Start     Weiter

Das Königreich des Besitzes

 

 

 

   Die Landschaft   

21-49

Der Aufstieg zum Licht beginnt in Finsternis. Eine schöpferisch-fruchtbare Dunkelheit verdeckt die Wurzeln menschlichen Bewußtseins. Das Königreich des Besitzes nimmt seinen Anfang in den Sümpfen, wo erstmals Leben aufs trockene Festland kriecht; es erstreckt sich nach und nach über den Urwald und dringt bis zu den Savannen vor, wo sich auf Bäumen wohnende Affen auf ihre Hinterbeine erheben, aus Steinen Waffen verfertigen und sich auf den langen Weg zur Zivilisation begeben. Ausgiebige Regenfälle und vermodernde Pflanzen bewirken, daß das ganze Land von einer dicken Humusschicht überzogen wird. Die Luft ist üppig und von Moschusduft erfüllt. Ein sanfter Nebel verwischt alle scharfen Konturen und vereint Pflanzen, Tiere und menschliche Wesen in einem einzigen Kreislauf.

Die Männer und Frauen, die in diesem Königreich wohnen, sind stark mit ihren Sippen und ihrer Umwelt verbunden. Wie Tiere scheinen sie mit ihrem Wohngebiet aufs engste verwurzelt. Sie sind ihres Selbst nicht bewußt genug, um die angsteinflößende Freiheit, ein Individuum zu sein, erfahren zu können. Obwohl die Skala der Einwohner dieses Königreichs vom nackten Eingeborenen bis zu den in grauen Flanell gekleideten Managern multinationaler Gesellschaften reicht, leben alle bedingungslos und ohne Fragen zu stellen — in einem ungebrochenen Mythos oder in dessen moderner Variante, einer wirtschaftlichen oder politischen Ideologie.

Wie Kinder verharren sie im Schoße einstmals aufgenommener Werte und Vorstellungen. Noch gehören sie nicht zu den Abenteurern des Wissens, die ihren Garten der Unschuld zu verlassen wagen, um den ganzen Umfang nichtstammesgebundenen menschlichen Bewußtseins zu entdecken. Als Menschen im vorbewußten Stadium leben sie gesichert in einer vertrauten, aber von Klaustrophobie gezeichneten Welt.

Eine weitverbreitete Philosophie verbindet das Ursprüngliche mit dem Verfeinerten. Die «Besitzer» sind Wortgläubige und Materialisten. Ohne sich Gedanken zu machen, stellen sie die Idole ihres Stammes dem allumfassenden Gott gleich, ihre wirtschaftlichen Werte und sexuellen Gepflogenheiten der absoluten Moral, ihre Besitztümer der Sicherheit, ihr Geld dem Reichtum, ihre Fetische der Macht. Es mangelt ihnen an reflektierendem Selbst-Bewußtsein und damit an der Fähigkeit, Symbol und Sache zu unterscheiden. Ihre fanatische Treue und Betriebsamkeit im Dienste ihres als Selbstverständnis erlebten Materialismus — den sie als «Realismus» bezeichnen — machte sie reich an Dingen, jedoch arm in der Vorstellungskraft.

Im besten Falle werden die Einwohner dieses Königreichs von einem kindlichen Vertrauen ermutigt, daß die Welt ihre Bedürfnisse befriedigen wird; erdgebundenes Wissen und Respekt vor Fakten läßt sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen.

22


Ihre Tugenden sind jene der Grundstufe und müssen überwunden werden, ehe die Reise in höhere Bereiche des Bewußtseins beginnen kann. «Mind» muß der Materie verpfändet sein — erst dann kann er sich zum Geist erheben. Wir haben uns der Notwendigkeit zu unterwerfen, um zu wissen, was Freiheit ist. Liebe offenbart sich zunächst in Form von Überlebenswillen.

 

Eros und Bindung  

Am Anfang ist die Raffgier. Das Bewußtsein beginnt äußerst bescheiden. Im Bereich der niedrigsten Lebensformen gelingt einigen hungrigen Zellkernen, dessen «habhaft zu werden» (Whitehead), was für die Entwicklung komplexeren Lebens notwendig ist. Wer Ohren hat, zu hören, der vernimmt, daß jener Impuls, der sich zur vollständigen Transzendenz des ichbewußten Bewußtseinszustandes (der Mensch) entwickelt, als stumme Verheißung bereits in der uranfänglichsten Wesenheit vorhanden ist. Das Bewußtsein nimmt seinen Anfang gleichsam in der Futterkrippe. Der Geist ruht in der Materie, und Herrlichkeit ist im Niedrigsten verborgen. Im Innern bereiten sich die erhabensten Möglichkeiten vor.

23


Zunächst ist das Individuum noch kein Einzelwesen. Ehe es ein Ich und ein Du gibt, findet eine Verbindung statt. Sperma und Ei nisten sich gemeinsam in der Gebärmutter ein. Die Keimzelle wird zum Foetus. Noch ist alles eine Einheit: Mutterundkind. Ein im Werden begriffenes Wesen entfaltet sich; es wird genährt und nimmt, was es erhält.

Am Anfang ruht das Ur-Einzelwesen vollständig umschlossen in der Gewebeschicht der Gebärmutter. Sicherheit kommt vor dem Abenteuer. Das Leben ist zuerst ein Geschenk — oder eine gegebene Tatsache. Letzteres zählt mehr als die Fiktion. Mein Beginn war prosaisch, ehe ich mir mein Selbst vorzustellen und zu dichterischen Gefühlen oder Selbstbewußtsein durchzubrechen vermochte.

In der tantrischen Mythologie beginnt die Erweiterung des Bewußtseins dann, wenn die Kundalini-Schlange, die bislang — am unteren Ende des Rückgrates zusammengerollt — geschlafen und mit ihrem Schlund dessen Öffnung versperrt hat, erwacht und in Form der ursprünglichen sexuellen Energie die Wirbelsäule hochzukriechen beginnt. Diese Lebensenergie ergießt sich zunächst in das erste Chakra (Muladhara), das sich am Anfang des Rückgrates befindet. Der Sitz des Bewußtseins liegt in nächster Nähe des Anus.

Auf dieser untersten Stufe besteht das Bewußtsein aus einer blinden Suche nach Sicherheit. Die Augen (vielmehr Mund und Anus) erfassen die Welt nur vom Standpunkt des Bedürfnisses aus. Alles dient einzig und allein meinem Überleben oder meiner Befriedigung. Ich bin der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. «Mein» ist das wichtigste Wort! Offensichtlich könnte kein einziges Kind überleben, wenn es nicht ichbezogen wäre und blindlings nach der Nahrung greifen würde, die seine Mutter ihm anbietet.

24


Um sich von der erotischen Urerfahrung — diesem Quell des Genusses, der (im Idealfall) zu den Anfängen des menschlichen Lebens gehört — ein Bild machen zu können, stelle man sich eine stillende Mutter vor. Die Herzschläge von Mutter und Kind stimmen überein: Wenn die Brustwarze in den begierigen Mund eingeführt ist, sind beide von tiefem Genuß erfüllt. Mutter und Kind sind in Freude vereint. Füttern und Gefüttertwerden verschmelzen zu einem einzigen erotischen Erlebnis.

An der Brust unserer Mutter lernten wir die Grundsätze erotischer Philosophie: Wir gehören zusammen; Isolation bedeutet Tod — Bindung ist Leben; Freude wurzelt in gegenseitigem Bedürfnis; Sitz der Geborgenheit ist die Gebärmutter, die mich hervorgebracht hat; Begehren beruht auf Gegenseitigkeit; die Lust, die ich empfinde, wird durch die Lust entfacht, die ich vermittle; Geben und Nehmen sind untrennbar miteinander verbunden.

Wenn diese erste Philosophie erlernt und der Begriff Genuß/Bindung etabliert ist, beginnt das Kind sein Leben mit einem eigenen Gefühl für die Güte des Universums. Dieses «Urvertrauen» ermöglicht dem Kind, die Sicherheit der mütterlichen Obhut zu verlassen und vertrauensvoll eine Welt zu erforschen, die stets als eine Art Gebärmutter — eine alles umfassende, wohltätige Einheit — erlebt sein will.

Unglücklicherweise findet diese Bindung bei vielen — vielleicht den meisten — Menschen nicht in idealer Weise statt. Eine ängstliche oder ihr Kind ablehnende Mutter vermittelt ihm sozusagen auf osmotischem

25


Wege eine grundlegende Unsicherheit. Das Kind, dem das Gefühl von Willkommensein, glückerfülltem «Zusammengehören» und natürlicher Sicherheit mangelt, lernt die begrenzte Zuwendung «zusammenzuraffen» und zu horten. Nach und nach treten anstelle von Menschen Dinge, die als Quell der Freude und Sicherheit dienen. Wenn dem Kind dieses erste Gefühl der Zusammengehörigkeit vorenthalten wird, lernt es alsbald, daß Liebe jemandem gehören bedeutet. Falls diese possessive Orientierung nicht aufgelöst wird (beispielsweise durch die Begegnung mit als «Ersatzeltern» akzeptierten Menschen, die sich über das Dasein des Kindes echt freuen), begreift das Kind den Begriff Eros eher als Unterwerfung denn als Bindung. Die Kundalini-Energie wird sich nicht zum nächsten Chakra erheben.

 

^M Das Leben als Besitztum: Die materialistische Orientierung

Menschen, die auf dieser infantilen Stufe stehen bleiben, entwickeln das, was Erich Fromm als «hortende» Orientierung bezeichnete — eine Philosophie des Materialismus. Der Unerweckte sieht die Welt als eine zufällige Wechselwirkung geistloser/unbeseelter Teilchen. Das Leben ist ein Gefängnis aus Ursache und Wirkung, wo alles vom Vorhergegangenen bestimmt wird: Die Zukunft läßt sich aus der Vergangenheit vorausahnen.

26


Der Kosmos besteht aus einer Reihe von Dingen und stofflichen Beziehungen. Der Lebensstil auf dieser Bewußtseinsgrundlage zeichnet sich durch Zusammenraffen und Horten von Besitz aus. «Haben» gilt als einzige Sicherheit. Aus diesem Grunde hält man sich hartnäckig an sein Geld, seine Vorstellungen, seinen Standpunkt, seine Ideologie oder religiösen Dogmen. Menschen dieser Gesinnung entwickeln — im wahrsten Sinne des Wortes — eine «verstopfte» Lebensanschauung.

Die moderne Psychologie vereinnahmt nach und nach die tantrische Erkenntnis, die gleichsam ein Anlagern des Bewußtseins an gebündelte Nervengeflechte in Muskeln und Organen - den Chakras - in Zusammenhang bringt. Mit einfachen Worten ausgedrückt: Ein auf der untersten Bewußtseinsstufe verbliebener Mensch ist verkrampft, verstopft, paranoiden Zwängen unterworfen oder anal. 

Freud, Wilhelm Reich und N. O. Brown haben viel dazu beigetragen, das Erscheinungsbild der Chakra-Persönlichkeit detailliert darzustellen. Der Anus ist die erste Körperstelle, die einem fremden Willen unterworfen wird. Unterdrückung nimmt hier ihren Anfang. Das Früheste, was man von uns zu erlernen erwartet, ist Disziplin in der Beherrschung der analen und urethralen Schließmuskeln. «Toilettenordnung» ist unsere Einführung in Realitäten der Erwachsenenwelt, wo Pflicht höher eingestuft wird als Freude. — «Erfülle deine Pflicht!» werden wir ermahnt. «Beschmutze nicht das eigene Nest!» «Mach keine Schwierigkeiten!» 

27


Der Preis, den wir für den Eintritt in die Gesellschaft «Ebenbürtiger» bezahlen, besteht darin, daß wir erlernen, zu erfassen, zu halten, auf Wunsch zu produzieren und uns selber zu beherrschen (d.h., ein Teil des Selbst lernt, einen anderen zu kontrollieren und zu beherrschen). Fäkalien sind das erste, was wir geben oder zurückhalten können — je nachdem, ob wir die Eltern erfreuen oder enttäuschen wollen. Falls wir eine gute Bindung erfahren durften und uns das grundlegende Recht zusteht, neuen Dingen und Fähigkeiten in einer Atmosphäre der Liebe und des Vertrauens zu begegnen, so werden wir die ersten Lektionen dieser «Toilettenordnung» recht gut lernen. 

Ist dies jedoch nicht der Fall, so wird die ganze Angelegenheit von Schamgefühl überlagert. Aufgrund dieser Scham und aus Angst vor Verlassenwerden können wir «unfeinen» Dingen und Körperfunktionen nie unbefangen begegnen; weil wir nie im Schmutz graben, stoßen wir auch nie auf unsere Wurzeln, und unser Bewußtsein bleibt auf der ersten Stufe stecken. Das, was Gabriel Marcel als «Geist des Besitzes» bezeichnete, beherrscht unseren Geist. Wie die Amöbe verstehen wir uns bloß auf die erste Bewußtseinsregung — Greifen und Raffen.

Das Vorherrschen der «analen» Orientierung innerhalb der westlichen Gesellschaft ist bis zu einem gewissen Grade unserer unzulänglichen Bindung zuzuschreiben. Letzteres beruht oft auf der in vielen Kliniken herrschenden Gepflogenheit, Neugeborene und Mütter getrennt unterzubringen. Damit wird die Brusternährung des Kindes — und damit die erste tiefe Bindung — kaum gefördert. Man schätzt, daß mehr als fünfzig Prozent aller Menschen in der westlichen Gesellschaft an Verstopfung und Hämorrhoiden leiden — Krankheitsbilder, die auf eine Disharmonie im Bereich des I. Chakras zurückzuführen sind. 

28


Die unglaublichen Mengen verkaufter Abführmittel und Antihämorrhoidalpräparate sind stumme Zeugen für jenen Preis, den die Menschen dafür bezahlen, daß sie ihr Potential nicht über die erste Stufe hinausentwickeln. Unser Drang, zu erwerben, und der Mythos, daß Moneten Sicherheit bedeuten, verstopfen und blockieren uns. Bestenfalls könnte der Kapitalismus das Geld zur Festigung der allgemeinen Lebensfreuden liefern — schlimmstenfalls bringt er uns aber dazu, den Hintern immer mehr zusammenzukneifen. Die ungelebte Freude, die dem verkrampften Körper versagt bleibt, können wir bloß vermuten. Man drücke einmal den Analschließmuskel zusammen und stelle fest, wie sehr man Bauch, Brust und Augen anspannen muß, um sich «unter Kontrolle» zu halten! Das erstarrte Becken hemmt die Bewegung des Kreuzbeins beim Tanzen, Lieben und Gehen — rhythmischer Schwung wird verhindert. (Die Ausdauer der Langstreckenläufer bei den Watussi ist der charakteristischen Lockerheit von Becken und Kreuzbein zugeschrieben worden. Auf diese Weise entsteht dem ganzen Rückgrat entlang eine Art Pumpbewegung.) Im Königreich des Besitzes sind die Einwohner vielleicht «besitzend», aber sie sind nicht frei, um sich von der ekstatischen Kraft bewegen zu lassen, die allen Gottheiten dieser Erde zueigen ist.

29


Sex und Hörigkeit: Das Du als Sache mm

Hat man sich einmal die Philosophie veranschaulicht, die im Königreich des Besitzes vorherrscht, so werden die sexuellen Gepflogenheiten dieser Bewußtseinsstufe leicht durchschaubar: Eros ist eine Form des Besitzes. Liebe und Sexualität sind Mittel, um zwei Menschen aneinanderzuketten und damit die Sicherheit zu festigen. Dutzende von Ärzten und Gurus, die in den von mir durchgesehenen Büchern ihre Weisheit zum besten gaben, hatten eines gemeinsam: Sie alle erachteten Sex als eine Form des Habens und Besitzens.

Bis vor kurzem gehörte Sex zu den Besitzrechten. Frauen, Sklaven und Eigentum waren «Dinge», die man «besaß». Die Ehe erachtete man als wirtschaftliche Übereinkunft, die der Zeugung von Kindern und der Pflichtenteilung diente. Noch im viktorianischen Zeitalter galt Sex als Pflicht der Frau und als Recht des Mannes, und bis vor wenigen Jahren gaben die sogenannten Frauenmagazine ihren Leserinnen Ratschläge, wie sie dieser Pflichtübung am besten nachkamen. In unserer liberalisierten Zeit haben sich die meisten Leute von der Ansicht distanziert, wonach die Frau in der Ehe nur als halbwertiger Partner gilt. 

30


Aber viele «Lebensberater/innen» der Herz- und Schmerzrubriken zahlreicher Zeitschriften empfehlen den Frauen nach wie vor, ihren Mann zu «faszinieren» und Sex als Instrument des «Habens und Festhaltens» — bis daß der Tod euch scheidet — einzusetzen. Feminismus, die Entwicklung der Pille und Mehrfach­orgasmus führten dazu, daß sich die Männer vermehrt um ihre eigenen sexuellen Fähigkeiten zu kümmern begannen — plötzlich waren sie ihrer Partnerin nicht mehr vorbehaltlos «sicher». In dieser etwas ausgewogeneren Form sexuellen Verhaltens wird beiden Partnern aufgezeigt, daß ihre getrennt verlaufenden, aber gleichwertigen sexuellen Streicheleinheiten für eine lustvolle Verbindung unerläßlich seien (Masters).

Auf der gröbsten Stufe erniedrigt possessiver Sex den Partner zu einem Gegenstand — in der Vulgärsprache «liebt» man nicht, sondern man «greift sich einen Arsch». Deutlicher könnte der unbewußte Zusammenhang zwischen Analität und Sexualität, die den Geschlechtsverkehr zu einem Akt des Besitzens degradiert, nicht zum Ausdruck gelangen. Die anale — oder zwanghafte — Persönlichkeit unterscheidet eindeutig zwischen sauber und schmutzig, Müttern und Huren, guten und schlechten Frauen, Ehegatten und Liebhabern, Zärtlichkeit und Erregung. Das eine schließt das andere aus! In dieser archetypischen Trennung ist Sex schmutzig, aber aufregend, und Liebe «sauber», aber langweilig. «Die harten Jungs» greifen sich schon mal den «Arsch» eines Weibs in schwarzer Unterwäsche — aber sie heiraten die Jungfrau in Weiß.

Zwei Leute machen «es» mit ihren «Sachen», ohne auch nur im geringsten zu ahnen, daß der prosaische und mechanische Charakter ihrer Sprache den unerschöpflichen Möglichkeiten menschlicher Zweisamkeit in keiner Weise gerecht wird.

31


Die im Königreich des Besitzens herrschende Sichtweise der Sexualität offenbart sich am konsequentesten im Sadomasochismus. Handschellen und Stricke, Peitsche und Leder. Fessle mich. Schlag mich. Erniedrige mich zu einem Gegenstand. Mach mich zu einer willenlosen Masse — degradiere mich zur Scheiße. Ich will dein Sklave sein. Die Geschichte der O. Die freiwillige Obersklavin. Das sadomasochistische Drama ermöglicht beiden Partnern, ihrer Phantasie von Besitz und Objektivierung freien Lauf zu lassen. Ein Gegenstand zu sein, bringt perverse Erleichterung: Gegenstände verfügen weder über Bewußtsein noch über eine freien Willen. Sie treffen keine Entscheidungen, teilen keine Verantwortung und kennen keine Schuld.

Betrachtet man den Sadomasochismus unter diesem Aspekt, so fragt man sich, ob nicht in vielen Mittelklasse-Ehen versteckt dieselben Spielregeln gelten. Hier geht's zwar nicht um Peitsche und Leder — aber wie oft wird die Sexualität (in- und außerhalb der Ehe) von den Rollen des dominierenden Macho und der passiv-aggressiven Ergebenen bestimmt? Neuerdings findet sich hierzu auch die entgegengesetzte Variante der Macho-Frau und des ewig unerwachsenen Jungen.

32


Die Transformation der Grundenergie   

Die Schlange erwacht. Die Kundalini regt sich. Die kosmische erotische Energie beginnt das Rückgrat hinaufzusteigen. Die Evolutionsspirale bewegt sich in Richtung erhöhten Bewußtseins. Der Raff-Instinkt macht einem Bewußtsein Platz, das ein Nachdenken über unsere Bindung zur Umwelt ermöglicht. Der Körper transformiert sich auf natürliche Art und Weise gleichzeitig mit unserem Schritt zur nächsten Stufe, der uns vom Besitz zur Freude führt. Die possessive Orientierung gegenüber dem Leben ist jedoch erst dann vollständig überwunden, wenn wir die Welt als eine Perspektive göttlicher Gnade sehen. Wir bereits Luther festgestellt hatte, vermag nur die höchste Form des Vertrauens unser innerstes Sein zu bewegen.

 

 

33


Die Landschaft

An der Grenze zum Königreich des Spiels wechseln Szenerie und Klima rasch und unerwartet. Der kräftige Geruch des Humus, das Dunkelbraun und Jadegrün des Urwaldes weichen den lichteren Farbtönen des Flachlandes. Der ununterbrochene Sonnenschein hinterläßt auf dem offenen Land seine goldenen Spuren, und über allem strahlt ein azurblauer Himmel. Die Luft ist klar und rein — da und dort entdeckt man zarte Blumen. Im ersten Augenblick glaubt man sich in ein Land ewigen Frühlings versetzt. Überall scheint es zu sprießen. Im Glitzern der Tautropfen widerspiegelt sich ein Licht, das wir als ewige Morgenröte erkennen. Aus weiter Ferne dringt Musik und Lachen — es ist, als hätten wir den Umkreis der irdischen Götter hinter uns gelassen und den der Himmelsgötter betreten.

Die Einwohner dieses Reiches scheinen zumeist jung und offen zu sein — Lernende, die sich auf Abenteuer in höheren Regionen vorbereiten. Ihr Optimismus und ihre sorglose Vitalität ist allgemein spürbar. Überall spricht man von seinen Träumen, Plänen und vom unvermeidlichen Fortschritt. Die jungen Gesichtger tragen keine Spuren von Leid oder Zweifel. Glücklichsein ist ihr Geburtsrecht — sie werden diesen Zustand nach kurzem und schmerzlosem Kampf nach oben erreichen. Die Lorbeeren sind ihnen sicher.

37


Es gibt ältere Bürger, die sich hier für immer niedergelassen haben. Einige von ihnen, die von den Jungen als Lehrer erwählt worden sind, tragen in ihrem betagten Körper einen zeitlosen Geist. An ihren Lachfalten erkennt man sie als Meister des Humors. Sie strahlen eine weise Unschuld aus, und die Bühne des Lebens bringt ihnen stets neue Anregung. Eine andere Gruppe der älteren Bevölkerung scheint nie erwachsen zu werden - ihre unreifen Gesichter sind sanft und leer. Die Zeit scheint an ihnen spurlos vorüberzugehen. Es ist, als ob sie nie wirklich gelebt hätten und ihre Mienen zu Theatermasken, ihre Worte und Handlungen zu unbeseeltem Rollenspiel erstarrt wären.

Die in diesem Reich wohnenden Philosophen bezeichnen das ganze Sein als ein Spiel. Sie sehen den Menschen als homo ludens und lehren, daß das Leben als Spiel aufzufassen sei. 

 

Die Welt als Spielfeld

Wenn wir unser Urvertrauen genügend verankert haben und begreifen, daß uns die Mutter nähren und erhalten wird, wagen wir es, das Königreich des Spiels zu erforschen. Jedes Kind beginnt seinen Weg zum Bewußtsein in Form von fünf Sinnesorganen auf der Suche nach einem Weltbild. Lange ehe das Gehirn bestätigt: «Ich denke, also bin ich», wird der Körper von vermischten Gefühlen der Freude und des Schmerzes durchdrungen; unter Gelächter oder unter Tränen bestätigt er: «Ich fühle, also bin ich».

38


Die erste Welt ist die Mutter — die zweite ein Spielfeld. Sinneseindrücke formen nach und nach das Bewußtsein. Das Kind sitzt mitten in einem Zaubertheater, umwirbelt von unbekannten Dingen, die auf seine Sinne einen verworrenen Eindruck ausüben. Nach und nach tritt ein bestimmter Gegenstand aus diesem Kaleidoskop von Licht und Schatten, Farbe und Form, Temperatur und Strukturen hervor — was bislang unbewußt dieselben Gefühle auslöste wie die Mutterbrust, manifestiert sich nun als Teddybär. Im Spiel mit Gefühlen formen wir uns ein Weltbild. Nichts ist in unserem «Mind» vorhanden, das nicht zunächst mit den Sinnen erfaßt wurde.

Der ganze Körper des Kindes ist eine einzige erogene Zone; jedes Sinnesorgan bringt erotische Befriedigung. Der Mund findet unterschiedslos Gefallen an der Brustwarze, an der großen Zehe, am Daumen und an der Rassel. Die Augen nehmen jede Bewegung und alle Farben auf. Die Ohren erfreuen sich an nahezu jedem überraschenden Geräusch. Die Haut erfährt gerne Berührungen. In der seltsamen Sprache Freuds ausgedrückt, sind Kinder «polymorph pervers». Sie kennen noch keine Scham — Entzücken und Schmerz sind deshalb ihre Lehrmeister. Die Kinder haben ihren Körper noch nicht in private (erotische) und öffentliche (entsinnlichte) Teile eingeteilt. Der sich bildende «Mind» wird durch die Erforschung der sybaritischen — genußsüchtigen — Sinne geformt. In der frühen Kindheit (vor dem Fall in den Zwang von Pflicht, Entschluß und Zeit) führen wir alle das Dasein von Playboys und Playgirls.

39


Am Anfang der ernstzunehmenden Aufgabe des Heranwachsens stehen Spiel und Nachahmung. Spaß und Spiel sind unsere erste Schulung. Wir lernen, indem wir nachahmen und in gewisse Rollen schlüpfen: Die ganze Welt ist eine Theaterbühne. Indem wir wie Vater daherstolzieren (der seinerseits vielleicht ein anderes Idol nachgeahmt hatte), lernen wir zu gehen.

Bereits im Jünglings- und Jungmädchenalter haben die meisten von uns das Königreich des Spiels nahezu durchschritten. Gesellschaftliche Reife impliziert, daß kindliche Belange und die Freude als Grundlage des Seins wegfallen — man lernt, sofortige Belohnung zugunsten langfristiger, dem Ego dienlicherer Pläne aufzuschieben. Beinahe unbemerkt gehen wir vom spielerischen Dasein zum ernsthaften Geschäft des Erwachsenwerdens über. Die vollständige Einführung in das kulturelle Rollenverhalten wird von einem Ritus bestimmt, der Schritt für Schritt vom Eros zum Logos führt. 

Die begrenzte Zeit, während der wir mit dem Leben spielen durften, ist nahezu vorbei. Bald gilt es, unsere Führerscheinprüfung zu absolvieren, einen Job und Kreditkarten zu erlangen und die Grenze zum Königreich der Macht zu überqueren. Von nun an unterdrücken wir für lange Zeit (d.h. bis zum Erreichen der sechsten Bewußtseinsstufe) die vielgestaltige Sinnlichkeit der Kindheit und verbannen die lebensvolle Freude in das Ghetto des Genitalbereichs: wir gelangen zum zweiten Chakra. Unsere Energie und unsere Wünsche werden vermehrt in Arbeit als in Spiel umgesetzt. Unser Instinkt für unbegrenzte Lustbarkeit wird gebändigt.

40


Sexuelle Spiele

Ehe wir die Kindheit vollständig hinter uns lassen, durchlaufen wir — oder zumindest sollte wir dies — nochmals eine begrenzte Zeit der Erotik. Die Natur bereitet uns auf das Erwachsenenleben mit verstärkten ekstatischen Momenten vor: Unsere Drüsen programmieren die Transformation des Eros. Mit Beginn der Adoleszenz verlagert sich unsere orale und anale sinnüche Orientierung schlagartig in den Genitalbereich — es wird zum neuen Ziel unserer Freuden. Geheimnisvolle Schwellungen, das Wachsen der Schamhaare und ein plötzliches Interesse am anderen Geschlecht signalisieren, daß wir unsere Befriedigung alsbald außerhalb der Familienbande zu suchen haben. Es ist Zeit, vom ersten zum zweiten Chakra überzugehen, das von der Tantra-Tradition im Genitalbereich lokalisiert und als Swadhisthana bezeichnet wird.

Im Idealfall wird dieser Übergang durch sexuelle Spiele erleichtert. Knabe und Mädchen (oder Knabe und Knabe - Mädchen und Mädchen) treffen sich, und es kommt zu ersten scheuen Berührungen. In dieser Anfangszeit der Sexualität untersteht die Entdeckerfreude noch keiner Moral. Wir tasten nach den andern und erspüren den Feedback unserer Sinne. Fühlt es sich gut oder schlecht an, lustvoll oder schmerzlich?

41


Diese sexuellen Grunderfahrungen sind eine Spielart jenes Abenteuers unserer Sinne, ohne das wir die Welt nie direkt kennenlernen würden. Ohne erotische Erfahrung würde unser «Mind» sich nicht erweitern. Wird unsere Entdeckungsfreude vorzeitig durch Bemerkungen wie «nicht berühren», «Schmutz» und allerlei «Müssen» und «Sollen» beeinträchtigt, so gelangen wir nie zu einem freien Erkennen unserer natürlichen Bedürfnisse. Sexualität ist — wie die Bibel und Germaine Greer festgestellt haben — «ein Weg der Einsicht». Wenn wir die Welt nicht auf vielfältige Weise sinnlich erfahren, werden unsere Urteile stets Vorurteile sein: von unseren Eltern und Standesbrüdern/-schwestern a priori übernommene Ansichten, Zwänge und Gesetzmäßigkeiten. Falls wir nur ungenügend erfahren, was unseren Bedürfnissen entspricht — was uns anzieht —, werden wir unsere wahre sexuelle Bestimmung nie entdecken. Wir sind nur dann zu einer klaren und dauernden Liebesbeziehung fähig, wenn wir tatsächlich wissen, welche Sorte Mensch wir — im wahrsten Sinne des Wortes — «riechen» können.

Ob diese erste Stufe des sexuellen Abenteuers bereits Geschlechtsverkehr miteinbezieht oder sich auf Küssen und «Petting» beschränkt, ist weniger wichtig als die allgemeine Haltung, mit der sich zwei Menschen auf diese Entdeckungsreise begeben. Wie bei allen Lernprozessen hat das Spielerische vor der Ernsthaftigkeit, die Freude vor der Pflicht zu stehen. Unsere beste Hoffnung in bezug auf die Entwicklung einer «reifen» Sexualität (d.h. der nächsten Stufe der Transformation des Eros, auf der Freude und Pflicht vereint sind) beruht auf der Fähigkeit, diese begrenzte Zeit der sexuellen Spiele ohne Blick auf Konsequenzen oder langfristige Versprechen voll und ganz genießen zu können.

42


Perverse Spieler: Knabenhafte Männer und unreife Frauen

In jeder Kultur legen die meisten Menschen jenen Zustand ab, den sie als kindisches Spiel erachten, und eignen sich eine «erwachsene» Verhaltensweise an. Eine gewisse Minderheit jedoch ist entschlossen, nicht erwachsen zu werden: sie lassen sich für immer im Königreich des Spiels nieder. Das sind dann die sogenannten Playboys und Playgirls. Jung bezeichnete solche Charaktere als aeternus und puelle aeterna: Menschen, die nie erwachsen werden. Auf das zweite Chakra fixierte Persönlichkeiten, die das Suchen nach Genuß zum Mittelpunkt ihres Daseins machen. Hedonisten, Lüstlinge, Sybariten.

Sören Kierkegaard umriß diesen Persönlichkeitstyp — den Don Juan — als Versuch, auf der «ästhetischen Stufe des Lebens» zu verweilen. Der Ästhet nimmt der Welt gegenüber eine passive und voyeuristische Haltung ein — er meidet alle Entscheide, die einschränken könnten. Don Juan ist für jede Laune empfänglich und damit Sklave des Gefühlsmoments. 

43


Er verliebt sich leicht und verführt viele Frauen. Er ist fasziniert, aber niemals verpflichtet. Solange er sich vom Bereich der Moral fernzuhalten weiß — so lange kann er in einer Welt des romantischen Scheins verweilen. Wie ein ewiges Kind verlangt er nach flüchtigen Freuden, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden.

 

Unsere heutigen hedonistischen Helden haben die altmodische Sinnlichkeit des Don Juan längst hinter sich gelassen. Die Genußsüchtigen des Jet-Set-Zeitalters legen eine Konsumation von Vergnügungen an den Tag, wie sie im 19. Jahrhundert kaum anzutreffen war. In der Tat sind die einstigen Exzesse des Adels zur Massengewohnheit geworden. Sexuelle Varianten aller Schattierungen sind dem biederen Geschäftsmann mit Spesenkonto ebenso zugänglich wie dem berühmten Filmschaffenden. Marihuana, Kokain und Psychedelika — Wirkstoffe, die unsere Sinnlichkeit erhöhen — sind für viele zur dringend benötigten Droge geworden. Die Hohenpriester des Jugend- und Schönheitskults arbeiten in den Werbeagenturen unablässig an neuen Vorbildern, denen wir pflichtbewußt mittels Schminke, Diät und Kleidung nachzukommen suchen. Mit genügend großem Einkommen, Kosmetik und medizinischen Hilfsmitteln kann die Jagd nach Genuß und Vergnügen ein halbes hektisches Leben lang andauern. Ein Übermaß an Freizeit hat sich in kurzer Zeit zum Problem entwickelt.

Leute, die lebenslänglich auf der «Spielstufe» stehen bleiben, erkennen kaum jemals die Werte und Genüsse, die ihnen dadurch verlorengehen. Ihre Einfalt macht sie auch als Erwachsene gegenüber den Freuden reifer Menschen blind.

44


Ihr Blickfeld erfaßt nur die Oberfläche — sie beschäftigen sich mit Äußerlichkeiten und Trugbildern. Ihre Art zu lieben ist voyeuristischer Natur. Sie sind an die Illusion ewiger Jugend gebunden. Solche Hedonisten schützen sich mit ihrem Gespinst vordergründiger Freuden vor jeder Begegnung mit den tragischen Dimensionen des Lebens. Im Spiel des Lebens gelangen sie nie über die Sinneseindrücke hinaus — echt empfundene Regungen wie Zorn, Trauer, Freude oder Zufriedenheit und damit verbundene Erfüllung bleiben ihnen fremd. Wer seine innere Entwicklung auf dieser Stufe abgeschlossen hat, wird es kaum begreifen, daß es höhere und befriedigendere Werte gibt als Genuß und Erregung.

 

Sex als Spiel und Spaß  

Leute auf der Spielstufe verstehen die Sexualität bloß als Spiel und Spaß. Der spielerische Geist der Kindheit ist hier der Kern jeder erotischen Begegnung. Im Lauf der Zeit hat die Kunst des sinnlichen und des sexuellen Spiels einen hohen Standard erreicht. Berühmte Philosophen der Erotik — die von den Autoren des Karma Sutra über Henry Miller bis zu Hugh Hefner reichen —, haben die Spielregeln genau festgelegt.

45


Das Grundprinzip, wie sich die Mitspieler gegenüber Sex zu verhalten haben (und dies impliziert sowohl dessen schöne Seite als auch seinen Zerfall), beruht auf dem Streben nach größtmöglicher Sinneslust unter maximaler Ausschaltung seelischer Gefühle. Bloß auf Sinnlichkeit beruhender Sex umfaßt zumindest zwei hochqualifizierte, gut vorbereitete Spieler, deren Ziel es ist, Genuß zu vermitteln und Genuß zu erleben. Eine solche Partnerschaft kann deshalb als amoralisch bezeichnet werden, weil sie keine Verpflichtung oder tiefe Gefühle miteinbezieht, es sei denn, daß «Liebe» zur Erhöhung sexueller Empfindungen beitragen könne. 

Letzteres trifft etwa dann zu, wenn Rüben in seinem Buch «Alles, was Sie über Sex schon lange wissen wollten» sagt: «Sex mit Liebe ist besser als Sex ohne Liebe», oder wenn Comfort in Freude am Sex schreibt: «Qualitativ hochstehender Sex ist nur mit Liebe möglich.» In solchen Fällen ist die Liebe gerechtfertigt! Ziel des Spiels ist aber sofortiger Genuß — von tieferen Gefühlen ist dabei keine Rede. Playboys und Playgirls (man beachte die Nuance: Boys und Girls — nicht Männer und Frauen!) haben nach der in einschlägigen Hochglanzmagazinen zelebrierten Philosophie nur eine einzige Spielregel zu beachten: Was auch immer zwei (oder mehreren) Erwachsenen Freude bereitet, ist richtig. Wenn alle damit einverstanden sind, und es Genuß vermittelt —, tu es!

Das Problem bei der Ausdehnung dieses von Frohsinn und Spiel überlagerten Umgangs mit Sex besteht darin, daß sich das Ganze sehr rasch zum Zwang — ja zum Wettbewerb — wandelt. Unbeabsichtigt schufen die Befürworter damit ein Ungeheuer, eine neue Tyrannei, unerbittliche Spielregeln, die neue «coole»

46


Ethik und ein ganzes Set von Verhaltensweisen — gleichsam ein Styling — des Sexspiels. (Bereits Huizingas klassisches Werk Homo ludens hätte uns eine entsprechende Warnung sein können; auch dort trägt man sich mit der Absicht, Fröhlichkeit zu verkaufen, und endet beim Wettbewerb). 

Sportliches Leistungsprinzip hat den Eros abgelöst — Playboys und Playgirls sehen im Geschlechtsverkehr eine athletische Herausforderung. Das Liebesspiel ist zum Punktezählen verkommen: wer am meisten Orgasmen produziert, gewinnt. Und alle Beteiligten hoffen, sich wie ein «Profi» durchzusetzen. Jim Peterson, Berater der Szene im «Play-boy»-Magazin, schreibt dazu: «Heute ist Sex außerhalb der Ehe erlaubt und bar aller ethischen Zusammenhänge. (Frage: Ist es richtig, was ich tue?) Die körperliche Vereinigung hat sich gewandelt. Sie ist zum Sport geworden, zu einer Aktivität mit selbstverständlichen Regeln. Die neuen Fragen lauten: Bin ich gut? Habe ich gewonnen? Bist du <gekommen>? 

Und die heutigen Ängste drehen sich um das Problem, alle Stellungen und Strategien zu kennen, um die entscheidenden Schlußminuten des Spiels zwanghaft, aber mit Bravour hinzulegen.» Eine weitere Schwierigkeit bildet die Tatsache, daß Playgirls und -boys wie die Göttinnen und Götter der griechischen Mythologie stets jung, schön und mit allen Vorzügen ausgestattet sind und weder Einschränkungen noch Scham oder Schuld kennen. Da in Wirklichkeit nur wenige Menschen diesen idealisierten Standard erreichen, leiden wir an einer neuen Form der Angst, die eher theatralische als moralische Züge aufweist.

47/58

Ein seltsames Schicksal erwartet die älteren Playboys und Playgirls! Wenn die Suche nach Vergnügen und Genuß zum Lebensinhalt wird, erweist sich die Befriedigung als stets unerreichbares Ziel. Der nächste Partner wird perfekt sein! Der nächste Orgasmus wird befriedigen!

Sex auf rein sinnlicher Basis führt am Paradoxon der Freude vorbei. Der Mensch umfaßt verschiedene Dimensionen; somit werden Genuß und Freude am intensivsten erlebt, wenn im Liebesspiel Körperempfinden (Gegenwart), Gefühl (Vergangenheit) und Intention (Zukunft) eine Einheit bilden. Wenn all diese Teile unseres Selbst zugelassen sind, empfinden wir alles als schöner. Mit anderen Worten: Wir sind an die Verknüpfung unseres Zeitempfindens gebunden. Wir fühlen uns dann am besten, wenn sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Gleichgewicht befinden. Eine bloß sinnliche Begegnung versucht das Sexuelle allein im Hier und Heute festzuhalten — zu isolieren. 

Playboys und -girls stimulieren sich gegenseitig in zeitloser Gegenwart; sie fragen niemals nach der Zukunft. Das Leben reduziert sich auf eine Serie von «Eine-Nacht-Beziehungen», Episoden des Genusses und der Erregung. Der Moment ist in diesen Fällen alles. Wenn zwei Menschen aber aneinander Gefallen und entsprechende Befriedigung finden (wenn sie sich körperlich wirklich «kennen»), möchten sie dieses Glücksgefühl ein zweites und ein drittes Mal wiederholen (d.h. einander wiedererkennen!). Erinnerungen solcher Art bewirken eine Vorfreude, die unsere Genußfähigkeit erhöht.

Eine Reihe von befriedigenden Erlebnissen schafft ihre eigene Vergangenheit und Zukunft. Gefühle der Dankbarkeit und der Erwartung verbinden zwei Menschen — sie haben Gemeinsames. Eine befriedigende sexuelle Beziehung erweitert sich auf natürliche Weise vom körperlich-sinnlichen Erleben auf seelische Bereiche. Wir bereiteten uns gestern so viel Genuß und Freude, daß ich heute noch größeren Gefallen an dir finde und auch morgen mit dir zusammen sein möchte. Der Pfad der Freude führt uns vor die Tore des Königreichs der Macht.

49

#

  ^^^^ 

www.detopia.de