System ihnen Gelegenheit GIBT, sind sie an der Leine angekoppelt. Um Selbstbestimmung zu erreichen, müssen sie sich von dieser Leine losmachen. 

 

 

Anmerkungen zu Power-Prozeß 2

[9] (§ 61) Wir haben hier die "Unterschicht" unberücksichtigt gelassen und sprechen nur von der durchschnittlichen Allgemeinheit.

[10] (§ 62) Einige Soziologen, Erzieher, Mitarbeiter im psychosozialen Bereich versuchen die sozialen Bedürfnisse in Gruppe 1 einzuordnen, da ihrer Meinung nach jeder ein sozial zufriedenstellendes Leben haben sollte. [11] (§ 63, 82) Ist das Bedürfnis nach unbegrenztem materiellen Erwerb wirklich ein künstliches Erzeugnis der Reklame und Werbeindustrie? Mit Sicherheit existiert keine angeborene Veranlagung im Menschen für materiellen Erwerb. Es gab viele Kulturen, deren Völker nur wenig materielle Güter über das absolut Lebensnotwendige hinaus anstrebten. (Australische Ureinwohner, traditionelle mexikanische Bauernkulturen, einige afrikanische Kulturen). Andererseits gab es viele vorindustrielle Kulturen, in denen Reichtum eine wichtige Rolle spielte. Wir können deshalb nicht behaupten, daß die heutige Besitz-orientierte Kultur eine ausschließliche Schöpfung der Reklame- und Propaganda-Industrie wäre.

Dennoch ist offensichtlich, daß die Reklame- und Werbeindustrie einen bedeutenden Anteil an der Schaffung dieser Kultur hat. Die Großfirmen, die Millionen für Reklame ausgeben, würden dies kaum tun, wenn es nicht erwiesen wäre, daß ihnen dadurch mehrfacher Gewinn sicher ist. Ein Mitglied von FC hat vor einigen Jahren einen Verkaufsmanager getroffen, der ihm offen und ehrlich erklärte: "Unser Job ist es, den Leuten Sachen aufzuschwatzen, die sie weder wünschen noch brauchen." Dann beschrieb er, wie ein ungeübter Verkäufer jemandem ein Produkt anbietet und es zu keinem Verkauf kommt, während ein erfahrener und professioneller Verkäufer bei demselben Mann eine Menge Waren los werden kann. Daraus wird deutlich, daß Menschen beim Kauf von Sachen, die sie eigentlich nicht wollen, manipuliert werden.

[12] (§ 64) Das Problem der Ziellosigkeit hat in den letzten 15 Jahren an Bedeutung verloren, weil sich die Menschen inzwischen physisch und wirtschaftlich weniger sicher fühlen als früher und das Bedürfnis nach Sicherheit ihnen ein Ziel bietet. Die frühere Ziellosigkeit wurde inzwischen durch Frustration über die Schwierigkeit ersetzt, Sicherheit zu erlangen. Wir betonen das Problem der Ziellosigkeit, weil die Liberalen und Linken unsere sozialen Probleme gerne lösen würden, indem die Gesellschaft jedermann Sicherheit garantieren sollte. Wenn dies geschehen könnte, würde es das Problem der Ziellosigkeit erneut zurückbringen. Es geht aber nicht darum, daß die Gesellschaft jedem mehr oder weniger Sicherheit garantieren kann. Vielmehr ist es problematisch, daß die Sicherheit eines jeden mehr vom System als von ihm selbst abhängt. Deshalb setzen sich übrigens viele für das Recht ein, Waffen tragen zu können. Der Besitz eines Gewehrs vermittelt ihnen das Gefühl, das ihre Sicherheit von ihnen selbst abhängt.

[13] (§ 66) Die Bemühungen der Konservativen, die Zahl der offiziellen Vorschriften zu beschränken, haben kaum Auswirkungen auf Durchschnittsbürger. Zum einen, kann nur ein Teil der Bestimmungen aufgehoben werden, da die meisten Vorschriften unverzichtbar sind. Zum anderen sind von der Aufhebung solcher Bestimmungen meistens Geschäftsvorgänge, weniger Einzelpersonen betroffen. Daher profitieren vor allem private Firmen davon, daß die Regierung weniger Macht hat. Das bedeutet für den Durchschnittsbürger, daß die Einmischung der Regierung in sein Privatleben nun den großen Firmen überlassen ist, denen zum Beispiel erlaubt wird, mehr Chemikalien in sein Trinkwasser abzuleiten und damit sein Krebsrisiko zu erhöhen. Die Konservativen nutzen die Verärgerung des einzelnen Bürgers über die Regierung aus, um damit die Macht der großen Konzerne zu stärken.

[14] (§ 73) Wenn sich jemand den Zweck einer bestimmten Propaganda gutheißt, dann beruft er sich häufig auf "Erziehung" oder ähnliche Beschönigungen. Propaganda bleibt aber Propaganda, unabhängig vom Zweck, für den sie eingesetzt wird.

 

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Kaczynski (1995) Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft