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V. Die Bedeutung der Sinnlichkeit

Anmerkung zu einer instinktiven Theologie

 

 

 

   Körperlichkeit und Gnade 

226-253

In der Dunkelheit warteten die Dämonen: Ängste und Kränkungen aus meiner Vergangenheit nahmen in Träumen Gestalt an, um mich heimzusuchen und meine Hoffnungen zu zerstören. In seinem Exil hin- und hergeworfen durchstreifte mein Geist das mitternächtliche Reich der Verzweiflung und Leere.

Doch jetzt ist Morgen. Der Geist kehrt allmählich in den Körper zurück. Ich habe das Gesicht dem Meer zugewandt, wohltuend breitet sich die Wärme der jungen Sonne auf meinem Rücken aus und massiert meine Schultern. Das rhythmische Schlagen der Wellen wiegt und rüttelt meinen Geist, läßt ihn gesunden. (Ich bin Poseidon ein Trankopfer schuldig.) 

Während meine Augen angestrengt bemüht sind, den Horizont zu durchdringen, löst das unendliche Blau und die Ewigkeit des Meeres in mir ein Bewußtsein für den unendlichen und unermeßlichen Raum aus, mit dem ich zusammenhänge. Ich überlasse mich dem Geheimnis, das meine Bestimmung ist, mit gelassenem Vertrauen. Meine Atmung wird langsam und stetig. Mein Körper entspannt. Die Dämonen sind fort. Der Tag beginnt gnädig.

Was ist mit mir geschehen? Wie habe ich mir diese Wärme, dieses Wohlgefühl zu erklären, die meinen Körper erfüllen?

Während ich über diese Fragen nachdenke, wird mir bewußt, daß mir weder die christliche noch die säkulare Kultur, in deren Einfluß ich aufgewachsen bin, Möglichkeiten vermittelt haben, eine derartige Erfahrung zu deuten und einzuordnen. Keine von beiden hat mich gelehrt, das Heilige in der Stimme des Körpers zu erkennen und die Sprache der Sinne zu verstehen. So wie es die christliche Theologie versäumte, mir zu einer Wertschätzung der Körperlichkeit der Gnade zu verhelfen, versagte die säkulare Ideologie darin, mir ein Verständnis der Gnade der Körperlichkeit zu vermitteln. Um zu begreifen, was mir widerfahren ist, muß ich da nachforschen, wo mich christliche Theologie und säkulare Ideologie im Stich gelassen haben.

Trotz der gegenteiligen Behauptungen hochgeachteter Theologen hat das Christentum nie den alten und dauerhaften Dualismus (der gleichermaßen im Platonismus, im Gnostizismus und in der Schizophrenie manifest ist) überwunden, für den das Fleisch weniger wert ist als der Geist, die Sinne dem Verstand unterlegen sind. In den letzten Jahren hörten wir viel von der hebräischen Vorstellung der psychosomatischen Einheit des Menschen. 

Allmählich beginnt ein Hauch von Sinnlichkeit in den Bereich der Kirche einzusickern. Es ist mittlerweile statthaft, sich auch als Christ eines durchaus abgesegneten Sexuallebens zu erfreuen; Kunst und Tanz fangen an, ihren Weg zurück in das Heiligtum zu finden. Doch ungeachtet dieser kleinen Schritte nach vorn bleibt dem christlichen Verständnis von Geschichte und Erlösung ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber allem Körperlichen verhaftet. Nur eine bedeutende theologische Revolution kann es dem Christentum ermöglichen, der Häresie des Gnostizismus zu entkommen.

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Nach dem theologischen Konsens, der das westliche Christentum dominiert, sind wahre Gnade, Errettung und Erlösung nur durch das Bekenntnis zu Jesus Christus möglich sowie durch die Anerkennung des maßgebenden Zeugnisses der Kirche, daß er die Offenbarung des göttlichen Wesens und dessen Absichten ist. Daher bedingt Erlösung im eigentlichen Sinn eine Art historischen Wissens, das nur dem Menschen zur Verfügung steht, der in der Gemeinschaft von Israel verwurzelt ist. Erinnerung und nicht Bewußtsein ist für das Erlangen wahrer Gnade entscheidend.

Bemerkenswert an dieser traditionellen christlichen Vorstellung von dem, was zur Erlösung führt, ist die Tatsache, daß sie das Mittel für die Heilung menschlicher Leiden weit entfernt von der augenblicklichen Existenz des Menschen ansiedelt. Um in den Genuß der göttlichen Erlösung zu kommen, die die Quelle der Gnade ist, muß sich das heute lebende Individuum a) von seinen unmittelbaren körperlichen Empfindungen, b) seinem Standpunkt in der Schöpfung sowie c) seiner momentanen kulturellen und politischen Situation abwenden, um eine Rückreise in die Geschichte des alten Israel anzutreten. Bezeichnenderweise hat der Protestantismus erklärt, daß die Erlösung nicht durch etwas bewirkt werde, was gesehen, gefühlt oder berührt werden könne, sondern allein durch das Hören von Gottes Wort. Das Ohr ist das Organ der Erlösung.

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Dem Menschen, dessen Ohren gegenüber Gottes großen Taten in der Geschichte Israels verschlossen sind, kann kein hinlängliches Verständnis der göttlichen Gnade zuteil werden. Aufmerksamkeit gegenüber dem Körper (Empfindungen und Gefühle), gegenüber der Schönheit und Großartigkeit der Natur oder dem Wunder menschlicher Liebe reichen nicht aus, die Gnade Gottes zu begreifen, solange man nicht mit der Geschichte Israels vertraut ist.

Indem die christliche Theologie das sine qua non authentischen Lebens so weit entfernt von der augenblicklichen Existenz des Menschen ansiedelt, wertet sie das Unmittelbare zugunsten des Mittelbaren ab, das Jetzt zugunsten des Damals, Gefühl und Empfindung zugunsten des Gehorsams gegenüber der Autorität, die die entscheidende Erinnerung bewahrt. Daher können keine hohlen Erklärungen der »psychosomatischen Einheit des Menschen« oder des »Feierns der Sinnlichkeit« die tiefe Abneigung fleischlicher und befindlicher Existenz ausräumen, die der Kern traditioneller christlicher Vorstellungen von Schicksal und Erlösung ist. 

Solange wir unfähig sind, die Mittel zu unserer Erlösung in der augenblicklichen Geschichte zu erkennen, auf dem Boden dessen, was unmittelbar erfahrbar ist, solange können wir auch nicht von der Vorstellung abrücken, daß (intellektueller oder moralischer) Gehorsam gegenüber einer äußerlichen Autorität, die behauptet, im Besitz des allein seligmachenden Wortes zu sein, die Voraussetzung für unsere Erlösung ist. Wir werden jene Gnade nicht erkennen können, die aus dem Instinkt kommt, und die immer da zu entdecken ist, wo es Schönheit und Zärtlichkeit gibt — in einer blühenden Pflanze in rissigem Mauerwerk oder in der morgendlichen Sonne über einem kalifornischen Strand. 

Wenn Inkarnation etwas anderes sein soll als ein »Es war einmal«, dann heißt das, daß Gnade fleischlich ist, daß Erlösung durch den Körper möglich ist. Der eigentliche Tatort des Wirkens Gottes ist der Körper, nicht das altertümliche Israel! Wie sollte ich sonst jene Gnade begreifen, die mich mitunter überkommt, wenn ich auf das Meer hinausblicke oder bei der Liebe?

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An diesem Punkt schiebt sich ein Bild vor mein inneres Auge. Ich sehe ein grinsendes, halb triumphierendes Lächeln auf den Gesichtern einiger meiner überaus säkularen Freunde. Und jetzt wird ihr Lächeln durch Worte ersetzt:

Selbstverständlich können die antiquierten Vorstellungen des Christentums dir nicht dabei helfen, deine körperliche Existenz zu begreifen. Nur eine naturalistische und absolute weltliche Sicht des Menschen kann dich in die Lage versetzen, deine Gefühle und deinen Körper voll zu verstehen. Du wirst nur dann mit der Welt in Berührung kommen, wenn du alle mystischen Vorstellungen des Körperlichen aufgibst und der »nackte Affe« wirst, zu dem dich die Evolution gemacht hat. Du mußt dich von allen dualistischen Ideen verabschieden und erkennen, daß du nichts als dein Körper bist. Und dein Körper ist nichts anderes als ein komplizierter, in sich geschlossener Nexus interagierender chemischer und spannungsgeladener Systeme, die der Logik von Reiz und Reaktion folgen, von Ursache und Wirkung. Was du deinen Verstand oder Geist nennst, ist in Wahrheit nur dein Hirn, und dein »freier Wille« ist eine Illusion, die auch durch eine mechanistische Sicht des Körperlichen nicht realer wird. Sobald du aufhörst, irgendeiner eingebildeten Transzendenz nachzustreben und statt dessen deine Identität mit deinem Körper begreifst und bekennst, wirst du ein positives und zufriedenes menschliches Wesen sein. Du wirst keiner Gnade mehr bedürfen, da du weder deinem Körper noch deiner Umgebung entfremdet wirst.

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Wenn eine derart säkulare Anschauung der körperlichen Befindlichkeit menschlichen Daseins auch weit eher gerecht wird als die herkömmliche christliche Sicht, vernachlässigt sie doch das Element der Gnade in der allgemeinen Erfahrung des Menschen.

 

Unter Gnade verstehe ich etwas Konkretes, das sowohl poetisch als auch phänomenologisch beschrieben werden kann. Wenn es Ihnen zu ungenau ist, von der helfenden und heilenden Wirkung der Sonne und des Meeres zu sprechen, dann lassen Sie mich Gnade als »plötzliche Sanierung von eher ökonomischer Art durch Wahrnehmungen, Einstellungen und Stimmungen« definieren, »die zu einer Entspannung innerer und äußerer Konflikte sowie der Freisetzung von zuvor gebundenen Energien für Vorhaben und Beziehungen führt, die für das reife Selbst befriedigend sind.« 

Im modernen Sprachgebrauch ist Gnade eher ein Ereignis als eine Errungenschaft, eher ein Geschenk als eine Belohnung. Indem sie die Entfremdung zwischen Selbst und Selbst verringert, zwischen dem Selbst und anderen, dem Selbst und der Welt, bewirkt sie eine Voraussetzung für Handlungen, die integral und verantwortlich sind. Sie befreit das Ich von zwanghaftem Reagieren auf Vergangenes zugunsten einer Gegenwart und einer Zukunft, die ursprünglich Neues zu bieten hat. Auch ein anderer Aspekt der Gnade sollte nicht vergessen werden. Sie wird nur einem Menschen zuteil, der eine unverwechselbare Biographie und Bestimmung hat, und keinem anonymen System, das vom Imperativ autonomer Gesetze beherrscht wird. Von Gnade kann ich nur in der ersten Person sprechen.

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Wie hinlänglich die Konzepte von Gesetzlichkeit, Anregung und Reaktion, Ursache und Wirkung sich schließlich für das Verständnis der Gesamtheit menschlicher Erfahrungen erweisen mögen, läßt sich zum augenblicklichen Zeitpunkt nicht bestimmen. Es ist jedoch eindeutig, daß es in der Gesamtheit subjektiver Erfahrung Augenblicke gibt, in denen wir uns von Leiden, Gewohnheiten und Problemen befreit fühlen, die unsere Vergangenheit und gerade vergangene Gegenwart geformt haben. In solchen Momenten ist es so, als ob Neues die Gesetzmäßigkeit ersetzt hätte. 

Wenn mir Gnade zuteil wird, ist es, als ob Sonne und Wellen ihre Ressourcen zusammengetan hätten, um jene Dämonen zu vertreiben, die zu meiner Biographie gehörten. Auch wenn die semiphantastische Kategorie des Als ob für eine wissenschaftliche Beschreibung menschlichen Verhaltens unzulänglich sein mag, so ist sie doch unverzichtbar für die Beschreibung der inneren oder subjektiven Dynamik der Erfahrung. Phänomenologie beruht auf dem Als ob, also darauf, sich jeder Bewertung zu enthalten und Erfahrung so zu beschreiben, wie sie erlebt wird.

Natürlich kann nach dem Ereignis immer ein objektiver Beobachter kommen und zu dem Menschen sagen, der von einer Erfahrung körperlicher Gnade berichtet:

Was du als Gnade erfahren hast, als aus neuen Möglichkeiten resultierende Freiheit, war in Wirklichkeit nur eine neue Form, die durch das Zusammenwirken von Anregungen und Gesetzmäßigkeiten geschaffen wurde, die prinzipiell absolut verständlich sind. Wären wir im Besitz ausreichender Information über deine chemische, physische und umweltbedingte Vergangenheit gewesen, hätten wir das Ergebnis vorhersagen können, das du so hartnäckig mit den dubiosen philosophischen Begriffen von Gnade und Freiheit beschreibst.

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So könnte es beispielsweise scheinen, daß das sogenannte »segensreiche Verhalten« des Engels im Konzentrationslager, der mit seinen kärglichen Rationen jene versorgt, die noch schlimmer dran sind als er, gegen alles verstößt, was wir über die Gesetzmäßigkeit des Selbsterhaltungstriebs wissen. Aber das ist keineswegs der Fall. Es ist einfach so, daß die Bedürfnisse seines Ego, das nicht anders als die biologischen Bedürfnisse von Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, stark genug sind, ihn zur Mißachtung seiner unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse zu veranlassen.

Es ist bemerkenswert, wie derart deterministische Theorien über den Menschen alle falschen Vorhersagen durch nachträgliche Korrektur bereinigen können. Wenn die Zuversicht in die Allmacht der Gesetzmäßigkeit keine akkuraten Vorhersagen zuläßt, kann man ex post facto immer bestimmte Regelmäßigkeiten und Kontinuitäten aus dem unerwarteten Ereignis ableiten und ein neues Gesetz formulieren, das die Situation erklärt. Wenn solche nachträglichen Erklärungen auch keine zuverlässigen Vorhersagen neuer Ereignisse und Erfahrungen im Leben des Einzelnen gestatten, so erhalten sie doch zumindest die Zuversicht des Deterministen in die Gesetzmäßigkeit.

Auf welche Weise wir die Beziehungen zwischen den inneren und äußerlichen, den existentiellen und den wissenschaftlichen Perspektiven menschlicher Erfahrung auch immer definieren mögen — eines ist sicher: Wir können keine vernachlässigen, ohne gegen die Art und Weise zu verstoßen, in der Menschen ihre Welt erfahren. Die subjektive oder existentielle Erfahrung körperlicher Gnade ist eine Gegebenheit, die in jeder hinlänglichen Sicht des Menschen in Betracht gezogen werden muß.

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Wenn wir die körperliche Existenz und die Gnade begreifen wollen, die uns mitunter zuteil wird, wenn wir uns unserer selbst sinnlich bewußt werden, dann bedarf die Ideologie des Säkularismus ebenso einer Korrektur wie die christliche Theologie.

Um die Problematik des Körperlichen voll zu erfassen, bedarf es der konzertierten Anstrengung, die Voraussetzungen sowohl der christlichen als auch der säkularen Ideologie beiseite zu lassen und dem sinnlichen Gefühl körperlicher Existenz absolute Aufmerksamkeit zu widmen. Auf den folgenden Seiten dieses Kapitels werde ich a) die Implikationen einer verkörperten Existenz betrachten, b) die empirischen Verbindungen zwischen dem Körperlichen und dem Heiligen untersuchen und c) einige pragmatische Schlußfolgerungen für die Theologie und religiöse Institutionen ziehen.

 

  Die Implikationen der Inkarnation  

 

Zu bezweifeln, daß das Körperliche zur grundsätzlichen Definition des Menschen gehört, ist eine ständige Versuchung. Durch die gesamte Geschichte der Bemühungen des Menschen, zu einem Verständnis von sich selbst zu kommen, zieht sich ein roter Faden dualistischen Denkens, das den Körper von der Seele trennt, das Fleisch vom Geist, die historische Existenz von einem ewig gültigen Sinn. Notwendigerweise wird das Wesen des Menschen in einem derartigen Dualismus mit der Seele, dem Geist und dem Verstand identifiziert, während die körperliche Befindlichkeit als eine zufällige Erscheinungsform betrachtet wird, die an die Definition des Menschen irgendwie <angehängt> wird. Die bedeutenden Religionen der Welt haben sich dieser Perspektive mit geradezu idealistischer Philosophie angenommen.

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Der existentialistischen Philosophie ist zu danken, daß sie alle Bemühungen zurückgewiesen hat, das Körperliche aus der Definition des Menschen heraus­zuhalten. Mit zunehmender Deutlichkeit hat sie von der Zeit Kierkegaards bis heute den Menschen als ein Wesen definiert, daß grundsätzlich körperlich bedingt ist. Körper, Lebensort und historische Beschränkungen sind nicht nur Qualifizierer einer zeitlosen menschlichen Bestimmung. Der Mensch ist sein Körper und seine Situation, hat Marcel gesagt. Daher sollten wir uns davor hüten, uns von dem Dualismus verführen zu lassen, der sich auch an unseren Sprachgewohnheiten zeigt, wenn wir davon sprechen, »einen Körper zu haben« (als wären Habender und Habe voneinander getrennte Einheiten). Alles menschliche Wissen, alle Wertvorstellungen, alles Streben und Trachten wird durch den Körper gekennzeichnet. Die existentialistische Einsicht in das inkarnierte Wesen menschlicher Existenz kann wie folgt zusammengefaßt werden: Der Körper des Menschen ist seine Brücke zur und ein Modell der Welt. So wie der Mensch in seinem Körper ist, wird er also auch in der Welt sein.

Das vielleicht beste Beispiel für ein Nachdenken über die Beziehung zwischen Körper und Welt ist die analoge Beziehung zwischen Mutter und Kind. Am Anfang besteht eine Einheit, das Einssein des Körpers mit der Gebärmutter, die ihn ernährt und erhält. Der Embryo und die Plazenta sind unzertrennbar. Die Geburt und das Durchschneiden der Nabelschnur trennt das Baby lediglich in einem physischen Sinn von der Mutter.

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Entsprechend den meisten Hypothesen über das frühkindliche Bewußtsein lebt das Neugeborene in einem Stadium undifferenzierten Bewußtseins. Es ordnet oder erfährt seine Lippen, die Brust der Mutter oder seine Windeln nicht als zu drei unterschiedlichen Realitätsbereichen gehörig (Ich — andere — Welt oder Ich — Du — Es). Die Unterscheidung zwischen dem Ich und der Welt erfolgt erst, wenn das Baby mit seinem Körper zu spielen beginnt und entdeckt, daß es da Dinge gibt (beispielsweise seine Füße), die weh tun, wenn sie getroffen werden, während das andere (Bauklötze zum Beispiel) nicht tun. 

Nach und nach stellt das Kind fest, daß es über manche Dinge Kontrolle hat, über andere jedoch nicht. Wenn ein Fuß weh tut, kann es ihn bewegen und so aus der Gefahrenzone bringen. Aber wenn ein Bauklotz näher an das Bettchen herankommen soll, damit er aufgenommen werden kann, bleibt er seltsam reaktionslos. An dieser Dialektik zwischen erfolgreichem Tun und frustriertem Wollen lernt das Kind zwischen dem Körper und der Welt unterscheiden. Doch diese Unterscheidung ist noch nicht annähernd so absolut, wie sie später sein wird. Für ein Kind sind die Dinge der Welt ihm noch ähnlich. Sie haben Gefühle, Absichten, besitzen sogar eigene Persönlichkeiten. So werden Stühle, die ein Kind beim Laufenlernen zu Fall bringen, für ihre <Bosheit> bestraft, während Teddybären für ihre Zärtlichkeit belohnt werden.

Das Ende der Kindheit könnten wir als den Zeitpunkt definieren, an dem die durchlässige Membran zwischen dem Körper und der Welt zu verkalken beginnt und eine Entfremdung zwischen Ich, Körper und Welt einsetzt. Das Kind lernt, daß es einen Körper hat, der erzogen und beherrscht werden muß, wenn es auf Wohlwollen der Erwachsenen hoffen will, und daß die Welt eher dazu da ist, sich ihrer zu bedienen, als sich an ihr zu erfreuen.

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Der Grad der Entfremdung hängt von dem Maß ab, in dem Familie und Umgebung des Kindes erwarten, daß es die Wünsche seines Körpers zugunsten der Verwirklichung anderer Bestrebungen unterdrückt. Zivilisation bedingt zwangsläufig Unzufriedenheit und Entfremdung, hat Freud erkannt. Die Beziehung des Erwachsenen zu seinem Körper entspricht seiner Beziehung zur Welt. Ob der Mensch von Zuversicht oder Mißtrauen geprägt ist, ob er vorrangig genießt oder zu benutzen trachtet, ob er sich stark oder eher schwach vorkommt, spiegelt sich gleichermaßen in seiner Einstellung gegenüber dem eigenen Körper wie der Welt wider.

Gegen jede volle Anerkennung einer inkarnierten Existenz sind mächtige Kräfte am Werk. Die Entfremdung eines Menschen von seinem Körper, die ein beherrschender Wesenszug aller Gesellschaften gewesen ist, wurde nicht ohne Bedeutung für das Überleben verewigt. Die Ignoranz gegenüber dem Körper soll die Illusion von Unsterblichkeit vermitteln. Seelische, geistige und nichtkörperliche Einsichten unterliegen nicht den Beschränkungen von Zeit und Raum. Sie überwinden mit Leichtigkeit die Androhung von Schmerzen und Bedeutungslosigkeit, der das Fleisch unterworfen ist. Das Körperliche kann nur auf Kosten jeder omnipotenten Perspektive und der Erkenntnis erfahren werden, daß Beschränkung, Geschichtlichkeit und Tod Grundvoraussetzungen menschlichen Daseins sind. Eine solche Erkenntnis mag in der Theorie leicht erreichbar sein. Es ist jedoch wesentlich schwieriger, sie in die Haltungen und Einstellungen einzugliedern, die unseren Umgang mit der Welt formen.

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Der entscheidende Faktor für volle Inkarnation ist die Bereitschaft zu einem Vertrauen, auf das ich keinen Einfluß habe. In dem Augenblick, in dem ich mich mit meinem Körper identifiziere und voll inkarniert werde, beziehe ich das, was in mir ist, in etwas ein, auf das ich keinen endgültigen Einfluß habe. Wenn ich auf die Stimme des Körpers höre, wird deutlich, daß Gefühle und Empfindungen ihre eigene Logik haben, die dem Willen keineswegs immer unterworfen ist. Gleichermaßen hat der Körper seine Zeiten von Ebbe und Flut, von Ohnmacht und Stärke, Unbehagen und Wohlgefühl und schließlich — Leben und Tod. 

Nur wenn ich diesen Rhythmus akzeptiere, bin ich in der Lage, mich voll mit meinem Körper zu identifizieren. So wie ich dem Rhythmus meines Körpers vertraue, so vertraue oder mißtraue ich meiner Welt im ganzen. Es trifft nicht zu, daß ich von den Rhythmen der natürlichen Welt abgeschnitten bin. Viele Soziologen wie auch Philosophen argumentieren gern, daß der Mensch im westlichen Kulturkreis seine Beziehung zur Natur verlor, als er seinen täglichen Kontakt mit dem Boden abbrach, als er nicht mehr Getreide anbaute und auf Regen wartete. Das ist Unsinn. Die Vitalität des Bewußtseins für ein Eingebundensein in die Natur ist nicht abhängig von der Landwirtschaft. Mein Körper ist ebenso meine Eingangspforte in die Natur, wie er auch meine Brücke zur Menschheit ist. Vertrauen in die Jahreszeiten des Kosmos entsteht aus Vertrauen in die Rhythmen des Körpers. Der Gnostizismus in allen seinen Erscheinungsformen hat Körper und Kosmos stets als dem Menschen fremd angesehen, ebenso wie die Romantik andererseits sowohl die Natur als auch den Körper als vertrauenswürdig betrachtet hat.

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Wenn wir das Ich verlieren, verlieren wir den Anderen, wenn wir den Körper verlieren, verlieren wir die Welt. Daher ist es gefährlich, den eigenen Körper nicht zu lieben. Liebe zum Nächsten und zum Kosmos beruht auf der Liebe zum Selbst. Das geht sogar noch weiter: Das Heilige beruht auf dem Fleischlichen. Einer Analyse dieser Beziehung wenden wir uns jetzt zu.

 

  Das Fleischliche und das Heilige 

 

Religiöse Menschen befürchten häufig, eine absolut körperliche und befindliche Sicht des Menschen könnte die Vorstellung des Heiligen zerstören. Wenn der Mensch vollständig mit seinem Körper und seiner Situation identifiziert wird, wo bleiben dann der Geist, die Transzendenz, der Umgang mit der geheiligten Dimension der Wirklichkeit, der sich stets in der Theologie ausgedrückt hat? Wenn wir den Menschen auf Raum und Zeit seiner körperlichen Existenz beschränken, nehmen wir ihm damit nicht seine Möglichkeiten, etwas von dem Geheiligten oder Gott zu erfahren, der die Welt übersteigt?

Wir könnten versuchen, Antworten auf diese Fragen zu finden, indem wir dem Begriff »heilig« eine Bedeutung geben, die nicht im Vagen verharrt. Nach Rudolf Ottos klassischer phänomenologischer Definition ist das Heilige ein mysterium — tremendum et fascinans, ein Geheimnis, das sowohl ungeheuerlich-furchteinflößend-erschreckend wie auch faszinierend-zwingendbegehrenswert ist. Als Ursprung aller Werte ist das Heilige prinzipiell unantastbar. 

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Man erbebt in seiner Gegenwart, da es einen absoluten Anspruch auf Anerkennung und Verehrung erhebt. Das Heilige ist aber auch begehrenswert und faszinierend, weil es die Quelle für alles ist, was den Menschen stützt und erhält.

Der Mensch hat sich dem Heiligen traditionell durch die Vermittlung religiöser Symbole und Institutionen genähert. Wenn wir die Frage nach der Beziehung zwischen dem Fleischlichen und dem Heiligen stellen, dann deuten wir damit an, daß es auch <nicht-religiöse> Erfahrungen mit dem Heiligen geben könnte, daß das Heilige in ganz gewöhnlichen Erfahrungen faßbar ist. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß es in bestimmten sinnlichen Erfahrungen ein Element der Heilung und Gesundung gibt. Da ist Segen und Gnade in der Harmonie der Farben und liebkosenden Winden wie auch in freundlichen Worten oder der Begegnung von zwei Körpern. Dem Menschen, den Vorurteile nicht blind gemacht haben, ist Hilfe und Beistand durch sinnliche Erlebnisse jederzeit möglich. Es gibt jedoch in den allgemeinen Erfahrungen auch etwas, das dem Element absoluten Forderns, bedingungslosen Müssens im herkömmlichen Erleben des Heiligen gleichkommt. Lassen Sie mich das näher erläutern.

Vor kurzem erschien in einer Zeitung das Photo eines vietnamesischen Gefangenen, der hinter einen Jeep gebunden war. In der Bildunterschrift hieß es, der Mann würde über Stock und Stein gezerrt, bis er zusammenbräche und seinen Häschern die Informationen gäbe, die sie hören wollten. Während die Bedeutung des Bildes in mein Bewußtsein sickerte, entspann sich eine Unterhaltung zwischen meinem Instinkt und meinem Verstand:

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Instinkt: Furchtbar. Schrecklich. Unvorstellbar. Mein Gott, ist mir schlecht. Ich bin außer mir. Verdammt nochmal, wie kann ein Mensch so etwas nur einem anderen Menschen antun?

Verstand: Hörmal, was ist denn eigentlich los? Was soll diese ganze Empörung? Warum wirfst du mit Schimpfworten um dich und sprichst davon, dich übergeben zu müssen?

Instinkt: Gottverdammt! Da muß man doch etwas unternehmen! Wir werden mißhandelt, gefoltert, gequält! Es geht um einen von uns. Wie kannst du nur so ruhig zusehen, während sich Ungeheuerliches abspielt?

Verstand: Einen Moment mal. Beruhige dich, dann können wir darüber diskutieren. Bemühe dich erst einmal um ein bißchen Abstand von dem >Geschehen<. Du bist ja völlig durcheinander. Überlege doch einmal, welche Fürwörter du benutzt. Du hast gesagt, >wir werden mißhandelte Aber du befindest dich in der Behaglichkeit und Sicherheit der guten alten Vereinigten Staaten von Amerika. Darüber hinaus ist der Bursche, der da gefoltert wird, ein Vietnamese, oder doch zumindest ein Sympathisant des Vietkong. Du solltest nicht derart aus der Haut fahren.

Instinkt: Das ist doch nur widerliche Wortklauberei! Nordvietnamese, Südvietnamese, Amerikaner — wo liegt da der Unterschied? Mensch ist Mensch. Und der ist unteilbar. Ich bin eins mit dem Gefolterten (und dem Folterer?). Es ist Fleisch von meinem Fleisch, das da mißhandelt wird.

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Verstand: Tut mir leid, aber nach derart sentimentalen und großspurigen Kategorien bemißt sich der Gang der Welt nun einmal nicht. Deine Behauptung, daß alles Fleisch von deinem Fleisch ist (und ich nehme an, du würdest noch weiter gehen und die Welt zu deinem Körper erklären), ist eine neurotische, anmaßende Einbildung. Du willst Gott spielen, eine Beziehung zu allem haben, was so vor sich geht. Du solltest dich zunächst einmal deiner Verantwortung zuwenden, dein Abendessen zu verdauen, bevor du dich an die Aufgabe machst, die Welt verdauen zu wollen. In einem Krieg geschehen furchtbare Dinge, aber du bist an diesem Ereignis absolut nicht beteiligt. Also reg dich ab!

 

Dieses Zwiegespräch verweist deutlich auf ein Element heiliger Forderungen im Kern des Körperlichen. Der Instinkt hat ein natürliches Empfinden des Heiligen. Er weiß, daß der menschliche Körper geachtet werden sollte, daß er unantastbar ist. Daher ist das »Gottverdammt« buchstäblich als der Aufschrei eines verletzten Gefühls für das Heilige zu verstehen. Es trifft auch nicht zu, daß der Selbsterhaltungstrieb lediglich für den Schutz der eigenen Haut sorgt. Die normale instinktive Reaktion auf Übeltaten und Gemetzel ist Übelkeit und das Bedürfnis, sich zu übergeben. Dies ist der sinnfälligste Beweis für die Realität universeller Identifikation. Der Instinkt ist von der Imagination, der Vorstellungskraft nicht zu trennen — mit Ausnahme jener unmenschlichen Ausschaltung des Bewußtseins, um das nationale Regierungen in Zeiten des Krieges bemüht sind. Die gesunde Vorstellungskraft bewirkt eine instinktive Verbindung zwischen dem Ich und den anderen >Ichs<. Der >Bauch< weiß, daß das, was einem geschieht, allen geschieht, selbst wenn der Verstand das nicht wahrhaben will. Seine schwerverdauliche Empörung ist ein Hinweis auf die Fähigkeit des Körperlichen, Frevel zu erkennen.

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So vermittelt der Instinkt den kategorischen Imperativ: Achte die körperliche Unversehrtheit aller Menschen so, wie du deine eigene achtest. Dieser Imperativ beruht auf Mitgefühl oder dramatischer Identifikation mit dem Fleisch der Artgenossen. Genau diese Identifikation ist die Grundlage der Ethik. Verpflichtung erwächst aus dem Gefühl, der kategorische Imperativ aus dem Mitgefühl (im Widerspruch zu Kant). Wenn Menschen ein Gefühl für die Unverletzlichkeit des eigenen Körpers entwickeln, dann werden sie nicht zulassen, daß die Körper anderer versehrt werden. Eine mitfühlende >Körperzählung< zur Feststellung der feindlichen Verluste kann es nicht geben. Wo Leichen gezählt werden, führen die Automatenkörper der Lebenden — gegenüber Empfinden und Mitempfinden bereits gefühllos — den Vorsitz über das Begräbnis anderer Toter. An einem solchen Begräbnis nehmen keine Menschen teil. Es sei denn, daß ungeachtet der Indoktrination Tränen für alles Fleischliche übrig sind, das nun empfindungslos ist.

Damit haben wir bewiesen, daß ein voll inkarnierter und befindlicher Mensch das Heilige in seinen unterstützenden und fordernden Dimensionen entdecken kann, wenn er sich seinen Gefühlen und unmittelbaren Erfahrungen stellt. Viele Theologen und Antitheologen werden jedoch darauf beharren, daß wir keineswegs die Möglichkeit einer körperlichen Theologie bewiesen haben. Theologie befaßt sich nicht mit dem Heiligen, werden sie sagen, sondern mit Gott. Und Gott existiert außerhalb des flüchtigen Moments, er übersteigt die Zeit. 

Ehrenwerte Humanisten werden anführen, daß der Mensch durch seine körperliche und historische Befindlichkeit schon von der Definition her kein Wissen von etwas haben kann, das Geschichte

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übersteigt, und daß eine körperliche Theologie daher ein Widerspruch in sich sei. Theologen werden vermutlich darauf hinweisen, daß es Gott gefallen hat, sich in der Körperlichkeit zu offenbaren, daß ich es jedoch bislang versäumt habe, mich mit den entscheidenden Ereignissen (Exodus und Auferstehung) zu befassen, in denen diese Offenbarung erfolgt ist. Folglich muß die Frage legitim sein: Gestattet uns eine voll inkarnierte Sicht des Menschen die Beschäftigung mit Theologie? Erlaubt sie uns, von Gott zu sprechen, oder lediglich von etwas Heiligem, das sich in der Welt alltäglicher Erfahrungen findet? Der Instinkt kann uns bis zum Pantheismus führen, aber kann er eine theisti-sche Vision der Wirklichkeit rechtfertigen?

Beim Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen einer instinktiven Theologie dürfen wir zwei Dinge nicht außer acht lassen: a) Der Mensch ist sterblich, daher beschränkt sich alles Wissen auf seine historische Erfahrung, und b) auch wenn das Wissen des Menschen auf das Irdische beschränkt ist — sein Horizont ist es nicht. Jedes menschliche Leben umgibt ein unauslöschliches Geheimnis, und dieses letztlich Unerkennbare ist für die Definition des Menschen ebenso unverzichtbar wie das vorletztlich Erkennbare. Das Unbekannte und das Bekannte bilden den Boden, die Gestalt, unter deren Bedingungen sich menschliche Identität formt.

Kein antimetaphysischer Erlaß im Namen des Positivismus, Funktionalismus oder der Wissenschaftlichkeit kann das ewige menschliche Bedürfnis ausrotten, das Ich auf irgendeine dauerhafte Art in einen Zusammenhang mit seiner geheimnisvollen Existenz zu bringen. Wie sollen wir das Mysterium begreifen, aus dem wir kamen und in das wir wieder eingehen werden?

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Es gibt drei grundsätzliche Anschauungen, zu denen man im Hinblick auf den letztlichen Kontext menschlicher Existenz kommen kann: a) fremd und feindselig (Gnostizismus), b) freundlich und fürsorglich (die religiöse Option) und c) neutral (Wissenschaftlichkeit).

Wir haben bereits das grundlegende Prinzip einer inkarnierten Sicht des Menschen festgestellt: So wie ein Mensch in einem Körper ist, ist er auch in der Welt. Jetzt könnten wir diese Sicht ausweiten und extrapolieren, um ein zweites Prinzip aufzustellen, das die Basis einer instinktiven Theologie sein könnte: So wie ein Mensch in der Welt ist, wird er auch in dem Mysterium sein, das die bekannte Welt begründet und erhält. Zwischen der Einstellung eines Menschen zu a) seinem Körper, b) seiner sozialen und materiellen Umgebung und c) seiner letztendlichen Bestimmung kann ein Zusammenhang hergestellt werden. Wenn ich meinem Körper gegenüber mißtrauisch bin und glaube, er müsse diszipliniert werden, ist es sehr wahrscheinlich, daß ich einem sozialen System zuneige, in dem Gesetz und Ordnung die höchsten Güter sind. 

Gleichfalls werde ich von der Voraussetzung ausgehen, daß auch die letztliche Bestimmung des Menschen durch Gesetzmäßigkeit geregelt ist. Die vorherrschenden Symbole, derer ich mich bediene, um diese Einstellung auszudrücken, können politisch (Gesetz und Ordnung), psychologisch (Stärke und Ego), philosophisch (Vertrauen in die Naturgesetze) oder theologisch (Gott als Gesetzgeber-Logos) sein. Wenn ich andererseits davon überzeugt bin, meinem Körper und meinen Empfindungen grundsätzlich vertrauen zu können, werde ich vermutlich eine mehr liberale Sicht der politischen wie auch der endgültigen Realität haben. Ich werde Neues und bislang Unbekanntes als vorherrschend betrachten, nicht Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit.

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Das wird am deutlichsten an der Korrelation zwischen den Einstellungen zum Körper, der Natur der politischen Ordnung und der Stellung des Metaphysischen in einem historischen Phänomen wie dem Gnostizismus. Der Gnostizismus betrachtete durchweg einen feindlichen Gott (den demiourgos) als Schöpfer des Körpers, der polis und des Kosmos. Daher mußten alle drei vom Menschen auf seinem Streben nach Erlösung gleichermaßen mit Mißtrauen betrachtet und abgelehnt werden. Ob derart überzeugende Korrelationen in allen Fällen zurückverfolgt werden können, steht noch dahin. (Es ist also dringend notwendig, die funktionale Bedeutung verschiedener Arten metaphysischer und religiöser Bestimmungssymbole empirisch zu untersuchen.) Uns geht es jedoch hier nur darum zu zeigen, daß eine Vorstellung von Gott mit einer inkarnierten Sicht des Menschen vereinbar ist, die uns bestätigt, daß dem Körperlichen vertraut werden kann. Wir behaupten keineswegs, daß eine solche Vorstellung dringend notwendig ist. Wenn wir jedoch das Wort Gott benutzen wollen, dann sollte es bedeuten, daß dem letztendlichen Sinn menschlicher Existenz ebenso vertraut werden kann wie dem Körperlichen und der Welt. Gegenüber all jenen Dimensionen der Wirklichkeit, die auf das Individuum einwirken, sich aber seiner letzten Kontrolle entziehen, sollte eine Haltung der Offenheit, Erwartung und dessen eingenommen werden, was Erikson »Grundvertrauen« genannt hat.

Wenn wir uns gegenüber den irdischen Gewißheiten verschließen, muß unsere Theologie Stückwerk bleiben. Wir mögen uns zwar des Wortes Gott bedienen, um die Einheit und Vertrauenswürdigkeit des uner-forschlichen Ursprungs und Endes jeder irdischen

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Wirklichkeit zu bezeichnen, aber wir können nicht behaupten, irgendein Wissen über Gott zu besitzen. 

Eine aufrichtige Theologie ist notwendigerweise agnostisch. Kein menschliches Wesen kann eine Position beanspruchen, von der aus es mit Recht behaupten könnte, irgendein Wissen über das Wesen Gottes zu besitzen, oder über die Angemessenheit einer Konstellation historischer Ereignisse oder Personen, die als Offenbarung Gottes dienen könnten. Das Wort Gott hat eine unverzichtbare Funktion für den Menschen, den es nach einer dauerhaften Bestätigung der Vertrauenswürdigkeit des Mysteriums verlangt, das seine Existenz umgibt, doch es ist kein Wort, dem er einen Inhalt geben könnte. Wir können sagen, daß die Vorstellung von Gott dazu dient (als Begrenzungskonzept, wie Kant es genannt hat), unsere Beteuerungen über den unbekannten Ursprung und das unbekannte Ende irdischer Realität zu vereinheitlichen und dementsprechend zu hoffen und zu handeln.

Es könnte durchaus angeraten sein, daß eine Theologie, die die Körperlichkeit des Menschen ernst nimmt, zu dem alten jüdischen Brauch zurückkehrt, den Namen Gottes nur einmal im Jahr zu nennen. Auf diese Weise könnten wir einerseits die Bedeutung der Vorstellung von Gott sowie jener Erwartungen und Handlungen, die mit der Hingabe an eine solche Idee verbunden sind, betonen, uns andererseits aber von der Anmaßung freimachen, wir würden Gott kennen. Ein aufrichtiger Theologe wird zugeben, daß er nicht weiß, was er meint, wenn er das Wort Gott ausspricht, auch wenn er sehr wohl weiß, warum er es aussprechen muß. Er kennt die Funktion des Begriffs, aber nicht seine Definition. Und die Anwendung des Begriffs ist durchaus berechtigt, wenn dadurch bewiesen wird, daß das menschliche Leben hoffnungsvoller, offener und kreativer wird, wenn wir es wagen, von Gott zu sprechen, als wenn wir es nicht tun.

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Auch wenn eine instinktive Theologie in ihrer Anschauung von Gott zwangsläufig agnostisch ist, kann sie nichtsdestoweniger über großes Wissen über das Heilige verfügen. Wir könnten die Aufgabe der Theologie sogar als empirisches Kartographieren der Vielfalt menschlicher Erfahrungen des Heiligen definieren. Im besten Fall ist Theologie Phänomenologie. Oder — wenn es uns gestattet ist, ein böses Wort zu kreieren — Numenologie, die Wissenschaft von den Erscheinungsformen des Heiligen in der menschlichen Erfahrung. Ihre Aufgabe ist die unablässige Erforschung der sich verändernden Art und Weise, in der sich das Unantastbare und Gnadenvolle in der menschlichen Erfahrung zeigt. 

In der Verfolgung dieser Aufgabe ist sie verpflichtet, viele unterschiedliche Disziplinen und Ausdrucksformen auf der Suche nach jenen Elementen zu erkunden, die tatsächlich dazu dienen, das menschliche Leben würdiger und weniger antastbar machen. Die Religion ist nur in dem Maß eine Aufgabe der Theologie, in dem sie diese Bedingungen erfüllt. In einem bestimmten Zeitalter kann es die Politik sein oder die Kunst, die Psychologie oder die Bildung, innerhalb derer das überzeugendste Zeugnis für die Anwesenheit des Heiligen entdeckt werden kann. Es bleibt eine beständige Aufgabe der Theologen, zwischen dem Heiligen und dem nur rhetorisch Heiligen zu unterscheiden, da die reine Rhetorik des Heiligen — ob nun in der Politik angewandt (In God We Trust) oder in der Religion (Du mußt an den Herrn Jesus Christus glauben, um erlöst zu werden) — tatsächlich dazu dienen kann, das menschliche Leben zu erniedrigen.

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  Einige praktische Folgerungen — Für eine Auferstehung des Körperlichen 

 

Die Vorstellung einer instinktiven Theologie wird bei religiösen Profis nicht gerade Freude auslösen. Wenn die Theologie auf eine derart bescheidene Funktion beschränkt wird (die Erklärung der Funktion des Wortes Gott), wenn das Heilige im irdischen Alltag gefunden werden kann, welcher Raum bleibt dann noch für religiöse Institutionen? Wenn die Kirche nicht länger der einzige Wächter des Heiligen ist, die mit ihren Worten Zeugnis ablegt von der »Es war einmal«-In-karnation des Heiligen in der Geschichte Israels — mit welchen Argumenten könnte sie dann wohl ihr Weiterbestehen rechtfertigen?

Ich habe nicht die Absicht, die Frage nach der Notwendigkeit von Organisationen und Institutionen zu stellen. Allerdings möchte ich feststellen, daß ich die moderne anarchistisch-romantische Polemik gegen Institutionen für naiv halte, auch wenn sie verständlich sein mag. Für mich bestand zwischen Vitalität und Form, Erfahrung und Reflexion, Charisma und Organisation stets eine dialektische Beziehung. Daher kann nicht gefragt werden, ob es überhaupt Organisationen und Institutionen geben soll. Die Frage muß vielmehr lauten: Welche Arten von Organisationen und Institutionen sind zwingend nötig, um gegenüber der Erfahrung des Heiligen aufgeschlossen zu sein und zu bleiben. Falls sie irrelevant geworden sein sollten, dann liegt das nicht daran, daß sie Institutionen sind, sondern vielmehr daran, daß sie sich gegenüber dem zunehmenden Bewußtsein für das Heilige als reaktionsunfähig erwiesen haben.

Die Theologie ist ein gefährliches Unterfangen, weil sie die Illusion fördert,

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daß zwischen dem Gespräch über Gott und der Erfahrung des Heiligen notwendigerweise eine Beziehung besteht. Jede Institution, die so kühn ist, sich der theologischen Sprache zu bedienen, hat die Verpflichtung, Erfahrung und Rhetorik eng verbunden zu halten. Andernfalls kann sie mit Recht heuchlerisch genannt werden.

Ich werde meine Hinweise für die Kirche in die Form von Imperativen fassen, da ich fest davon überzeugt bin, daß institutionelle Treue zur Erfahrung des Heiligen ein paar recht rigorose Reformen bedingt.

Wenn die Theologie sich aufrichtig an die Grenzen dessen halten will, was für einen inkarnierten, befindlichen Menschen erkennbar ist, dann muß sie sehr viel demütiger werden, als sie es in der Vergangenheit war. Dabei rede ich nicht von der Pseudo-Demut einer Generation durch Barth beeinflußter Theologen, die die Verantwortung für die Form christlicher Theologie und deren Institution Gott übertrugen. Demut heißt, eng mit dem Irdischen verbunden zu bleiben. Übertragen in Begriffe der Psychologie und der Erkenntnistheorie bedeutet das, sich eng an beschränkte, historische und relative Erfahrungen zu halten.

Eine demütige Theologie würde sich auf die Reflexionen des Einzelnen über seine eigenen Erfahrungen mit dem Heiligen begründen. Sie wäre im Grunde ein systematischer Zeuge des Heiligen, wie es von dem befindlichen historischen Menschen erfahren wird. Sie würde danach trachten, mit den Erfahrungen einer größeren Gemeinschaft übereinzustimmen, aber sie würde sich nicht auf einem Ereignis begründen, das in der gegenwärtigen Zeit nicht verfügbar ist. Demut in der Theologie heißt, das Heilige auf heimischem Boden zu entdecken.

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Eine instinktive Theorie räumt dem Tastsinn, dem Erspüren, eine größere Bedeutung ein als dem Hören. In unserem postreformatorischen Zeitalter wird das Wort Gottes nicht länger mit gläubigen Ohren vernommen. Das Heilige muß in dem entdeckt werden, was uns bewegt und anrührt, was uns erzittern läßt, was nah ist, nicht entrückt, im Gewöhnlichen und nicht im Außergewöhnlichen, im Einheimischen und nicht im Importierten.

Eine instinktive Theologie erfordert daher eine Wiedererweckung des Körpers, eine Auferstehung des Körperlichen. In Norman Browns Buch Love's Body ist beeindruckend dargestellt, was es bedeuten könnte, wenn wir die Repression abschütteln und zu dem zurückkehren, was Freud das »polymorphe, perverse System der Kindheit« genannt hat. Aber Brown begeht einen fatalen Fehler, der typisch protestantisch ist. Als es ihm um den passendsten Ausdruck des dionysischen oder erotischen Bewußtseins geht, findet er ihn in einem Wortspiel, das der Kern der Poesie ist. 

Ohne die dringende Notwendigkeit eines spielerischeren Umgangs mit der Sprache, besonders der theologischen Ausdrucksweise, leugnen zu wollen, müssen wir doch darauf hinweisen, daß Worte, selbst poetische Worte, allein nicht genügen. Der reale, prosaische, fleischliche Körper muß resensibilisiert und in der Heiligkeit unterwiesen werden, die in seinen Empfindungen verborgen ist. In einem Zeitalter der Werbung sind Gespräche, Geschwätz, Worte (selbst Worte von der »psychosomatischen Einheit des Menschen« oder einer instinktiven Theologie) nicht fähig, uns zu heilen und zu erlösen.

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Wenn es, wie wir behauptet haben, eine Beziehung zwischen dem Körperlichen und dem Heiligen gibt, dann muß die Kirche nach Wegen suchen, um eine Wiedererweckung oder Achtung vor dem Körper und seinen Rhythmen zu bewirken. Es gibt etliche Ansatzpunkte, an denen diese Suche beginnen könnte. Östliche Religionen haben die physische Disziplin des Yoga in mehr als zweitausend Jahren verfeinert. Vielleicht ist der Zeitpunkt für uns gekommen, zur Abwechslung einmal um Missionare aus dem Osten zu bitten! 

In den vergangenen Jahren haben Sensitivitätstraining und Trainingsgruppen einer großen Anzahl von Menschen dabei geholfen, wieder <zu Sinnen zu kommen>. Die Sonntagmorgenbarriere, die verhindern soll, daß wir bewegt und angerührt werden (mit Ausnahme durch die Worte, die an die Gemeinde gerichtet sind), sollte niedergerissen werden. Eine Kirche aus einem Nexus von Trainings- und Begegnungsgruppen, in der Empfindungen von Zorn, Vertrauen und Verherrlichung ausgetauscht werden können, hätte ein bei weitem großartigeres, würdigeres Potential als die augenblickliche wortorientierte Kirche. Es könnte Zeit für diese Generation von Geistlichen sein, eine Pilgerfahrt nach Esalen zu unternehmen.

Die Zeit ist reif dafür, zum Primitiven, dem Ursprünglichen, dem Sterblichen zurückzukehren Ich möchte Arthur Darby Nocks Worte wiederholen: »Primitive Religion wird nicht geglaubt. Sie wird getanzt.« Worte, Konzepte, Doktrinen und Ideen sind unerläßlich für die Erlangung von Klarheit und für folgerichtiges Handeln. Es ist eine Zeit der Worte. Sie hat mit der Reformation begonnen und dauert heute noch an. Doch jetzt sind wir es leid, in einem Meer des Wortgeklingels unterzugehen. Das Wort muß im Fleischlichen wiederentdeckt werden. Die Religion muß zum Tanz zurückkehren. Vielleicht ist Alexis Zorbas der Heilige unserer Zeit.

Wenn die Kirche an der Aufgabe scheitert, eine instinktive Theologie zu entwickeln, wenn sie versagt, dem modernen Menschen dabei zu helfen, seinen Körper und seine Gefühle wieder zu entdecken und zu achten, vernachlässigt sie eine Quelle gemeinsamer Gnade ebenso wie den Ursprung, aus dem Mitgefühl erwächst. Sie würde damit der Inkarnation des Heiligen in unserer Geschichte, in unserem Fleisch den Rücken zukehren.

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Ende

 

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Mister Sam Keen