Die Unveränderbarkeit (111) Die Grenzen der Freiheit (114-120)
Einige Grundtatsachen der Geschichte
99. Man kann sich Geschichte als Summe zweier Komponenten vorstellen: einem unberechenbaren Teil, der aus unvorhersehbaren Ereignissen besteht, die einem nicht erkennbaren Muster folgen und einem erkennbaren Teil, der langfristige historische Abläufe beinhaltet. Im folgenden Abschnitt werden wir uns mit den langfristigen Strömungen befassen.
100. ERSTES PRINZIP. Wenn eine KLEINE Veränderung eintritt, die auf einen langfristigen historischen Ablauf wirkt, dann wird die Wirkung dieser Veränderung immer nur vorübergehend sein — die Strömung wird bald wieder den ursprünglichen Verlauf einnehmen
Beispiel: eine Reformbewegung, die sich bemüht, politische Korruption in einer Gesellschaft zu bereinigen, hat kaum mehr als eine kurzzeitige Wirkung. Früher oder später werden die Reformer nachlassen und die Korruption wird sich allmählich wieder einschleichen. Der Grad politischer Korruption neigt in einer Gesellschaft dazu, konstant zu bleiben oder sich nur langsam infolge der gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu verändern. Eine andauernde politische Säuberung kann es nur bei gleichzeitig weitreichenden Veränderungen geben. Eine KLEINE Veränderung in der Gesellschaft ist nicht ausreichend.
Wenn eine kleine Veränderung innerhalb eines langfristigen historischen Verlaufs andauert, dann nur deshalb, weil die Veränderung sich in der gleichen Richtung bewegt wie die allgemeine Strömung und diese dadurch nicht aufgehalten, sondern vielmehr vorwärtsgetrieben wird.
101. Das erste Prinzip ist fast eine Tautologie. Wenn eine historische Strömung kleinen Veränderungen nicht standhielte, würde sie eher ziellos werden als einer bestimmten Richtung zu folgen. Mit anderen Worten, es würde sich gar nicht um einen langfristigen Verlauf handeln. wikipedia Tautologie
102. ZWEITES PRINZIP. Wenn eine Veränderung eintritt, die groß genug ist, um einen langfristigen historischen Verlauf permanent zu verändern, dann würde sie die gesamte Gesellschaft verändern. Mit anderen Worten, eine Gesellschaft ist ein System, in welchem alle Teile zueinander in Beziehung stehen, und deshalb kann es nicht zu einer Veränderung eines wichtigen Teils kommen, ohne daß nicht auch alle anderen Teile dieser Veränderung unterworfen sind.
103. DRITTES PRINZIP. Wenn ein Wechsel eintritt, der groß genug ist, um eine langfristige Strömung permanent zu verändern, können die Folgen für die Gesellschaft als ganzes nicht vorausgesagt werden. (Außer daß bereits verschiedene andere Gesellschaften die gleiche Veränderung erfahren und die gleichen Folgen erlebt haben. In diesem Fall kann man auf empirischer Grundlage voraussagen, daß eine andere Gesellschaft, die die gleiche Veränderung durchmacht auch ähnliche Folgen erleben wird.)
104.
VIERTES PRINZIP. Eine neue Gesellschaft kann nicht auf dem Papier entworfen werden. Das bedeutet, man kann keine neue Gesellschaftsform im Voraus planen, dann errichten und erwarten, daß sie in der geplanten Weise funktioniert.
105.
Das dritte und vierte Prinzip ergibt sich aus der Komplexität menschlicher Gesellschaften. Eine Veränderung der menschlichen Verhaltensweise wird sowohl die Wirtschaft einer Gesellschaft als auch ihre natürliche Umwelt beeinträchtigen. Die Wirtschaft wird sich auf die Umwelt auswirken und umgekehrt, und die Veränderungen von Wirtschaft und Umwelt werden die menschliche Verhaltensweise in komplexer, nicht vorhersehbarer Weise beeinträchtigen. Das Netzwerk von Ursache und Wirkung ist viel zu komplex, um es zu überblicken und zu begreifen.
106.
Fünftes Prinzip: Eine Gesellschaftsform wird nicht bewußt und rational von Menschen gewählt. Gesellschaften entwickeln sich durch Prozesse sozialer Evolution, die nicht der Kontrolle des menschlichen Verstandes unterliegen.
107.
Das fünfte Prinzip ergibt sich folgerichtig aus den vier anderen Prinzipien.
108.
Zur Erläuterung: das erste Prinzip, das allgemein vom Versuch gesellschaftlicher Reform spricht, die entweder die gleiche Richtung der allgemeinen Gesellschaftsentwicklung einschlägt ( und damit nur eine Veränderung beschleunigt, die in jedem Fall stattfinden würde) oder lediglich eine flüchtige Auswirkung hat, so daß die Gesellschaft schnell wieder in ihr altes Fahrwasser kommt. Um andauernde Veränderungen in allen wichtigen gesellschaftlichen Aspekte zu schaffen, sind Reformen ungeeignet, eine Revolution ist notwendig. (Eine Revolution bedeutet nicht unbedingt eine bewaffnete Erhebung oder den Umsturz der Regierung.)
Das zweite Prinzip besagt, daß eine Revolution niemals nur einen Aspekt der Gesellschaft verändert. Das dritte Prinzip beinhaltet, daß Veränderungen eintreten können, die von den Revolutionären weder erwartet noch gewollt worden sind. Das vierte Prinzip sagt aus, daß eine neue Gesellschaft die von Revolutionären oder Anhängern von Utopien geplant ist, sich niemals in der geplanten Weise entwickeln wird.
109.
Die amerikanische Revolution ist dafür kein Gegenbeispiel. Die amerikanische "Revolution" war nämlich keine Revolution wie wir sie verstehen, sondern ein Unabhängigkeitskrieg, gefolgt von ziemlich weitreichenden politischen Reformen. Die Gründerväter haben weder die Richtung der amerikanischen Gesellschaft verändert, noch haben sie das angestrebt. Sie haben die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft nur von den retardierenden Auswirkungen britischer Herrschaft befreit. Ihre politische Reform hat die grundsätzliche Richtung der amerikanischen politischen Kultur nicht verändert, sondern im Gegenteil weiter in diese Richtung beschleunigt. Schon die britische Gesellschaft, aus der die amerikanische hervorgegangen ist, hatte sich seit langem in die Richtung einer parlamentarischen Demokratie bewegt.
Bereits vor dem Unabhängigkeitskrieg hatten die Amerikaner in bedeutendem Umfang in den Kolonialversammlungen eine parlamentarische Demokratie praktiziert. Das von der Verfassung eingesetzte politische System war dem englischen System und der Kolonialversammlung nachgebildet. Die Gründerväter haben mit der hauptsächlichen Veränderung zweifellos einen wichtigen Schritt getan, dieser Schritt wich aber nicht von dem einmal eingeschlagenen Weg der die englischsprachigen Welt ab. Der Beweis dafür ist, daß England und alle seine Kolonien das gleiche System einer parlamentarischen Demokratie wie die Vereinigten Staaten haben.
Hätten die Gründerväter damals die Unabhängigkeitserklärung nicht unterzeichnet, würde sich unsere heutige Situation nicht viel anders entwickelt haben. Es könnte sein, daß wir etwas engere Bindungen an England hätten, mit einem Parlament und einem Premierminister anstelle eines Kongresses und eines Präsidenten. Das wäre aber kein großer Unterschied. Somit stellt die amerikanische Revolution kein Gegenbeispiel zu unseren Prinzipien dar, vielmehr unterstreicht sie diese.
110.
Man muß seinen gesunden Menschenverstand gebrauchen, um die Prinzipien richtig anzuwenden. Sie wurden in einer unzulänglichen Sprache beschrieben, die eine Bandbreite von Interpretationen zuläßt, auch Ausnahmen können auftreten. Deshalb stellen wir diese Prinzipien nicht als unabänderliche Gesetze dar, sondern eher als Faustregeln oder Denkanstöße, die eine Art Gegenmittel zu naiven Ideen über die zukünftige Gesellschaft darstellen. Man sollte sich diese Prinzipien bewußt machen, wenn man zu anderen Ergebnissen kommt , sollte man seine Überlegungen sorgfältig prüfen und seine Schlußfolgerung nur dann aufrecht halten, wenn es gute, solide Gründe dafür gibt.
Die Unveränderbarkeit der industriellen-technologischen Gesellschaft
111.
Die aufgeführten Prinzipien machen deutlich, daß es hoffnungslos schwierig wäre, das industrielle System zu reformieren, um dadurch die zunehmende Einschränkung im Bereich unserer Freiheiten zu verhindern. Bereits seit der Industriellen Revolution bestand eine starke Tendenz, das System auf Kosten der individuellen Freiheit und lokaler Autonomie zu stärken. Deshalb würde jede Veränderung, die darauf abzielt, die Freiheit gegenüber der Technologie zu verteidigen, der grundsätzlichen Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung entgegenstehen.
Folgerichtig könnte es sich dabei entweder nur um eine vorübergehende Veränderung handeln, die bald vom Lauf der Geschichte weggefegt würde, oder wenn sie groß genug und damit dauerhaft wäre, müßte sie das Wesen unserer gesamten Gesellschaft verändern. Damit wären das erste und zweite Prinzip erfüllt.
Darüber hinaus bestünde ein großes Risiko, daß sich die Gesellschaft in einer nicht voraussagbaren Weise verändert (drittes Prinzip). Man kann kaum erwarten, daß Veränderungen, die groß genug wären, um dauerhafte Veränderungen zugunsten der Freiheit zu schaffen, bewußt vorgenommen werden, denn sie würden den Zusammenbruch des System herbeiführen.
Deshalb würden nur vorsichtige Reformversuche stattfinden, die kaum Auswirkungen hätten. Selbst größere Veränderungen würden sofort gestoppt werden, sobald sich ihre zerstörerischen Auswirkungen zeigten. Deshalb könnten dauerhafte Veränderungen zugunsten der Freiheit nur von denjenigen Menschen durchgeführt werden, die auf radikale, gefährliche und unvorhersehbare Veränderung des gesamten Systems vorbereitet sind.
Mit anderen Worten: durch Revolutionäre, nicht durch Reformer.
112.
Menschen, die sich für die Rettung der Freiheit einsetzen, ohne dafür die angeblichen Vorteile der Technologie zu opfern, werden naive Vorschläge für eine neue Gesellschaftsform machen, in denen Freiheit mit Technologie angeblich vereinbar wären. Abgesehen von der Tatsache, daß Leute, die Vorschläge machen, selten darlegen, wie diese in die Praxis umzusetzen sind, besagt das vierte Prinzip, daß selbst wenn eine neue Gesellschaftsform eingesetzt würde, diese entweder zusammenbrechen wird, oder die Auswirkungen ganz andere als erwartet wären.
113.
Auch wenn man nur ganz allgemeine Überlegungen anstellt, scheint es höchst unwahrscheinlich, daß eine Veränderung der Gesellschaft vorgenommen werden könnte, bei der Freiheit und moderne Technologie miteinander vereinbar wären. In den folgenden Abschnitten werden wir stärker auf die Gründe eingehen, um zu beweisen, daß Freiheit und technologischer Fortschritt einander ausschließen.
Die Grenzen der Freiheit in der industriellen Gesellschaft
114.
Wie in den Paragraphen 65-67, 70-73 dargelegt wurde, ist der moderne Mensch in ein Netzwerk von Gesetzen und Vorschriften eingebunden und sein Schicksal ist von Menschen abhängig, die er nicht kennt und deren Entscheidungen er nicht beeinflussen kann. Dies ist weder Zufall noch Ergebnis der Willkür arroganter Bürokraten, vielmehr ist es in jeder fortgeschrittenen technologischen Gesellschaft notwendig und unvermeidbar. Das System MUSS menschliches Verhalten seinen eigenen Erfordernissen anpassen.
Auf der Arbeit müssen Menschen das tun, was ihnen gesagt wird, sonst würde die Produktion in ein Chaos geraten. Bürokraten MÜSSEN nach strengen Vorschriften handeln. Es würde das System zerstören, wenn man Bürokraten der unteren Ebene persönlichen Spielraum läßt und es könnte zu Ungerechtigkeiten führen, wenn einzelne Bürokraten auf individuelle Weise im eigenen Ermessen handeln. Natürlich könnte man einige Beschränkungen unserer Freiheit aufheben, aber im ALLGEMEINEN ist unser von großen Organisationen reguliertes Leben notwendig, damit die industrielle-technologische Gesellschaft funktionieren kann.
Der Durchschnittsmensch erlebt dadurch ein Gefühl von Machtlosigkeit. Wahrscheinlich werden Vorschriften allmählich durch psychologische Mittel ersetzt, so daß wir scheinbar freiwillig tun, was das System von uns verlangt (Werbung, Erziehungsformen, "psychische Gesundheitsprogramme" etc.)
115.
Das System MUSS die Menschen zu einem Verhalten zwingen, das sich immer stärker vom natürlichen Muster des normalen menschlichen Verhaltens unterscheidet. Beispielsweise braucht das System Wissenschaftler, Mathematiker, Ingenieure. Es kann ohne sie nicht funktionieren. Deshalb werden Kinder unter starken Druck gesetzt, sich auf diesen Gebieten auszuzeichnen. Es ist unnatürlich für einen heranwachsenden Menschen, die meiste Zeit lernend an einem Schreibtisch zu verbringen. Ein normaler Heranwachsender möchte aktiven Kontakte zur realen Welt haben. Bei primitiven Völkern werden Kinder vor allem angeleitet, mit ihren natürlichen menschlichen Impulsen vernünftig umgehen zu können. Bei den amerikanischen Indianern lernen die Jungen, sich außerhalb des Hauses aktiv auf eine den Jungen gemäße Art zu beschäftigen. Aber in unserer Gesellschaft werden Kinder dazu gezwungen, sich mit technischen Studien zu beschäftigen, was die meisten nur widerwillig tun.
116.
Aufgrund des ständigen Zwangs, den das System ausübt, um das menschliche Verhalten zu verändern, nimmt die Zahl der Menschen zu, die sich den Herausforderungen der Gesellschaft nicht anpassen wollen oder können: Wohlfahrtsempfänger, Mitglieder von Jugendbanden, Sektenanhänger, Regierungsgegner, radikale Umweltschützer, Aussteiger und andere Widerständler.
117.
In jeder fortgeschrittenen technologischen Gesellschaft MUSS das Schicksal des einzelnen von Entscheidungen abhängig sein, auf die er keinen nennenswerten Einfluß nehmen kann. Eine technologische Gesellschaft kann nicht in kleine autonome Gemeinschaften auseinanderfallen, weil die Produktion vom Zusammenwirken einer großen Anzahl von Menschen und Maschinen abhängt. Eine solche Gesellschaft MUSS deshalb hochorganisiert sein und Entscheidungen MÜSSEN sich auf eine große Anzahl von Menschen auswirken.
Wenn eine Entscheidung etwa eine Million Menschen betrifft, dann hat jeder der betroffenen Einzelpersonen im Durchschnitt auch nur ein Millionstel Anteil an der Entscheidung. In der Praxis bedeutet das, daß Entscheidungen von öffentlichen Beamten oder Körperschaften durchgeführt werden oder von technischen Spezialisten. Aber selbst wenn die Öffentlichkeit über eine Entscheidung abstimmt, wäre die Anzahl der Stimmberechtigten gewöhnlich zu groß, als das die Stimme eines Einzelnen von Bedeutung wäre.[17]
Also sind die meisten Menschen unfähig, einen nachprüfbaren Einfluß auf die meisten Entscheidung, die ihr Leben betreffen, auszuüben. Es gibt keinen denkbaren Ausweg in einer fortgeschrittenen technologischen Gesellschaft. Das System versucht das Problem dadurch zu "lösen", daß es mit Hilfe von Propaganda den Menschen suggeriert, daß sie die Entscheidungen WÜNSCHEN, die für sie gemacht worden sind. Aber selbst wenn diese "Lösung" erfolgreich wäre und die Menschen sich dadurch besser fühlen, wäre das erniedrigend.
118.
Die Konservativen und einige andere befürworten stärker "lokale Autonomie". Örtliche Gemeinschaften waren früher unabhängig, aber diese Art von Autonomie wird immer weniger möglich, weil sie in andere größere Systeme übergehen und von ihnen abhängig werden, wie öffentliche Versorgungsbetriebe, Computer Netzwerke, Autobahnsysteme, Massenkommunikationsmedien, das moderne Gesundheitsvorsorgesystem. Auch die Tatsache, daß die Technologie eines Ortes Menschen in anderen weit abgelegenen Gebieten einbezieht, wirkt sich gegen Autonomie aus. So können Pestiziden und Chemikalien, die in der Nähe eines Baches angewendet werden, eine Wasserleitung hunderte von Meilen Flußabwärts verschmutzen und der Treibhauseffekt hat weltweite Auswirkungen.
119.
Das System ist nicht in der Lage, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Vielmehr muß das menschliche Verhalten den Bedürfnissen des Systems angepaßt werden. Dies hat nichts mit der politischen oder gesellschaftlichen Ideologie zu tun, von der angeblich das technologische System gelenkt wird. Es ist der Fehler der Technologie selbst, weil das System gar nicht von einer Ideologie, sondern von technischen Notwendigkeiten gelenkt wird.[18]
Natürlich befriedigt das System viele menschliche Bedürfnisse, aber im allgemeinen nur soweit es Vorteile für das System hat. Es sind die Bedürfnisse des Systems, die an erster Stelle stehen, und nicht die der Menschen. Beispielsweise versorgt das System die Menschen mit Nahrung, weil es nicht bestehen könnte, wenn diese verhungern würden. Es dient den psychologischen Bedürfnissen von Menschen, sofern es VORTEILHAFT ist, weil es nicht funktionieren könnte, wenn zu viele Menschen depressiv oder aufrührerisch wären. Aus guten, soliden, praktischen Gründen muß das System dauernd Druck auf Menschen ausüben, damit sie ihr Verhalten nach den Bedürfnissen des Systems richten.
Zuviel überflüssiger Müll? Die Regierung, die Medien, das Erziehungssystem, die Umweltschützer, jeder überschwemmt uns mit Unmengen von Werbung für Recycling.
Besteht eine Notwendigkeit für mehr technisches Personal? Ein Chor von Stimmen ermahnt Jugendliche, daß sie Naturwissenschaften studieren sollen. Niemand stellt sich die Frage, ob es nicht unmenschlich ist, Jugendliche zu zwingen, ihre Zeit mit Studienfächern zu verbringen, die die meisten von ihnen ablehnen.
Wenn gelernte Arbeiter aus technologischen Gründen entlassen werden und sich einer "Weiterbildung" unterziehen müssen, fragt niemand, ob es für sie demütigend ist, auf diese Weise herumgestoßen zu werden. Es wird einfach vorausgesetzt, daß sich jedermann den technischen Anforderungen fügen muß und mit gutem Grund: wenn menschliche Bedürfnisse vor technischen Notwendigkeiten gesetzt werden, würden wirtschaftliche Probleme entstehen, Arbeitslosigkeit, Mangel oder schlimmeres. Das Konzept "geistiger Gesundheit" in unserer Gesellschaft wird im allgemeinen daran gemessen, wie sich der einzelne in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen des Systems verhält, ohne Stress-Symptome zu zeigen.
120.
Das System läßt Freiräume für Autonomie nicht zu und nimmt sie nicht ernst. Was wäre, wenn beispielsweise ein Unternehmen versuchen würde, seinen Fließbandarbeitern anstelle eines Arbeitsvorganges den ganzen Arbeitsablauf zu übertragen, um die Arbeit für sie dadurch sinnvoll zu machen? Einige Unternehmen versuchten ihren Angestellten mehr Autonomie bei der Arbeit zu geben, was aber aus praktischen Gründen nur sehr begrenzt sein kann. Diese Autonomie kann sich nie auf entscheidende Vorgänge beziehen und auch nicht von den Angestellten selbst gewählt werden. Sie wird immer nur im Zusammenhang mit den Interessen ihrer Arbeitgeber stehen und sich auf das Wachstum des Unternehmens beziehen. Bei einem anderen Vorgehen würde es schnell zu einem Zusammenbruch des Unternehmens kommen.
Auf ähnliche Weise müssen die Arbeiter in jeder Genossenschaft eines sozialistischen Systems ihre Arbeitskraft den Zielen der Genossenschaft unterstellen, weil sie sonst nicht als Teil des Systems funktionieren könnte. Damit wird deutlich, daß es aus rein technischen Gründen unmöglich ist, einzelnen oder kleinen Gruppen innerhalb einer industriellen Gesellschaft Autonomie einzuräumen. Selbst der Einzelunternehmer hat gewöhnlich nur begrenzte Autonomie. Abgesehen von den Gesetzen des Staates wird er dadurch eingeschränkt, daß er sich dem Wirtschaftssystem anpassen und seinen Erfordernissen entsprechen muß. Wenn beispielsweise eine neue Technologie entwickelt wird, muß der Einzelunternehmer sich ihrer bedienen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, ob er will oder nicht.
Anmerkungen zu Grenzen der Freiheit
17 (§117) Die Befürworter des Systems zitieren gerne Fälle, in denen Wahlen durch eine oder zwei Stimmen entschieden wurden, diese Fälle sind aber äußerst selten.
18 (§119) "In den heute technologisch fortgeschrittenen Ländern ist das Leben der Menschen unabhängig von geographischen, religiösen und politischen Unterschieden sehr ähnlich. Das tägliche Leben eines christlichen Bankangestellten in Chicago, eines buddhistischen in Tokyo, eines kommunistischen in Moskau ist sehr viel ähnlicher im Vergleich zu dem eines Menschen, der vor tausend Jahren lebte. Diese Ähnlichkeiten beruhen auf einer gemeinsamen Technologie..." L. Sprague de Camp, The Ancient Engineers, Ballantine Verlag, S. 17. Die Lebensläufe der drei Bankangestellten sind nicht IDENTISCH. Ideologie hat EINIGE Auswirkungen. Um zu überleben, müssen sich aber alle technologischen Gesellschaften in einer ANNÄHERND gleichen Richtung entfalten.
Kaczynski (1995) Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft