Gespräch 

BR-Alpha-TV, 1999 

Peter Kafka

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  BR-alpha-Forum
Sendetag: 29.12.1999, 20.15 Uhr 
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Gruber: Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen bei Alpha-Forum. Unser Gast ist heute Peter Kafka. Herr Kafka, wie soll ich Sie vorstellen? Ich denke, ich sage am besten, dass Sie Physiker und Wanderprediger sind. Die Sache mit dem Physiker ist natürlich leichter zu erklären: Sie waren ungefähr drei Jahrzehnte lang hier in München am Max-Planck-Institut für Physik tätig. Darauf werden wir im Laufe des Gesprächs sicher noch zu sprechen kommen. Aber ist denn der Ausdruck des Wanderpredigers für Sie in Ordnung?

Kafka: Ja, ich habe mich ja scherzhaft immer selbst so genannt. Ich habe halt schon ziemlich früh angefangen, mich auch anderen Dingen zuzuwenden, die über die Physik hinaus gingen. Noch bevor ich mein Studium abgeschlossen habe, habe ich fünf Jahre lang etwas anderes gemacht, weil ich merkte, dass es für mich doch auch noch weiter gehende Interessen gibt. Ich habe dann allerdings doch fertig studiert. Nach wiederum zehn Jahren habe ich jedoch angefangen, ständig über andere Dinge zu sprechen, und habe viele Vorträge gehalten. Das hatte schon alles auch noch mit der Physik zu tun, denn ich habe mich ja am Max-Planck-Institut für Astrophysik vor allem mit Kosmologie und solchen Dingen beschäftigt. Dabei tauchte natürlich die Frage auf, wo denn all diese phantastischen Gestalten in der Welt herkommen.

 

Gruber: Könnten wir diesen Anfang noch einmal aufgreifen, dieses Spannungsverhältnis zwischen der Physik, also der Welt des Materiellen, und diesem Anliegen, das sich bei Ihnen ausdrückt, wenn Sie Vorträge halten? Ich habe nämlich insgesamt den Eindruck, Sie wollen ein Weltbild vermitteln: Das ist heute zwar einerseits sehr gefragt, aber andererseits wird das ja auch immer schwieriger.

Kafka: Ja, ich glaube aber, dass das immer schon schwierig gewesen ist. Man hat halt versucht, mit dem, was man wahrgenommen und gelernt hat, alles in ein einziges Bild hinein zu bekommen: damit man eben nicht für jede Erscheinung ein extra Bild machen muss. Da bietet es sich für einen Physiker natürlich an, dass man versucht, letztlich alles auf die Naturgesetze zurückzuführen. 

Nachdem wir aber heute wissen, wie diese so genannte natürliche Welt angefangen hat, nämlich im Urknall vor ungefähr 15 Milliarden Jahren und in einem ungeheuer einfachen Zustand, in dem noch gar keine Detailgestalt verwirklicht war, fragen wir uns natürlich automatisch: "Woran liegt es denn, dass dann innerhalb von ein paar Minuten auf einmal Elementarteilchen und Atome vorhanden sind, und warum gibt es plötzlich Sterne und Milchstraßensysteme, usw?" 

Danach kam dann ja auch noch die Chemie und auf der Erde zusätzlich das Lebendige mit hinzu. In diesem Lebendigen kommt dann der menschliche Geist zum Vorschein. Man fragt sich dann eben, ob man das alles in das naturwissenschaftliche Weltbild eigentlich so einbauen kann, dass es einem zumindest plausibel erscheint. Es geht nicht darum, dass ich es erklären kann, sondern es geht darum, dass ich sagen kann: "Damit ist es verträglich, und ich verstehe das Prinzip, das dabei dahinter steht."

 

Gruber: In einer Ihrer vielen Broschüren zitieren Sie Immanuel Kant, den großen und wichtigen Philosophen mit dem doch sehr bekannten Wort, dass ihn dieser bestirnte Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm immer wieder mit erneuter Bewunderung erfüllt. Diese Spannweite spüre ich eigentlich auch in Ihrem Werdegang. Vielleicht ist das etwas hoch gegriffen, aber dieser Vergleich fällt mir dabei trotzdem ein.

Kafka: Für viele Jahrhunderte haben jedenfalls die Menschen im Abendland versucht, diese beiden Dinge völlig zu trennen. Sie waren der Überzeugung, dass es zwei ganz verschiedene Arten von Wirklichkeit gibt: die materielle Wirklichkeit und die geistige Wirklichkeit. Das hat mir jedoch von Anfang an nicht gepasst: Wenn man nämlich gerade als Naturwissenschaftler sieht, wie ein Phänomen nach dem anderen, das man dem Geist zugeschrieben hat, letztlich doch auch aus der Chemie, aus der Biochemie oder aus der Physik folgt, dann merkt man doch, dass man ein Weltbild finden muss, in dem diese Dinge gemeinsam behandelt werden können. Das habe ich versucht: Dieses Unterfangen habe ich immer den Versuch der Wiedervereinigung von Geist und Materie genannt.

 

Gruber: Ihr geistiger und persönlicher Bogen ist sehr weit: Ich denke, wir werden daher heute auch noch über Kapitalismuskritik reden, über die Abschaffung des Zinses usw. Aber widmen wir uns doch zunächst einmal Ihrem eigentlichen Herkommen, nämlich der Physik. Was hat Sie denn an der Physik interessiert, was hat Sie zur Physik hingezogen?

Kafka: Da ist es mir eigentlich so ähnlich gegangen wie vielen anderen Physikern auch. Auch Carl Friedrich von Weizsäcker hat ja z.B. berichtet, dass er als ganz junger Mann Heisenberg kennen gelernt und ihm dabei erzählt hat, dass er vorhabe, Philosophie zu studieren. Heisenberg hätte ihm dann wohl in etwa gesagt: "Wie willst du den Philosophie machen, wenn du noch nicht einmal weißt, wie die Materie funktioniert?" So ähnlich war das bei mir auch. 

Mich hat eigentlich nicht die Physik als solche interessiert, sondern ich habe versucht, mit meinem Verstand und mit meinem Gefühl irgendwie einen Platz in der Welt zu finden. Ich habe gemerkt, dass ich eigentlich nichts verstehe, und so habe ich mich dann eben umgesehen und versucht, wenigstens ein bisschen zu verstehen. Dabei wurde mir Folgendes klar: Wenn ich nicht einmal das Einfachste verstehe, nämlich die Materie, dann kann ich eigentlich gar nicht anfangen zu denken. Deshalb habe ich angefangen, Physik zu studieren. Natürlich merkt man bald, dass das doch nicht so einfach ist, aber man bleibt dann, um irgendeinen Geldberuf zu haben, wohl oder übel eben doch daran hängen.

Gruber: Das ist aber an sich doch eine schöne Situation, wenn man das, was einen innerlich wirklich bewegt und interessiert, auch zum Beruf machen kann. Sie waren an diesem doch sehr renommierten Max-Planck-Institut ja über einige Jahrzehnte hinweg als Wissenschaftler tätig.

Kafka: Ja, das wäre aber heute mit meiner jetzigen Einstellung wohl nicht mehr möglich. Damals, zu Beginn der sechziger Jahre, gab es ja diese Expansionsphase, in der beinahe jede Woche irgendwo ein Institut gegründet wurde und in der man gleich irgendwo Professor werden konnte. Da gab es auch noch keine Zeitverträge usw. Ich bin damals ganz einfach ins Institut gekommen und habe Herrn Biermann, der damals der Direktor der Astrophysik war, gefragt, ob er jemanden brauchen kann, der sich mit relativistischer Astrophysik beschäftigt. Dieses Wort war soeben erfunden worden, weil man zu dem Zeitpunkt gerade die Quasare entdeckt hatte: Man hatte dadurch gemerkt, dass man wohl auch in der Astrophysik die Relativitätstheorie brauchen würde. Der Direktor sagte dann ja, und seitdem habe ich dort gearbeitet. Ich habe dabei noch nicht einmal meinen Doktor gemacht, denn als ich dort gearbeitet habe, merkte ich, dass ich den Doktortitel eigentlich gar nicht brauche.

Gruber: Mit Absicht oder aus Faulheit? Warum? Ich meine, gesellschaftlich gesehen, bringt der Doktor- oder der Professorentitel doch immer etwas.

Kafka: Man müsste wohl schon sagen, dass das etwas mit Faulheit zu tun hatte. Aber die Faulheit ist wohl doch nicht das wirklich richtige Wort dafür, denn ich war schon sehr aktiv in vielen Dingen. Es ist nicht so gewesen, dass ich nichts getan hätte. Aber ich habe eben meine Interessen mehr auf andere Dinge gerichtet: nicht auf die Karriere, sondern ich wollte wirklich verstehen, was los ist.

Gruber: Das war also die wirtschaftliche Basis für Sie, die Sie freilich auch interessiert hat. Zu den anderen Dingen kommen wir noch, und wir kommen vielleicht darauf, wenn wir über den Anfang sprechen: Sie verbinden ja sozusagen das Extremste aus der Physik mit dem Aktuellsten und Konkretesten, nämlich dem Menschen, so wie er heute ist. Wie hat denn alles angefangen? Weiß denn die Wissenschaft heute, wie die Welt entstanden ist? Der Urknall: Was sagt das eigentlich aus?

Kafka: Eigentlich genau in der Zeit, in der auch ich in der Astrophysik tätig war, hat es sich doch immer mehr erhärtet, dass tatsächlich alles das, was wir heute die Welt nennen - bis hin zu den fernsten Milchstraßensystemen -, vor ungefähr 15 Milliarden Jahren ganz dicht zusammen war: zusammen in einem ungeheuer einfachen Zustand und den gleichen Gesetzen folgend. Diese Erkenntnis ist allerdings nichts Selbstverständliches, denn es hätte ja auch sein können, dass man dann, wenn man in den Weltraum hinaus sieht, dabei auch Gebiete findet, in denen andere Naturgesetze gelten, sodass man sie überhaupt nicht verstehen kann. Das Merkwürdige ist eben, dass wir tatsächlich feststellen konnten, dass überall, wo wir hinschauen können, dieselben Gesetze gelten und dass das alles eine gemeinsame Geschichte hat. Nur deshalb ist ja eigentlich das Wort "Universum" gerechtfertigt. Vorher war das ja mehr eine ideologische Benennung gewesen: Dieses Wort kam sozusagen von Universitätsprofessoren, die es benützt haben, ohne dass es eigentlich klar war, dass es so etwas überhaupt gibt. Heute wissen wir, dass es ein Universum gibt: Alles, was in Materie, in Raum und Zeit verwirklicht ist, hat eine gemeinsame Geschichte und folgt den gleichen Gesetzen.

Gruber: Ich habe den Eindruck, dass man das zwar mathematisch so formulieren kann, aber dass sich ein "normaler Mensch" eigentlich gar nicht so richtig vorstellen kann, was das heißt. Können Sie das?

Kafka: Bis ziemlich nahe an diesen Urknall heran hat die Physik eigentlich keine Schwierigkeiten, sich das vorzustellen: Wir können heute mit dem, was wir in der Physik an Gesetzen einigermaßen verstanden haben, die Welt bis ganz nahe an den Urknall heran zurückverfolgen. Das geht sozusagen bis um Sekundenbruchteile an diesen Urknall heran. Wenn man jedoch versucht, bis auf ganz winzige Sekundenbruchteile an diesen Urknall heranzugehen - meinetwegen bis auf 10 hoch minus 43 Sekunden -, dann stellt sich heraus, dass die physikalischen Gesetze selbst nicht mehr gültig sein können, dass sie zusammenbrechen müssen. Genau das ist ja das Interessante: Die Physik kann mit Gesetzen arbeiten, von denen sie weiß, dass sie nicht grundsätzlich richtig sind. Wir wissen also sehr wohl: Wenn man meinetwegen immer größere Dichten erreicht, dann können diese Gesetze nicht mehr stimmen. Aber von da ab, von diesem sehr knappen Zeitpunkt nach dem Urknall, von diesen Millisekunden an, stimmen sie eben doch sehr gut: Wir können damit eben Dinge ausrechnen, die sich in Beobachtungen dann auch bestätigten.

Gruber: Was vorher war - also diese Kindfrage -, können wir womöglich gar nicht beantworten.

Kafka: Die Physiker sagen dazu: Raum und Zeit entstehen selbst erst. Da gibt es dann kein Vorher mehr.

Gruber: Das ist das Problem.

Kafka: Nein, für einen Physiker oder für einen Mathematiker ist das eigentlich kein Problem, denn das bedeutet einfach nur, dass man den Zustand am Anfang, bei dem nichts, bei dem keine Gestalt vorhanden ist, ganz einfach in einem logarithmischen Maßstab darstellt, sodass die Null bei Minus Unendlich angesiedelt ist. In meinen Vorträgen über Kosmologie zeige ich das immer auf diese Weise: Ich projiziere dabei immer ein Bild an die Wand, auf dem man die Weltgeschichte sieht. Ich frage dann immer, wo denn auf diesem Bild der Anfang sei. Weil bei diesem Bild ein logarithmischer Maßstab der Zeit aufgetragen ist, befindet sich eben der Anfang ganz links im Unendlichen. Wenn man es so macht, entledigt man sich natürlich dieses Problems. Wenn man dann nämlich fragt, was denn vorher gewesen sei, dann muss man darauf antworten, dass es dieses Vorher halt ganz einfach nicht gibt und nicht gegeben hat, denn die Idee der Zeit fängt da ja erst an. Die Frage nach einem Vorher macht so keinen Sinn mehr und fällt ganz einfach weg. So stellen wir uns das also heute vor, obwohl die theoretischen Physiker inzwischen natürlich dabei sind, auch das noch zu diskutieren und vielleicht auch noch zu "knacken", sodass man sozusagen von einem Ei des Universums ausgehen könnte: Von dort aus könnte man dann zu einem Multiversum kommen, in dem viele verschiedene Universen möglich sind, von denen sich dann eines ablöst und so das unsere wird. Aber für das, was mich später im eigentlichen Sinne daran interessiert hat, ist diese Frage nicht entscheidend.

Gruber: Es ist ja interessant, dass die moderne Form von Astronomie und auch Astrophysik die Menschen doch sehr interessiert: Das ist so, weil sie sich davon doch immer wieder eine Antwort auf die Frage erwarten, woher der Mensch eigentlich kommt und wohin das Ganze eigentlich geht. Diese Fragen sind aber meiner Meinung nach mit einem Verweis auf einen Logarithmus nicht so richtig zu beantworten: Das ist eine so existentielle Frage, dass mich diese Antwort nicht befriedigt.

Kafka: Natürlich, denn das ist ja nur ein Trick. Aber für mich stellt sich diese Frage eben anders: Wenn ich mir ansehe, dass die Welt, dass also all das, was wir die erfahrbare Welt in Raum und Zeit nennen, in einem unglaublich simplen Zustand, in dem noch nichts an Gestalt verwirklicht ist, begonnen hat, dann stellt sich mir die Frage, wie denn nun diese ganze Gestalt eigentlich in die Welt gekommen ist. Warum sind das nun gerade diese Elementarteilchen? Klar ist: Es gibt ungeheuer viele verschiedene Möglichkeiten von Elementarteilchen, und diejenigen, die heute immer noch da sind, sind die, die übrig geblieben sind, weil sie so gut sind: weil sie nämlich haltbar sind.

Gruber: Langsam, langsam. Es ist doch die Frage, ob am Anfang alles sozusagen vorprogrammiert war, ob sich alles zwangsläufig und in bestimmter Weise entwickeln musste oder ob das Ganze Chaos oder Zufall ist, sodass wir als Menschen sozusagen nur als ein Zufallsprodukt der gesamten Weltentwicklung entstanden sind.

Kafka: Ja, in einem gewissen Sinne ist das schon richtig, aber das ist ja nichts Schlechtes. Die Physik hat ja in unserem Jahrhundert vor allem aufgrund der Quantenmechanik verstanden, dass die Wirklichkeit eben nicht vorherbestimmt ist. Stattdessen ist es so: Wenn irgendetwas wirklich ist, dann bestimmt das nur eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Zukunft. Es kann also dieses oder jenes geschehen. Was aber dann tatsächlich von diesen verschiedenen Möglichkeiten geschehen wird, ist nicht vorherbestimmt. Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts glaubte man ja, dass sozusagen alles vorherbestimmt sei: Denn mit der klassischen Mechanik konnte man bei einem gegebenen Zustand genau ausrechnen, was passieren wird. Das ist der so genannte Determinismus. Wir wissen aber heute, dass es so nicht ist: Die Welt ist nicht von dieser Art. Stattdessen ist es so, dass das Existierende, also das Verwirklichte, die Zukunft nicht vorherbestimmt, sondern nur eine Wahrscheinlichkeitsverteilung vorgibt. Aus dieser Wahrscheinlichkeitsverteilung wird mittels des reinen Zufalles ausgewählt, was geschieht.

Gruber: Was ist der reine Zufall? Das totale Chaos, bei dem man nichts vorhersagen kann?

Kafka: Natürlich kann man trotzdem eine Menge vorhersagen, weil die Wahrscheinlichkeitsverteilung unter Umständen sehr scharfe Spitzen haben kann. Wenn Sie z. B. mit einem Würfel würfeln, dann wissen Sie, das die Eins, die Zwei usw. alle gleich wahrscheinlich vorkommen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass der Würfel meinetwegen auf der Ecke stehen bleibt, geht praktisch gegen Null. Daran sehen Sie, dass Zufall nicht heißt, dass alles passieren kann. Nein, das ist überhaupt nicht so, denn der Zufall wählt aus einer Wahrscheinlichkeitsverteilung aus. Ich erkläre mir das immer an einem Beispiel. Wenn man ein bekanntes Ereignis nimmt und das ganz weit zurückverfolgt, dann kann man das nämlich erkennen. Nehmen Sie z. B. Ihre eigene Existenz, und fragen Sie danach, woher Sie kommen. Wenn Sie nun in die Vergangenheit gehen, dann werden Sie merken, dass die Abläufe in der Vergangenheit keine Kausalkette bilden, wie man früher immer angenommen hat, dass eben gerade nicht dieses eindeutig aus jenem zu folgen hätte. Diese Kausalkette gibt es so nicht, stattdessen verzweigt sich diese ganze Sache unendlich schnell in ganz viele immer kleinere Zufälle, wenn Sie in die Vergangenheit gehen. Meine Mutter stand z. B. auf dem Bahnsteig herum, weil sie einen Zug verpasst hatte - und genau dort stand eben auch ein Mann, der ebenfalls einen Zug verpasst hatte: mein Vater. Man kann da natürlich fragen, warum das so ist, warum die beiden jeweils für sich den Zug verpasst hatten. Auch das kann man sicherlich weiter zurückverfolgen. Wenn man das wirklich macht, wenn man also die Wirklichkeit in die Vergangenheit zurückverfolgt, dann landet man ganz schnell in einem Netz von immer winzigeren Zufällen. Es dauert dann auch gar nicht lange, bis man dabei bei quantenmechanischen Zufällen angelangt ist, nämlich bei wirklich echten Zufällen.

Gruber: Wollen wir einfach einmal diesen Zufall als gegeben annehmen. Aufgrund dieser Zufallsgesetze oder Zufallsentwicklung ist die Welt so entstanden, so geworden, wie sie heute existiert. Also ist sie, wie ich sagen möchte, doch notwendigerweise so geworden, wie sie heute existiert: "...und siehe, es ist alles gut."

Kafka: Nein, sie ist nicht notwendigerweise so entstanden. Sie können das doch selbst einsehen: Wenn meinetwegen dieses Treffen am Bahnsteig nicht stattgefunden hätte, dann säße ich z. B. nicht hier. Sie sehen also, die Menge der Möglichkeiten ist unermeßlich groß: Was da alles hätte passieren können! Da hätten auch ganz andere Dinge geschehen können. Das heißt, wir müssen uns die Welt so vorstellen, dass wir uns sagen: Es gibt die Menge der Möglichkeiten, die von den Naturgesetzen erlaubt sind. Ich nenne das den Raum der Möglichkeiten. Sie können das auch die geistige Welt nennen oder das Reich der Ideen, wie das Platon genannt hat. Es gibt also alle diese Gestalten, und alle diese Gestalten sind mit den Naturgesetzen verträglich. In diesen Raum der Möglichkeiten hinein wandert nun die Wirklichkeit durch zufälliges Gezappel, es fängt nämlich an mit dem allersimpelsten möglichen Zustand, dem Urknall. Dieser Zustand fängt also an zu zappeln und muss irgendetwas finden an Möglichkeiten. So findet dieser merkwürdige Aufstieg statt: von diesem allersimpeltsten Zustand bis hin zu uns. Meine Frage war nun die: Können wir das wenigstens im Prinzip verstehen? Warum findet die Welt von diesem simplen Zustand her einen Weg, der hinauf zu solcher Komplexität führt?

Gruber: Eine Antwort, die freilich nicht am Anfang beim Urknall beginnt, sondern später beim Leben einsetzt, hat Charles Darwin gegeben, indem er gesagt hat: Das, was in der Überlebensfähigkeit besser ist, setzt sich durch, vermehrt sich und kommt bis zu uns in die Gegenwart. Also ist das, was heute unsere Wirklichkeit ausmacht und was uns umgibt, das Ergebnis eines solchen Auswahlprozesses: Es ist daher das Beste, was die Evolution bisher hervorgebracht hat.

Kafka: Das Beste ist natürlich etwas Relatives. Wenn meine Mutter meinen Vater nicht getroffen hätte, dann wäre ich nicht entstanden. Ich bin aber entstanden, ohne dass ich nun sagen könnte, das sei das Beste gewesen, was geschehen konnte. Denn es hätte ja auch noch etwas viel Besseres passieren können.

Gruber: Das wissen wir aber nicht.

Kafka: Richtig, das wissen wir nicht. Aber es ist nun einmal so: Die Wirklichkeit findet Möglichkeiten durch dieses Gezappel. Die Frage ist, warum das nun aufwärts zu immer höherer Komplexität führt. Diese Frage ist freilich ganz leicht zu beantworten: Weil tatsächlich diese darwinsche Feststellung, dass Überlebensfähigeres überlebt - an sich ist das ja eine logische Selbstverständlichkeit, eine Tautologie sozusagen -, ausreicht, um zu verstehen, dass es aufwärts geht. Denn in der großen Menge von Möglichkeiten wird all das, was nicht gut zusammenpasst, wieder verlassen. Das, was gut zusammenpasst, bleibt. Von dort aus wird weitergesucht, weitergetastet in der Nachbarschaft, in diesem Raum der Möglichkeiten. Es werden dann eben Dinge gefunden, bei denen diese Sachen noch besser zusammenpassen. "Zusammenpassen" bedeutet aber eben Komplexität: von "complectere" ist gleich "zusammenflechten".

Gruber: Hier ändert unser Gespräch gewissermaßen seine Richtung: Es geht abwärts. Bisher sprachen wir ja von der Aufwärtsentwicklung, aber aktuell sind Sie ganz stark damit beschäftigt, den Menschen klar zu machen, dass es abwärts geht. Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "Gegen den Untergang. Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise." Wenn es also einerseits ein Naturgesetz ist, dass es immer aufwärts geht, dann stellt sich doch die Frage, warum denn Herr Kafka in den letzten Jahren gegen den Untergang anschreibt und andenkt.

Kafka: Es ist kein Naturgesetz, dass es aufwärts geht: Es ist ein Gesetz der Logik gewissermaßen...

Gruber: Das muss ja kein Gegensatz sein.

Kafka: Wahrscheinlich geschieht das auch so. Die Logik kommt jedenfalls noch vor den Naturgesetzen. Denn die Naturgesetze könnten vielleicht auch anders sein, aber in unserem Universum sind sie nun einmal so. Als ich angefangen habe, über die Prinzipien der Schöpfung nachzudenken und zu fragen, woran es liegt, dass es wahrscheinlich aufwärts geht, habe ich gesehen, dass das nichts anderes ist als eine logische Selbstverständlichkeit. Dann taucht natürlich die Frage auf: Warum aber droht uns nun die Situation, dass wir all das, was in den letzten fünf Milliarden Jahren auf der Erde geschehen ist, möglicherweise bis ins Präkambrium zurückwerfen? Wenn wir das Klima umwerfen und jede Stunde zehn lebendige Arten aussterben, dann fragt man sich doch, woran das liegen kann. Warum hat es bis jetzt immer aufwärts geführt, und woran liegt es, dass es nun schief geht?

Gruber: Aber da stellen sich doch schon vorher ein paar Fragen: Ist es denn mit dem Klima wirklich so, wie es die einen behaupten? Im Laufe der Evolution hat es andererseits ja auch immer wieder gigantische Krisen gegeben, bei denen viele Arten ausgestorben sind. Sind denn so betrachtet Ihre Voraussetzungen überhaupt richtig?

Kafka: Diese Art von Krise, in die wir nun gekommen sind, ist schon von einzigartigem Charakter: Das ist eigentlich der Inhalt meiner Schriften. Ich habe ja nicht nur dieses Buch geschrieben, sondern ich schreibe schon seit 25 Jahren über diese Dinge. Es gibt aber nur noch ein Buch davon zu kaufen in den Buchläden. Das war eben genau meine Frage: Ist diese Krise nun das normale Scheitern im Rahmen von Versuch und Irrtum? Denn das passiert ja immerfort: Alle Arten sterben auch irgendwann einmal wieder aus. Wenn wir uns aber ansehen, wie dieses Prinzip des Fortschritts funktioniert - wann es denn wahrscheinlich ist, dass so ein Prozess trotz allem letzten Endes aufwärts führt -, dann bemerken wir, dass dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Es muss nämlich genügend Zeit zur Verfügung stehen, um bewerten zu können, ob das Alte und das Neue wirklich zusammenpasst. Bei diesem Tastprozess im Raum der Möglichkeiten, bei diesem Gezappel, wie ich das immer nenne, muss die Wirklichkeit ja Zeit haben, um das wahrscheinlich Überlebensfähigere zu finden. Und dafür müssen sehr viele verschiedene Versuche gemacht werden. Diese beiden Bedingungen, die ich immer schlagwortartig "Vielfalt und Gemächlichkeit" genannt habe, müssen erfüllt sein, damit es wahrscheinlich aufwärts geht, damit es ein nach oben gerichtetes Fortschreiten gibt. Wenn man sich die Entwicklung der physikalischen, biologischen und chemischen Gestalten bis hin zu den Anfängen der Kulturentwicklung ansieht, dann stellen wir fest, dass es dieses genügende Maß an Zeit immer gegeben hat. Wenn wir uns nämlich vorstellen, dass sich die Wirklichkeit im Reich der Möglichkeiten dem Einzugsbereich einer komplexen Gestalt nähert...

Gruber: Als da wäre?

Kafka: Zum Beispiel das Leben. Oder nehmen wir gleich eine ein wenig höher stehende Phase: Gehen wir einmal auf das Niveau der Saurier und fragen dann, ob es nicht auch Säugetiere und Vögel geben kann, ob es tatsächlich eine Linie gibt, die bis zum Großhirn und bis hin zu uns führt. Die Menge der Möglichkeiten dabei ist unermesslich groß, und die Frage dabei ist: Wie macht die Wirklichkeit das, dass sie nun in den Einzugsbereich einer solchen Gestalt kommt und dann dort bleibt, sodass sie nicht gleich wieder zurückfällt bis ins Präkambrium usw.? Woran liegt das? Dafür müssen wir uns Folgendes vorstellen. Diese Gestalten im Reich der Möglichkeiten sind alle zyklischer Natur. Schon das Atom ist so angelegt. Deshalb bewährt sich das, denn es kann eben immer wieder das Gleiche gemacht werden - nun schon 15 Milliarden Jahre lang -, und das würde auch noch viel länger so weitergehen. Das heißt, die gelungenen, die überlebensfähigen Gestalten sind zyklische Attraktoren im Raum der Möglichkeiten. Wenn die Wirklichkeit durch ihr Gezappel in den Einzugsbereich einer solchen Gestalt kommt, dann bleibt sie dort auch ganz lange.

Gruber: Sie sprechen jetzt sehr in Ihrem Jargon als Wissenschaftler. Ich übersetze das für mich so, dass das, was im Laufe der Evolution geworden ist, eben gezeigt hat, dass es überlebensfähig war und deshalb mit diesem Grundgesetz auch in Übereinklang steht.

Kafka: Ich gebrauche diese etwas abstrakte systemtheoretische Sprache extra deshalb, weil man damit nun sehr leicht sagen kann, worin denn nun das Problem besteht.

Gruber: Ich muss das freilich übersetzen können.

Kafka: Sicher. Wenn wir nun von uns sprechen und danach fragen, was denn nun der Mensch als Gestalt im Reich der Möglichkeiten darstellt, dann geben wir doch folgende Antwort: Ich als Mensch bin ja nicht meine Materie, denn diese Materie wechselt ja aufgrund meines Stoffwechsel ständig. Stattdessen bin ich eine geistige Gestalt im Reich der Möglichkeiten, indem nun die Materie in deren Einzugsbereich kommt: Dort versammelt sich das dann. Das geschieht durch die ganze biologische Entwicklung, durch die Zeugung, die embryonale Entwicklung - bis man dann auf einmal geboren wird. Mein Großhirn und die Instinkte usw. würde ich also von der Biologie "mitgebracht" haben. Danach nehme ich dann alles auf, was mir meine Eltern durch deren Erfahrungen und die Sprache mitgeben, ich lerne hinzu, bis ich dann eines Tages anfange, selbst ein wenig zu denken. Ja, und dann gebe ich das weiter an meine Schüler und an meine Kinder und verschwinde wieder. Damit durchlaufe ich sozusagen diese gelungene Gestalt des Menschen: als geistige Gestalt in dieser Welt der Möglichkeiten.

Gruber: Sie verwenden den Begriff "Geist" ganz ungeniert.

Kafka: Ja, natürlich. Ich vermische die Worte absichtlich, weil wir hier ganz einfach keine klaren Begriffe verwenden sollten: Ich benutze das Wort "geistige Gestalt" ganz einfach für eine Gestalt im Reich der Möglichkeiten.

Gruber: Es ist wichtig zu wissen, vor welchem Hintergrund Sie diesen Bergriff verwenden.

Kafka: Genau. Die Wirklichkeit ist nun jedenfalls so weit nach "oben" gestiegen - nach oben auf der Skala der Komplexität in diesem Reich der Möglichkeiten - und zappelt jetzt im Einzugsbereich von lauter solchen menschlichen Gestalten. Die Frage ist nun, wie wahrscheinlich es ist, dass von da aus die Sache nicht wieder zurückfällt.

Gruber: Das wäre dann dieser Untergang.

Kafka: Richtig. In der Biologie ist nämlich die Innovationsgeschwindigkeit im Vergleich zur Zeitdauer dieses Zyklus' sehr klein. Mit diesem Zyklus meine ich den Generationenzyklus, den Fortpflanzungszyklus. Dieser Zyklus ist in der Biologie immer...

Gruber: Der kann ja auch sehr unterschiedlich sein.

Kafka: Ja, aber auf jeden Fall ist die Geschwindigkeit, mit der etwas Neues gefunden wird, sehr klein, im Vergleich zu dieser Dauer. Diese Geschwindigkeit ist sehr klein, und das bedeutet, dass es viele Generationen dauert, bevor sich in der Biologie wirklich etwas Neues durchsetzen kann. Da muss also zunächst einmal irgendeine Ei- oder Samenzelle in ihrem Kern einen Treffer erhalten, sodass ein Gen verändert wird. Daraufhin wird dann ein Enzym ein bisschen anders, dann probiert der Nachkomme - falls er überhaupt überlebt - aus, ob er nun ein bisschen besser oder schlechter dran ist. Man sieht: Bis diese Veränderung in die ganze Art hinein diffundiert, dauert es sehr lange Zeit. Davor wird sie nämlich getestet: im Zusammenleben mit allen anderen Individuen und Arten und innerhalb der ganzen Umgebung einschließlich des Klimas usw. Es dauert also ungeheuer lange, bevor sich eine biologische Innovation durchsetzen kann: lange jedenfalls im Vergleich zur Zyklusdauer. Jetzt sehen Sie auch sofort, worin beim Menschen das Problem liegt: Der Mensch versucht, bevor er in seinem eigenen Zyklus überhaupt auch nur einmal herum ist, in diesem Reich der Möglichkeiten ganz woanders hin zu springen. Denn er kann...

Gruber: Tut er das wirklich? Welchen Beleg haben Sie dafür? Woran messen Sie das?

Kafka: Ja, natürlich. Mir ist das sozusagen in meinem Bauch aufgefallen, also in meinen Emotionen: All das, was ich lieben gelernt habe, war ja gar nicht mehr da, als ich in der Mitte meines Lebens ankam.

Gruber: Aber das ist doch etwas durchaus Normales.

Kafka: Ja, das ist normal geworden. Früher war das nicht normal. Mittlerweile ist das freilich schon lange normal geworden, aber früher gab es nur auf der lokalen Skala diese schnellen Veränderungen. Meistens ereigneten sich diese Veränderungen nur deshalb, weil da irgendetwas schief gegangen war, weil es meinetwegen einen Krieg gegeben hat, der alles kaputt gemacht hat. Mein eigentliches Argument sieht nun folgendermaßen aus: Die Innovationsgeschwindigkeit und die Organisationsgröße haben in diesem Prozess der Auswahl zunächst einmal einen selektiven Vorteil. Das heißt, das Größere verdrängt das Kleinere, das Schnellere verdrängt das Langsamere. Im Detail brauchen wir das hier nicht zu erörtern, denn das weiß jeder aus seiner eigenen Erfahrung. Das führt aber dazu, dass schon im Laufe der biologischen Entwicklung und erst recht natürlich im Verlauf der menschlichen Kulturentwicklung die Organisationsgröße immer mehr zunimmt und die Innovationsgeschwindigkeit ständig steigt: bis sie so schnell ist, dass sie zu schnell ist. Es gibt kritische Grenzen der Organisationsgröße und der Innovationsgeschwindigkeit. Das nenne ich die "globale Beschleunigungskrise", die ja auch im Titel dieses Buches vorkommt.

Gruber: Damit meinen Sie in der Tat die Gesellschaft, so wie sie hier und heute existiert mit ihren Wirtschaftsverhältnissen, der Globalisierung der Industrie usw. Sie meinen, dass wir wirklich an diesen Punkt gekommen sind.

Kafka: Zunächst einmal ist das eine ganz abstrakte systemtheoretische Aussage, bei der ich noch gar nicht vom Menschen zu sprechen bräuchte. Ich könnte ganz einfach nur davon sprechen, dass in einem räumlichen einigermaßen abgeschlossenen Bereich wie eben einem Planeten ein solcher Evolutionsprozess läuft. Dieser hat im Bereich der Möglichkeiten immer eine Front, an der besonders schnell vorangeschritten wird. Diese Front muss wegen der selektiven Vorteile des Großen und Schnellen irgendwann in einen Bereich kommen, in der die führenden Gestalten zu groß und zu schnell werden. Sie werden zu groß in dem Sinne, dass sie an dieser vorgegebenen Globalität anstoßen, denn das ist ja eine unvermeidbare Grenze: größer als global kann eine Gestalt nicht werden. Die Vorstellung, die in den Bereich der Sciencefiction gehört, dass man auch noch den Weltraum erobern kann, möchte ich hier weglassen, denn als Astrophysiker kann man sehr leicht einsehen, dass das nicht geht. An dieser Größe sind wir jetzt angestossen, aber im Grunde geschah das schon vor 500 Jahren, als die Ideen Europas die ganze Welt erobert haben. Dieser Prozess ist dann immer schneller und schneller geworden, und heute sagt man uns auch noch andauernd, dass wir sogar untergehen, wenn wir nicht noch schnellere Innovationen haben werden. An der Stelle muss einem dann doch auffallen, dass das gar nicht die Lösung sein kann. Da muss man doch sagen: "Entschuldigung, diese schnellere Innovation kann doch gar nicht die Heilung sein, sondern das ist doch das Wesen der Krankheit." Denn die kritische Innovationsgeschwindigkeit ist in der Tat bereits überschritten.

Gruber: Sie diskutieren aber nicht nur in diesem abstrakten und theoretischen Raum, sondern Sie beziehen sich auch - ich hatte das eingangs schon gesagt - auf Ideen wie die Abschaffung der Zinswirtschaft. Das heißt, Sie betreiben auch Kapitalismuskritik. Sie selbst führen also Ihre eigenen Überlegungen hin bis zu der Frage: Was passiert heute in dieser Gesellschaft? Was passiert unter dem Entwicklungsdruck der Globalisierung mit dieser Gesellschaft?

Kafka: Ja, natürlich. Denn man muss sich ja fragen, wie denn nun diese abstrakte systemtheoretische Krise, deren Höhepunkt wir ganz offensichtlich nun erreicht haben, im Einzelnen organisiert ist. Woran liegt es denn genau? Ist das nun wirklich der Untergang, oder können wir durch diese Krise hindurch? Das heißt: Können wir durch diese Krise noch weiter hinauf? Die Antwort darauf lautet: Ja, das ist dann möglich, wenn wir verstanden haben, woran es denn liegt, dass es jetzt schief gehen muss. Wir müssen es also gesellschaftlich organisieren, dass die selektiven Vorteile des Großen und Schnellen beschränkt oder abgeschafft werden. Damit kommt man natürlich sofort in eine politische Diskussion hinein.

Gruber: Ich möchte hier jedoch noch ganz kurz einen skeptischen Einwand dazwischenschieben: Das erinnert mich schon ein bisschen an die Haltung von älteren Menschen - Sie sind ja mittlerweile auch im Ruhestand -, die die Geschwindigkeit des Hier und Heute immer schon beklagt haben, weil sie selbst damit nicht mehr zurechtkommen. Mir fehlt also noch ein wenig das Argument, das mir sagt, dass diese Entwicklung ganz objektiv zu schnell ist. Was ist das Kriterium, an dem man das dingfest machen kann, sodass man nicht bloß sagt, dass die alten Leute halt ganz einfach nicht mehr mitkommen?

Kafka: Das macht den ganzen ersten Teil meiner Überlegungen aus: Es kann nämlich sehr wohl verstanden werden, dass ganz abstrakt und systemtheoretisch zu einem bestimmten Zeitpunkt diese globale Beschleunigungskrise erreicht werden muss, wenn in einem endlichen System der Fortschritt erfolgreich ist.

Gruber: Unser Fortschritt war also erfolgreich.

Kafka: Der Fortschritt ist solange erfolgreich, bis er an diese kritische Grenze kommt. Diese kritische Grenze ist dann erreicht, wenn eben nicht mehr genügend Zeit vorhanden ist, um auszuprobieren, ob denn das Alte und das Neue auch wirklich zusammenpassen. Wenn diese Grenze erreicht ist, passiert Folgendes: Es tauchen Probleme auf, die gelöst werden müssen, aber jede Problemlösung erzeugt zwei neue Probleme, die wiederum bei ihrer Lösung dann schon vier neue Probleme mit sich bringen. Man kann daran sehen, dass das ganze System instabil wird. Diese Instabilität des Fortschritts ist das, was wir zur Zeit erleben. Wir sind ja sogar dabei, die Biosphäre innerhalb einer einzigen menschlichen Lebensdauer abzuschaffen. Es sterben jetzt stündlich zehn lebendige Arten aus. Diese Arten brauchten für ihre Entstehung aber Millionen von Jahren. Wir sind auch dabei, das Klima der Erde umzukippen. Bei all diesen Untergangssymptome, die wir heute haben - die Erosion der Böden, die Verseuchung der Gewässer und all die anderen ökologischen Probleme - können Sie feststellen, dass sie in der Zeitskala ungefähr die Größenordnung eines Menschenlebens haben. Wir können heute sehr wohl abschätzen, dass das noch ein paar Jahrzehnte gut geht, bis dann wirklich die Wurzel kaputt ist. Insofern ist diese Situation eine ganz andere Situation als früher: Natürlich war diese Krise im menschlichen Hirn schon immer verwirklicht, aber sie war nicht global. Denn wenn irgendwo alles zusammengebrochen ist, dann kam das, was zusammengebrochen war, von außen erneut wieder herein. Das geht jetzt nicht mehr.

Gruber: Vielleicht sind die Größenordnung nun andere geworden, denn dieses Ausprobieren und dieses Überleben findet ja auch heute noch statt. Wenn Sie die Industrie betrachten, dann sehen Sie, dass das dort sogar exemplarisch stattfindet. Auch wenn das auf der Ebene der Globalisierung stattfindet, ist es so: Das sind große Konzerne, die innerhalb des Konkurrenzverhältnisses um ein Noch-größer-Werden ringen. Einer der Konzerne überlebt schließlich diese Konkurrenzsituation und kommt dann eben sozusagen in die nächste Runde.

Kafka: Ja, aber genau dieses Prinzip, das bisher funktioniert hat, funktioniert nun nicht mehr. Es hängen freilich alle sehr an diesem Prinzip, weil es uns eben diesen so genannten Wohlstand erbracht hat. Alle sagen, dass das doch ganz wunderbar funktioniert. Man hat allerdings die dabei entstehenden Probleme die ganze Zeit über in die Biosphäre und in die Dritte Welt abgeschoben. Dieses Verfahren stößt aber nun genau an seine eigene innere Grenze. Das sehen Sie daran, dass jetzt plötzlich alle den Kopf schütteln und sagen: "Um Gottes willen, was ist denn nun mit der Globalisierung los?" Darüber hat doch früher niemand gesprochen: Ich selbst habe schon lange darüber gesprochen, aber nun wird sogar in der Wirtschaft darüber geredet. Alle sind davon plötzlich betroffen und sagen, dass das Prinzip instabil wird: Das sieht man ja jetzt. Auf der logischen Ebene ist es ganz einfach einzusehen, dass dieses Prinzip instabil ist, aber wirklich ändern und überwinden kann man diese Instabilität erst, wenn die globale Grenze erreicht ist: Vorher geht das nämlich nicht. Wenn einer dieses Rennen nicht mitmachen will, dann wird er halt vom Markt verdrängt und verschwindet. Die Veränderung ist eben erst mit der vollkommenen Durchsetzung der Globalisierung möglich.

Gruber: Aber genau das könnte doch die Entwicklung sein, die uns überhaupt noch bevorsteht: Wir haben das alte Europa, wir haben die USA, Japan und damit diese Industriestaaten, aber der Rest der Welt ist ja technisch und wissenschaftlich gesehen noch meilenweit zurück. Dort ist der Lebensstandard noch ganz weit unten. Das heißt, dort muss erst einmal Bewegung hineinkommen...

Kafka: Ja, schon, aber keine Bewegung in Richtung der Stelle, an der wir uns befinden. Denn das können wir doch absehen: Die Lebensweise, die wir pflegen, indem z. B. jeder von uns jeden Tag die Hälfte des eigenen Körpergewichts an Kohlendioxid in die Luft bläst, ist keinesfalls übertragbar. Wenn das die ganze Welt so machen würde, dann wäre die Welt bereits in wenigen Jahren kaputt. Insofern können wir nun nicht sagen: "Nun warten wir doch erst mal, bis die anderen auch auf diesem Niveau sind." Nein, jetzt muss in den am weitesten entwickelten Ländern wirklich eine Gegenbewegung entstehen. Wir sind es, die sich fragen müssen: Lässt sich diese Welt auf eine Weise organisieren, damit sie nicht untergeht? Das ist die entscheidende Frage: Können wir das tatsächlich machen?

Gruber: Aber darauf kann doch die Wissenschaft und die Technik eine Antwort geben. Diese Position wird ja auch vertreten: Die Probleme können nur durch Wissenschaft und Technik gelöst werden, also durch weiteren Fortschritt. Das Kohlendioxydproblem kann ja möglicherweise durch eine andere Art der Energieerzeugung gelöst werden: womöglich auf der Grundlage von Techniken, die wir bereits kennen, die wir aber erst entwickeln müssen.

Kafka: Ja, natürlich, diese Techniken haben wir ja schon weitgehend entwickelt. Wir könnten hier auf der Erde heute bereits allein von der Sonnenenergie leben. Die Sonne liefert hier in München auf jedem Quadratmeter jährlich die Energie von 100 Litern Öl.

Gruber: Die Lösung besteht dann ganz einfach in einem weiteren Fortschritt der Technik.

Kafka: Nein, nein, es geht auf keinen Fall mit einem bloßen weiteren Fortschritt in der Technik. Inzwischen ist es nämlich so, dass das Organisationsprinzip in sich schon instabil geworden ist. Der Kapitalismus ist nämlich nicht mehr lebensfähig: Man kann sehr wohl verstehen, dass das nicht mehr geht.

Gruber: Gibt es diesen Kapitalismus eigentlich überhaupt noch in der Reinform?

Kafka: Nein, in der Reinform natürlich nicht, aber die Idee, die Grundidee, besteht doch nach wie vor darin, dass sich Menschen die Lebensgrundlagen von anderen Menschen aneignen müssen, damit sie das Kapital bedienen können. Das ist die Grundidee des Kapitalismus: Es ist die Vorstellung, dass dann, wenn sich die Menschen die Lebensgrundlage von anderen Menschen aneignen können, diese anderen dafür arbeiten müssen. Das ist doch der Motor des Aufstiegs, und das funktioniert im Kleinen auch sehr gut. Ich meine, dadurch haben wir ja auch eine ganze Menge von schönen Dingen erzeugt: einmal abgesehen von den Kriegen, die immer dann passiert sind, wenn das exponentielle Wachstum zu lange angehalten hat. Denn dann musste das zusammenbrechen: Man haute alles kaputt und fing wieder von vorne an. Nun, dieses Zusammenhauen können wir uns auf einer globalen Ebene heute nicht mehr leisten: Das ist inzwischen in den Köpfen der Leute auch angekommen, denn ein globaler Krieg ist nicht mehr möglich. Nun muss dieses ständige Anwachsen der Vermögen auf andere Weise beendet werden. Unsere aktuellen Probleme schauen doch so aus: Wenn Kinder nicht mehr richtig erzogen oder alte Menschen nicht mehr richtig gepflegt werden können, dann heißt es als Begründung, dass kein Geld dafür vorhanden sei. Das ist natürlich eine Absurdität: Es ist mehr Geld da als jemals sonst in der Geschichte.

Gruber: Es stellt sich nur die Frage, wo dieses Geld ist.

Kafka: Richtig, wo ist dieses Geld, und warum kommt es nicht dorthin, wo es gebraucht wird? Das ist eben eine Frage der Wirtschaftsorganisation: Die ist aber, so wie sie jetzt ist, nicht lebensfähig. Ich bin nicht so kindisch, nun zu sagen, ich hätte für all diese Fragen die richtige Antwort im Kopf, aber die Diskussion darüber findet doch schon seit 5000 Jahren statt. Schon in der Bibel können Sie bei Moses entsprechende Stellen finden.

Gruber: Heißt das nicht möglicherweise, dass wir diese Diskussion zwar immerzu führen, aber nie zu einer vernünftigen Antwort kommen werden?

Kafka: Da müssen eben diejenigen Menschen, die ein wenig mehr verstehen, versuchen, Antworten vorzuschlagen - und genau das versuche ich. Meine Antwort ist: Wir müssen verfassungsmäßig das Eigentum an Lebensgrundlagen in einem größeren Maßstab beschränken, also abschaffen - im Kleinen freilich zulassen. 

Dann müssen wir vor allem im Steuersystem das besteuern, was wir als schädlich erkannt haben, und dürfen nicht mehr das besteuern, was wir eigentlich gerne haben möchten, dass nämlich Menschen etwas machen, wenn ihnen etwas Gutes einfällt und sie vorhandene Bedürfnisse damit befriedigen können. Wir besteuern ja heute die Arbeit: Das ist eine absurde Regelung. Wir sollten das besteuern, was wir als schädlich erkannt haben. Die so genannte Ökosteuerdiskussion zeigt das ja. Wenn wir heute z. B. nur die Energie besteuern würden - weil sich ja alle darüber einig sind, dass die heutige Energieverschwendung katastrophal ist -, wenn wir also alle anderen Steuern abschaffen und nur noch die Energiesteuer behalten würden, wie hoch wäre diese Steuer dann? Komischerweise überlegt sich das überhaupt niemand. Denn da heißt es doch sofort immerzu: "Da gehen wir ja unter, das geht ja gar nicht, das ist ja absurd." 

Wenn wir das aber einmal ausrechnen, dann kommen wir zu folgendem Ergebnis: Wenn wir alle deutschen Steuern durch eine reine Energiesteuer ersetzen würden, dann würde sie ungefähr bei 25 Pfennig pro Kilowatt Primärenergie liegen. Das heißt, die Kilowattstunde Strom würde ungefähr 70 oder 75 Pfennig kosten. Und der Liter Öl würde dann ungefähr 2,50 DM kosten. Sie sehen daran, dass das noch nicht einmal die Größenordnung erreicht, die man den Grünen mit ihren fünf Mark pro Liter Benzin vorwirft. 

Ich würde eine solches Besteuerungssystem die Entropiesteuer nennen: 

Das, was man als schädlich für die Umwelt und die Gesellschaft erkannt hat, wird besteuert - und im Übrigen gibt man der Gesellschaft völlige Freiheit. Es wird also nur das Schädliche besteuert: Das kann man wirklich machen. Dann muss man aber noch Folgendes dazusagen: Es heißt ja heute immer, wir könnten uns bestimmte Dinge nicht mehr leisten: Kindererziehung, Altenpflege usw. Das liegt natürlich ganz entscheidend daran, dass der größte Teil unserer Leistung für die leistungslosen Einkommen aufgebracht wird. Damit meine ich nicht die Sozialhilfe, denn die ist vernachlässigbar. Ich meine mit den leistungslosen Einkommen die Bedienung des Kapitals. Sie ist von derselben Größenordnung wie die gesamte Steuerlast: Das sind ungefähr zwei Milliarden Mark täglich. Täglich bringt die deutsche Gesellschaft also ungefähr zwei Milliarden Mark auf, damit diese Vermögen weiter anwachsen. Es ist doch eine Absurdität, dass man von seiner Leistung den größten Teil immer dorthin schiebt, wo sowieso schon das größte Eigentum liegt. Das betrifft eben die Idee des Kapitalismus, und genau darüber muss nun wieder geredet werden.

Gruber: 
Wir können das heute leider Gottes nicht mehr in aller Ausführlichkeit tun, aber ich verstehe das schon so, dass das eine Fundamentalkritik ist, die nach einer Revolution ruft.

Kafka: 
Ja, nun, aber Revolution heißt heute nicht mehr, dass man Leuten den Kopf abschlägt. Stattdessen heißt Revolution, dass im Bewusstsein der Mehrheit etwas sehr Einfaches erkannt wird und sich das dann auch politisch organisiert. Es ist ja interessant, dass man nun auch in Wirtschaftskreisen anfängt, über diese Dinge nachzudenken. Es ist z. B. gerade ein Buch von Bernard A. Lietaer erschienen mit dem Titel "Das Geld der Zukunft". Das ist ein ehemaliger hoher Mitarbeiter der Weltbank, der jetzt über dieses Problem nachdenkt und dabei auf Gedanken kommt, die Silvio Gesell schon vor 100 Jahren und Moses schon vor 5000 oder 4000 Jahren formuliert hat. Das sind nämlich ganz einfach logische Selbstverständlichkeiten: Es muss ein Beschränkungsmechanismus im exponentiellen Wachstum der Vermögen eingebaut werden. Denn sonst werden halt die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer. Das ist aber der Zustand, den wir heute haben. Wenn wir das noch weitere 50 Jahre lang machen, dann nimmt das absurde Formen an: Es ist dann nämlich ungeheuer viel Reichtum vorhanden, aber die alten Leute können gleichzeitig nicht mehr richtig gepflegt werden.

Gruber
Aber wird diese Beschleunigung nicht ohnehin zu einem Stillstand kommen, wenn alles Geld nur noch in wenigen Händen vereinigt wäre, sodass sich dann von dort aus gemäß dieser physikalischen Gesetze das Problem lösen lässt?

Kafka
Wie soll denn dieses Geld in Umlauf kommen? Es geht darum, sich Geld zu schaffen, das wirklich den Menschen dient und nicht den Vermögen. Das lässt sich machen, und dafür gibt es auch viele Vorschläge, auf die ich hier gar nicht weiter eingehen will. Kleine Beispiele finden sich ja überall, denn manche Menschen sehen bereits heute sehr wohl ein, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Sie sagen: "Ich bin arbeitslos und hätte eigentlich so viel zu tun und hätte auch so viele Bedürfnisse, also gründe ich einen Tauschring." Das gibt es ja in zwischen alles.

Gruber
Wir haben in diesem Gespräch einen großen Bogen absolviert: wirklich vom Urknall bis zu ganz konkreten Fragen des Hier und Heute. Ich hoffe, dass bei unseren Zuschauern davon einiges angekommen ist - auch von dem Engagement, das Sie mitbringen. Ich bedanke mich sehr herzlich, dass Sie sich für dieses Gespräch zur Verfügung gestellt haben. 

Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, das war als Gast im Alpha-Forum Peter Kafka, der Physiker und Wanderprediger in Sachen Kampf gegen den Untergang.

 

 

Ende

 

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