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Vorwort

 

1990 von Sam Keen

 

9-30

Über den zwanzigsten Geburtstag von <To a Dancing God> bin ich so überrascht wie nur irgend jemand. Andere meiner Bücher erfreuten sich eines eher kurzen Lebens, um dann in der Vergessenheit von Antiquariaten zu verschwinden — Opfer künstlicher Alterung und des Auf-die-Schnelle-Lesens, das die Boulevardpresse erfunden hat. Aber <To a Dancing God> wurde ständig nachgedruckt. Warum?

Schon bald nach der Erstveröffentlichung stellte ich fest, daß <To a Dancing God> eine schwache Stelle in der modernen Psyche berührt hatte, denn ich bekam Briefe von Lesern. Die meisten begannen mehr oder weniger auf die gleiche Art: 

»Lieber Sam, wir kennen uns nicht, und eigentlich ist es nicht meine Gewohnheit, an Autoren zu schreiben, und doch habe ich das Gefühl, Sie zu kennen. Ich möchte Ihnen danken, soviel von sich preisgegeben zu haben, besonders von Ihren inneren Kämpfen, und ich würde Ihnen gern meine Geschichte erzählen.« 

Im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahre habe ich immer wieder derartige Briefe erhalten. Eine Frau kam gar aus South Carolina nach Kalifornien gereist, um mir von sich zu berichten.

Es scheint, daß ich durch die Veröffentlichung der ersten Kapitel meiner geistigen Autobiographie — ich war damals keine vierzig Jahre alt und noch in Aufruhr — anderen Menschen unabsichtlich gestattet habe, das spirituelle Drama ihrer Existenz ernst zu nehmen. Mit dem Erzählen meiner Geschichte habe ich religiöse Autorität in die Hände des Individuums zurück­gelegt. Meine Entscheidung, der eigenen Erfahrung mehr zu trauen als jedem Dogma, jeder Kirche, jedem Guru oder sonstigen Autorität, hat andere ermutigt, das gleiche zu tun und setzte eine Bewegung in Gang, die den Begriff des Geschichten­erzählens in den Mittelpunkt der Theologie zurückbrachte. Genau dorthin gehört er auch.

In vielerlei Hinsicht gehört dieses Buch weit eher in die neunziger als in die siebziger Jahre. Die Idee einer persönlichen Mythologie, die ich darin vorstelle, mußte viele Jahre lang gegen den Strom schwimmen. Erst als die Arbeit von Joseph Campbell durch Bill Moyers' PBS-Serien The Power of Myth einem größeren Publikum bekannt wurde, erhielt der Begriff Mythos in der allgemeinen Öffentlichkeit eine positive Bedeutung. 

Als wir uns dann plötzlich und gleichzeitig  

1. dem Wiederaufleben neokonservativer religiöser Orthodoxien, 

2. Glasnost und den Todeszuckungen des Marxismus, 

3. der bedingungslosen Fortschrittsgläubigkeit von Wirtschaft und Industrie trotz der herauf­ziehenden ökologischen Krise, 

4. einer feministischen Revolution und  

5. der Geburt spiritueller New-Age-Mythen aus der Verbindung zwischen Quantenphysik und einem wiedererwachten Interesse an Meditation und östlicher Vergeistigung 

konfrontiert sahen, wurde unübersehbar, daß wir uns mitten in einer weltweiten kulturellen Krise befanden. Wir haben keine einheitlichen Mythen mehr und sind daher gezwungen, uns die Frage zu stellen, die C. G. Jung die wichtigste von allen genannt hat: Welchem Mythos hast du gelebt?

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Seit zwanzig Jahren (15 davon zusammen mit Joseph Campbell) veranstalte ich Seminare zum Thema persönliche Mythologie, Mythen und Selbstheilung. In ihnen fordere ich die Menschen auf, den Prozeß des Erkennens ihrer Helden und Schurken, Visionen und Bestrebungen, Verletzungen und Begabungen nachzuvollziehen, den ich bei der Vorbereitung und beim Nieder­schreiben von To a Dancing God durchlaufen habe. Es ist ein bißchen eigenartig, sich plötzlich mitten im Trend wieder­zufinden.

Autoren werden immer wieder zwei Fragen gestellt: »Welches Ihrer Bücher ist Ihr liebstes?« und »Wie würden Sie das von Ihnen Geschriebene verändern?« Diese Fragen verwirren mich erheblich. Es ist, als würde man gefragt: »Welches Ihrer Kinder haben Sie am liebsten?« oder »Was würden Sie an der Erziehung Ihrer Kinder verändern?«

Wenn ich heute das Buch noch einmal lese, stelle ich fest, daß ich im Grunde nur sehr wenig ändern würde. Die Zeit scheint seine Botschaft fast noch dringlicher gemacht zu haben, als sie vor zwei Jahrzehnten gewesen ist. Selbstverständlich gibt es da ein paar Dinge, die ich dem jungen Autor dieser Essays gern sagen würde. Manche seiner Visionen kann ich heute nicht mehr teilen, manche seiner Ideale konnte ich leider nicht verwirklichen. Im allgemeinen stelle ich ein wenig mißmutig fest, daß ich von seinem jugendlichen Enthusiasmus noch viel zu lernen habe. Ich hoffe, ich habe aus der Auseinandersetzung mit moralischen Widersprüchen, die er noch nicht verstand, zumindest ein wenig Weisheit gewonnen.

Um Ihnen diesen jungen Mann vorzustellen, der ich war und irgendwie noch immer bin, möchte ich ein paar Hauptthemen des Buches ansprechen:

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    Exil und Heimkehr  

 

Zunächst erstaunt mich an To a Dancing God die Tatsache, wie schwer es sich der Autor mit der Entwicklung von Konzepten gemacht hat, die seinen Erfahrungen entsprachen. Er befand sich im Exil mit seiner unersättlich religiösen Einstellung, die nach einem Repertoire an Vorstellungen verlangt, einer Ansammlung von Mythen, einer Lebensliturgie, einer Karte für den Lebensweg. Er war (und ist noch immer) ein Mensch, der von Fragen verfolgt wird, die nicht beantwortet werden können aber dennoch nicht vergessen werden dürfen. 

Warum bin ich rastlos? Ängstlich? Warum werde ich von Verlangen verzehrt, von der Säure der Einsamkeit zerfressen, wo ich doch eine Frau, zwei Kinder, einen Hund, eine Katze und eine akademische Position habe? Gibt es vielleicht irgendeine Ekstase, irgendeine göttliche Verrücktheit, eine übermächtige Begeisterung, die mich hinreißen und meine Seele von ihrem Kleinmut und ihren Hemmungen reinigen kann?

Wenn ich mir das Ringen des jungen Keen so betrachte, dann weiß ich, daß er — und mit ihm Millionen anderer, die sich innerhalb der gesicherten Grenzen christlicher Mythen nicht mehr heimisch fühlen — es sehr viel schwieriger als angenommen finden wird, zu einer Weltsicht zu gelangen, die seine Ansprüche befriedigt. Einmal enttäuscht, wird er seine Skepsis nie lange genug ablegen können, um sich einem Kult oder einer Orthodoxie hingeben zu können. Doch da er einmal ein Gläubiger war, kann er sich auch nicht mit den polyglotten Befriedigungen des Säkularismus zufrieden geben oder sein Vertrauen einer Nation oder einer Organisation übertragen. 

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Wenn ich mir die unvermeidliche Kollision zwischen dem fragenden Geist des Autors und seinem Bedürfnis nach spirituellen Vertrauen vorstelle, das der Integrität seines Geistes keine Gewalt antut, dann kann ich nur Mitleid mit ihm empfinden. 

Wenn er uns gegen Ende eines Essays versichert: »Ich bin zu Hause in meiner Zeit ... zufrieden, hier zu sein ... heimisch im anrührenden Nachhall des Gegenwärtigen«, dann weiß ich, daß er im Dunkel pfeift. Wenn ich genauer hinhöre, vernehme ich das Echo eines Vakuums, das nicht leicht zu füllen ist — weder für ihn noch für alle anderen, die außerhalb herkömmlicher religiöser Institutionen eine spirituelle Heimat finden müssen. Die Heimkehr dieses verlorenen Sohnes mußte länger und verschlungener werden, als er sie sich vorgestellt hatte. Es überrascht mich keineswegs, daß er mit seinem umherschweifenden Geist, den ungebremsten Emotionen, der Bilderstürmerwut, dem Verlangen nach erotischen Freiheiten und himmlischer Tollheit ins Leben hinausstürmte — und prompt auf die Nase fiel.

Der Teil von To a Dancing God, der zwangsläufig zu Narben führen mußte, ist der Tagebucheintrag vom 31. November 1969 in Teil Vier: »Gelöbnisse«. Als junger Mann, ungeduldig und gegen das >Noch nicht< aufbegehrend, dachte ich, ich könnte meine Grenzen endlos ausdehnen, ohne dabei Brüche entstehen zu lassen. Ich glaubte, verbotene Terrains erkunden zu können, ohne früher eingegangene Verpflichtungen zu gefährden. Im Kapitel »Betrachtungen über einen Pfirsichkern-Affen«, in dem ich über die Versprechen nachdachte, die mein Vater und meine Mutter mir gegeben hatten, entdeckte ich den Felsen, auf dem meine Zufluchtsstätte errichtet war: die Heiligkeit von Gelöbnissen. Selbstverständlich war ich, wie meine Eltern, entschlossen, meine Versprechen getreulich einzuhalten.

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Dazu genügt die Erklärung, daß meine Ehe nach 17 Jahren 1970 mit der Scheidung endete, und daß ich mich getrennt von Heim, Herd und Kindern wiederfand. Es hat zwanzig Jahre gebraucht, eine zweite Ehe und eine neue Familie, bis ich endlich da ankam, wo ich mich bereits 1969 gewähnt hatte. Und die Straße, die endlich nach Hause führte, erwies sich ganz anders als die, die ich mir vorgestellt hatte.

Als Ergebnis dieses Zerbrechens und Heilens innerhalb meiner Familie mußte ich immer wieder über Versprechen, Verpflichtungen, das Wesen der Treue sowie die Beziehung zwischen dem spirituellen Bestreben des Individuums und der Heiligkeit des heimischen Herdes nachdenken.

Noch immer glaube ich, daß Gelöbnisse das einzige vorbehaltlose Band schaffen, das der Zersetzung durch Zeit und Veränderungen widersteht. Und doch müssen Individuen mitunter ihre Schwüre aufheben, um ihren unterschiedlichen Berufungen folgen zu können. Ich habe keine Folge abstrakter Prinzipien entdecken können, die meine Scheidung gerechtfertigt hätte, oder anderen die Entscheidung darüber erleichtern könnte, wann sie in der Hoffnung auf eine unterirdische Quelle tiefer graben müssen und wann es besser ist, die Zelte abzubrechen und weiterzuziehen, bevor eine unvernünftige Verpflichtung eine irreversible Unfrucht­barkeit des Geistes bewirkt. 

Die folgende Feststellung scheint dem Kern der Sache zumindest nahe zu kommen: Wenn eingegangene Schwüre drohen, den Lebensmut derjenigen zu zerstören, die sie binden, scheint die kreative Natur der Liebe eine Trennung als einzige Möglichkeit zu verlangen, sich treu zu bleiben. »Bis daß der Tod uns scheidet« bezieht sich auf den Geist, nicht auf den Körper. 

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Natürlich wäre es allzu einfach, Unbeständigkeit und mangelnde Bindungsfähigkeit mit persönlicher Entfaltung zu rechtfertigen, mit dem »Erkennen der eigenen Möglichkeiten« oder dem Folgen seines geistigen Sterns. Doch ähnlich einfach ist es auch, ein feiges Zurückweichen vor radikalen Veränderungen im Namen der Treue zu rechtfertigen.

Im Rückblick auf ein Leben wird deutlich, daß wir unsere Hoffnungen eher auf die Gnade richten sollten als auf irgendeinen Anspruch auf Vollkommenheit. Soviel ist sicher: Wenn man die Kunst der Reue und des Verzeihens lernt, kommt man leichter mit einem intakten Geist durchs Leben als durch das Vermeiden von Risiken und Fehlern.

Durch die Scheidung lernte ich etwas über Zerbrochenheit. Die Wiederheirat belehrte mich über Neubeginn und darüber, wie man freudig in einem Haus lebt, das von einem oder zwei Geistern bewohnt wird. Für beides bin ich dankbar.

Schließlich ist mein Geist ein erfahrener Reisender geworden, dessen Heimat die Straße ist. Je mehr ich über das Blutvergießen nachdenke, das von wahren Überzeugungstätern angerichtet wird, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, daß wir dann am menschlichsten bleiben, wenn wir die großen legendären Fragen am Leben erhalten, ohne Antworten zu verlangen. Ein freier Geist, ein freies Gemüt ist stets ruhelos, unersättlich und irgendwie unbeständig. »Eine dauerhafte Ordnung auf Erden kann vermutlich nur geschaffen werden, wenn der Mensch sich stets kritisch bewußt bleibt, daß seine Bestimmung die eines Reisenden ist ... homo viator ... Dieser Reisende ist die Seele, und wegen der Seele, allein wegen der Seele können wir mit höchster Berechtigung sagen, daß <Sein> notwendigerweise <auf dem Weg sein> bedeutet«, sagte Gabriel Marcel.

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Doch heute ist mein Körper ein Siedler und weiß etwas über die Zufriedenheit. Vor drei Jahren haben meine Frau Jananne und ich sechzig verwilderte Morgen im Sonoma County in Kalifornien gekauft. Mit Hilfe meines Sohnes Gifford haben wir ein Haus gebaut, eine Quelle erschlossen, Brücken errichtet und Zäune gezogen, um Pferde drinnen und streunende Kühe draußen zu halten, sowie Obstbäume gepflanzt. Im nächsten Monat werden wir eine kleine Scheune bauen und unseren ersten Garten anlegen. Die ersten Stunden des Tages verbringe ich mit Überlegungen, dem Schreiben und sonstigen geschäftlichen Dingen. Doch den Nachmittag widme ich erdverbundenen Arbeiten: Ich errichte Mauern, schleppe Steine, schlage Holz, kümmere mich um die Pferde, reinige die Quelle, grabe, pflanze, mähe.

Mit Leib und Seele habe ich inzwischen begriffen, daß man <Heimat> nur auf einem Stück Land schaffen kann, nicht im Geist. Am Anfang ist der Humus, nicht das Wort. Die Menschen sind Geschöpfe der Erde, und wenn wir uns zu weit von den ursprünglichen Gegebenheiten, Dinge anzubauen, und den jahreszeitlichen Rhythmen entfernen, beginnen wir, uns verloren zu fühlen. Wenigstens mir geht es so. Ich entferne mich zunehmend von der Weltsicht der Gnostiker, modernen Intellektuellen und Computer-Gurus, die daran glauben, wir könnten durch eine <Wissens-Revolution> und eine High-Tech-Zukunft gerettet werden.

Ich glaube an das Land, an Humus, Erde, Materie, Pflanzen, Bäume, Tiere und ausreichend Wildnis, um sich darin verlaufen zu können. Ich frage mich, ob es in einer zunehmend urbanen Kultur möglich ist, etwas über unsere Verwandtschaft zu anderen fühlenden Geschöpfen zu erfahren und das Land genügend schätzen zu können, um es zu bewahren. 

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Ich bezweifle, daß eine in Hochhäusern aufgewachsene Generation von Walt Disney oder aus Wild Kingdom lernen kann, die Heimat von Pumas und Antilopen zu verteidigen. 

Es ist schwer einzusehen, wie eine Kultur, in der drei Prozent der Bevölkerung die nötige Nahrung produzieren, während alle anderen in großen Städten leben, auch nur den Ansatz einer Hoffnung zeigt, zu Bewahrern der Erde zu werden.

Von meinem Leben auf dem Land und der Beschäftigung mit der Erde lerne ich endlich, daß diese Vertrautheit die Schule der Liebe ist. Man lernt einen Ort auf die gleiche Weise lieben, wie man eine Frau lieben lernt: durch häufigen Umgang und enge Kontakte. Die Schwalben, die jedes Jahr wiederkehren, um über der Küchentür ihr Nest zu bauen, sind keine x-beliebigen Exemplare von Rauchschwalben. Es sind die flügge gewordenen Jungen des letzten Jahres, die ich bei ihren ersten Flugversuchen beobachtet habe. Ich erkenne sie mehr im biblischen als im wissenschaftlichen Sinn.

Ich glaube, wir modernen Menschen werden für immer im Exil sein — schweifend, ruhelos, heimwehkrank —, wenn wir nicht endlich einen Weg finden, wieder in den dauerhaften Gegebenheiten von Humus und Wildnis zu wurzeln. Die einzige hoffnungsvolle Zukunft, die uns winkt, wird eine totale Neuorientierung verlangen, eine Verschiebung der Werte, ein neues Bewußtsein für das, was wir sind, eine neue Identität und eine neue Definition von Wirtschaft. Nur innerhalb der Horizonte der wachsenden Erde, nicht in der Pseudowelt der Wirtschaft, können wir jemals zu Hause sein. Das ist für mich harter Realismus — keine romantische Vision einer Rückkehr zum Garten Eden.

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Mir scheint die Logik schrecklich einfach zu sein, die über unser Überleben oder unsere Vernichtung entscheidet: Entweder akzeptieren wir unsere Verpflichtung, die Erde zu retten, oder wir sterben. 

Und:
Wir können nur retten, was wir lieben. 
Wir können nur lieben, was wir kennen. 
Wir können nur kennen, was wir berühren.

Warnung: Achten Sie darauf, was Sie täglich berühren, denn es wird Ihren Geist, Ihren Körper und Ihr Herz prägen.

Unterweisung in serendipischen Fähigkeiten, Ergänzung: Als Ergebnis meiner Erfahrungen in den letzten Jahren möchte ich den Vorschlägen im Kapitel »Unterweisung in serendipischen Fähigkeiten« zwei weitere hinzufügen: 1. Erdverbundenheit oder: Wie man bescheiden lebt, auf Konsum verzichtet, am Hungertuche nagt, und 2. Visuelle Bildung oder: Wie man Platons Höhle entkommt.

 

Erdverbundenheit 

Das wichtigste Problem, das wir in der nächsten Generation bewältigen müssen, ist die klare Unterscheidung zwischen Weiter­entwicklung, Fortschritt und reinem Aktivismus. Heutzutage denken Planer ganz automatisch beim Anblick eines Sumpf­landes daran, daß darauf sehr gut ein Einkaufszentrum stehen könnte. »Der Fortschritt läßt sich nicht aufhalten«, ist ein gängiges Klischee. Wenn wir den Begriff Fortschritt entmythologisieren, können wir uns vielleicht beim Anblick von Einkaufs­zentren vorstellen, daß sie sehr gut in Sumpfland, Wiesen oder offenes Gelände umgewandelt werden könnten.

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In hohem Maße ist das, was heutzutage Bildung genannt wird, Ergebnis von Ideologien statt von Forschung. Bevor sich das nicht radikal ändert, wird es uns unbewußt einer unmenschlichen Zukunft ausliefern. Unsere Schulen folgen blindlings den Imperativen der Gesellschaft und bilden Menschen für eine zunehmend technologische Zukunft aus. Eine Zukunft, die überaus wettbewerbs­orientiert ist, überaus verschwenderisch, überaus verstädtert, überaus vereinheitlicht, und in der mit großer Sicherheit die empfindliche Erde zerstört wird, die unsere einzige Heimat, unser Herd und unser Heil ist.

Angesichts der immer bedrohlicheren Umweltzerstörung wird überdeutlich, daß die Technomanie eine akute Gefährdung unseres Lebens darstellt. Solange wir keine organischere Beziehung zu unserer Umwelt entwickeln, wird unsere menschliche Gattung nicht überleben. Wir brauchen eine neue Art des Lebens mit der Natur, neue, zweckdienliche Technologien, eine neue, maßvolle Ökonomie, neue, <grüne> Städte, eine neue, ländliche Kultur, einen neuen Mythos, der uns unseren Platz im Haushalt der Erde und im Gemeinwesen aller fühlenden Geschöpfe gibt.

Schulen, Hochschulen und Universitäten vergehen sich an den heranwachsenden Menschen, wenn sie sie nicht dazu anregen, nach Lebensformen zu forschen, die sich im Einklang mit den Anforderungen der Biosphäre und unseren Bedürfnissen nach einer fürsorglichen Gemeinschaft befinden. Wie die Dinge liegen, treiben wir ohnmächtig in eine zunehmend urbanisierte, institutio­nalisierte, wirtschaftlich bestimmte Zukunft. Zur Zeit vermitteln uns weder unser Schulsystem noch die Medien die Vision einer ländlichen, gemeinschaftlichen oder gemächlichen Lebensweise. 

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Wir erziehen unsere Kinder dazu, <erstklassige> Erfolgstypen zu werden, aufreibend zu leben, um in Berufen nach oben offen zu sein, in denen frühes <Ausgebranntsein> mittlerweile zur Tagesordnung gehört. Wenn wir wollen, daß sich unsere Kinder zwischen echten Alternativen frei entscheiden können, müssen wir sie dazu ermutigen, unterschiedliche Lebensweisen kennenzulernen.

Vielleicht müssen wir unterschiedliche Ausbildungswege entwickeln. Weg Eins für jene, die perfekt ausgebildet als Fach­spezialisten in einer vereinheitlichten Welt leben wollen, und Weg Zwei für jene, die selbst-bewußter sein wollen, die an einem erfüllten persönlichen und gemeinschaftlichen Leben mehr interessiert sind als an wirtschaftlichem Aufstieg. Wir verlieren rasch die Fähigkeit, bescheiden zu leben, auf Konsum zu verzichten, am Hungertuche zu nagen — ebenso wie die entsprechende Vorstellung. Doch selbst in unserer in hohem Maße spezialisierten Gesellschaft üben Millionen Menschen unauffällig die Kunst eines selbsterhaltenden Lebens aus. In ländlichen Gebieten, kleinen Städten und Dörfern leben unbesungene Mehrheiten in echten Gemeinschaften, in denen sich die Menschen mit Fertigkeiten helfen, Gerätschaften ausleihen und sich ganz allgemein in Zeiten der Not beistehen.

Um die Alternative >freiwilliger Einfachheit zu einer Lebensentscheidung zu machen, müssen wir Austausch­programme entwickeln, die Stadtkindern einen Geschmack ländlichen Lebens — und umgekehrt — vermitteln, ebenso wie Ausbildungs­programme, die mehr Do-it-yourself-Fähigkeiten fördern. So utopisch die Forderung klingen mag, jeder gebildete Mensch müsse auch über praktisches Wissen in der Landwirtschaft verfügen, so irreführend ist die Annahme, wir könnten eine ökologisch lebensfähige Kultur schaffen, ohne daß die Mehrheit der Menschen über Erfahrungen verfügt, die Wirklichkeit und Metapher des Wachsens und Werdens tief in ihren Seelen verankern.

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   Visuelle Bildung  

In den Ländern, die wir im Gegensatz zu den unterentwickeltem Staaten <überentwickelt> nennen sollten, verbringt die Mehrheit der Menschen fast zwei Drittel der wachen Stunden jedes Tages entweder bei der Arbeit oder läßt sich unterhalten. In US-amerikanischen Haushalten nähert sich der tägliche Fernseh- und Videokonsum der Acht-Stunden-Marke. Damit fördern wir die Entwicklung einer Bevölkerung, die Plato als an den Zwang der Arbeit gefesselt und/oder in einer Höhle der Illusionen gefangen bezeichnet hätte.

Bedenken Sie doch einmal die Ähnlichkeiten zwischen den Gefangenen in Platos Höhle und Fernsehzuschauern. In beiden Fällen konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Betrachters — die des Gefangenen und des Sesselhockers gleichermaßen — auf eine Mauer oder einen Schirm mit Abbildern der Wirklichkeit. Je länger die Zuschauer an die Flut der Bilder gefesselt sind, desto >hypnotisierter< werden sie, desto abhängiger vom Wechselspiel der Illusionen. (Das Fernsehen versetzt Zuschauer in hochgradige <Alpha-Stadien>, in denen ihre Augen fest auf den Bildschirm gerichtet sind — selbst auf die Werbung und anderen Unsinn.

Für gewohnheitsmäßige Zuschauer werden die Illusionen Wirklichkeit. Die Rollen in Dallas oder Denver werden für sie allmählich >wirklicher< als ihre Nachbarn. Die Welt aus dem Fernseher ersetzt die Welt eigener Erfahrungen. Wenn wir beginnen, in den medienproduzierten Pseudowelten zu leben, werden unsere eigenen Lebensdramen, unsere persönlichen Mythen und Autobiographien durch erfundene Filmserien ersetzt.

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Im 19. Jahrhundert hat ein Aristokrat gesagt: »Unsere Diener leben für uns.« Am Ende des 20. Jahr­hunderts sind es unsere Schauspieler, die für uns leben. Wir studieren das Leben der Stars, geben uns mit Erfahrungen aus zweiter Hand und Ersatz-Abenteuern zufrieden und trösten uns damit, als Voyeure am >Lebensstil der Prominenz< teilhaben zu können. Die eigenerzeugten Phantasien unserer persönlichen Vorstellungskraft werden schnell durch massenproduzierte Mythen für Konsumenten ersetzt.

Vergangenen Generationen wurde Information durch das geschriebene Wort vermittelt, und jeder gebildete Mensch lernte zwischen sachlichen Argumenten und emotionalen Meinungen zu unterscheiden. Unterweisung in Logik und den Regeln vernunftgemäßen Denkens waren Standardware. Heutzutage erhalten wir den größten Teil unserer Informationen, besonders was Welt- oder Lokalnachrichten anbelangt, aus dem Fernsehen: Die Welt, wie New York oder Los Angeles sie sieht. Kurz und gut — wir sind auf dem besten Weg, uns in eine visuelle Kultur zu verwandeln, die mehr auf das Abbild eingestellt ist als auf das Wort.

Trotzdem verzichten wir darauf, Schülern und Studenten zu raten, kritisch gegenüber den Images zu sein, die ihre Vorstellung und ihr Verhalten formen. Die letzten Präsidentschaftswahlen, in denen sich alle Kandidaten verschworen hatten, die brennenden nationalen Themen zu ignorieren, um sich auf Wortgeklingel, Phototermine und Banalitäten zu konzentrieren, die von cleveren PR-Experten ausgetüftelt worden waren, hätten jeden denkenden Menschen davon überzeugen müssen, daß wir an jeder Schule das Unterrichtsfach Visuelle Bildung brauchen, wenn wir etwas anderes sein wollen als eine passive manipulierte Masse.

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Die von Anzeigen, Werbung und <Mediakratie> geschaffene Atmosphäre wirkt sich zerstörerisch auf das geistige Leben aus. In jeder Religion zielen die geistigen Übungen von Versenkung, Gebet und Meditation darauf ab, den Geist zu beruhigen, das nie versiegende Verlangen des Fleisches zu bezähmen, die Habgier zu überwinden und zwischen Realität und Illusion zu unterscheiden. Das tägliche Betrachten der <Nachrichten> hat nach Meinung von Joseph Campbell die klösterliche Gewohnheit geistiger Lesungen und abendlichere Gebete ersetzt.

Erzieher und Lehrer kämpfen gegen Windmühlen, wenn ihre Schüler ebensoviel Zeit vor dem Fernseher wie in der Schule verbringen. Wenn wir den Kindern nicht beibringen, eine kritische Einstellung gegenüber den Bildern zu gewinnen, denen sie ausgesetzt werden, müssen sie als Gefangene der Werbung aufwachsen, die lediglich zwischen Markennamen, standardisierten Berufen und den >Lebensweisen< unterscheiden können, die im Moment gerade im Trend liegen.

 

Individualismus, Autorität und Gemeinschaft

To a Dancing God hat vor allem eine neue Vorstellung religiöser Autorität vermittelt. Logischerweise begeisterte das jene, die von Autoritäten enttäuscht waren und beunruhigte die anderen, die die Leichen im Keller lassen wollten.

Zunächst einmal warfen mir Theologen unverblümt vor, einem exzessiven Individualismus das Wort zu reden, da ich jedem Menschen das Recht auf seine eigene Geschichte eingeräumt habe.

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Wie konnte ich es wagen, die Autorität der Bibel, der Kirche, der Traditionen in Frage zu stellen? Sah ich denn nicht ein, daß ich damit an den Grundfesten der Gemeinschaft rüttelte und zum zügellosen, entfremdenden Individualismus des modernen Lebens beitrug? Ein Heer imposanter Inquisitoren tadelte, wenn ich die Massen wirklich liebte, könnte ich deren Glauben an Wunder, Mysterien und Autoritäten gegenüber nicht so kritisch eingestellt sein. Obwohl das Buch besonders häufig von Theologiestudenten und spirituellen Suchern gelesen wurde, erhielt ich ein Jahrzehnt lang keine einzige Aufforderung, vor einem theologischen Seminar zu sprechen und nur selten eine Einladung in eine Kirche. 

 

Überzeugte Liberale und Marxisten gleichermaßen stellten fest, daß die Idee persönlicher Mythologie, die mit dem Essay »Betrachtungen über einen Pfirsichkern-Affen« begann, zwar manchen Menschen helfen könne, die Mythen und Geschichten zu entdecken, die sie krank machten und so zu ihrer Heilung beitragen, aber sie ginge nicht auf die Schaffung einer Gemeinschaft ein und spreche die großen politischen Tagesthemen nicht an.

Wenn überhaupt, dann ist die in To a Dancing God vorgeschlagene Medizin notwendiger für die Heilung der geistigen Probleme der neunziger Jahre als sie es für die der siebziger Jahre war.

Anfang der achtziger Jahre begannen sich in der Christenheit, im Judentum und im Islam entscheidende Veränderungen abzuzeichnen. Inzwischen hat die Theologie ihren Elfenbeinturm verlassen und sich auf die Straße und in die Ghettos begeben. Im besten Fall ist sie politisch und prophetisch geworden, im schlechtesten politisch und dämonisch. Es will scheinen, als hätte Gott in den letzten beiden Jahrzehnten weit mehr gekämpft als getanzt.

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Auf der religiösen Rechten ist Er — und ich meine Ihn — Bündnisse mit Politikern und der Rüstungslobby eingegangen und ist in einer Reihe neuer Kreuzzüge in vielen Ländern mitmarschiert. Auf der ganzen Welt zeigte sich Religion gewalttätig und zorn­entbrannt. Unkritischer Glaube an die absolute Autorität von Bibel, Koran, Papst und Ayatollah vermischte sich mit neuerwachendem Nationalismus, um neue, konservative Bewegungen ins Leben zu rufen. Der religiöse Fanatismus, den wir im Verschwinden gewähnt hatten, erwachte zu neuer Blüte. Die religiöse Rechte mit ihrem Beharren auf der absoluten Wahrheit und orthodoxem Glauben schien plötzlich gefährlicher als religiöser Liberalismus.

Auf der religiösen Linken hat Gott neue Allianzen mit Marxisten, Frauen, farbigen Minderheiten und entrechteten Massen gebildet. In der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie erscheint Er/Sie als militanter Kampfgefährte für Befreiung, Schwesterlichkeit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit.

 

Und überall an den Rändern erblühen alljährlich neue Kulte und erfreuen sich ihres zugeteilten Andy-Warhol-Quotienten 15minütiger Medienunsterblichkeit, bis sie dahinwelken. 

Sie sind alle um uns: Hexen, Punkrocker, Teufelsanbeter, Ufo-Kulte, unterschiedlichste Buddhisten, säkulare Humanisten, New-Age-Hellseher. Kahlgeschorene Hare Krischnas mit fahlem Teint tanzen zu den hypnotischen Klängen von Trommeln und Becken durch die Straßen, Anhänger von Lyndon LaRouche besetzen auf Flughäfen Tische und fordern Vorbeikommende auf, Jane Fonda an die Wale zu verfüttern, orangegekleidete Jünger von Bhagwan Rajneesh predigen freie Liebe und überschütten ihren geliebten Meister mit jeder Menge Rolls Royce, Moonies veranstalten Massenheiraten im Madison Square Garden,

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transzendentale Meditatoren werben für Stressverminderung und empfehlen Kurse in Levitation, rassistische Kulte — Aryan Brotherhoods, Christian Patriots und die altbekannten Ku-Klux-Klan-Kapuzen — verlangen ein lilienweißes Gemeinwesen und brechen auf dem Weg zu diesem Ziel nebenbei Geraldo Rivera das Nasenbein, an Straßenecken offerieren Scientologen, unsere Persönlichkeit zu analysieren und unsere Erinnerungen auszulöschen und so weiter und so weiter. 

Mit schöner Regelmäßigkeit lesen wir herzzerreißende Geschichten über Kinder, die von Kulten eingefangen und gegen ihre Eltern aufgehetzt werden, nebst Berichten über strenge Disziplin und grausame Praktiken — alles im Namen Gottes und menschlicher Vervollkommnung. Und im Hintergrund lauert die schreckliche Erinnerung an Jim Jones und seine getreuen Anhänger, deren sterbliche Überreste in einem Massengrab in Guyana vermodern.

Die Orthodoxen und die anderen mögen sich in Details unterscheiden, doch auf eine entscheidende und sehr destruktive Weise sind sie sich gleich. Sie halten ihre jeweiligen Anführer für unfehlbar und verfügen über einen direkten Draht zu Gott oder der offenbarten Wahrheit. Von den Anhängern wird verlangt, daß sie ihren Willen, ihre gesunde Urteilskraft und oft auch ihren Besitz dem Anführer übereignen, daß sie ihrer Gruppe oberste Priorität einräumen — vor Freunden, Familie oder persönlichem Glück. Abweichungen, Zweifel oder Kritik werden nicht geduldet. Indem sie ihre Mitglieder von Kontakten und Gesprächen mit Außenstehenden fernhalten, schaffen die wahrhaft Gläubigen eine fanatische Gruppenloyalität, eine paranoide Angst vor Anders­denkenden und das Gefühl, daß die Sekte oder der Kult der einzige Hort von Sicherheit und Wahrheit in einer ansonsten grundschlechten Welt ist. 

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Die Anhänger stellen ihren Anführern im Hinblick auf Doktrin und Disziplin keinerlei Fragen oder erkundigen sich gar danach, wieviel Geld sie inzwischen auf Schweizer Bankkonten angesammelt haben.

In dieser Zeit der Massen->Ismen< ist es — rechts wie links — sehr leicht, dem modischen Trend zu folgen und irgendeinem Kult beizutreten. Doch bei politischen wie auch geistig-spirituellen Fragen sollte es sich eine kluge Frau, ein kluger Mann zur Gewohnheit machen, auf ihre/seine >innere Stimme< zu hören.

Auf der Suche nach einem authentischen geistigen Leben muß sich jeder Mensch immer wieder in die Zufluchtsstätte des eigenen Ich zurückziehen, um auf dem Boden persönlicher Erfahrungen die Fußabdrücke eines tanzenden Gottes zu erkennen. Besonders in problematischen Zeiten, wenn die Gemeinschaft bedroht ist, wenn der nötige Konsens fehlt, wenn konkurrierende Autoritäten versuchen, sich unserer Loyalität zu versichern, wenn wir versucht sind, unsere Seele für wohlfeile Antworten zu verkaufen, muß sich das Individuum der erfreulichen Mühe unterziehen, die Quelle religiöser Autorität zu erforschen. So sehr wir uns auch Gemeinschaft, Konsens und übereinstimmende Vision wünschen — das ist genau das, was uns fehlt.

Je häufiger wir die dämonischen Auswirkungen blinden Gehorsams gegenüber religiösen oder säkularen Autoritäten beobachten können, desto wichtiger scheint es für den Einzelnen zu sein, in sich die Quelle geistiger Autorität zu entdecken, die es ihm gestatten wird, der Tyrannei durch die Masse zu widerstehen. Wir brauchen nicht den anonymen Individualismus der isolierten Massen, sondern die echte Individuation des geistigen Pilgers, der das Wagnis unternommen hat, lange und intensiv über den Sinn des Lebens nachzudenken.

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  Dionysos 1990 / Dionysos heute 

 

Den größten Teil des Buches habe ich 1969 während meines Sabbatjahres geschrieben. In Kalifornien, wo ich die humanistische Psychologie-Bewegung studierte, war ich von einer berauschenden Mischung aus politischen Radikalen, psychedelischen Wanderern und Verteidigern der sexuellen Revolution umgeben. Die Proteste gegen den Krieg in Vietnam zeigten Wirkung, und die Bewegung zur Erweiterung der Möglichkeiten des Menschen verhieß Freude und Glück. In der Luft lag das Versprechen von Veränderungen und der Duft einer Hoffnung auf eine neue soziale, psychologische und politische Ordnung. Es war eine Zeit des Aufbruchs und der Durchbrüche, des Abschütteins alter Zwänge und theatralischer Tollheit. Dionysos tobte durch die Straßen.

Jeder Kenner der griechischen Mythologie hätte vorhersagen können, daß Apoll, der Gott des Status quo, der Beschränkung, der Vernunft und der Sparsamkeit wieder Oberwasser gewinnen würde. Doch niemand konnte ahnen, daß die sozialen Programme der New Frontier und der Great Society aufgehoben werden könnten, daß eine schäbige konservative Stimmung das Land ergreifen würde, daß wir in eine Ära der Remilitarisierung eintreten würden.

Aber plötzlich tobte Dionysos wieder zügellos durch die Straßen. Doch nicht in Amerika. Die alten repressiven Strukturen des Sowjetimperialismus verfielen so schnell, das Gesicht Europas verändert sich so dramatisch, die Gesetze der Ost-Westpolitik werden so radikal auf den Kopf gestellt, daß uns kaum Zeit zum Atemholen bleibt. Die Gorbatschow-Revolution von Glasnost und Perestrojka hat der Welt neue Beispiele politischen Mutes gezeigt. 

28/29


In Massen sind Menschen in Polen, in der DDR und in der Tschechoslowakei auf die Straßen gegangen und haben die alten Regime gestürzt. In Berlin wurde die Mauer von Touristen abgebrochen, die alle ein Souvenir einer schnell vergehenden Ära haben wollten. Die Vorstellung radikaler Veränderungen, mit der wir 1969 gespielt haben, ist heute Wirklichkeit geworden.

Die große Frage im Moment ist, wie Amerika auf den neuen Zeitgeist reagieren wird. Bisher waren wir vergleichsweise passive Zuschauer der dramatischen Vorgänge, Voyeure, die den politischen Mut der Studenten auf dem Tien-an-Men-Platz und der Menschen in Ostberlin beobachteten. Noch verspüren wir in unserer eigenen Gesellschaft nichts von der Revolution, nach der die Zeit verlangt. 

Im Augenblick verharren wir in der niederschmetternden Erkenntnis unserer Leiden: Drogen, Obdachlosigkeit, Überschuldung, Bandenkriminalität, Umwelt­vergiftung, Unredlichkeit innerhalb der Regierung und Mangel an politischem Entscheidungswillen, Führungsstärke und Vision. Die alte Ordnung befindet sich eindeutig in Auflösung. 

Uns kann es jedoch nicht darum gehen, einer repressiven Regierung ein Fünkchen Freiheit abzutrotzen. Wir müssen unsere beispiellosen Freiheiten und den Überfluß nutzen, um eine tragfähige und ökologisch gerechte Gesellschaft zu schaffen. Bislang haben wir es noch nicht einmal gewagt, uns die psychologischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen — und die Opfer, die gebracht werden müssen — vorzustellen, die nötig sind, um innerhalb der Grenzen endlicher Ressourcen zu leben.

Da es für die kommenden Jahrzehnte zunehmend deutlicher wird, daß wir zwischen dem Überleben des Menschen und dem Wirtschafts­krieg-System wählen müssen, zwischen einer grünen Erde und endlos expandierenden Bevölkerungszahlen sowie einer unendlich wuchernden Industrie, wird uns der Geist, der in der Geschichte wirkt, um aus Verzweiflung Hoffnung, aus Tod Leben zu machen, zu einer neuen amerikanischen Revolution ermutigen. Sie können versichert sein: Das vor uns liegende Jahrzehnt wird ebenso spannend wie chaotisch.

Die Hoffnung, die mich heute beseelt, hat den Untergang vieler meiner frühen Träume überlebt. Sie wurde durch eine Scheidung angeschlagen, durch viele Enttäuschungen beschädigt, doch auch immer wieder neu geboren. Ich denke, sie ist aus dem gleichen Stoff wie die Hoffnung, die den Autor von To a Dancing God inspirierte und die heute Millionen Männer und Frauen auf die Straße bringt, um eine neue und gerechtere soziale Ordnung einzuklagen.

Wenn wir dem Geist des tanzenden Gottes treu bleiben, vertraue ich fest darauf, daß wir noch einmal eine neue Schöpfung aus dem Chaos der Zeit bewirken können.

29-30

Sam Keen, 1990
Sonoma County, California 

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Sam Keen - To a dancing god