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Einführung von Thomas Kiernan 1974

 

 

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Die moderne Psychotherapie in all ihren Ausprägungen ist für Laien wie für Fachleute ein Irrgarten unterschiedlichster, zum Teil unvereinbarer Theorien, Prinzipien, Methoden und Techniken. In diesem verwirrenden Labyrinth begegnet man Psycho­therapeuten verschiedenster Herkunft und Ausbildung sowie Patienten und Klienten, die unter den vielfältigsten psychischen Beschwerden und Störungen leiden und dringend nach Linderung suchen. Sich mit der Aura unfehlbarer »Heiler« umgebende Scharlatane konkurrieren mit weithin renommierten Psychoanalytikern, deren Ansehen allmählich im Schwinden begriffen ist.

Heutzutage hat keine psychotherapeutische Schule mehr eine Monopolstellung inne, auch nicht in den Vereinigten Staaten, wo die Psychoanalyse, aus Deutschland vertrieben, über Jahre hin ihren Ruf als »Königin« der Psychotherapie behaupten konnte. Dort wie in anderen westlichen Ländern wetteifern im Schnellverfahren ausgebildete Therapeuten und Berater sowie »an-psycho­logisierte« Laien mit Medizinern und Psychologen, die eine intensive, zeitraubende Ausbildung genossen haben, um die Gunst eines zumeist zahlungskräftigen Publikums.

Das Verhältnis bestimmter gesellschaftlicher Schichten zur Psychotherapie erinnert bisweilen an religiöse Gläubigkeit. 

Ohne eine Mischung gewisser moderner Einstellungen wie Selbstbeobachtung, Selbstzweifel, das Streben nach Steigerung von Kontakt- und Kommunikations­fähigkeiten hätte Sigmund Freuds »Wissen­schaft der Seele« das Verständnis vom Menschen und seinen psychischen Funktionsweisen kaum in solchem Maße revolutionieren können. 

Faszination durch das Geheimnisvolle, Leicht­gläubigkeit und Naivität haben sicher ihren Teil dazu beigetragen, daß die psychotherapeutische Szene sich heute über große Teile hin wie ein Tummelplatz von aberwitzigen, bizarren Theorien und Praktiken ausnimmt.

Seit Freuds Zeiten hat sich die Psychotherapie aufgesplittert in Hunderte von Schulen, die sich auf zahllose Theorien, methodische Lehrsätze und Behandlungs­techniken berufen. Unterdessen scheinen die psychischen Probleme und Störungen sich ins Uferlose auszudehnen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das wachsende Bewußtsein für psychologische Fragestellungen einen günstigen Nährboden abgibt, auf dem psychische Beschwerden hemmungslos wachsen können. 

Die unübersehbare Zahl von Theorien und Techniken, die sich vor uns ausbreiten, legt den Schluß nahe, daß die Psychotherapie ihre Möglichkeiten erschöpft hat, daß die bisher eingeschlagenen Wege nicht weiterführen und daß sie — und dies ist das Bedenkliche — heutzutage mehr Probleme hervorbringt, als sie zu beseitigen vorgibt.

Diese Schlußfolgerung scheint eine Reihe von Untersuchungen zu bestätigen, die sich mit der Frage beschäftigten, wie es um die Wirksamkeit und Nutzanwendung der Psychotherapie in allen ihren Variationen bestellt ist. Die Untersuchungen kommen mehr oder weniger übereinstimmend zu zwei wichtigen Ergebnissen: 

Erstens, den psychotherapeutischen Methoden gelingt es in nicht mehr als der Hälfte aller Fälle, Patienten von ihren psycho-neurotischen Symptomen zu befreien und dauerhafte Verhaltens- und Persönlichkeits­änderungen herbeizuführen; 

zweitens, die immer wieder aufgestellte Behauptung, psychotherapeutische Verfahren könnten psychische Krankheiten heilen, erweist sich bei näherem Zusehen als zumindest fragwürdig, wenn nicht unhaltbar.

Es scheint sich ferner herausgestellt zu haben, daß ein großer Teil der Neurosen und anderer psychischer Störungen, von denen viele Menschen betroffen werden, innerhalb von etwa zwei Jahren, gewöhnlich in noch kürzerer Zeit, auch ohne psycho­therapeutische Behandlung gleichsam von selbst verschwindet, das heißt spontan heilt.

Die Psychotherapie ist offensichtlich als Behandlungsmethode zur Beseitigung psychischer Komplikationen in mancher Beziehung stark überschätzt worden. Doch sie ist, vor allem aufgrund der »Werbung«, die für sie betrieben wird, nach wie vor die weithin für einzig wirksam gehaltene Methode zur Lösung seelischer Probleme, und sie scheint, sofern das überhaupt noch möglich ist, immer beliebter zu werden.

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Ein Beweis dafür ist unter anderem das umfangreiche Angebot an Büchern zu Themen der Psychologie und Psychotherapie, wie es vermutlich auch in der Buchhandlung zu finden ist, in der Sie das vorliegende Buch erworben haben.

Das bringt mich auf die zentrale Absicht, die mich bewogen hat, dieses Buch zu schreiben, nachdem ich mich zuvor gründlich umgesehen hatte. Wer ein solches Buch schreibt, der gerät in starke Versuchung, die psychotherapeutische Industrie — denn darum handelt es sich mittlerweile — in Bausch und Bogen dem allgemeinen Spott anheimzugeben. Für mich war die Versuchung um so größer, als ich in den langen Monaten meiner Beschäftigung mit diesem Thema auf einige unglaubliche Mißstände und auf Theorien und Techniken gestoßen bin, die in ihrer Abwegigkeit kaum noch zu überbieten sind. Aber ich hätte es mir zu leicht gemacht, wenn ich der Versuchung nachgegeben hätte, ganz abgesehen davon, daß es ungerecht gewesen wäre gegenüber vielen Psycho­therapeuten, die ernstgenommen werden müssen, die aufrichtig an das glauben, was sie tun, und die auch Erfolge erzielen. 

Es wäre auch ungerecht gewesen gegenüber Tausenden von Menschen, von Leidenden und Gestörten, die keine andere Möglichkeit haben, als zu versuchen, sich über den Weg einer psychotherapeutischen Behandlung Linderung und Heilung ihrer realen psychischen Probleme zu suchen, und denen es an Informations- und Orientierungshilfen fehlt, um unter den verschiedenen Therapiemethoden jene auszuwählen, die zur Beseitigung ihrer Schwierigkeiten am geeignetsten ist.

Mißstände aufzuspüren ist eine alte, ehrwürdige Tradition westlicher Aufklärungsliteratur, und in der Psychotherapie lassen sich genügend Mißstände finden, die im einzelnen darzustellen sich lohnen würde. Doch dieses Buch soll ein kritischer, auch dem Laien verständlicher Führer durch die verschiedenen Therapien sein, und ich habe mir die Aufgabe gestellt, den Leser über Ähnlichkeiten, Unterschiede und Unvereinbarkeiten unter den zahlreichen gegenwärtig praktizierten Therapien zu informieren.

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Wer in den Buchhandlungen die mit Psychologie-Literatur vollgestellten Regale durchsieht und in den Prospekten der Verlage blättert, dem muß auffallen, daß es zwar zahlreiche Bücher gibt, die für bestimmte Psychotherapien und die von ihnen vorgeschlagenen Wege zur seelischen Gesundheit werben, aber kaum ein Buch, das in möglichst objektiver Form über die verschiedenen Theorien, Techniken und Schulen des psycho­thera­peutischen Dienstleistungs­gewerbes Auskunft gibt, Auskunft, die auch der ratsuchende Laie verstehen kann. Das vorliegende Buch soll ein derartiger Leitfaden sein, ein für den Laien geschriebener Leitfaden, der das Thema, das er sich gestellt hat, kritisch, aber doch, so hoffe ich, objektiv behandelt.

Als sein Verfasser stehe ich nicht an, bestimmte persönliche Grenzen zuzugeben. Zunächst bin ich kein professioneller Psychotherapeut, kein Mann, der in der Praxis steht, ein Umstand, den einige Leser möglicherweise als Segen empfinden werden. Ich fühle mich nicht an eine bestimmte Therapieform gebunden und gebe keiner von ihnen den Vorzug vor allen anderen. Außerdem habe ich keine intensive Ausbildung in einer psychotherapeutischen Methode genossen. Doch ich habe ein ziemlich umfassendes Hochschulstudium in Psychologie und benachbarten Disziplinen hinter mir, habe außerdem bei Buch- und Forschungs­projekten eng mit Psychotherapeuten zusammengearbeitet und bei gründlichen Forschungen für dieses und frühere Bücher eingehende Kenntnisse über Psychotherapien und Psychotherapeuten gewonnen. 

Zur Aneignung praktischer Erfahrungen habe ich mich einer Reihe von Psychotherapien unterzogen und mehr als 60 Psychotherapeuten aller Richtungen und annähernd 200 in psychotherapeutischer Behandlung befindliche oder ehemalige Patienten in vielen Stunden interviewt.

 

In meinem Buch habe ich versucht, die Vielfalt psychotherapeutischer Auffassungen und die weniger auf wissenschaftlicher Grundlage als vielmehr auf Kunstfertigkeit des jeweiligen Psychotherapeuten beruhenden Methoden und Techniken darzustellen. Mit diesem Psychotherapie-Führer möchte ich den Leser in die Lage versetzen, Wert und Wirksamkeit der unterschiedlichen Therapieformen beurteilen zu können.

In der Psychotherapie hängt vieles von nicht leicht zu beweisenden Ansichten und Mutmaßungen ab, und so muß dem Leser die Entscheidung überlassen bleiben, welchen Ansichten er sich anschließen will. Da die Ansicht eines Menschen vermutlich genausoviel wert ist wie die eines anderen, verzichte ich darauf, weitere Entschuldigungen dafür vorzu­bringen, daß ich auf dem Gebiet der Psychotherapie ein gebildeter Laie bin.

Psychologie und Psychotherapie sind zwei nicht nur begrifflich schwierige und aufwendige Wissensfächer; sie bedienen sich darüber hinaus auch einer Denk- und Ausdrucksweise, die für Uneingeweihte nicht leicht zugänglich ist. Zyniker behaupten sogar, die Unklarheiten der Denk- und Ausdrucksweise seien eigens zu dem Zweck eingebaut worden, um den psychologischen Disziplinen mehr Gewicht und Ansehen zu verleihen. 

Dieses Buch ist für Laien geschrieben, das heißt, daß ich den Leser weder für überragend intelligent noch überdurch­schnittlich unwissend halte. Psycho­therapeutische Fachleute kann ich nur um Nachsicht für terminologische Unzulänglichkeiten und inhaltliche Verkürzungen bitten. Sie, der Leser, haben vermutlich zu diesem Leitfaden gegriffen, weil Sie sich aus diesem oder jenem Grund für psycho­therapeutische Fragen interessieren. Und wenn dem so ist, dann besteht die Wahrscheinlichkeit, daß sie einigermaßen gebildet sind und in einem gesellschaftlichen und kulturellen Milieu leben, dem Begriffe und Ausdrucksweisen der Psychologie und Psychotherapie nicht ganz fremd sind. 

Obwohl ich versucht habe, Sprache und Begriffe der Psychotherapie möglichst zu vereinfachen, ist es schlechthin unmöglich gewesen, dem Thema mit einer Sprache gerecht zu werden, die auch das sprichwörtliche Lieschen Müller versteht. Es bleibt mir nur zu hoffen, daß Sie Sprache und Begriffe, wie ich sie verwandt habe, für brauchbar und angemessen halten werden — weder für allzu vereinfacht noch für allzu undurch­sichtig. Schließlich wünsche ich mir, daß Sie mit dem Kauf des Buches eine nützliche Informations­quelle und außerdem eine interessante Lektüre erstanden haben.

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Thomas Kiernan
New York, 1974

 

 

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