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Die Brieffreundin des Unabombers 

Warum eine Berliner Orientalistin dem einst meistgesuchten Mann der USA in die Zelle schreibt 

Von Peter Schubert  Berliner Morgenpost  21.01.1998 

 

 

      

Auf dem Boden ihres Arbeitszimmers hat Dr. Gabriele Yonan acht dicke Aktenordner ausgebreitet. Aus dem zweiten Leitzhefter fingert die 53jährige Orientalistin und Religionswissenschaftlerin ganz behutsam - fast so, als hantiere sie mit Sprengstoff - eine Klarsichtfolie. Darin steckt ein mit Bleistift verfaßter Brief aus dem Main-County-Jail von Sacramento. Laut Poststempel der US-Mail wurde das Schreiben an Dr. Yonan am 6. August 1996 aufgegeben. Absender ist Häftling "X-REF 3 165 854" - Theodore John Kaczynski, Amerikas mutmaßlicher Unabomber.

Kein ungefährliches Dokument. Denn 17 Jahre soll Kaczynski die USA mit Briefbomben terrorisiert haben. Adressaten seiner tödlichen Post waren zumeist Universitäten und Airlines, weshalb das FBI Kaczynski, auch den Spitznamen "Unabomber" verpaßte. Drei Menschen wurden bei seinen 16 Anschlägen getötet, 23 schwer verletzt. Jetzt wird "dem meistgesuchten Mann der USA" in Kalifornien der "Prozeß des Jahrhunderts" gemacht. Ihm droht die Todesstrafe.

Unvorstellbar, daß der "verrückte Professor", der jahrelang wie ein Eremit in einer Holzhütte in den Bergen Montanas hauste, nun ausgerechnet zu einer Wissen­schaftlerin in Berlin Vertrauen faßte. Dr. Yonan, die einzige "Brieffreundin" des Unabombers auf der Welt? 

"Um eines gleich unmißverständlich klarzustellen", insistiert die Wilmersdorferin, "ich gehöre keineswegs zu den einsamen Frauen, die Mördern Liebesbriefe in die Todeszelle schicken." Es waren die Berichte über die spektakuläre Festnahme Kaczynskis vom 3. April 1996, die die Mitarbeiterin der "Gesellschaft für bedrohte Völker" aufhorchen ließen.

"Mein Vater hat 1919 auch in Montana gelebt, bevor er sich für die Rückkehr nach Deutschland entschied", erklärt Dr. Yonan. "Ich war sofort angestachelt, fing an, nächtelang im Internet alle Berichte über den Unabomber zu studieren." Dabei störte sie, daß "immer nur der Kriminalfall im Vordergrund" stand. Die Öffentlichkeit habe Kaczynski, der Ende der 60er Jahre in Berkeley/Kalifornien noch spröde Vorlesungen über "Grenz- und Raumfunktionen" gehalten hatte und damals von Kollegen bereits als ein künftiger Anwärter auf den Nobelpreis für Mathematik gehandelt wurde, voreilig "als schizophren und wahnsinnig abgestempelt" und seine "technologiefeindlichen Beweggründe und Gesellschaftskritik bewußt ausgeblendet". 

1971 hatte sich der weltfremde Wissenschaftler für den Ausstieg entschieden und wie ein Einsiedler im Wald verkrochen.

"Mich erinnert Kaczynskis Geschichte an Dostojewskis Romanfigur Raskolnikow, der zuerst seinen Aufsatz <Über das Verbrechen> verfaßt und veröffentlicht, um dann seine Theorie in die Praxis umzusetzen", sagt sie. Im Juni 1996 jedenfalls, einen Tag nachdem Kaczynski aus Montana in eine Hochsicherheitszelle des Hauptgefängnisses von Sacramento überstellt wird, verfaßt Dr. Yonan einen Essay mit dem Titel "Der Unabomber oder Amerikas Gerechtigkeit" und schickt ihm das deutsche Manuskript zur Lektüre. Der Unabomber kann deutsch.

Kaczynski, von dem seit seiner Verhaftung kein einziges Dokument in die Öffentlichkeit gelangte, antwortet Frau Yonan am 30. Juli 1996. Das knappe Schreiben hat es in sich: "Ich bin dankbar für Ihre Briefe - bitte schreiben Sie weiter. Ich werde gegenwärtig nicht mehr sagen als dies, da ich unter dem Druck meiner Anwälte stehe, die Kommunikation mit der Außenwelt auf ein Minimum zu beschränken. Ich bin sicher, sie würden es nicht wollen, daß ich Besuch von Ihnen bekomme. Mit Dank für Ihre Unterstützung, Ted Kaczynski."

Wie brisant der Brief ist, wird Dr. Yonan spätestens deutlich, als sich wenig später Quin Denvir, einer der beiden Pflichtverteidiger Kaczynskis, an sie wendet. Denvir fordert sie auf, "nichts mehr über den Fall von Theodore Kaczynski zu veröffentlichen", weil das "seine Schwierigkeiten mit dem Gesetz nur noch verschlimmern" würde.

Offenkundig, so vermutet Gabriele Yonan, ist der Brief den Anwälten beim Versuch, Kaczynski völlig abzuschirmen, einfach durchgerutscht. Nachdem wohl keinerlei Zweifel mehr daran besteht, daß Kaczynski wirklich der Unabomber ist, kann die Strategie der Verteidiger nur noch darin bestehen, auf Unzurechnungs­fähigkeit und somit verminderte Schuldfähigkeit ihres Mandanten zu plädieren. Jegliches Schriftstück, jede noch so unbedachte Aussage könnte der Staatsanwaltschaft deshalb als Gegenbeweis dienen. Bisher lehnt es Kaczynski strikt ab, sich psychiatrisch untersuchen zu lassen.

Um nicht die Verteidigungsstrategie zu durchkreuzen, schwieg Dr. Yonan bislang darüber, wohl als einzige von Kaczynski Post erhalten zu haben, schrieb ihm aber weiter.

Nun aber glaubt sie, darüber sprechen zu können, da Kaczynski aus Sicht der amerikanischen Zeitungen ziemlich unerwartet, aber pünktlich zum Prozeßbeginn "eine neue Bombe gezündet" hat. Dem verdutzten Richter erklärt der geniale Mathematiker (mit dem Intelligenzquotienten 170), daß er "kein Vertrauen zu seinen Anwälten" habe, und er "alles andere als verrückt" sei. Tony Serra, berühmter Strafverteidiger aus San Francisco, so fordert Kaczynski, solle ihn verteidigen. Dr. Yonan hatte Kaczynski in einem ihrer Briefe auf den linken Staranwalt aufmerksam gemacht. Bundesrichter Garland Burrel lehnt dieses Manöver zwar als verspätet ab, will aber am nächsten Verhandlungstag, am 22. Januar, verkünden, ob Kaczynski kompetent ist, sich selbst zu vertreten.

Dr. Yonan, die wohl wie kein anderer in Deutschland mit dem Unabomber-Verfahren vertraut ist, "zweifelt kaum daran, daß Kaczynski ein Gerichts­spektakel veranstalten wird". "Der will lieber agitieren, als am (liebsten, OD) nichts abstreiten, sondern aus seinem Manifest von 1995 zitieren und publikumswirksam die industrielle Gesellschaft als Bedrohung der Menschheit anprangern".

Die "New York Times" hatte sich auf Verlangen Kaczynskis durchgerungen, dieses Manifest "Industriegesellschaft und ihre Zukunft" am 19. September 1995 zu veröffentlichen, um weitere Bombenanschläge zu verhindern. Einer der vielen Millionen Leser war David Kaczynski, der Bruder des mutmaßlichen Unabombers. Er gab den Behörden den entscheidenden Tip, der schließlich nach wochenlanger Beobachtung zur Festnahme des Unabombers führte.

Gabriele Yonan hat das Manifest 1997 übersetzt und im Internet erstmals auf Deutsch veröffentlicht. "In seinen Worten spricht Kaczynski darin nichts anderes aus als vor ihm bereits Joseph Weizenbaum, Stanislaw Lem, Rudolf Bahro oder gar der <Club of Rome>", urteilt Dr. Yonan, "auch sie warnten vor den Gefahren der Hochtechnologie und dem unbegrenzte Wachstum, griffen anders als K. allerdings nie zu Sprengstoff."

Aus Dr. Yonans Sicht ist Kaczynski "zweifelsohne schwer gestört". Daß der "mad genius", das verrückte Genie, für seine Anschläge strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden muß, steht auch für sie "außer Frage". "Unvorstellbar" für sie ist hingegen, daß Kaczynski zum Tode verurteilt werden könnte. Sie verweist auf jüngste Meldungen, wonach in den USA Forscher ernsthaft das Klonen von Menschen erwägen und sagt: "Wer weiß, ob Kaczynski mit seiner radikalen Ablehnung der Technologie nicht in 50 oder 100 Jahren als Widerstandskämpfer verehrt wird."  

 

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