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11.  Weitere analytische Psychotherapien

 

 

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Freud starb 1939. Nicht lange danach gewann die von den Auffassungen Adlers, Reiks, Horneys und Sullivans geprägte sozial-humanistische Richtung in der Psychoanalyse Einfluß in Amerika. Und dann dauerte es wiederum nicht lange, da sah es so aus, als ob es kaum einen Psychoanalytiker auf der Welt gäbe, der nicht mit einer eigenen revolutionären neuen Theorie über Ursachen, Behandlung und Heilung der Neurose daherkäme. Die meisten dieser Theorien waren zum Glück kurzlebig, aber einige - weitgehend Variationen zu den Themen der Lehre über die Sozialfaktoren - fanden Anhänger und haben sich in verschiedenen Aufmachungen bis auf den heutigen Tag erhalten.

Erich Fromm

Einer der jüngeren Psychotherapeuten, die sich mit Karen Horney und Harry Stack Sullivan bei den wöchentlichen Zusammenkünften im »Zodiac Club« trafen, war ebenfalls ein Flüchtling aus dem Nazi-Deutschland, ein Soziologe und Psychologe mit Namen Erich Fromm. Fromm wurde Mitglied der Association for the Advancement of Psychoanalysis, nachdem Horney nach ihrem Ausschluß aus dem New York Psychoanalytic Institute diese Gesellschaft gegründet hatte; aber 1943 folgte er Sullivan, als dieser sich von der Horney-Gruppe trennte. 

Fromm stimmte den kulturell orientierten Ansichten von Horney und Sullivan in voller Überzeugung zu, obwohl er später zu der Auffassung kam, daß Horneys therapeutische Praktiken für den einzelnen Patienten weitgehend wirkungslos seien, sofern nicht entsprechende Methoden auch für die Kultur erdacht und auf sie angewandt werden können, für die Kultur nämlich, die den Neurotiker zu dem gemacht hat, was er ist.

Auch meinte er, daß die Sullivansche interpersonale Methode nicht ausreiche für den Kampf gegen Neurosen; er sah die individuelle Neurose als eine sich ausbreitende Krankheit an, die von der Gesellschaft verursacht ist und zugleich die elementaren Mängel der Kultur aufzeigt. Die einzige Möglichkeit, die Neurose zu heilen, bestehe darin, alle und jeden einer Psychoanalyse zu unterziehen und damit die Gesellschaft insgesamt zu heilen. Da das schlechterdings unmöglich ist, versuchte Fromm dieses Ziel dadurch zu erreichen, daß er Bücher schrieb, in denen er die Leiden der Gesellschaft analysierte und soziologische Ratschläge gab, um sie zu heilen.

Mit Büchern wie Kunst des Liebens und Die Furcht vor der Freiheit wurde Fromm der große Philosoph der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft; Hunderte von angehenden Psychoanalytikern übernahmen sein Grundprinzip.

Die Frommsche Analyse weicht nicht wesentlich von den analytischen Techniken Horneys und Sullivans ab, doch sie fügt der analytischen Methode und dem therapeutischen Ziel eine neue Dimension hinzu. Diese Dimension besteht darin, daß Fromm ausdrücklich hervorhebt, die individuellen Probleme des Patienten seien in einem größeren soziologischen Bezugsrahmen zu betrachten.

Der Frommsche Analytiker sieht den Patienten - und möchte von ihm so gesehen werden - vor dem Hintergrund der gesamten Gesellschaft; damit hilft er dem Patienten, einen Teil seines Schuldgefühls über seinen Zustand auszuräumen, und zwingt ihn gleichzeitig, seinen kleinen Teil Verantwortung sowohl für seinen Zustand als auch für den Zustand der Gesellschaft zu übernehmen. Der Neurotiker ist nicht nur ein Opfer, er hat auch unbewußt zugestimmt und daran mitgewirkt, daß er Opfer wurde, weil er sich bisher widerstandslos der beeinträchtigenden Gesellschaft verbunden fühlte. Wenn er die unmittelbare kausale Dynamik seiner Neurose versteht, dann ist das nur ein Teil einer wirkungsvollen Behandlung. Damit die Behandlung wirklich erfolgreich ist, muß der Patient auch seine Rolle in der kausalen uynamik verstehen, und das kann nur erreicht werden auf dem Wege über psychosoziologische Erkenntnisse. Sobald er diese

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Erkenntnisse erlangt hat, wird der Patient bewußt ablehnen, sich weiterhin selbst zum Opfer zu machen, und wird sich bemühen, die Gesellschaft zu ändern, damit eine solche Dynamik schließlich nicht mehr wirksam werden kann.

Der Frommianer glaubt, daß der Mensch von Natur aus zur Individuation fähig sei, daß er kreative Lösungen für seine Probleme zu finden und rationale Anpassung an seine Umwelt zu erreichen vermöge. Dem entgegen steht indes sein regressives biologisches Erbe, das ihn dazu verleitet, zugunsten seiner Triebregungen, der sozio-kulturellen Zwänge und Autoritäten auf seine Selbstbeherrschung zu verzichten. Nach der Frommschen Theorie gehört das Dilemma des Menschen und daher sein Problem einfach zu seinem Dasein; seine einzigartige evolutionäre Stellung befähigt ihn, sich dafür zu entscheiden, daß er sich der Sicherheit der triebhaften Kontrolle seines Verhaltens begibt zugunsten des Strebens nach individueller menschlicher Freiheit. Aber der Preis für diese Freiheit ist Einsamkeit und Isolierung. Wenn seine sozio-kulturelle Umwelt störungsfrei ist, kann sie sein Wachstum, seine Eigenliebe und sein Selbstverständnis fördern, ihn befähigen, andere zu verstehen und zu lieben und die Freude harmonischer Beziehungen und der Verbundenheit zu empfinden. Ist seine Umwelt ungesund, kann sie falsche Bedürfnisse und ein Streben nach falscher Sicherheit in ihm wecken - die Quelle seiner größten Schwierigkeiten. Die Neurose zu behandeln bedeutet also, nicht nur die unmittelbaren psychischen Probleme des Frommschen Patienten zu behandeln, sondern auch seine Umwelt.

 

Franz Alexander

Als Karen Horney 1932 in die Vereinigten Staaten kam, bot ihr Franz Alexander, Gründer und Direktor des Chicago Institute of Psychoanalysis, den Posten eines stellvertretenden Direktors an. Alexander, ein ungarischer Psychiater, hatte Horney in Berlin kennengelernt und war erst kurz vor ihr nach Amerika gekommen. Karen Horney nahm das Angebot gern an, aber da Alexander ein strenger Freudianer war, wurde ihr Verhältnis bald gespannt, und Horney ging schließlich nach New York.

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Alexander blieb sein Leben lang dem Freudschen Grundprinzip treu, aber mit der Zeit stellten sich bei ihm Zweifel ein, ob die Langwierigkeit der Freudschen Psychoanalyse tatsächlich notwendig sei. Diese Therapiemethode schränkte nicht nur die Praxis eines Analytikers ein, sondern beeinträchtigte wegen ihrer Kosten auch die Ausbreitung der Analyse. So entwickelten Alexander und seine Mitarbeiter am Chicagoer Institut ein verkürztes Verfahren der Analyse, das als »Chicagoer Schule« oder »intensive kurzfristige psychoanalytische Therapie« bekannt wurde.

Alexander setzte die Bedeutung von Einsicht in der Therapie -das heißt, daß der Patient seine Motive völlig verstehen muß, ehe sein Zustand sich bessern kann - auf ein Mindestmaß herab, denn die Einsicht ist der Hauptgrund, warum die Freudsche Analyse so lange dauert. Anstelle der Einsicht setzte Alexander korrektive emotionale Erfahrungen, die er als Schlüssel für eine wirkungsvolle Therapie ansah. Das Vehikel solcher Erfahrungen war der Prozeß der Katharsis und Abreaktion.

Wenn Sie an einen Analytiker geraten sollten, der nach der Alexanderschen Methoden praktiziert, werden Sie wahrscheinlich feststellen, daß er in den ersten Phasen der Therapie sehr viel direktiver ist als ein eher traditioneller Analytiker. Schon in den ersten Sitzungen wird er versuchen, zu einer dynamisch orientierten Diagnose zu gelangen - einer weitgehend Freudschen allerdings -, und eine Entscheidung treffen, welche emotionalen Erfahrungen Sie machen müssen. Der Alexandersche Analytiker sieht die Wiedergewinnung verdrängter Erinnerungen nicht als irgendein mystisches Fundament der therapeutischen Entwicklung an, sondern eher als Zeichen dafür, daß eine Besserung eingetreten ist. Daher werden Sie zum freien Assoziieren aufgefordert, aber in einer viel intensiveren und konzentrierteren Weise, als es in der orthodoxen Analyse der Fall wäre. Der Analytiker wird versuchen, Sie unmittelbar an jene Erinnerungen heranzuführen, die er für die Ursache Ihrer Schwierigkeit hält, und wird ^e dann zwingen, sie so schnell wie möglich ans Licht zu bringe, damit die Katharsis-Abreaktion stattfinden kann. Mit jeder Abreaktion, die Sie durchmachen, kommen Sie der Linderung Ihres Problems näher.

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Der Alexandersche Analytiker ist flexibel in der Anpassung seiner Techniken an den einzelnen Patienten: Manche brauchen mehr Anleitung, andere weniger. Wenn er viel von einer intensiven Behandlung hält, wird er vier oder fünf Sitzungen in der Woche ansetzen; aber er wird Unterbrechungen eintreten lassen oder die Therapie sogar früher beenden, weil er der Meinung ist, wenn eine Behandlung zu lange dauert, werde das eine übermäßige Abhängigkeit des Patienten von der Therapie und dem Therapeuten begünstigen. Er legt beträchtlich weniger Wert auf die Übertragungsbeziehung als der traditionelle Praktiker und betrachtet die Therapie als eine »reale« Beziehung, von der der Patient sehr viel profitieren könne, auch ohne eine echte Übertragung. Schließlich wird der Alexandersche Analytiker eher dazu neigen, unmittelbare Maßnahmen zu verordnen, die der Patient ergreifen sollte, um sein Leben außerhalb der Therapie zu ändern.

 

Wilhelm Reich

Wilhelm Reich war ein weiterer der abtrünnigen Freudianer, die vor dem Krieg in die Vereinigten Staaten kamen und dort ein fasziniertes Publikum vorfanden. Im Gegensatz zu den anderen wurde er indes eine cause celebre, aus Gründen, die wenig mit der Praxis der Psychoanalyse zu tun haben.

Von allen Neofreudianern war Reich derjenige, dessen Ansichten am radikalsten von Freuds Auffassungen sowohl hinsichtlich der Neurosenlehre als auch der Therapiemethoden abwichen. Reich glaubte, daß der Charakter nicht eine Manifestation der Persönlichkeit sei, sondern aus Schichten von Widerständen oder Schutzmechanismen bestehe, als ein Panzer um die Persönlichkeit liege, der beseitigt werden müsse, ehe die Therapie beginnen könne. Der Panzer offenbare sich in der Körperbildung - mit anderen Worten, der menschliche Körper ist das physische Abbild des Seelischen, und der Therapeut kann nur über den Körper zum Seelischen gelangen.

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Reichs Theorie fand in der Welt der Psychologie und Psychotherapie zunächst ernsthafte Beachtung, bis er weitere Behauptungen über das Verhältnis zwischen Sexualität und Erotik einerseits und Therapie andererseits aufzustellen begann. Im Gegensatz zu Freud glaubte er, die Menschheit könnte ihre Kulturen ohne Unbehagen aufbauen, wenn sie nur zu lernen vermöchte, wie die Lebensenergie, die alles hervorbringt, nutzbar zu machen sei. Er behauptete, es gebe eine fundamentale, universelle Energie, die die ganze Natur durchströmt. Beim Menschen ströme diese Energie - keineswegs Freuds Libido - nicht ungehindert und rufe Krankheit und Desorganisation hervor.

Was ist diese fundamentale Energie der Menschheit? Was erklärt die Kontinuität in der Generationenabfolge? Die Sexualität, war Reichs Antwort. Die Sexualität ist der primäre menschliche Trieb, ja, der Urtrieb aller Lebewesen. Daher müsse die sexuelle Energie die menschliche Manifestation der fundamentalen Energie des Universums sein. Um den Menschen von seinen Mißlichkeiten zu befreien, müßten wir eine Methode finden, um diese Energie auf physiologisch harmonische Weise nutzbar zu machen und zu lenken. Durch die Harmonisierung der sexuellen Energie im Körper müßte die Seele ebenso harmonisiert werden.

Aber was ist das Wesentliche an der Sexualität? fragte Reich dann. Der Orgasmus, lautete seine Antwort. Im Orgasmus liegt das Geheimnis der Harmonisierung der sexuellen Energie und damit der universalen Energie.

Mittlerweile begannen die Leute sich über Reich zu wundern. War er ein Quacksalber, ein verrückter Wissenschaftler oder ein genialer Prophet? Diejenigen, die den beiden ersten Etiketten zuneigten, erhielten bald Antworten auf ihre Fragen, die ihnen gewiß als Bestätigung erschienen.

Nach Reichs Ansicht waren gute Orgasmen gewissermaßen das Fundament guter Gesellschaften. 1939 behauptete er, er habe im verlauf seiner Orgasmusforschungen die Lebensenergie des Universums isoliert. Er nannte diese Energie »Orgon« und baute »Akkumulatoren«, um sie zu speichern und zu kontrollieren.

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Seine Erfindung, den »Orgonkasten«, brachte er auf den Markt und versicherte, das konzentrierte Orgon könne Krankheiten heilen.

Der Orgonkasten wurde große Mode bei einem Teil der Öffentlichkeit, der die Heilung unheilbarer Krankheiten stets dringend ersehnt. Tausende von Menschen in verschiedenen Stadien unheilbarer Krankheiten bemühten sich um einen solchen Kasten. Sogar Leute mit leichten Krankheiten, sowohl seelischen als auch körperlichen, kauften die Kästen und waren übereinstimmend der Meinung, nach dem Sitzen darin fühlten sie sich besser.

Wiederum die Macht der Suggestion? Wer weiß. Jedenfalls nahm die Federal Food and Drug Administration, die US-Behörde für Lebensmittel- und Drogenüberwachung, Anstoß an Reichs Behauptungen; die Verkäufe wurden schließlich verboten, Reichs Kästen vernichtet und sogar einige von seinen Büchern und Schriften verbrannt. Er wurde wegen Mißachtung des Gerichts zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und starb 1957 im Alter von 60 Jahren an einem Herzanfall im Gefängnis - wie manche behaupten, in geistiger Umnachtung.

Die Reichsche Tradition lebte indes fort, und heute kann man von einer Erneuerung der Therapie sprechen, die auf Reichs Theorien über Orgon, Sexualität, Orgasmus und die Leib-Seele-Beziehung beruht. Die meisten Reichschen Therapeuten haben seine Behauptungen, er habe die universelle Lebensenergie nutzbar gemacht, ad acta gelegt, rechnen es ihm aber als Verdienst an, daß er eine Korrelation zwischen sexueller Energie und universeller Energie gefunden hat. Sie halten die sexuelle Energie für die menschliche Manifestation der universellen Energie, die das Gleichgewicht der ganzen Natur aufrechterhalte, und glauben wie Reich, daß Kurzschlüsse der sexuellen Energie die Ursache des psychischen Elends der Menschen seien. Da der Orgasmus der Höhepunkt der sexuellen Energie sei, müßten Störungen im Fluß dieser Energie daher rühren, daß der Orgasmus jahrhundertelang von den Menschen schlecht gehandhabt worden sei.

Auch sei der Körper das Spiegelbild der Seele und die Sexualität die höchste Funktion des Körpers. Da der Orgasmus den Höhepunkt der Sexualität bildet, ist er das Erlebnis, welches das

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äußere Erleben des Menschen am klarsten und unmittelbarsten nüt seiner Psyche verbindet. Mit anderen Worten, ein gesunder Orgasmus bedeutet eine gesunde Seele.

Mit diesen und anderen Elementen der Reichschen Theorie als Ausgangspunkt für seine Therapiepraxis unternimmt esderReich-sche Therapeut, den Patienten durch einen Prozeß zu führen, bei dem zuerst die körperlichen Abwehrmechanismen beseitigt werden, um auf diese Weise die entsprechenden seelischen Abwehren auszuschalten; dann wird der aufnahmefähigen Psyche mit Hilfe ihres menschlichen Äquivalents ein ausgewogener Strom universeller Energie zugeführt - eine richtig erzeugte Sexualenergie, gesundet durch die voll ausgeschöpfte und verwertete orgastische Potenz.

Der Orgasmus ist also das Kernstück der Reichschen Therapie. Zur Beseitigung der Abwehrkräfte wird eine Vielzahl von Techniken angewandt, dazu gehört Schreien, Schlagen und forciertes Erbrechen, um den »Muskelpanzer« zu lockern - die Starrheit des Körpers, von der Reich annahm, daß sie den gesunden Strom des Orgons hemme, und von der seine Schüler behaupten, daß sie den gesunden Strom der Sexualenergie behindere. Gleichzeitig mit dieser Phase der Therapie werden die eigentlichen Techniken zur Verbesserang der Qualität, Beständigkeit und Potenz des Orgasmus angewandt, um einen stärkeren und ausgeglicheneren Strom sexueller Energie in das psychische System zu gewährleisten.

Diese Techniken sind von Therapeut zu Therapeut verschieden, aber gewöhnlich gehören dazu Masturbation, gegenseitiges Ma-sturbieren, Geschlechtsverkehr, andere Formen der sexuellen Interaktion und ein allgemeines Versinken in erotische Gefühle und Vorstellungen - immer eingedenk des Ziels, die Intensität und damit die Qualität des Orgasmus zu verbessern. Die Reich-sche Therapie wird einzeln oder in Gruppen verabfolgt, obwohl letzteres vorgezogen wird, weil damit mehr Anlaß zu erotischer Erregung gegeben ist.

Die Reichsche Therapie ist in gewisser Beziehung äußerste Sexualtherapie, wenngleich es ihr erklärtes Ziel ist, die Ursachen der allgemeinen Neurose zu beseitigen, und sie sich nicht darauf

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beschränkt, sexuelle Leistungen zu steigern. Wie Sie sich vorstellen können, wird nicht viel Reklame dafür gemacht; aber wenn Sie glauben, daß Ihre psychischen Probleme mit Hilfe der Reichschen Methode gemildert werden können, werden Sie wohl durch irgendein Institut für Gruppentherapie eine Adresse bekommen. Doch seien Sie sich darüber klar, daß die Reichsche Therapie sowohl physische als auch emotionale Anforderungen an Sie stellen dürfte, die Sie sich bislang nicht vorstellen können.

 

Die Existenzanalyse

 

Ein weiterer moderner Psychoanalytiker, der wie Horney und Fromm eine Reihe populärer Bücher geschrieben hat, ist Rollo May. Er war Schüler von Adler und eine Zeitlang Verfechter der Neurosenlehre von Adler, Horney und Sullivan. Aber zu Beginn seiner Laufbahn hatte er sich in Europa aufgehalten und war dort mit der existentialistischen Bewegung in Berührung gekommen, die unter der anfänglichen Führung von Ludwig Binswan-ger das europäische Äquivalent zur amerikanischen Beschäftigung mit den Sozialfaktoren wurde.

Binswanger versuchte, das wissenschaftliche Verständnis vom Menschen auf die Struktur seiner totalen Existenz zu gründen statt auf eine psychologische oder behavioristische Theorie, weil er glaubte, daß diese Struktur allen psychischen - bewußten oder unbewußten - Strukturen vorausgehe und ihnen zugrunde liege. Seine Einstellung zur Psychoanalyse beruhte auf dem Argument, daß der Analytiker zuerst diese Struktur und die Art und Weise verstehen müsse, wie sie durch die Lebensgeschichte des Patienten modifiziert sei, und dann erst versuchen solle, den Patienten erfahren zu lassen, wie die Modifikation verhindere, daß er sich über die potentielle Fülle seines Menschlichseins klar wird. Der Analytiker geht eine Partnerschaft mit dem Patienten ein, die auf ihrem gemeinsamen Menschlichsein, ihrer harmonischen Verbindung und Liebe beruht.

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Binswangers Theorie war hervorgegangen aus dem existentialistischen Denken der deutschen Vorkriegs-Philosophen Martin Heidegger und Edmund Husserl, welche die Ansicht vertraten, daß die Existenz des Menschen, sein Dasein, seinem Wesen, dem Sosein, vorangehe, und daß sein Wesen nur unter dem Gesichtspunkt seiner Existenz verstanden werden könne. Als der Existentialismus, hauptsächlich dank dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre, in der Nachkriegszeit eine Art kultureller Volksbewegung wurde, faßte die existentialistische Richtung in der Psychotherapie auch in Amerika Fuß, und es kam zu einer gegenseitigen Befruchtung mit der bereits einflußreichen Richtung in der amerikanischen Therapie, die das Humanistische und die Sozialfaktoren in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt hatte. Die gegenseitige Befruchtung wurde auch dadurch gefördert, daß man intensiv über den Sinn der individuellen Existenz im Zusammenhang mit einer zunehmend technologischen und unpersönlichen Umwelt nachdachte. Heute ist die existentialistische Auffassung nicht mit einer bestimmten Schule der Psychotherapie gleichzusetzen, doch behaupten viele Therapeuten, daß sie Existenzanalyse praktizieren. Ebenso wie Rollo May, der wahrscheinlich bekannteste Existenzanalytiker, sind die meisten eher Psychologen als Mediziner.

Die Existenzanalyse geht davon aus, daß jede Neurose existentiell begründet sei. Sie behauptet, da jeder Mensch auf sein eigenes Dasein angewiesen sei, um sich selbst zu verstehen, sei er »allein« auf der Welt. Dieses Alleinsein wird dann verstärkt durch seine Bemühungen, in seinem Dasein einen Sinn zu finden. Da er bei diesem Streben durch die Gesellschaft behindert wird und ihm sein Alleinsein auch gar nicht richtig zum Bewußtsein kommt, verstärkt sich seine Isolierung, der Sinn rückt immer weiter in die Ferne, und der Mensch bekommt Angst - eine Angst, die eher existentiell begründet als das Ergebnis von Streß und Trauma ist, denn sie entsteht aus existentieller Einsamkeit. Die Folge sind Neurosen, und wie immer ihre Symptome sein mögen, es sind existentielle Neurosen. Zur Heilung bedarf es einer existentiellen Therapie: einer Therapie, die den Neurotiker zum Verständnis seines Alleinseins und schließlich zu dem Sinn hinführt, den er allein nicht zu entdecken vermochte.

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Existenzanalytiker bedienen sich der allgemeinen Methodologie der orthodoxen Psychoanalyse, doch legen sie auf spezifische Techniken viel weniger Wert. Die existentiellen Praktiker sind einhellig der Meinung, die westliche Kultur sei dermaßen technisch ausgerichtet, daß dadurch die wirkliche Qualität der menschlichen Funktionen zum großen Teil verloren gehe. Sie sind nicht der Meinung, daß auf Technik Verständnis folge, sondern erklären, daß die Technik dem Verständnis folgen sollte.

Die existentielle Psychotherapie versteht sich also als Anschauung vom Menschen, die dem einzelnen eine allgemeine Lebensund Einstellungsphilosophie vermitteln soll und keine spezifische Lebenstechniken. Das Ziel des Analytikers ist es, die spezifische Existenz seines Patienten in aller Tiefe und Vollständigkeit als ein »in der Welt Sein« zu verstehen - ein Ausdruck, mit dem die Existentialisten die Einmaligkeit der menschlichen Existenz bezeichnen. Keine Methode oder Technik ist angemessen, wenn sie für den einzelnen Patienten nicht angemessen ist. Das bedeutet, daß die analytischen Therapeuten, die sich als Existentialisten verstehen, eine Vielfalt von therapeutischen Methoden verwenden. Einige bedienen sich immer noch der Couch und der freien Assoziation wie die traditionelle Analyse, während andere ihren Patienten gegenübersitzen und womöglich viel oder auch wenig reden.

In gewisser Beziehung weichen allerdings alle Existenztherapeuten von der traditionellen analytischen Praxis ab, denn welche Technik sie auch anwenden, sie konzentriert sich immer auf die Gegenwart und weniger auf die Vergangenheit. Das ist das gemeinsame Element der existentialistischen Therapien - der Gedanke, daß die Existenz eines bestimmten Patienten in einem bestimmten Augenblick hier und jetzt die einzige Möglichkeit darstellt, um psychoanalytisches Verständnis zu erlangen. Mit anderen Worten, ehe der Patient sein Sosein verstehen kann, muß er sein Dasein verstehen.

In dieser Hinsicht messen die Existenztherapeuten dem Begegnungsfaktor in der Therapiebeziehung große Bedeutung bei; sie sprechen mit dem Patienten ausführlich über die Notwendigkeit, eine »reale Beziehung« herzustellen, die die vollständige und ungehinderte »Präsenz« des Therapeuten und des Patienten er-

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fordere, sowie über die Art dieser Beziehung. Die Beziehungsform ist nicht die traditionelle Freudsche Übertragung. Volle menschliche Präsenz bedeutet erheblich mehr als der von Freud als Übertragung bezeichnete mechanistische Gefühls- und Gedankenaustausch, bei dem sich die Beteiligten einander nähern wie Dingen oder Objekten. Es handelt sich vielmehr um einen fast mystischen Austausch; viele Existentialisten berufen sich auf die Religionsphilosophen Paul Tillich und Martin Buber, wenn sie diesen Austausch veranschaulichen wollen. In seinem Buch Ich und Du, das mit Elementen existentialistischen Denkens durchsetzt ist, unterscheidet Buber zwischen »realer« Beziehung oder »sinnvoller« Begegnung und dem mechanischen Austausch, wie ihn die »Übertragung« oder das Betrachten von anderen als Objekte bedeute. Laut der Existenzanalyse muß eine reale Beziehung - die auf Liebe, gegenseitiger Empathie und so weiter beruht - hergestellt werden, damit die Therapie sinnvoll ist. Denn ohne diesen Sinn wird die Therapie, die im Grunde ein Suchen nach dem tieferen Sinn ist, vergeblich bleiben.

Das letzte Ziel der Existenztherapie ist es, den Patienten dazu zu bringen, daß er seinem eigenen Erleben in voller Bewußtheit und Unmittelbarkeit entgegentritt und die schwer faßbaren und verborgenen Qualitäten seines Daseins als real hinnimmt. »Bewußtheit« ist der Schlachtruf der Existenztherapie, und der Therapeut wird den Patienten ständig mit nach Bewußtheit zielenden Fragen bombardieren - »Wer sind Sie?« »Wo sind Sie?« -, um die Bewußtheitsmechanismen des Patienten zu üben und ihm behilflich zu sein, sein eigenes Dasein zu erforschen, damit er die entsprechenden Antworten findet.

Das letztlich entscheidende Charakteristikum der Existenztherapie ist die Hervorhebung des Engagements. Wie die Existentialisten sich dieser Idee bedienen, ist manchmal schwer zu begreifen, aber sie bedeutet offenbar, daß ein Patient, ehe er neue Einsichten und neues Wissen erlangen kann, die notwendig sind, um bedeutsame Veränderungen in seinem Leben herbeizuführen, den Entschluß fassen muß, sich unwiderruflich auf eine existen-tialistische Ausrichtung des Lebens festzulegen. Dieser »Entschluß« wird gewöhnlich schrittweise in dem frühen und mittle-

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ren Stadium der Therapie gefaßt und geschieht teils bewußt, teils unbewußt. Es ist kein Entschluß im üblichen Sinne des Wortes, eher eine allgemeine Neuausrichtung der Daseinseinstellung und -auffassung - Rollo May hat dies »Einstellung zum Engagement« genannt.

May ist einer der führenden Verfechter und vielleicht der bekannteste Praktiker der Existenz-Psychoanalyse in Amerika. Aber die existentialistische Theorie der Analyse ist immer noch in Europa verwurzelt und fand vor allem Ausdruck in der Daseinsanalyse von Medard Boß, einem Schweizer Psychoanalytiker, der sowohl von Freud als auch von Jung geschult wurde, aber deren bio-deterministische Theorien über die Neurosenentstehung ablehnte und sich statt dessen den existentialistischen Gedanken des Philosophen Heidegger zuwandte.

Seinen Glauben an die Wirksamkeit der Techniken orthodoxer Analyse bewahrte Boß allerdings. Deshalb widmet sich die Daseinsanalyse nachdrücklich den Träumen und der Traumdeutung; Träume sind für sie nicht nur Bilder, Symbole oder Darstellungen, wie Freud behauptete, sondern werden als real betrachtet. Für die Daseinsanalytiker ist Träumen nur eine andere Weise des »in der Welt Sein« und enthüllt daher die realen Probleme des Träumers, nicht seine symbolischen. Im Traumzustand zeigen sich widerstrebende Verhaltensweisen, die im Wachzustand noch nicht akzeptiert werden und dem Träumer noch nicht zum Bewußtsein gekommen sind. Daher sind Träume für den Daseinsanalytiker ein wichtiges Hilfsmittel, um Art und Charakter einer »existentiellen Neurose« eines Patienten zu diagnostizieren.

Die Daseinsanalyse geht davon aus, daß alle Menschen, weil sie von Natur aus allein in der Welt sind, eine angeborene existentielle Angst haben. Bei Neurotikern hat sich diese Angst unbewußt intensiviert. Sie sind sich nicht im klaren darüber, wie begrenzt ihre Freiheit ist, denn sie haben niemals Freiheit kennengelernt. Das Ziel der Daseinsanalyse ist, ihnen zu zeigen, in welchen Bereichen und auf welche Weise ihre Freiheit begrenzt ist, und ihnen einen ersten Einblick davon zu vermitteln, daß die Möglichkeit einer größeren Freiheit besteht, als sie geahnt haben.

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Da es weder in Europa noch in den Vereinigten Staaten bedeutsame Untersuchungen über die Ergebnisse der existentiellen Therapiemethoden gibt, ist es sehr schwierig, deren Wirksamkeit zu beurteilen. Ihr Grundprinzip ist noch schwerer zu begreifen als das anderer Therapieformen, und alle von mir interviewten Personen, die sich einer Existenzanalyse unterzogen hatten oder noch dabei waren, mußten die Waffen strecken bei dem Versuch, sie einigermaßen genau zu erklären. Außerdem dachten die meisten von ihnen ernstlich daran, die Therapie abzubrechen, sofern sie es nicht schon getan hatten, da sich keine (für sie) meßbaren Ergebnisse eingestellt hatten.

 

Die Logotherapie

 

Eine weitere existentialistische Methode der Psychotherapie - obwohl es sich dabei strenggenommen nicht um eine Form der Analyse handelt - ist die von dem Österreicher Viktor Frankl entwickelte Logotherapie. Ihr lagen Frankls Beobachtungen von Häftlingen in deutschen Konzentrationslagern zugrunde, ferner die allgemeine Suche nach einem Sinn, die sich in den Nach-kriegsjahren erst in Europa und dann auch nach Amerika ausbreitete.

Für den Psychiater Frankl ist die primäre menschliche Motivation das Streben, im Leben einen Sinn zu finden. Der Mensch habe einen fundamentalen »Willen zum Sinn«. Umweltfaktoren, Vererbung und Triebe seien keineswegs die Determinanten des Verhaltens, denn die Menschen könnten wählen, was sie tun und was werden wollen, und könnten sich nach selbstgesteckten Zielen ausrichten. Indem sie Ziele verfolgen, verfolgen sie den Sinn ihrer selbst. Eine seelische Störung stellt sich ein, wenn ihr Willen zum Sinn frustriert wird.

Frankls Logotherapie, die heutzutage in den Vereinigten Staaten in beträchtlichem Umfang praktiziert wird, beruht auf dem oben dargestellten Grundprinzip. Die Auswirkungen von Frustrationen des Willens zum Sinn bezeichnet sie als existentielles Vakuum, die Beseitigung dieses Vakuums gilt als das Ziel der Therapie. Wenn ein Mensch unglücklich ist, dann als Folge da-

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von, daß sein Leben keinen Sinn hat und in ihm ein existentielles Vakuum besteht. Wenn er indes einen Sinn findet, ist er glücklich. Der Mensch kann also nicht nach Glück streben; Glück ist ein Nebenprodukt, nicht ein Ziel an sich.

Aber das Grundprinzip »Sinn« der Logotherapie hat nicht dieselbe Bedeutung wie das Grundprinzip »Sinn« anderer existen-tialistischer Therapien. »Es gibt keinen universalen Sinn des Lebens« schrieb Frankl in seinem Buch Man's Search for Meaning1, »sondern nur den einmaligen Sinn individueller Situationen.« Außerdem erklärt er, dieser Sinn müsse außerhalb des Individuums liegen: »Der Sinn, den ein Mensch zu erfüllen hat, ist etwas, das über ihn hinausweist, er ist niemals einfach in ihm.« Also ist der Mensch angehalten, sich nicht einen Sinn zu erfinden, sondern ihn zu entdecken. Dabei soll ihm die Logotherapie behilflich sein.

Der Ausdruck »Logotherapie« geht auf das griechische logos zurück, das sowohl »Wort« als auch »Vernunft« bedeutet. Worte und Denkfähigkeit des Menschen bilden gemeinsam den Sinn, den der Mensch Dingen beimißt. So ist also der »Logos« eines Menschen - seine Art, Sinn wahrzunehmen und zu artikulieren -Gegenstand der Therapie.

Zusammen mit verschiedenen Praktiken, die sie von traditionellen therapeutischen Methoden übernommen hat, wendet die Logotherapie eine Reihe von ureigenen Techniken an. Eine wichtige ist die sogenannte paradoxe Intention, die nach Ansicht der Logotherapeuten sehr erfolgreich sein soll bei der Behandlung von Zwangsneurosen und Phobien. Die paradoxe Intention beruht auf zwei Behauptungen: 1. wenn jemand befürchtet, daß etwas Unangenehmes geschehen werde, dann wird seine Erwartungsangst bewirken, daß eben das geschieht, was er fürchtet; 2. wenn jemand allzu sehr beabsichtigt oder wünscht, daß etwas Erfreuliches geschieht, dann verhindert seine Über-Intention, daß es geschieht. Um zu bekämpfen, was die Logotherapie als grundlegende Störmechanismen des menschlichen Seelenlebens ansieht - Erwartungsangst und Über-Intention -, fordert sie einen Patienten auf, genau das zu tun, wovor er sich fürchtet. Wenn ein 1 Beacon Press, Boston 1963, S. $6.

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Patient eine phobische Angst vor Schlangen hat, soll er Schlangen streicheln. Wenn er vorm Fliegen Angst hat, wird er in ein Flugzeug gesetzt. Die Behandlung soll eine Umkehrung der irrationalen Einstellungen des Patienten dadurch bewirken, daß seine Furcht durch einen paradoxen Wunsch ersetzt wird. Auf diese Weise, so lautet die Theorie, lernt der Patient, daß das, was er fürchtet und dem gegenüber er Erwartungsangst hat, nicht geschehen wird, eben weil er gelernt hat, es sich zu wünschen. Die Logotherapie sagt, dadurch, daß das Furcht-Wunsch-Reaktions-muster eines Menschen umgekehrt und somit befreit wird, wird auch der Mensch frei, um den richtigen Sinn der Dinge zu entdecken.

Eine weitere wichtige Technik der Logotherapie ist die Ent-reflexion. Sie wird angewandt zur Behandlung von Angst- und Zwangsneurosen, deren Hauptmerkmal die Neigung ist, sich ständig zu beobachten. Ziel ist, die Aufmerksamkeit eines Patienten von seinem Problem auf positivere Aspekte des Lebens zu lenken, etwa auf einen anderen Menschen oder eine Aufgabe.

Die Logotherapie geht etwa auf dieselbe Weise vor wie die verhaltensmodifizierenden Therapien, die heute immer beliebter werden, obwohl deren Grundprinzip ein anderes ist. Die Logotherapie versucht vielmehr, die erlernten Reaktionsmuster eines Patienten auf Umweltreize derart zu ändern, daß seinem »Logos« der reiche Fundus an Sinn in ihm und in den ihn umgebenden Dingen zugänglicher wird. Bei Phobien und zwangsneurotischen Störungen hat die Logotherapie ebenso wie die Verhaltenstherapie gewisse Erfolge erzielt. Was die Erfüllung der Gebote ihres philosophischen Grundprinzips betrifft - Gebote, die der Sinn-findung dienen sollen-, so hat die Logotherapie als Behandlungsform für jene Neurosen, zu deren Hauptsymptomen Sinnlosigkeitsgefühle gehören, indes wenig nachweisbaren Erfolg gehabt.

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Die Gestalttherapie

 

Eine weitere Methode der Psychotherapie ist die Gestalttherapie; sie stammt aus Europa und war eine Reaktion auf die orthodoxen Methoden. In Europa wurde sie stark von der existentialistischen, in Amerika von der sozialorientierten Bewegung beeinflußt. Die Gestalttherapie wird heute in den Vereinigten Staaten noch vielfach praktiziert.

Die Gestalttherapie erhielt ihren Namen von der Schule der Gestaltpsychologie, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland entwickelte; sie war der Auffassung, der Mensch könne psychologisch nur von seiner Ganzheit her verstanden werden. Indes war die Gestalttherapie weniger ein unmittelbares Nebenprodukt der Gestaltpsychologie als eine Gegenbewegung gegen die Freudsche Analyse und eine Konsequenz der späteren existentialistischen Bewegung. Sie wurde von Frederick (Fritz) S. Perls nach Amerika gebracht, einem deutschen Psychiater, der seine Ausbildung noch unter Freud erhalten hatte und dann in die Vereinigten Staaten ausgewandert war.

Die Gestaltpsychologie vertritt das Prinzip, daß die Gesamtheit des menschlichen Verhaltens mehr sei als die Summe von Verhaltenselementen. Und die Gestalttherapie übernahm dieses Prinzip. Nach der von Perls entwickelten Theorie ist die Persönlichkeit das Ergebnis eines Prozesses ständiger Bildung und Auflösung von wahrgenommenen Gestalten oder wahrgenommenen Ganzheiten. Perls stimmte mit vielen seiner anti-Freudschen Zeitgenossen überein, die versuchten, der Psychoanalyse eine mehr humanistische Ausrichtung zu geben, die darin besteht, daß der Mensch versucht, sein Verhalten aufgrund seiner Wahrnehmungen zu kontrollieren. Indes erklärte Perls, der wichtigste Aspekt der Wahrnehmungen des Menschen sei ihre Organisation - ihre Ganzheit oder Gestaltheit. Mangelhafte Organisation auf der unbewußten Ebene sei die bei weitem wichtigste Ursache von Neurosen.

Die Gestalttherapie ist auf Uber-Bewußtsein ausgerichtet. Das Ziel jedes Menschen sei es, die Gesamtheit seines Erlebens vollständig und richtig zu organisieren. Um das zu tun, muß er sich so vollständig wie möglich seiner selbst und anderer - seiner Ganzheit und Gestalt und der anderer - bewußt sein.

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Die Therapie ist auch auf das Hier und Jetzt ausgerichtet: Sie konzentriert sich darauf, das Bewußtsein des Patienten vom Hier und Jetzt und seine Empfänglichkeit für unmittelbares Erleben aufzubauen, statt zu versuchen, frühere Probleme zu lösen und Verdrängtes aufzudecken. Nach Auffassung der Gestalttherapie bricht bei der Neurose der Prozeß der fortschreitenden Bildung und Auflösung von organisierten Gestalten zusammen. Daß diese Organisation der Persönlichkeit teilweise scheitert, beeinträchtigt den vollen Kontakt zwischen dem ganzen Sein des Neu-rotikers und seinem Selbst und der Umwelt. Es verhindert volles Bewußtsein und Spontaneität, um den gegenwärtigen Augenblick richtig erleben zu können. Der Neurotiker nimmt die Außenwelt nicht genau wahr und ist sich oft nicht einmal seiner Körperprozesse bewußt. Er vermag seine Bedürfnisse nicht offen zu äußern und sich auf sie einzustellen. Er ist ganz von sich in Anspruch genommen, und seine Verdrängung von bedeutsamen Erlebnissen verhindert die Bildung starker Gestalten, worunter das »erlebte Phänomen« verstanden wird. Der Neurotiker hat einfach den vollen Kontakt mit seiner »Gegenwart« verloren oder sich selbst daran gehindert, ihn aufzunehmen.

Perls rechtfertigte die Gestalt-Auffassung mit der Behauptung, sie sei die einzige Form der Therapie, die sich unmittelbar mit den realen Ängsten des Patienten befaßt. Die Freudschen Therapien seien »Darüber-reden-Philosophien«, das heißt, sie bestehen auf Distanz und innerem Abstand, während sie über Ängste reden. Andere Therapien seien »Du-solltest-Philosophien«; sie beruhten auf Unzufriedenheit mit dem, was ist, und konzentrierten sich auf das, was sein sollte. Wieder andere - besonders existentialistische Therapien mit ihrer Suche nach Sinn - seien »Philosophien des Warum«, ihnen gehe es nur um die Frage, warum etwas so ist, wie es ist. In der Gestalttherapie, sagte Perls, kommt es allein auf gegenwärtiges Erleben an.

Ebenso wie Reich glaubte Perls, daß die Persönlichkeit eine Panzerung aus Widerständen gegen neues Erleben und auch Segen die Behandlung sei. Aber er war der Meinung, die Panze-

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rung könne überwunden werden, wenn der Patient davon abgehalten werde, über sich und seine Probleme zu reden, und vielmehr dazu angehalten werde, seine Gefühle und Einstellungen durch nicht-verbale Ausdrucksweisen zu offenbaren. Eine psychische Störung sei die Folge, wenn ein Individuum gewissen Dingen den Zugang zu seinem Bewußtsein verweigere; sein unvollständiges Bewußtsein mache ihn unfähig, die Dinge als sinnvolle Ganzheiten zu sehen. Das Ziel der Gestalttherapie ist es also, dem Patienten behilflich zu sein, die fehlenden Teile wiederherzustellen und eine voll integrierte Persönlichkeit zu erlangen, die zu umfassendem Bewußtsein, spontaner Reaktion auf die Umwelt und zu vollständiger Assimilierung des Erlebens fähig ist.

Perls hat eine deskriptive Theorie über den dynamischen Prozeß der Neurosenentstehung ausgearbeitet, die der Gestalttherapie ihre Wirkungskraft verleiht. Die Struktur der Neurose besteht danach aus fünf Schichten. Die erste ist die Schicht der Klischees, in der die zwischenmenschlichen Beziehungen nur aus Belanglosigkeiten bestehen. Die zweite ist die Schicht des Spie-lens oder des »Als ob«; der Neurotiker läßt nur eine Vorstellung von sich erkennen, nicht sein reales Selbst. Das ist nicht unähnlich der Theorie vom falschen Ebenbild Harry Stack Sullivans. Um etwas zu sein, das er nicht ist, treibt der Neurotiker Spiele und schlüpft in Rollen.

Was geschieht, wenn diese Schicht durchgearbeitet wird, wenn der Therapeut die Rollen beseitigt? Dann kommt die Anti-Existenz hervor, das Nichts, die Leere oder der tote Punkt, der gekennzeichnet ist durch eine phobische Haltung. Das ist die dritte Schicht. Auf dieses Gefühl von Sinn- und Ziellosigkeit folgt laut Perls das Erlebnis der Implosion, das heißt, der Neurotiker richtet seine Gefühle nach innen, statt nach außen - seine Energien sind erstarrt und verhärtet und nicht elastisch, spontan und expressiv. Wenn der Neurotiker aber dann mit der Leblosigkeit der implosiven Schicht in Berührung gekommen ist, wird die Implosion zur Explosion, und in dieser letzten Schicht sah Perls die Möglichkeit, die notwendige gestaltliche Reorganisation zu erreichen, um auf diese Weise die Neurose zu bewältigen. Im explosiven Stadium beginnt der Neurotiker endlich, seine aufgestauten Gefühle

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freizusetzen, wie abnorm sein Verhalten dann auch sein mag. Aber der Impuls, sich zu äußern, beherrscht ihn jetzt, und wenn diese Ausdruckskraft in Bahnen der »vollen gegenwärtigen Bewußtheit« gelenkt werden kann, vermag der Neurotiker ein »echter, ausdrucksfähiger, verantwortlicher, erlebender« Mensch zu werden.

Sollten Sie sich einer Einzel-Gestalttherapie unterziehen,2 werden Sie sicher feststellen, daß Ihr Therapeut außerordentlich stark mit Ihrer gegenwärtigen Situation beschäftigt ist. So wie die Gestalttherapie heute praktiziert wird, bleibt die Frage unberücksichtigt, warum Ihr Leben so geworden ist, wie es ist, oder was die vorausgegangenen Ursachen Ihres Problems waren. Die beiden wichtigsten Wörter im Vokabular des Gestalttherapeuten sind »jetzt« und »wie« - es sind »die beiden Beine, auf denen die Gestalttherapie geht und steht«. Die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft noch nicht. »Nichts existiert außer dem Hier-und-Jetzt«, erklärt Perls.3

Der Therapeut wird sich ständig auf das konzentrieren, was Sie jetzt sind; er wird erreichen wollen, daß Sie sich als ein jetztfühlendes und jetzt-erlebendes Geschöpf sehen. Wahrscheinlich wird er höchst aggressiv sein, vielleicht sogar scheinbar tyrannisch bei seinen Versuchen, Ihre wahren, realen, jetzigen Gefühle ans Licht zu bringen. Er ist geschult worden, Sie als verantwortlich für Ihre eigene »Seinsweise« anzusehen; daher müssen Sie zuerst mit Ihrer Verantwortung konfrontiert werden. Letztlich werden nur Sie selbst sich gesund machen können.

Durch sein unablässiges Sondieren wird der Therapeut versuchen, das Bewußtsein Ihrer jetzigen Funktionen zu stärken. Er wird danach trachten, Ihre Erlebnisfähigkeit zu steigern, indem er zum Beispiel die Taktik anwendet, daß er Ihnen verbietet, das Wort »es« und andere indifferente oder passive Redewendungen zu gebrauchen, von denen er glaubt, daß sie ein Mittel seien, um wirkliches, emotionales Erleben zu vermeiden. Er wird Sie herausfordern, wenn er meint, daß Sie Spielchen treiben (was prak-

2) Die Gestalttherapie hat auch bei der Entwicklung der Encounter-Gruppen-therapie, auf die ich gleich zu sprechen komme, eine wichtige Rolle gespielt. 

3) Gestalttherapie in Aktion, Stuttgart 1974.

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tisch dauernd der Fall sein wird, bis Sie in der Therapie versiert sind), und er wird Ihnen zusetzen, um Sie hinter Ihren psychischen Fassaden hervorzulocken. Er wird Ihre Emotionen auf Ihre körperlichen Empfindungen lenken, auf Ihre Wahrnehmungen von Ihrer Umwelt, auf Ihr sensorisches Bewußtsein und auf Ihre Gefühle für Sie selbst, für den Therapeuten und für andere -alles um der Erschließung Ihrer gegenwärtigen Erlebnisfähigkeit willen.

Der Gestalttherapeut sieht die Therapiebeziehung als eine Begegnung von zwei Menschen an, und diese Begegnung wird der Hauptmaßstab für die gegenwärtige Bewußtheit und das Erleben des Patienten oder Klienten.4 Die Gestaltpsychologen halten nichts von der »Deutung der Übertragung«, die ein wichtiger Teil der orthodoxen Analyse ist; für sie ist die Therapie eine reale, interpersonale Begegnung mit allem, was das einschließt, nicht eine Beziehung zwischen einem Fachmann und einem Untergebenen oder ein künstliches Abhängigkeitsverhältnis.

Um Ihre Bewußtheit von Ihrem eigenen Erleben zu fördern, damit Sie Ihre Probleme selbst lösen können und nicht von dem Therapeuten abhängig werden, wird er während der Therapie direkte Fragen kaum jemals beantworten. Statt dessen wird er Sie auffordern, Ihre Fragen als positive Aussagen neu zu formulieren, weil er die Theorie vertritt, daß das Üben von positiven Einstellungen die einzige Möglichkeit darstellt, um die für eine Besserung Ihres Zustandes notwendigen Fertigkeiten im Wahrnehmen und Erleben zu erlangen. Würden Sie den Therapeuten zum Beispiel fragen: »Was stimmt mit mir nicht?«, dann würde er nicht antworten, sondern darauf bestehen, daß Sie den Satz umdrehen und sagen: »Etwas stimmt mit mir nicht, und ich möchte herausfinden, was es ist.«

Sie werden Ihre Träume erzählen müssen, aber auch hier besteht ein Unterschied zur Technik der traditionellen Psychoanalyse. Die Gestalttherapie ist gegen die direkte Deutung von Träumen durch den Therapeuten; sie möchte den Patienten vielmehr

4 Wir kommen jetzt zu Therapien, bei denen oft der Begriff »Klient« statt »Patient« verwendet wird, und zwar aus Gründen, die ich bereits oben dargelegt habe.

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dazu bringen, die Bedeutung seiner Träume selbst herauszufinden. Für den Gestaltpsychologen hat die genaue Deutung von Träumen wenig therapeutischen Wert; wichtig ist die Bedeutung eines Traums als Wahrnehmung des jetzigen Erlebens des Patienten. »Wir deuten den Traum nicht«, sagte Perls, »wir wollen ihn wieder zum Leben erwecken.«

Kurz und gut, der Gestalttherapeut ist sehr aktiv und direktiv in seiner Methode. Seine grundlegende Technik ist psychoanalytisch, aber viele der spezifischen Techniken der orthodoxen Analyse kehrt er um, weil sich seine Therapie auf Ihre gegenwärtige Bewußtheit und auf Ihre Verantwortung für Ihr eigenes Wohlbefinden konzentriert. Da er glaubt, daß Ihre gegenwärtige Persönlichkeit eine Panzerung aus Widerständen ist, die beseitigt werden muß, damit Sie Ihre Gefühle voll erfahren können, wird er Sie in eine oft heftige emotionale Interaktion hineinziehen, Ihre Aussagen in Frage stellen, Ihre Gedanken angreifen und ärgerlich zurückweisen, was er für Ihre Tricks hält. Gleichwohl wird er zeitweise voller Mitgefühl und Ermutigung sein und insgesamt die Rolle eines strengen, aber liebevollen und verständnisvollen Elternteils spielen.

Forschungsmaterial über die Gestalttherapie ist praktisch nicht vorhanden. Die Gestalttherapeuten sind auf das Erleben ausgerichtete, auf die Gegenwart konzentrierte Praktiker (in der Mehrzahl eher Psychologen als Ärzte) und sehr stark an nicht-verbalen Ausdrucksformen interessiert. Die meisten Variablen der Gestalttherapie schließen in der Tat nicht-verbale Faktoren ein, über die sich Untersuchungen schwer durchführen lassen. Deshalb ist es unmöglich, einer objektiven, endgültigen Beurteilung der Wirksamkeit der Therapie auch nur nahezukommen.

Wir können lediglich die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß die Gestalttherapie immer mehr Anklang gefunden hat, seit Perls sie in Amerika einführte. Um sich einer abgedroschenen Redewendung zu bedienen: Etwas Richtiges muß ja wohl dran sein; oder zumindest erweckt sie genügend Erwartungen, um die Sensibilität der Öffentlichkeit anzuregen.

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Einige andere analytische Methoden

 

Wie bereits erwähnt, schossen in den Jahren nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten neue psychoanalytische und pseudopsychoanalytische Theorien wie Pilze aus der Erde, hauptsächlich weil die Richtung der humanistischen Psychotherapie, die den sozialen Faktor betonte, immer mehr Einfluß gewann. Es schien, als hätte fast jeder Analytiker auf der Welt die wahre und bisher unentdeckte Heilmethode für Neurosen entdeckt.

Die große Mehrzahl dieser Theorien starb schon bei der Geburt. Gleichwohl sind die meisten der populären Therapieformen, die wir gerade betrachtet haben, das Vermächtnis dieser Jahre; sie haben die Blütezeit der orthodoxen Analyse in den 1950er Jahren überlebt und sind in letzter Zeit, nachdem die orthodoxe Analyse allmählich ihre Vormachtstellung eingebüßt hat, mehr in den Vordergrund getreten. Es gibt noch andere analytische Schulen, die aus diesen Jahren stammen, zwar nicht die Verbreitung fanden wie einige der von uns berücksichtigten Therapien, sich aber dennoch am Leben erhielten und heute in beschränktem Rahmen noch praktiziert werden. Es ist unmöglich, sie alle hier zu besprechen, nicht nur aus Raumgründen, sondern auch, weil die Ähnlichkeiten zwischen ihnen erheblich größer sind als ihre Unterschiede. Einige von ihnen sollen indes kurz erwähnt werden.

Rationale Psychotherapie

Diese Form der Analyse beruht auf den Gedanken des Psychologen Albert Ellis, der seine analytische Prägung über Alfred Adler und Karen Horney auf Freud zurückführt. Der rationale Psychotherapeut vertritt hinsichtlich der Neurosenursache die Theorie über den Einfluß sozialer Faktoren und die allgemeinen Techniken der traditionellen Analyse. Er glaubt, daß Persönlichkeitsprobleme aufgrund der Unfähigkeit des Individuums entstehen, den unmöglichen Maßstäben entsprechend zu leben, die er sich selbst setzt, als Folge der durch seine ererbte und soziale Umwelt an ihn gestellten Anforderungen.

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In der Therapie versucht der Therapeut zu zeigen, wie irrational das Verhalten ist, zu dem der Patient durch seine unsinnigen Vorstellungsstrukturen gezwungen wird, die sich aus seinen ihm sozial auferlegten Maßstäben ergeben. Das Ziel der Therapie ist es jedoch nicht, die jeweilige Herkunft dieser Maßstäbe aufzuspüren, sondern den Patienten zu der Einsicht zu bringen, daß sie unrealistisch sind und daß ein weiteres Streben nach diesen Maßstäben es ihm unmöglich macht, in der Gegenwart rational zu leben. Der Patient muß also lernen, seine Maßstäbe einem mehr rationalen und erreichbaren Verhaltensmuster anzupassen.

Die rationale Psychotherapie entlehnt den größten Teil ihrer Theorie verschiedenen anderen Schulen, was ohne weiteres erkennbar sein dürfte. Ihre Anziehungskraft ist offenbar weitgehend darauf zurückzuführen, daß sie großen Wert auf die Gegenwart legt und daß sie pragmatische Methoden verfolgt, um psychische Schwierigkeiten zu beseitigen, die - wenn ihre Ursprünge auch anderswo liegen mögen - nach Ansicht des Patienten dringende Anliegen der Gegenwart sind.

Die Maslowsche Analyse

Dies ist eine weitere Variante des Freudschen Grundprinzips, die einen signifikanten Einfluß auf die Psychotherapie hatte, besonders auf die von Psychologen praktizierte Therapie. Diese Variante wurde in den Nachkriegsjahren von Abraham Maslow entwickelt, der bis zu seinem Tod Professor für Psychologie an der Harvard-Universität und Präsident der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft war.

Das Hauptcharakteristikum der Maslowschen Auffassung ist der Begriff der Selbstverwirklichung. Er postulierte, daß alle Menschen einen aktiven Willen zur Gesundheit haben; statt unter dem Einfluß einer starren und deterministischen psychischen Triebstruktur zu stehen, wie Freud behauptete, werden sie beherrscht von einer geschmeidigeren Hierarchie der Motivation, w der rein physiologische Bedürfnisse die am wenigsten wichtigen und rein psychische Bedürfnisse die wichtigsten sind. 

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Maslows Hierarchie beruht auf seiner Beobachtung, daß die meisten Menschen, selbst wenn ihre physiologischen Bedürfnisse voll befriedigt sind, für Neurosen anfällig sind. Wenn irgendein Bedürfnis nicht befriedigt wird, dann wird der Betreffende von diesem Bedürfnis beherrscht. Je höher der Rang ist, den das unbefriedigte Bedürfnis in der Hierarchie einnimmt, um so intensiver ist seine Herrschaft in psychischer Hinsicht. Das ist, roh umrissen, die Maslowsche Theorie der Neurosenbildung.

Zu den Bedürfnissen der höheren Rangordnung gehören Liebe, Zugehörigkeitsgefühl und Selbstachtung; die Bedürfnisse der höchsten Rangordnung sind Gerechtigkeit, Güte und Ordnung. Die Selbstverwirklichung findet statt, wenn alle diese Bedürfnisse befriedigt werden. Neurotische Störungen sind Anzeichen dafür, daß ein Bedürfnis oder mehrere nicht befriedigt werden. Das Ziel der Therapie ist, den Patienten zur Selbstverwirklichung zu führen, und zwar mit Hilfe analytischer Techniken, die ihm bewußt machen sollen, wie und warum seine dominierenden Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Die Techniken sind ihrer Herkunft nach im wesentlichen Freudsche, wurden von Maslow aber abgewandelt, um das Bemühen um die Selbstverwirklichung des Patienten zu unterstützen.

Die Maslowsche Therapie hat im Laufe der Jahre stärkeren Einfluß durch theoretische Formulierungen ausgeübt als durch ihre praktische Anwendung. Dennoch gibt es heute noch Psychotherapeuten, die ihre Praxis auf dem Maslowschen Grundprinzip aufbauen, in genügender Zahl, um die Maslowsche Auffassung interessant zu machen.

Die Eriksonsche Analyse

Von allen analytischen Richtungen, die in der Nachkriegszeit als Reaktion auf den Freudschen Triebdeterminismus entstanden sind und die sozialen Faktoren berücksichtigen, scheint ironischerweise die Methode, die in letzter Zeit den stärksten Anklang fand, die Analyse wieder zu ihren Anfängen zurückgebracht zu haben. Es ist die ursprünglich von dem Harvard-Psychologen Erik Erikson vertretene Auffassung.

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Damit soll nicht gesagt sein, daß die Eriksonsche Betrachtungsweise die Psychoanalyse in ihrer alten Form wiederhergestellt hat, sondern daß die Eriksonsche Analyse von allen Theorien nach Freud, die den humanistischen, zwischenmenschlichen Faktor hervorheben, dem Freudschen Modell am treuesten geblieben ist. Gewiß hat sie die Freudsche Theorie überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht, aber dennoch kommt sie heute von allen Nachkriegstheorien der orthodoxen Psychoanalyse am nächsten.

Erikson versuchte, die Freudsche Theorie neu zu formulieren, um sie in Einklang zu bringen mit den modernen Vorstellungen über die Auswirkungen von Gesellschaft und Kultur auf das Seelenleben des Menschen. Indem er das tat, erweiterte er Freuds Begriff vom Ich, räumte seiner Entwicklung vor denen der anderen psychischen Mechanismen Vorrang ein und fügte ihr Phasen hinzu, die über das Pubertätsalter, bei dem Freuds Konzeption stehengeblieben war, hinausgehen. Auch betrachtete er die Persönlichkeitsentwicklung nicht nur als psychosexuell, als entstanden aus der infantilen Sexualität, sondern als psychosozial, entstanden aus der Interaktion zwischen den biopsychischen Trieben des Menschen und den Umwelteinflüssen. Erikson glaubt, daß menschliches Wachstum epigenetisch sei - daß es sich nach den Richtlinien eines schon vorher bestehenden Plans entwickele, der, wenn er nicht durchkreuzt wird, in geistiger Gesundheit gipfelt. Wird der Plan indes durchkreuzt - sei es durch gestörte Triebregungen oder durch Umweltbelastung -, dann sind Neurosen die Folge. Und weil die Entwicklung des Menschen nicht nur durch Triebe, sondern durch Triebe und Umwelteinflüsse determiniert ist, liegt der unmittelbare Ursprung der Neurose nicht in dem ungelösten Ödipuskomplex, wie Freud meinte, sondern in der ungelösten Identitätskrise, die in der Adoleszenz eintritt.

Die Identitätskrise ist der Kernpunkt der Eriksonschen Analyse. Sie ist der entscheidende Maßstab für alles, was im Seelenleben eines Menschen zuvor geschehen ist, und die Determinante für alles, was nachher folgen wird. Daß der Patient sie erkennt und begreift, ist das Ziel der Therapie, denn nur durch ihre Auflösung im Bewußten und Unbewußten des Patienten kann die Neurose beseitigt werden.

Mit dem Postulat der Identitätskrise gelang es Erikson, sozial-existentialistische Ideen mit der orthodoxen Theorie zu verschmelzen, ohne grundlegende Freudsche Prinzipien gänzlich aufzugeben. Es war ein derart idealer Kompromiß, wie man ihn in den Jahren des Dogmenstreites nur hatte erhoffen können, und es gab (und gibt noch immer) viele Psychotherapeuten, die in der Eriksonschen Betrachtungsweise eine großartige Gelegenheit sehen, weiterhin eine mehr oder weniger traditionelle Analyse zupraktizieren, ohne unmodern zu erscheinen.

Die Eriksonsche Analyse verwendet praktisch alle Techniken der orthodoxen Analyse, mildert sie aber mit den Empathie-Sympathie-Techniken der humanistischen Therapien. Der Therapeut spielt eine viel aktivere Rolle und lenkt eher, statt autoritär zu bestimmen. Und da das Eriksonsche Grundprinzip erheblich weniger kompliziert ist als das Freudsche, verwendet er viel Zeit darauf, über Begriffe zu sprechen, die für die meisten Patienten realer und unmittelbarer sind als die verschnörkelten Begriffe der Freudschen Theorie. Bei diesen Konzepten handelt es sich vor allem um die Identitätskrise und ihre Auflösung. Da der Neurotiker die Identitätskrise als eine Art von emotionaler Grundlage seiner jetzigen Krise spürt und daher ihre Bedeutung, wie sie der Analytiker erklärt, leicht zu begreifen und ihre Merkmale aus der Erinnerung zurückzurufen vermag (im Gegensatz zu den Merkmalen des Ödipuskomplexes), erfordert die Eriksonsche Therapie im allgemeinen eine viel kürzere Zeit als die traditionelle Analyse.

Das Ergebnis scheint nach veröffentlichten Untersuchungen zu sein, daß die Eriksonsche Therapie eine höhere statistische Erfolgsrate hat als die streng Freudsche Analyse, vor allem auch deshalb, weil die kürzere Dauer die Patienten ermutigt, bis zum Ende durchzuhalten. Die von mir erwähnten Untersuchungen beruhen indes auf der Behauptung, daß das Erfolgsmoment in direktem Verhältnis zu der Zahl der Patienten steht, die die Therapie »vollenden«. Die tatsächliche Wirksamkeitsrate einer bestimmten Therapie läßt sich objektiv nur schwer ermitteln, wie alle, die es versucht haben, nur zu gut wissen. Daher kann man nicht viel über die Vorzüge der Eriksonschen Therapie gegenüber anderen Formen der Analyse sagen, abgesehen davon, daß sie eine kürzere und billigere Form der konventionellen Psychoanalyse ist. Ihr wirklicher therapeutischer Wert kann nur im Vergleich zum Wert der Psychoanalyse insgesamt beurteilt werden.

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