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Stimmen der Sehnsucht

Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser,
so schreit meine Seele, Gott, nach dir. (Psalm 42)

 

 

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Welche Bedeutung hat für uns heute der Begriff »Geist«? Können die meisten von uns überhaupt noch etwas damit verbinden? Und diejenigen von uns, die immer noch an einen Ort für den Geist glauben, einen Ort namens Seele, einen Gott — wie viele erleben denn sein Wirken? Kann man in diesen chaotischen Zeiten im alltäglichen Leben einen Sinn des Heiligen bewahren, oder müssen wir unseren Geist und unseren Gott an der Tür zum Arbeitsplatz abgeben?

Was kann es heißen, in diesen traumatischen Zeiten ein spirituelles Leben zu führen? Die Wirklichkeit der spirituellen Dimension kommt heute am deutlichsten durch ihre Abwesenheit zum Ausdruck. Schmerzlich sehnen wir uns nach etwas, das unserem täglichen Leben Sinn und Ziel verleiht, etwas, das uns stärker einnimmt, als ein Lippenbekenntnis für eine Idee abzulegen oder am Wochenende einen Gottesdienst zu besuchen.

Wir leiden unter einem Vakuum. Unsere Herzen werden von etwas geformt, das uns noch nicht widerfahren ist. Scharen von modernen Sinnsuchern sind erfüllt von einer großen Leere, sie sehnen sich danach, seelenvoll zu leben, verlangen nach einem Funken der Inspiration, die eine Leidenschaft entzündet, die sie über das kleinliche Besorgen und Ausgeben erhebt, das ihren Intellekt, ihren Körper und ihren Geist belebt. Wir hungern danach, dieses Gefühl des Heiligen wiederzuerlangen, das gegenwärtig so schmerzlich in unseren Liebesbeziehungen, unseren Familien, unserer Arbeit und in der Politik fehlt.

Es vergeht keine Woche, ohne daß ein Freund oder ein Fremder mich auf diese Sehnsucht anspricht.

Eines Abends, nach zuviel Wein (in vino veritas), schüttete mir eine alte Freundin, etwas über vierzig, brillant, weltgewandt, erfolgreich in ihrem Beruf als Promoterin, erschöpft nach einer Sechzig-Stunden-Woche, ihr Herz aus: »Mir bedeutet das alles überhaupt nichts mehr. Alles, aber auch alles ist mir egal. Ich möchte nur ein paar Tiere haben, einen Garten anlegen und beten. Ich gehöre zur Gott-ist-tot-Generation. Ich habe die Religion immer verachtet. Mein Vater hat an der Atombombe gebaut, und ich war immer stolz auf meine wissenschaftliche Intelligenz. Ich kann mir von Gott keinerlei Vorstellung machen. Aber ich kann mein Leben nicht mehr bewältigen, ohne zu beten.«


Ein anderer Freund, ein Künstler, der erst kürzlich »entdeckt« wurde, Anfang sechzig, gestand mir:

»Nachdem ich mehrere Krisen der Lebensmitte überstanden habe, fühle ich mich endlich wohl in meiner Haut, ich führe eine gute Ehe, und meine Kinder sind flügge und gehen ihren eigenen Weg. In den letzten Jahren habe ich eine moderate Berühmtheit erlangt. In finanzieller Hinsicht bin ich erfolgreicher, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt habe. Ich habe mir alles gekauft, was ich jemals haben wollte — ein elegantes Haus, ein schönes Auto, Abenteuerreisen in exotische Gegenden der Welt. Ich habe für Wohltätigkeits­organisationen meiner eigenen Wahl Geld gespendet und mich meiner Familie und meinen Freunden gegenüber großzügig gezeigt. Soweit ich es erkennen kann, habe ich weder ungestillte Bedürfnisse noch unerfüllte Wünsche. Dennoch sehne ich mich nach einer Art Erfüllung, die ich mir nicht einmal vorstellen, geschweige denn benennen kann — dieses Sehnen kann ich nur als spirituell bezeichnen.«

Ein neuer Freund, ein in Los Angeles ansässiger Immobilienmakler, gerade fünfzig geworden, Multi­millionär mit einer Vorliebe für schnelle Autos und italienische Mode, hartgesotten und großzügig, äußerte mir gegenüber beim Abendessen in einem eleganten Restaurant: 

»Es hat mir immer Spaß gemacht, viel Geld zu verdienen, und ich war gut darin. Ich mag die schönen Dinge, die man sich mit Geld kaufen kann — einen Maserati und ein Haus von internationalem Format. Weil ich soviel Geld hatte, habe ich mir nie Sorgen in meinem Leben machen müssen. Aber das reicht mir nicht mehr. In mir ist eine Leere entstanden, die sich mit Geld nicht mehr füllen läßt. Ich muß mein Leben ändern.«

In einem Telefonat, in dem wir ein wenig plaudern wollten, begann ein Rechtsanwalt aus San Francisco, den ich seit Jahren kenne neunundvierzig Jahre alt, hochintelligent, gut aussehend, ein Meister der Wortspiele und des Witzes, immer blendend gekleidet, vierundzwanzig Jahre abhängig von Alkohol und Drogen, seit sieben Jahren trocken , eine Unterhaltung über das Leben statt über die Jurisprudenz:

»Alles begann, als ein Freund sagte: <Du kannst diesen ganzen Mist nicht dein Leben lang weitermachen, sonst bringst du dich um. Komm mit mir zu einem Treffen der Anonymen Alkoholikern.> Zu dieser Zeit war ich gerade tief verzweifelt. Ich haßte mich und steckte voller Ängste und empfand einen ungeheuren seelischen Schmerz, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was ich anstellen müßte, damit es mir wieder gutging. Eines Tages fuhr ich über eine Landstraße und brach in Tränen aus, und da mich niemand erkennen sollte, setzte ich meine Sonnenbrille auf. Dann fing ich an wie ein Wolf zu heulen, so daß ich die Fenster hochkurbeln mußte, damit mich die Leute auf der Straße nicht hörten. Danach bin ich dann zum Treffen der AA mitgegangen.

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Als erstes wunderte ich mich über die Gesichter der Anwesenden. Ich sah lächelnde Gesichter. Sie hießen mich willkommen. Da merkte ich, ganz gleich, was für Probleme diese Leute hatten — und sie hatten eine ganze Menge —, mein Problem hatten sie nicht mehr. Sie waren weder isoliert noch einsam, noch ohne Hoffnung. Ihre Gesichter entfachten meine Sehnsucht nach Frieden und nach einem Gefühl des Wohlbehagens. Sie gaben mir das Vertrauen, daß ich an irgendeiner Stelle meines Weges empfinden würde, daß ich in Ordnung war, daß ich mit anderen Menschen eine Verbindung herstellen konnte, statt im Hamsterkäfig mit meiner Angst eingeschlossen zu bleiben.

Heute, sieben Jahre später, kam ein junger Mann zu mir in die Kanzlei. Er steckte voller Haß, weil ihn eine Frau beschuldigt hatte, ihr Kind sexuell mißbraucht zu haben. Nachdem ich ihm erklärt hatte, daß man keine Anklage gegen ihn erheben könne, forderte ich ihn auf, er solle für die Frau beten, da er sie sonst weder verstehen noch ihr vergeben, noch den Schmerz, den er in sich trug, überwinden würde.

Die Begegnung erinnerte mich an den Augenblick, als ich zum erstenmal betete. Meine Frau hatte mir sehr wehgetan und mich zu Unrecht beschuldigt. Deshalb war ich den Großteil des Tages voll Wut umhergelaufen, erfüllt von Groll und mit Plänen, mich an ihr zu rächen. Mein Schmerz war so immens, daß ich irgendeine Möglichkeit finden mußte, ihn loszuwerden. Da ich ein Exemplar des AA-Gebets bei mir hatte, setzte ich mich in meinen Wagen, der auf einem Parkplatz stand, und las es: <Gott, ich bringe mich dir dar... befreie mich aus dem Gefängnis meines Selbst, damit ich deinen Willen tun kann.>

Es war mir peinlich. Ich hatte die Existenz Gottes, jeder Macht, die größer ist als ich, immer geleugnet. Dennoch las ich wieder und wieder, und schon bald empfand ich Erleichterung. Statt in meinem Schmerz verstrickt zu bleiben, begann ich zu verstehen, warum meine Frau über mich hergefallen war, und ich stellte fest, ich konnte ihr vergeben. Seither bete ich, denn es macht mich größer, mein Wesen weitet sich für das, was ist. Ich bete nicht zu irgendeinem übermächtigen Wesen, das alles besser machen soll. Aber ich öffne mich der Macht, die alles Leben erfüllt und beseelt, und bete darum, aus den Fesseln meines Selbst befreit zu werden.«

*

Vor einigen Jahren erhielt ich einen Brief von einer Frau, die ich bewundere, einer abenteuerlustigen Sucherin, Mutter von drei Kindern und früher mit einem berühmten Arzt verheiratet. Sie erklärte mir, weshalb sie sich dem indischen Ghura Bhagwan X angeschlossen habe. »Der spirituelle Hunger, der mich zu Bhagwan führte, war die große unbeantwortete Frage des zwanzigsten Jahrhunderts: >Welcher Macht können wir uns hingeben?<« Ich schrieb der Frau zurück: »Sie haben die richtige Frage, aber die falsche Antwort.«

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Die spirituelle Sehnsucht unserer Zeit wird durch das immerwährende Bedürfnis des Menschen hervor­gerufen, sich mit etwas zu verbinden, das das zerbrechliche Selbst transzendiert, damit er sich etwas Größerem und Beständigerem als seinem kurzen Augenblick in der Geschichte hingeben kann.

Diese Stimmen bilden einen kleinen Teil eines Chors der Sehnsucht, der in einer neuen Gemeinschaft von Sinnsuchern entstanden ist, die sich auf die Reise begeben haben. Vielleicht zählen Sie zu denjenigen, in denen eine Sehnsucht rumort, die die traditionellen Religionen nicht beantworten können. Während orthodoxe Gläubige den Fußstapfen von Jesus, Moses oder Mohammed zu folgen trachten, haben zahllose spirituelle Sinnsucher begonnen, Neuland zu betreten. Viele Menschen, die sich noch vor zehn Jahren geniert hätten, ihre Sehnsucht nach Transzendenz einzuräumen, sprechen heute ganz offen über innere Reisen und Visionssuchen. Spiritualität ist »in«. Millionen, die sich hinsichtlich einer säkularen Weltsicht keinen Illusionen mehr hingeben und die die etablierten Religionen in ihren institutionellen Formen kaltlassen, begeben sich auf die Suche nach etwas — irgendeinem fehlenden Wert, irgendeinem abwesenden Ziel, irgendeinem neuen Sinn, irgendeiner Präsenz des Heiligen.

Im folgenden will ich einige Merkmale der sich wandelnden spirituellen Landschaft, der Renaissance unserer Zeit, angeben:

Wir erleben einen Anstieg des spirituellen Individualismus und der freischwebenden religiösen Experimente. Die neue Suche zielt darauf ab, neue, unbekannte Wege zu gehen. Das Meinungs­forschungs­institut Gallup berichtet, daß Ende der siebziger Jahre »eine überraschend große Zahl von Amerikanern ein Interesse am inneren bzw. spirituellen Leben entwickelte«. Man schätzt, daß 6 Millionen Menschen transzendentale Meditation betreiben, 5 Millionen Yoga, sich 3 Millionen der charismatischen Bewegung und 2 Millionen östlichen Religionen angeschlossen haben... Die Kirchen der >Religiösen Wissenschaft, der >Unity< und des >Neuen Denkens<, die kein bestimmtes Glaubensbekenntnis voraussetzen, wachsen schnelle Die Trends, die die Religion formen, während wir uns der Jahrhundertwende nähern, bedeuten »eine intensive spirituelle Suche und ein Fortbestehen des Wunsches nach innerem und geistigem Wachstum, gepaart mit einer gewissen Zurückweisung der Autorität der Kirchen.«1

Viele Menschen erkunden die Bedeutung der Religion und der Praktiken der amerikanischen Indianer — Visionssuche, der zeremonielle Gebrauch von Meskalin und dergleichen. Es besteht ein wachsendes Interesse an Mythen und Ritualen. Die Schriften C. G. Jungs wurden neu entdeckt. Die Bücher und PBS-Dokumentationen von Joseph Cambell haben einen beispiellosen Erfolg. In den letzten zehn Jahren sind viele Zeitschriften zu diesem Themenkreis gegründet worden.

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Der Osten ist auf den Westen getroffen. Zen-Buddhismus, tibetanischer Buddhismus und Dutzende ganz unterschiedlicher indischer Gurus haben viele Menschen des Westens mit Meditation und spirituellen Disziplinen bekanntgemacht; Aikido-, Kung-Fu- und Jiujitsu-Schulen, die diese Kampfsportarten unterrichten, finden sich in jeder größeren Stadt.

Die Anonymen Alkoholiker und Organisationen mit ähnlichen Zwölf-Stufen-Programmen ersetzen die Sucht durch die Hinwendung zu »einer Höheren Macht«.

Therapeuten erforschen die gemeinsame Grenze zwischen Spiritualität und Psychotherapie, und die American Psychiatric Association hat in der vierten Auflage ihres maßgeblichen Handbuchs der Diagnostik und Statistik eine neue diagnostische Kategorie aufgenommen: »Religiöse oder spirituelle Probleme«.

Im Rahmen einer feministischen Spiritualität hat man die Große Mutter wiederentdeckt und eine weibliche Bildlichkeit für das Heilige in die Sprache und in die Liturgien jeder größeren Glaubenslehre eingeführt. Es besteht in den Vereinigten Staaten ein zunehmender Druck, das Lehrfach »Religion« in die Lehrpläne der Schulen aufzunehmen. Pioniere auf dem Gebiet der Medizin zeigen, daß Liebe und Spiritualität bei der Heilung der Patienten eine große Rolle spielen.

Die Umweltschutzbewegung hat Vorstellungen für eine zukunftsfähige Wirtschaft entwickelt, die Grenzen des Wachstums aufzeigt, und sich der Idee einer spirituellen Gemeinschaft zur Ehrung allen Lebens verschrieben. In der Katholischen Kirche beginnt die Schöpfungs-Spiritualität die Phantasie vieler Gläubigen immer mehr zu fesseln. Thomas Berry hat vorgeschlagen, wir sollten die Bibel zwanzig Jahre lang aufs Regal stellen und lernen, die Natur als Schrift zu lesen. Es besteht ein zunehmendes Bewußtsein dafür, daß die ökologische Perspektive im Grunde eine theologische Revolution darstellt, die auf der Anerkenntnis der Heiligkeit allen Lebens beruht.

Ausgewählte Spitzenmanager und -managerinnen sagen uns, daß der Beruf neben der finanziellen Belohnungen auch persönliches und spirituelles Wachstum ermöglichen müsse.

Die Systemtheorie hat sich als herrschender Trend in den meisten Wissenschaften, von der Psychologie bis zur Computerwissenschaft, durchgesetzt und die alte Methode der unsystematischen Analyse ersetzt, durch die wir alles in seine Bestandteile zerlegt haben. Das neue Denken neigt dazu, Synthese, Netzwerke, Interaktion, Prozesse hervorzuheben. Die alte Vorstellung, wonach das Ganze die Summe der Einzelteile darstellt, wurde durch die Idee ersetzt, daß die Teile nur als Funktionen der Dynamik des Ganzen werden können. Die Vision des neunzehnten Jahrhunderts der einsamen Billard-Kugel-Atome, die wie zufällig miteinander kollidieren und so die Variationen des Lebens erzeugen, wurde ersetzt durch die Vision eines Universums, das aus einem feinen Geflecht von Beziehungen besteht, gleichsam einem Netz aus Edelsteinen.

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Der alte Krieg zwischen Wissenschaft und Religion ist zu Ende, und eine neue Liebesaffäre ist im Werden begriffen. Eine Vermählung zwischen Physik und Mystik kündigt sich an. Die Quantenphysik hat die Begrenztheit des alten, an Zeit und Raum gebundenen Newtonschen materialistischen Universums der isolierten Atome nachgewiesen. Paul Davies, Professor für mathematische Physik an der Universität von Adelaide, kommt zu dem Schluß: »Durch bewußte Wesen hat das Universum Selbst-Bewußtsein hervorgebracht. Das ist kein banales Detail, kein unbedeutendes Nebenprodukt geistloser Kräfte ohne Ziel. Wir sollen wirklich hier sein.«

Mag sein, daß Ihr Erfolg oder Ihr Versagen in der Liebe oder im Beruf das drängende Bedürfnis ausgelöst hat, in Ihrem Leben einen größeren Sinn und Zweck zu entdecken. Mag sein, daß die nahe Begegnung mit einer Krankheit oder dem Tod Ihre alten Sicherheiten aufgezehrt und tiefe Zweifel in Ihnen geweckt hat. Mag sein, daß Ihre Verzweiflung über die Verrücktheit der Moderne einen Hunger nach Hoffnung geweckt hat, das Verlangen nach einer neuen Vision des Heiligen.

 

Die Krise und Suche, die ich in diesem Buch beschreibe und vermesse, hat einen kulturellen wie auch einen persönlichen Kern; sie ist sowohl modern als auch ewig. Das Streben danach, herauszufinden, ob irgendeine Wirklichkeit auf den Namen des Geistes, der Seele oder Gottes antwortet, kann nur eine leidenschaftliche existentielle Reise sein, auf der man die tiefste Bedeutung dessen entdeckt, was es heißt, Mensch zu sein. In diesem Sinne gewärtigen Frauen wie Männer zu allen Zeiten eine Krise, eine Zeit des Nachdenkens, wenn er oder sie dazu herausgefordert wird, das Selbst zu erkunden und zu definieren, eine Vision und eine Gruppe von Werten zu finden.

Um Ihnen bei der Selbstprüfung zu helfen, liefern die Kapitel 1 bis 6 detaillierte Wege und Fragen, mit denen Sie Ihr Leben sowie die Quellen Ihres Glücks und Unglücks sezieren können, sowie eine Blaupause zur Heiligung Ihres Lebens. Die vier darauffolgenden Kapitel zeigen Möglichkeiten auf, mit denen Sie Ihre neuen Sichtweisen hinsichtlich des Selbst und des Geistes in Ihre Sexual- und Liebesbeziehungen, in Ihren Beruf, in Ihren Umgang mit der Umwelt und bei der Herstellung einer neuen Form der anteilnehmenden Gemeinschaft integrieren können. Das letzte Kapitel schlägt über fünfzehn Rituale vor, mit denen Sie das Alltagsleben heiligen können.

So wie es keine allgemeine Ernährung gibt, die für alle Menschen gesund ist, so kann auch keine geistige Nahrung für alle Menschen gleich nahrhaft sein. Die Art und Weise, wie wir Sinn verarbeiten, unterscheidet sich auf ebenso tiefreichende Weise, wie der Organismus Speisen verdaut. Manche Menschen gedeihen bei einer Ernährung, die aus kunstvollen Symbolen besteht, und werden von der Liturgie der Hochkirchen, einem komplizierten tibetanischen Tanka oder einem Jungschen Mandala genährt. Andere reagieren allergisch auf allzuviele theologische Rituale und kommen mit einer Quäker-Stille oder einer Zen-Meditation weitaus besser zu Rande.

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In diesem historischen Augenblick, da die Geschlechterrollen neu definiert werden, ist anzunehmen, daß sich die Geistesnahrung, die Männer und Frauen stärkt, unterscheidet. Mehr Kaffee für die Frauen, mehr Kamillentee für die Männer. Als Grundregel kann gelten: Frauen müssen die spirituellen Dimensionen der Aggression erkunden, Männer sich in den Disziplinen des Nachgebens, der Fürsorge und des Staunens üben. Wie ich in Feuer im Bauch zu zeigen versucht habe, sind die meisten Eigenschaften und Rollen, durch die wir traditionellerweise Männer und Frauen, männlich und weiblich, definiert haben, künstlich. Die Aufteilung der Tugenden entlang der Geschlechterlinien Männer sind rational, aggressiv, kriegerisch; Frauen sind emotional, intuitiv, empfangend, nährend ist ein fester Bestandteil der Wege, durch die unsere Persönlichkeit und unser Ich in unserer Kultur geformt und verformt werden. Der Geist, unser Vermögen, die Konditionierung durch unsere Familie und unsere Kultur zu überwinden, kennt kein Geschlecht, keine Nationalität, keine Klassen, keine Farbe, keine Rasse.

Den ersten Teil der spirituellen Reise sollte man eigentlich eher als psychologisch denn als spirituell bezeichnen; denn dazu gehört, die Mythen und Illusionen abzustreifen, die uns in die Irre geführt haben. Vielleicht begreifen wir allmählich, daß wir nur dann seelenvolle Menschen werden, wenn wir die Prädikate Nationalität, Rasse, Geschlecht, Klasse, Hautfarbe transzendieren, die bis dahin unsere Identität definiert haben. Während der psychologischen Phase der Reise beschreiten Frauen und Männer gegensätzliche und komplementäre Wege, um wiederzuerlangen, was man ihnen in der jugendlichen Entzweiung in Geschlechterklassen verweigerte.

Wenn Männer und Frauen sich der Gaben und Wunden des biologischen Geschlechts bewußt werden und die Geschichte der Entfremdung zwischen den Geschlechtern in ihre Lebensgeschichten einverleiben, dann begeben sie sich auf die gemeinsame Reise, die ich in diesem Buch nachzeichne. Wenn Feuer im Bauch eine Erkundung der einzigartigen Erfahrung darstellt, die die Erfahrungen von Männern (und Frauen) färbt, dann ist Hymne an einen unbekannten Gott eine Landkarte der Wege, die wir gemeinsam gehen, wenn wir die Fragen der Männlichkeit und Weiblichkeit, der männlichen und weiblichen Rolle, weit hinter uns gelassen haben.

Die Suche nach dem Geist, nach Gott, ist letztlich die Suche nach uns selbst in allen unseren Höhen und Tiefen. Es ist die Aufgabe von Jedermann und Jederfrau und jeder Heldenreise, die Gewißheiten und Zweifel zu überwinden und unser altes Wissen und Selbstverständnis hinter uns zu lassen, und zwar in Richtung einer sich immer weiter entfaltenden Wahrheit. Das war, ist und wird immer das größte Abenteuer des Menschen sein. 

Bitte nehmen Sie mit mir an dieser Reise teil, die die Verheißung birgt, uns in die Richtung dieses Unbekannten Gottes zu führen, dem wir uns überlassen können und der uns mit einem Gefühl für die Heiligkeit unseres Lebens erfüllt.

 

  

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