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   Rudi Dutschke  

 

 

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Auf der anderen Seite war die SED irritiert von den starken antiautoritären Tendenzen in der Studenten­bewegung, die sich nicht nur gegen den westlichen »Klassenfeind«, sondern auch gegen linke Traditionalisten und — nicht zuletzt unter dem Einfluß der »Abweichler« in China — zum Teil gegen den »real existierenden Sozialismus« selbst richteten. Namentlich Rudi Dutschke, der im Januar 1965 zusammen mit Bernd Rabehl in den SDS eingetreten war und wenig später in den Landesbeirat gewählt wurde, stieß mit seinem von Dieter Kunzelmann inspirierten Konzept der »subversiven Aktion« bei den Altgenossen auf Mißtrauen.

Als er im Vorfeld der Studentendemonstration vom Februar 1966 eine nächtliche Plakataktion organisierte, bei der die »Unterdrückten« zum »Griff zu den Waffen« aufgefordert wurden, wollte ihn die sogenannte »Alte-Keulen-Riege« im SDS wegen seines Vorpreschens am liebsten gleich aus dem Verband ausschließen.114)

Der mittlerweile wieder nach Berlin zurückgekehrte ehemalige SDS-Sekretär Barthel kommentierte den Vorfall gegenüber der Stasi: »Dutschke vertritt im SDS eine völlig anarchistische Position [...]. Ich halte es für erforderlich, daß den politischen Folgen der Tätigkeit dieser [seiner] Gruppe in Westberlin größte Aufmerksamkeit geschenkt wird.« 

Bei der Beurteilung der Leute um Dutschke sollte man sich nicht durch »sympathische Zeugnisse« ihrer Aktivität blenden lassen. Selbst wenn es ihnen nicht gelänge, im SDS eine Mehrheit zu erreichen, so würde doch die von ihnen in Gang gesetzte Auseinandersetzung für einige Zeit zur Lahmlegung, zur Diskreditierung und vielleicht sogar zum Auseinanderbrechen des SDS führen. »Nach meiner Beurteilung hat die Tätigkeit dieser Gruppe einen solch unsinnigen, provokatorischen Charakter, daß alles getan werden müßte, diese Aktivität zu ersticken.«115)

Auch Dietrich Staritz schilderte Dutschke dem MfS unmißverständlich als einen verschworenen DDR-Gegner, auf den es unter anderem zurückzuführen sei, daß bei der Vietnam-Demonstration im Dezember 1966 beinahe ein Bild von Walter Ulbricht verbrannt worden sei. »Dutschke«, so Staritz, »spricht ausschließlich vom Scheißsozialismus in der DDR.«116)

 

Tatsächlich hatte Dutschke einschlägige Erfahrungen mit dem SED-Sozialismus gesammelt. 1940 in Schönefeld bei Luckenwalde geboren, hatte er eigentlich Sportjournalist werden sollen. Doch weil er sich weigerte, den sogenannten »Ehrendienst« bei der Nationalen Volksarmee (NVA) abzuleisten, durfte er in der DDR nicht studieren und siedelte vier Tage vor dem Mauerbau nach Westberlin über — ein klassischer »Republikflüchtling«. Trotz seiner Schlüsselrolle in der Studentenbewegung ist über ihn in den Stasi-Hinterlassenschaften nur ein schmales, zweibändiges Personendossier überliefert, das erst in den siebziger Jahren wegen seiner Kontakte zu Wolf Biermann angelegt wurde und keinerlei relevante Spitzelberichte aus seiner Zeit als Studentenführer enthält.117)

Ein IM »Duo«, bei dem es sich um den Ostberliner Journalisten Herbert Thur handelte, teilte darin beispiels­weise 1967 mit, daß Dutschke zur »chinesischen Fraktion« im Westberliner SDS gehören soll, und die HVA vermeldete im selben Jahr, daß er nach Abschluß seines Studiums nach Mexiko gehen wolle.118) Ein Auskunfts­bericht der Kreisdienststelle Luckenwalde vom März 1968 enthält nur nichtssagende Ausführungen über sein politisch unauffälliges Verhalten in seiner Heimatstadt.119) Durch seine Informanten in der Studenten­bewegung muß das MfS jedoch eine Fülle von Spitzelberichten zu Rudi Dutschke besessen und gesammelt haben.

Aus den Unterlagen geht hervor, daß Dutschke wegen seiner Verbindungen zum Zentralkomitee der SED schon vor 1968 vom Büro der Leitung II erfaßt worden war, eine Diensteinheit, die die West-Kontakte von Partei und FDJ nachrichtendienstlich »abzusichern« hatte.

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Als SDS-Vorsitzender von Westberlin hatte er insbesondere im Vorfeld des Vietnamkongresses vom Februar 1968 direkte Verhandlungen mit der FDJ über eine »Aktionseinheit« geführt und — vergeblich — den Vorschlag gemacht, ein Schiff mit Waffen zu beladen und mit Freiwilligen nach Vietnam zu schicken.120 

Kurze Zeit später bat die Hauptabteilung XX um »sofortige Überprüfung«, ob sich Dutschke am 27. Januar in Ostberlin aufgehalten habe, ohne einen Grund für diese Anfrage zu nennen.121) So bleibt das Bild des prominentesten Führers der Studentenbewegung in den Stasi-Akten nebulös.

Daß SED und Stasi gerade die Proteste gegen den Vietnamkrieg nach Kräften förderten, geht aus einer Reihe anderer Unterlagen hervor. Schon im Februar 1966 unterrichtete Albert Norden seinen Politbüro-Kollegen Werner Lamberz über die Unterstützung der Anti-Vietnam-Proteste in Westberlin. Seinem Schreiben fügte er eine Abhandlung bei, die den Titel trug »Zum Vietnamkrieg der USA und der Auseinandersetzung in Westdeutschland« und in der es pathetisch hieß: »Die in Deutschland gegen den Massenmord in Vietnam protestieren, sind ein Teil der Weltfront, die für Recht und Selbstbestimmung, für Frieden und Freiheit eintritt. Sie sind es, die den deutschen Namen retten.«122)

Überliefert sind zudem die Beschlüsse einer Beratung über sogenannte »aktive Maßnahmen« im April 1967 in Moskau, bei der es auch um geheim­dienstliche Operationen zur »Kompromittierung der amerikanischen Aggression in Vietnam und der westdeutschen Beteiligung an dieser Aggression« ging. Mit derartigen »Maßnahmen« suchten MfS und KGB die internationale Öffentlichkeit zu beeinflussen und politische Konfliktlagen gezielt zu schüren. In einem Protokoll »über gemeinsame aktive Maßnahmen für das Jahr 1967« wurde dabei unter anderem die »Kompromittierung der USA-Politik gegenüber Westdeutschland sowie [die] Vertiefung der Gegensätze zwischen der westdeutschen Bundesrepublik und den USA« beschlossen.

Im Rahmen der Aktion »Tribunal« sollten insbesondere die »Internationale Kommission Demokratischer Juristen« und weitere Organisationen unterstützt werden, die den »schmutzigen Charakter der amerikanischen Aggression« in Vietnam entlarvten.123) Dazu wollte der KGB Unterlagen über die »Folgen der chemischen Kriegführung« und über die angebliche »amerikanisch-westdeutsche militärische Zusammenarbeit bei der Kriegführung« in Vietnam bereitstellen. Umgekehrt wollte auch das MfS dem KGB entsprechende Materialien zur Verfügung stellen — zwecks »Realisierung durch Kanäle« des KGB in der UNO, in der Sowjetpresse und in ausgewählten Staaten. Ein »Material über die Herstellung von Giftgasen« in der Bundesrepublik, das die Stasi den KGB-Kollegen mitgebracht hatte, sollte nach einer wissenschaftlichen Begutachtung in Frankreich »realisiert« und dann vom KGB durch die Presseagentur APN »unter Berufung auf französische Quellen« verbreitet werden.

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Weiter heißt es dann im Protokoll: »Das MfS prüft die Möglichkeiten für die Herstellung eines Dokumentes, das die Zusammenarbeit zwischen der westdeutschen Bundesrepublik und den USA bei der Aggression in Vietnam entlarvt und auf glaubwürdigen Angaben beruht. Realisierung durch Möglichkeiten des KfS [= KGB] an das Russellkomitee in einem kapitalistischen Land.«124) Speziell im Rahmen der Maßnahmen aus Anlaß des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution wurde schließlich festgelegt, einen »Komplex von Maßnahmen zur Kompromittierung der Beteiligung der D[eutschen]B[undes]R[epublik] am Krieg in Vietnam durchzuführen« und »die Tätigkeit des Russelltribunals und der MAJUD-Kommission für Vietnam zu unterstützen«.125)

Das von dem englischen Philosophen Bertrand Russell initiierte Tribunal, auf dem das amerikanische Vorgehen im Vietnamkrieg öffentlichkeitswirksam angeprangert worden war, hatte auch Rückwirkungen auf die Berliner Studentenbewegung. Zeugen und Mitarbeiter des Tribunals sollten nach dem Willen der Studentenvertreter der Freien Universität in Berlin auch auf einer Veranstaltung im Audimax referieren — wie Dietrich Staritz der Stasi im Mai 1967 berichtete. Der als weiterer Redner vorgesehene westdeutsche Publizist Erich Kuby hatte den Organisatoren dabei mitgeteilt, daß er sein Auftreten nur für sinnvoll hielte, »wenn gleichzeitig mit der Verurteilung des amerikanischen Engagements in Vietnam die Forderung erhoben würde, die amerikanischen Truppen aus Westberlin abzuziehen«.

Auf einer internen Sitzung wurde in diesem Zusammenhang ein Flugblatt entworfen, mit dem die in Berlin lebenden Amerikaner aufgefordert werden sollten, sich an den Protesten zu beteiligen und sich gegebenenfalls einer Verschiffung nach Vietnam zu widersetzen. Die geplanten Veranstaltungen waren dazu gedacht, »die bisher nur moralische Protesthaltung der Westberliner Studenten [...] zu koordinieren und zu direkten Aktionen weiterzutreiben«.126) Auch im Republikanischen Club fand im Mai eine Diskussion mit den Mitgliedern des Russelltribunals statt.127)

 

  November-Gesellschaft und Republikanischer Club  

 

Einfluß auf die Studentenbewegung übte die Stasi zu diesem Zeitpunkt unter anderem über die im November 1966 gegründete »November-Gesellschaft« aus, zu deren innerstem Kreis sowohl Staritz als auch sein Agentenkollege Barthel gehörten. Diese Gruppierung setzte sich vorwiegend aus linken Traditionalisten zusammen, die sich der inzwischen überwiegend antiautoritären Politik des SDS in Berlin widersetzten.128)

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Ihr Startkapital erhielt sie einem Spitzelbericht von Staritz zufolge aus Kreisen der IG Metall; darüber hinaus rechnete man damit, daß »Freunde und Finanziers« des Berliner FDP-Politikers und Bundestags­abgeordneten William Borm weitere 30.000 bis 40.000 DM beisteuern würden.129) Borm trat seinerzeit als Radikaldemokrat und »Verständigungspolitiker« in Erscheinung — in Wahrheit war er ein bedeutender Einflußagent der HVA, der seit 1969 seine Instruktionen von Markus Wolf persönlich empfing.130) Führende Berliner Linke unterstützten 1967 seine Kandidatur für den Bundestag, weil er der einzige sei, »der für eine Politik der Verständigung und der Aufweichung der bisherigen recht starren Position im Verhältnis zur DDR beitragen könnte«.131)

Zu den Unterzeichnern des entsprechenden Aufrufes gehörte, neben dem Schriftsteller Günther Grass und dem Politologen Ossip Flechtheim, auch Dietrich Staritz. Die Kampagne, in deren Verlauf im März rund 1500 Sympathisanten bei einer Versammlung im »Studentenhaus« am Berliner Steinplatz zusammenströmten, blieb nicht erfolglos. Borm wurde sogar Alterspräsident des Deutschen Bundestages sowie Ehrenvorsitzender der Berliner FDP (1969) und Mitglied des Bundesvorstandes (1970), so daß die Stasi direkten Einfluß auf die damalige FDP-Spitze nehmen konnte.

Die Gründung der November-Gesellschaft war eine Reaktion auf die Bildung der Großen Koalition, die nicht nur bei vielen Linken in und außerhalb der SPD auf Ablehnung stieß — auch die SED bekämpfte den mit dem Parteitag von Bad Godesberg (1959) eingeleiteten Richtungswechsel der SPD von der Arbeiterpartei zur Volkspartei und bekämpfte insbesondere Herbert Wehner als »Verräter«.132)

Ziel der November-Gesellschaft war es Staritz zufolge, die linken Kritiker »organisatorisch zu fassen« und einen »Klub zu bilden, in denen sich das ganze linke intellektuelle wie gewerkschaftliche Potential versammeln und diskutieren könnte«. Der Klub sollte auch Stellungnahmen zu aktuellen politischen Fragen abgeben und mit einer »Bücherstube« verbunden werden. Ein Teil der Mitglieder trat sogar dafür ein, zusammen mit dem »Sozialistischen Bund« und anderen Linken eine neue sozialistische Partei ins Leben zu rufen.133) Die Stasi-Berichte aus dem Inneren der Gesellschaft gingen bis hoch zum SED-Parteichef Walter Ulbricht, eingeschlossen der Hinweis: »Gegen Spenden aus der DDR hätte man nichts, wenn es anonym geschehe«.134)

Nach längerer Vorbereitungszeit gründete die sogenannte »Keulenriege« des SDS im April 1967 in Westberlin den »Republikanischen Club« (RC), der zunächst in der Charlottenburger Wielandstraße Quartier bezog. Erster Vorsitzender wurde der ehemalige Sprecher des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VdS), Klaus Meschkat, Stellvertreter wurden Marianne Regensburger und Lothar Pinkall. Als weitere Vorstandsmitglieder fungierten unter anderem Horst Mahler, Bernhard Blanke, Nikolaus Neumann und Knut Nevermann.

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Diese Zusammensetzung des Vorstandes war offensichtlich ganz in Staritz' Sinne, denn nur zu zwei der neun Mitglieder teilte er der Stasi mit, daß diese von Mal zu Mal »neutralisiert« werden müßten.135 Ideen und Vorstellungen der November-Gesellschaft, so informierte er im nächsten Bericht, könnten ohne weiteres durchgesetzt werden.136) Seine Berichte wurden im MfS umgehend weiterverbreitet und fanden auch Eingang in ein spezielles Dossier zum RC.137) Neben Staritz und Barthel arbeitete auch der IM »G. Schneider« für die Hauptabteilung XX/5 im Republikanischen Club.138) Darüber hinaus waren noch weitere Diensteinheiten vertreten. So führte der Aufklärungsapparat der Stasi einer Übersicht vom Februar 1969 zufolge drei eigene Inoffizielle Mitarbeiter (IM) und vier sogenannte Kontaktpersonen (KP) im RC.139)

Zu ihnen gehörten die IM »Heinemann« und »Dr. Zeitz«, die auch zwanzig Jahre später noch im Einsatz waren — der eine als sogenannter Führungs-IM (FIM), der inzwischen selber verschiedene Quellen steuerte, der andere als bis heute un-enttarnter Funktionär der Alternativen Liste. Beide belieferten die Stasi über Jahre hinweg mit zahlreichen Informationen.140) William Borm soll dem Club bei seiner Gründung mit 150.000 DM unter die Arme gegriffen haben, bei denen es sich in Wahrheit um HVA-Devisen gehandelt habe.141)

Der Republikanische Club (RC) wurde rasch zu einem organisatorischen Zentrum der Bewegung. Prominente SDS- und APO-Führer wie Johannes Agnoli, Peter Brückner oder Fritz Teufel gingen ein und aus, in zahlreichen Städten der Bundesrepublik fanden sich Nachahmer, so daß im Oktober 1968 insgesamt 42 derartige Clubs in Deutschland existierten. Im Berliner RC trafen sich schon wenige Tage nach der Gründung Vertreter verschiedener linker Gruppen, darunter der »Falken«, der November-Gesellschaft und des SDS, um eine engere Kooperation bei künftigen politischen Aktionen zu verabreden142) — der Beginn des sogenannten »Koordinierungsausschusses«, der von nun an regelmäßig und zeitweise täglich in den Räumen des Clubs zusammentrat. Insbesondere nach den gewaltsamen Zusammenstößen im Zuge der Anti-Schah-Demonstration am 2. Juni 1967 verzeichneten die Club-Initiatoren einen derart regen Zulauf, daß sie Probleme hatten, »die Spreu vom Weizen zu trennen, d.h. nur diejenigen hineinzulassen, die als Interessenten respektive spätere Mitglieder in Frage kommen könnten«.143)

Regelmäßig fanden in dem Club nunmehr Zusammenkünfte der Universität, des ASTA oder des Vietnam-Ausschusses statt. Zu den im kleinen Kreis geführten Diskussionen über Strategie und Taktik wurden auch Funktionäre aus der DDR eingeladen, wie aus einem ausführlichen Bericht von Dieter Klein, Professor an der Humboldt-Universität, vom März 1968 hervorgeht.

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Klein warf damals den Uralt-SDSlern, unter ihnen auch Walter Barthel, vor, daß die ganze Arbeit des Clubs zu wenig von einer politökonomischen Analyse des westdeutschen Imperialismus ausgehe — eine Kritik, die, wie er schrieb, »von den Gesprächspartnern als sehr nützlich bezeichnet« worden sei. Auch seine Kritik an den Positionen Herbert Marcuses (»Leugnung des revolutionären Potentials der Arbeiterklasse und die Verketzerung des Sozialismus als ebenfalls bürokratisiertes Herrschaftssystem«) sei zu einem großen Teil akzeptiert worden. Er selbst sei dringend darum gebeten worden, sich dafür einzusetzen, »daß in der nächsten Zeit regelmäßig DDR-Referenten die politischen Diskussionen im Klub mitbestimmen«; unter anderem bat man darum, daß ein Professor Knipping in der Vorbereitung weiterer Springer-Aktionen als Referent auftrete.

»Meine Auffassung ist«, so Klein in seinem in einer Stasi-Akte abgehefteten Bericht, »daß man unbedingt die Möglichkeit nutzen müßte, auf diese Weise ein, richtiges Verhältnis der außerparlamentarischen Opposition zum Sozialismus herzustellen.« Im Zusammenhang mit dem Wunsch der Anwesenden, die Diskussion bald fortzusetzen, sei er gebeten worden, »zusammenfassend eine Gesprächsgrundlage über die Arbeiterklasse als revolutionäre Hauptkraft der antiimperialistischen Bewegung zu geben, um in dieser Richtung die Kräfte im Republikanischen Club zu unterstützen«. Bei einer anschließenden Veranstaltung habe der Vorstand des Clubs die Frage der Aktionseinheit mit der SED Westberlin »uneingeschränkt bejaht«.144)

Namentlich Horst Mahler, Klaus Meschkat und Knut Nevermann waren einem Stasi-Bericht zufolge für die Aktionseinheit mit dem SED-Ableger in Westberlin. Als sie diese Linie in einem Interview mit dem Tagesspiegel auch öffentlich bekräftigten, gab es jedoch aus dem SDS Widerspruch. Der Generalrat sprach sich mehrheitlich dafür aus, daß die Vertreter des RC nicht im Namen der APO sprechen dürften, und kritisierten die Unterwanderungsstrategie der SED. Im Gegensatz zu Dutschke-Freund Bernd Rabehl, der im Tagesspiegel eine Entgegnung veröffentlichen wollte, beschloß man jedoch »nach Angaben zuverlässiger und vertrauenswürdiger Quellen«, daß man die Differenzen »intern« behandeln wolle.145)

 

   Extrablatt und Extra-Dienst  

 

In die Räume des Republikanischen Clubs zog auch die Redaktion des Berliner Extra-Dienstes ein, nachdem sich der Herausgeber des Spiegels, Rudolf Augstein, aus der Finanzierung eines von der Studenten­bewegung inspirierten Zeitungsprojektes zurückgezogen hatte. Die damaligen Versuche, der Außerparlamentarischen Opposition (APO) ein publizistisches Forum zu geben, unterlagen von Anfang an der geheimdienstlichen Durchdringung.

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Die Idee stammte ursprünglich von Horst Mahler und Walter Barthel, der 1964 nach Berlin zurückgekehrt war. Im Januar 1966 kam es zu einer Zusammenkunft mit Augstein, bei der dieser sich bereit erklärte, eine neue, zunächst wöchentlich erscheinende Zeitung für Westberlin herauszugeben. Nach seinen Vorstellungen sollte sie den Weg bahnen für eine neue Politik des Westberliner Senats gegenüber der DDR und die bestehenden deutschland­politischen Tabus »in einer bisher nicht bekannten rücksichtlosen Weise« ignorieren.146)  

In der fünfköpfigen Vorbereitungskommission, die die erste Nullnummer produzieren sollte, war die Stasi mit Peter Heilmann und Walter Barthel gleich zweifach vertreten. Wenige Tage später machte man die ersten Personalvorschläge, die Barthel, einem Auftrag seines Führungsoffiziers folgend, umgehend der Staatssicherheit übermittelte. Danach hatte Heilmann inzwischen vorgeschlagen, auch noch seine Frau, die ebenfalls für das MfS tätig war, als Redaktions­sekretärin in das Projekt mit hineinzunehmen.147) Außerdem stellte Barthel fest, daß sich Heilmann sehr danach gedrängt habe, die Liste der personellen Vorschläge zusammenstellen, d.h. Zugang zu den diversen Bewerbungsunterlagen zu bekommen.148)

Die Zeitung sollte unter dem Titel Heute erscheinen. Die Vorarbeiten wurden im Auftrag Augsteins im wesentlichen von Walter Barthel geleistet, der das MfS regelmäßig unterrichtete. Gegen Heilmann formulierte Augstein hingegen bald starke Bedenken. Tragende Kräfte der Redaktion wurden schließlich die Journalisten Stefan Reißner, Hermann L. Gremlitza, Martin Buchholz, Walter Barthel sowie Carl Guggomos, der bis dahin beim Vorwärts arbeitete und als Chef vom Dienst fungieren sollte.

Obgleich das MfS über das Vorhaben bestens informiert war, finden sich über die Akteure von einst heute nur noch vage Hinweise in den Archiven. Gegen Gremlitza, heute Chef der Zeitschrift Konkret, wurde vom Generalbundesanwalt 1993 ein — ergebnisloses — Ermittlungsverfahren wegen Spionage eröffnet, Buchholz ist in den Karteien des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen überhaupt nicht »erfaßt«, obgleich er 1972 einem Stasi-Vermerk zufolge als Korrespondent für die DDR vorgesehen war sowie Kontakte zum DDR-offiziellen »Verband der Journalisten« (VDJ) hatte, der wiederum als legale Residentur der HVA fungierte.149) Guggomos dürfte es, der zentralen Personenkartei des MfS nach zu urteilen, gar nicht gegeben haben, obwohl er intensive Beziehungen in die DDR unterhielt.

Gerade Guggomos' Rolle in dieser Zeit bedürfte der Aufhellung. Im März 1966 war er verdächtigt worden, eine umfassende anonyme »Anklage« gegen den SPD-Politiker Herbert Wehner verfaßt zu haben, die zu veröffentlichen sich nur die Zeit bereit gefunden hatte und die just auf dem Höhepunkt einer konzertierten Anti-Wehner-Kampagne der SED erschien.150)

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In der Folgezeit spielte er eine Schlüsselrolle bei diversen linken Zeitungsprojekten, die ideologisch und wohl auch finanziell eng mit der DDR verbunden waren. Nach der Wende berichteten zwei ehemalige Mitarbeiter der HVA-Abteilung X, daß Guggomos beim MfS den Decknamen »Gustav« getragen habe. Über zahlreiche ohnehin vorhandene Ostkontakte sei er seinerzeit beim VDJ »und damit auch bei uns« aufgelaufen.151) Später konkretisierte einer der beiden, Guggomos sei noch als Journalist des Vorwärts von einem MfS-Offizier im VDJ zu »vertraulichen Beratungen« an den Dämeritzsee bei Berlin eingeladen worden. Dort sei das Projekt eines linken Blattes für Westberlin entworfen worden, für das die Stasi nicht nur Geld, sondern auch journalistische Unterstützung angeboten habe — der spätere Berliner Extra-Dienst, dessen Chefredakteur Guggomos wurde.152)

Tatsächlich ist in den Hinterlassenschaften der HVA eine Quelle der genannten Abteilung X mit dem Decknamen »Gustav« und einer Registriernummer aus dem Jahr 1967 erfaßt.153 Den Aufzeichnungen zufolge setzten dessen Lieferungen jedoch erst 1977 ein, was unter Umständen damit erklärt werden könnte, daß bis dahin Lancierungsaufgaben im Vordergrund standen, für die die Abteilung X in erster Linie zuständig war. Ende der siebziger Jahre berichtete »Gustav« jedenfalls über Themen wie »Biermann und die linke Szene« oder die Aktivitäten des Westberliner Schutzkomitees »Freiheit und Sozialismus«. Auch über Zusammenkünfte des (linkssozialdemokratischen) Frankfurter Kreises, die »Lage in der SPD« und den Versuch, eine linkssozialistische Partei zu gründen, informierte »Gustav« die Stasi. 1981 ist ein »Stichwortprotokoll« des SPD-Bundestagsabgeordneten Hansen registriert zur Fraktionssitzung seiner Partei im Zusammenhang mit einem von Hansen geschriebenen Artikel in der Zeitschrift Konkret, 1983 finden sich Informationen zu einer Tagung des »Liaison-Komitees« der Russell Peace Foundation und zur Finanzierung der Europäischen Akademie in Westberlin.

Augsteins Berliner Engagement für die Zeitung Heute währte freilich nicht sehr lange. Nach dem Erscheinen der ersten drei Nullnummern beklagte er sich über den mangelnden »journalistischen Pfiff« und verwarf das Projekt im Januar 1967, wobei er einen Teil der Redakteure in den Spiegel kooptierte. Barthel schlug in dieser Situation der November-Gesellschaft vor, »ein zumindest im Wahlkampf wöchentlich erscheinendes Extrablatt in Form einer Boulevard-Zeitung herauszugeben«. Wenige Tage später trafen sich deshalb die ehemaligen Mitarbeiter von Heute mit Mitgliedern der Gesellschaft und berieten über die redaktionelle Gestaltung der ersten Nummer. Diese erschien am 11. Februar 1967 in einer Auflage von zunächst 10.000 Exemplaren und wurde von rund 150 Freiwilligen im Straßenverkauf angeboten.

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Um die Fäden zur Berliner Studentenbewegung nicht ganz abreißen zu lassen, unterstützte Augstein das Blatt mit einem Scheck über 10.000 DM und stellte weitere finanzielle Hilfe in Aussicht. Hergestellt wurde das Extrablatt in einer Druckerei, die der Parteivorstand der Westberliner SED dem frischgebackenen Chefredakteur Barthel vermittelt hatte.

Das politische Profil des Blattes wurde Staritz zufolge »im wesentlichen von Kurt [= Barthel] bestimmt, der sich allerdings vor jeder Ausgabe mit dem Kreis der <November-Gesellschaft> zusammensetzt und hier die allgemeine politische Linie erarbeiten bzw. diskutieren läßt«. Geschäftsführer der im Mai 1967 noch nicht gegründeten Extrablatt GmbH sollte Carl Guggomos werden.154) Artikel, die unter dem Kürzel »Konzeptor« erschienen, waren in der Regel ein Gemeinschaftsprodukt der SDS-Veteranen. Ein Korrespondent des DDR-Rundfunks erklärte nach den ersten Ausgaben, daß die im Extrablatt gefundene Sprache genau die Sprache sei, mit der man in Westberlin gut Politik machen könne.155) Durch Augsteins Vermittlung war die vierte Ausgabe, die am 4. März erschien, bereits an allen Westberliner Kiosken zu haben. Über all diese Vorgänge informierten Barthel und Staritz fortlaufend das MfS.156)

Das vielversprechende Boulevardblatt der Studentenbewegung mußte allerdings kurz darauf die Segel streichen, weil sich die geheimdienstlichen Auftraggeber Barthels von ihrem Agenten übergangen fühlten. Einem Bericht von Staritz zufolge war der Verfassungsschutz nämlich »sehr erbost«, weil Barthel diesen über die Gründung des Extrablattes nicht ausreichend informiert hatte.157) Das Kölner Amt informierte daraufhin den Spiegel über Barthels Verfassungsschutzkontakte, woraufhin Augstein seine finanzielle Unterstützung sofort einstellte.158) In der Folge erschien das Extrablatt nur noch zu besonderen Anlässen und auf der Basis anderer Zuwendungen. Beispielsweise bereitete die November-Gesellschaft aus Anlaß des Schah-Besuches in Westberlin eine Sonderausgabe vor. Mit einem Kredit des ASTA der FU kam nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 eine weitere Ausgabe heraus, von der insgesamt 46.000 Exemplare verkauft wurden. Angeblich um die Redakteure (Walter Barthel, Carl Guggomos, Martin Buchholz und Hannes Schwenger) zusammenzuhalten, rief Barthel jedoch nunmehr den Extra-Dienst ins Leben, der nach seinen Vorstellungen zweimal in der Woche erscheinen und »Exklusivinformationen über die DDR und die Ost-West-Problematik enthalten« sollte.159)

Der Extra-Dienst wurde in der Folgezeit zum Sprachrohr linker Traditionalisten, das vor allem in gewerk­schaft­lichen und sozialdemokratischen Kreisen gelesen wurde. Verantwortlich für den Inhalt zeichnete Carl Guggomos, der als Chefredakteur und zweiter Geschäftsführer fungierte und darüber hinaus das angeschlossene Lokal »Drehscheibe« leitete; erster Geschäftsführer war Walter Barthel.160)

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Mit den Machthabern in der DDR war das zweimal wöchentlich erscheinende Blatt gleich mehrfach verknüpft. Aus dem Innenleben berichtete in der Anfangszeit Dietrich Staritz dem MfS, der seine Informationen offenbar direkt von Barthel bezog und, wie dieser, die Stasi auch für eine finanzielle Unterstützung zu gewinnen suchte. »Nach Einschätzung des GM«, so vermerkte sein Führungsoffizier etwa nach einem Treff im Juni 1967, »wäre es politisch wertvoll, wenn das Erscheinen des Extra-Dienstes weiterhin gesichert würde.« Und unter »Maßnahmen« notierte er anschließend: »Beratung über evtl. Unterstützung des Extra-Dienstes«. Darüber hinaus, so hatte ihm Staritz berichtet, habe der Herausgeber Guggomos eventuell in Leipzig eine Verbindung zum Zentralkomitee geknüpft, um eine finanzielle Unterstützung aus der DDR zu ermöglichen.161)

Staritz' umfassende Berichte über Entstehung und Entwicklung des Extra-Dienstes erleichterten dem MfS aber auch die Instrumentalisierung des Blattes durch inoffizielle Mitarbeiter, Kontaktpersonen und Offiziere im besonderen Einsatz, die speziell zur Beeinflussung der westdeutschen Öffentlichkeit eingesetzt wurden. Einfluß auf die Berichterstattung des Extra-Dienstes nahm man zum Beispiel über den DDR-»Verband der Journalisten«, der als »legales Dach« der HVA fungierte und Kontakt zu diversen westlichen Journalisten pflegte, unter anderem um sie mit Material für Enthüllungskampagnen in der Bundesrepublik zu spicken. Ein Vertreter des VDJ, so mußte sich sogar Staritz im März 1968 bei seinem Führungsoffizier beschweren, habe ihn auf plumpe Weise anwerben wollen.162)

Chefredakteur Guggomos, so berichteten nach der »Wende« zwei ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit, erfuhr durch die HVA seinerzeit »jede Hilfe, ohne daß der Geheimdienst sichtbar in Erscheinung getreten wäre«. Sein Blatt sei vom MfS »massiv gefördert« worden und hätte »ohne unsere redaktionellen Beiträge und ohne unser Geld gar nicht leben können«.163) Wie weit die Verfügungsgewalt des MfS über den Extra-Dienst gegangen sein muß, illustriert ein von Markus Wolf unterschriebener Plan vom Februar 1969 zur Störung der Bundespräsidentenwahl in Westberlin, in dem unter anderem die »Herausgabe einer Sonderausgabe« des Blattes beschlossen wurde.164)

Trotz permanenter Finanzkrise begleitete der Extra-Dienst die linke Bewegung in Berlin und anderswo mehr als ein Jahrzehnt und machte regelmäßig Stimmung für DDR-konforme Positionen. Zehn Jahre nach dem Beinahe-Revolutionsjahr 1968 ging die Redaktion sogar daran, aus dem bescheidenen Infoblatt eine »richtige« Zeitung zu machen, nicht zuletzt um die zeitgleich geplante Gründung der linksalternativen tageszeitung (taz) zu konterkarieren.

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Das Vorhaben war für die SED immerhin so bedeutsam, daß der Leiter der Westabteilung des ZK der SED, Herbert Häber, dem Staatsratsvorsitzenden der DDR Erich Honecker höchstpersönlich ein Exemplar der Probenummer zukommen ließ — Auflage: 50.000 Stück. »Nach Erklärungen der Herausgeber«, so Häber in seinem Begleitbrief, »soll es das politische Hauptanliegen der Zeitung sein, ein breites Bündnis der verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der BRD und Westberlin herzustellen, um an der <Überwindung der kapitalistischen Strukturen unserer Gesellschaft> mitzuwirken.«165)

Tatsächlich war das unter dem Titel Die Neue erscheinende Blatt ab Februar 1979 dann bundesweit zu haben. Obwohl Chefredakteur Guggomos für die Finanzierung der Zeitung erneut bei DDR-Stellen hausieren ging, mußte sie jedoch angesichts stagnierender Abonnentenzahlen nach einiger Zeit ihr Erscheinen wieder einstellen.166)

Über Barthels Engagement in den Zeitungsprojekten der Berliner Studentenbewegung zeigte sich die Stasi nicht erfreut. Weil sie »Hinweise« bekommen hatte, daß Barthel vom Westberliner Verfassungsschutz für einen »Agenten des Ostens« gehalten wurde, hatte sie ihn frühzeitig angewiesen, sich nicht daran zu beteiligen. Nach den Vorstellungen der Stasi sollte Barthel lieber beim Stern oder beim Westberliner Telegraf mitarbeiten, als sich politisch so zu exponieren. Als sein Führungsoffizier ihm Anfang 1966 trotzdem den Auftrag gab, weiter an den Vorbereitungen teilzunehmen, schrieb dessen Chef kurzerhand an den Rand »Alles über Kiemle beschaffen«.167)

Barthel setzte sich jedoch über die Weisung der Staatssicherheit hinweg, so daß seine Führungsstelle im April 1966 vorschlug, »die Verbindung zu dem G[eheimen]M[itarbeiter] auf eine unbefristete Zeit zu unterbrechen« — zu seiner eigenen Sicherheit.168) Ein Jahr später verhängte das MfS sogar ein Einreiseverbot gegen ihn, weil er in seinen Artikeln, insbesondere im Kölner Stadtanzeiger, die DDR verleumdet hätte — eine Maßnahme, die allerdings nach einer Intervention des Westberliner SED-Vorsitzenden Gerhard Danelius »auf Weisung des ZK wieder aufgehoben« wurde.169)

Daß Barthel 1967 eigenmächtig mit der Westberliner SED in Verbindung trat, war in den Augen der Staatssicherheit ein schwerer Fehler, da die Westarbeit von Partei und Stasi einer zentralen Festlegung zufolge grundsätzlich voneinander getrennt bleiben sollten. Obwohl Staritz dem MfS wiederholt das Angebot des geheimen Stasi-Mitarbeiters »Kurt« überbrachte, »Hinweise über das Extrablatt zu vermitteln«, blieb die Verbindung nach »Rücksprache mit der Leitung« zu ihm unterbrochen.170)

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Erst im Januar 1968 kam es auf seinen Wunsch hin noch einmal zu einem Treffen, bei dem die Stasi ihm empfahl, eine andere Tätigkeit in Westdeutschland zu übernehmen. In einem internen Vermerk monierte das MfS danach »eine gewisse Selbstherrlichkeit« Barthels, die sich unter anderem darin ausdrücke, daß nach seiner Meinung die Westberliner SED ohne ernsthafte Rückschläge für die oppositionelle Bewegung nicht auf ihn verzichten könne. Demgegenüber meinte das MfS: »Es sollte von der Partei überprüft werden, ob es aufgrund der früheren Verbindung des Genossen Barthel zum B[undes]V[erfassungs]S[chutz)A[mt] weiterhin zweckmäßig ist, daß der Genosse B. in Westberlin mitarbeitet bzw. engen Kontakt zur SED Westberlin unterhält und weiterhin Aufträge durchführt.«171)

Zumindest bis Oktober 1971 müssen SEW und SED jedoch weiter ihre schützende Hand über Barthel gehalten haben, wie das mittlerweile ernsthaft beunruhigte MfS konstatieren mußte, nachdem es zu der Überzeugung gelangt war, daß die beiden Agenten Staritz und Barthel womöglich doch stärker für den Verfassungsschutz als für die eigene Seite arbeiteten.172)

Tatsächlich knüpfte Barthel in dieser Zeit zunehmend engere Bande zur SED in Westberlin. Im Mai 1968 entwickelte er den Plan, mit einer eigenen Rotaprint-Maschine Bücher aus der DDR nachzudrucken und aus den Einnahmen eine eigene Boulevard-Zeitung zu finanzieren — ein kostenträchtiges Projekt, für das wieder die DDR zahlen sollte. Bald mußte er sein Vorhaben abspecken und plante jetzt nur noch den Kauf einer kleineren Druckmaschine, die in erster Linie zur Herstellung des Extra-Dienstes dienen sollte. Unter diesem Eindruck forderten seinerzeit Sprecher der APO, das Blatt stärker unter die Kontrolle des SDS zu stellen, was Barthel zu der Befürchtung veranlaßte, zusammen mit Guggomos von den anderen Blatt-Gesellschaftern an den Rand gedrängt werden zu können — auch darüber informierte Staritz die Stasi.173)

 

    Konzepte für den Umsturz  

 

Extra-Dienst, November-Gesellschaft und Republikanischem Club ging es nicht um einen abstrakten Seminar­marxismus, sondern um die praktische Beseitigung des verhaßten »kapitalistischen« Systems. Zusammen mit dem SDS, den Falken und anderen linken Gruppen planten sie nichts Geringeres als den politischen Umsturz, der ihnen 1967 zumindest in dem von der DDR eingeschlossenen Westberlin zunehmend in greifbare Nähe zu rücken schien. Schon im Mai hatte die November-Gesellschaft dazu das Konzept einer »Gegeneskalation« entwickelt, mit dem die »direkte Konfrontation von rebellierender Jugendlichkeit mit städtischer Obrigkeit bzw. mit der amerikanischen Militärpolizei bezweckt« wurde.

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Man rechnete damit, daß insbesondere die Proteste gegen den Vietnamkrieg »zu einer starken Zuspitzung nicht nur der Lage an der Universität, sondern auch der Lage in Westberlin führen« würden.174 Als sich nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg bei der Anti-Schah-Demonstration am 2. Juni die Proteste dann wirklich radikalisierten, notierte das MfS in einer Information: »Die Protestbewegung war mit diesen Folgerungen nicht geplant. [...] Linke SDSler u[nd] <Commune>-Anhänger vertreten die Absicht, die Eskalation seitens der Studenten weiterzuführen.«175)

Mitte Juni legten die Auswerter der Hauptverwaltung A eine ausführliche »Operativinformation« zur APO vor. »Im Ergebnis mehrerer Diskussionen im Vorstand des RC«, so heißt es da, »wird die Lage der Außerparlamentarischen Opposition in Westberlin wie folgt eingeschätzt.« Die Außerparlamentarische Opposition könne von den Herrschenden nicht mehr als »Mini-Minorität« abgetan werden, die Bürgerschreck-Periode der Kommune sei abgeschlossen und habe ihre Aufgabe erfüllt. »Die Rote Fahne wurde für breite Kreise der Westberliner Bevölkerung wieder salonfähig gemacht und der SED-Westberlin wurde die Gelegenheit verschafft, als Partei gegenüber der Bevölkerung wieder in Erscheinung zu treten und aus der Selbstisolierung der letzten Jahre herauszukommen.«

Als »hemmend« für die Entwicklung der APO wird in dem Papier der »Antikommunismus« bezeichnet sowie die Verfolgung unterschiedlicher Wege und Methoden durch die einzelnen Gruppen. Auch die »Lehre von Herbert Marcuse« wirke sich hemmend aus, da dieser auf die Industriearbeiterschaft keine Hoffnung setze. Solle die APO weiter wachsen, müsse sie sich organisatorisch weiter festigen und sich auf eine langfristige Strategie der massenhaften Aufklärung orientieren, wie sie von den fortschrittlichsten Kräften in den verschiedenen Gruppen angestrebt und zum Teil in Form von Basisgruppen auch bereits praktiziert werde. Zur »noch qualifizierteren Einschätzung der Vorgänge und der Entwicklung der APO« werden am Ende des Papiers Schwerpunkte der weiteren Informationsbeschaffung vorgegeben, die insbesondere die Haltung der einzelnen Gruppen zum sozialistischen Lager und zur SED-Westberlin, ihre Zusammensetzung und ihre Zielsetzungen sowie ihre Arbeitsweise und ihre Finanzierung umfassen.176)

Ende Juni 1968 kam es zu einer Besprechung innerhalb der November-Gesellschaft, bei der strategische Leitlinien für die »weitere Zuspitzung der Situation in Westberlin« ausgearbeitet wurden. Damit bereitete man sich auf eine Arbeitsbesprechung mit Repräsentanten des SDS vor, die wenig später in der Jugendschule der IG Metall stattfand. Die selbsternannten Revolutionäre entwickelten bei dieser denkwürdigen Besprechung eine »Konzeption« für ihr weiteres politisches Vorgehen — gleichsam die nächsten Schritte bis zur Revolution.

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Einigkeit bestand unter den Teilnehmern, daß Westberlin, einer langjährigen Forderung der SED und der Sowjetunion entsprechend, eine »freie Stadt« werden solle177), wobei die SDS-Vertreter darunter eine von der Bundesrepublik losgelöste politische Einheit verstanden, deren Unabhängigkeit von den Alliierten garantiert wäre. Rudi Dutschke versprach sich davon einen sogenannten »Transmissionseffekt«, das heißt, er hoffte, daß ein solches Versuchsfeld eines »wahren« Sozialismus sowohl auf Westdeutschland als auch auf die DDR ausstrahlen und dort Veränderungen herbeiführen würde.

Entscheidend war jedoch die Frage, wie der revolutionäre Funken von den Hochschulen auf breitere Bevölkerungskreise und insbesondere die Arbeiter überspringen könnte. In diesem Zusammenhang meinte man, daß die Studentenunruhen bereits jetzt zu einer deutlichen »Unlust« der Unternehmer geführt hätten, in Westberlin zu investieren. Diese nähme durch jede weitere Unruhe zu, so daß »eine Verstärkung der studentischen Bewegung und ihr Übergreifen auf die Betriebe zu einem größeren Unruhe- oder Rebellionspotential führen könnte«. Um den Kontakt zu den Industriearbeitern herzustellen, hielt man es deshalb für notwendig, einen »strategischen Betrieb zu finden, d.h. einen Betrieb, in dem schon jetzt die Sorge um den Arbeitsplatz, die Sorge um die Auftragsentwicklung so stark sei, daß eine weitere Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation sich dort in politische Unruhe umsetzen ließe«.

Wörtlich diktierte Dietrich Staritz dann der Stasi folgende »Konzeption« auf Tonband:

So viel revolutionärer Elan war offenbar selbst der SED nicht ganz geheuer. Führende Vertreter der November-Gesellschaft meinten jedenfalls einem Spitzelbericht zufolge, daß die DDR versuche, die Bewegung in Westberlin zu »bremsen«.

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Unter dem Einfluß von Dutschke sei die Ausdehnung eines gewissen »Anti-DDR-Komplexes« zu verspüren, der bereits zu direkten Kontroversen mit Barthel geführt habe, der als ein DDR-Apologet bezeichnet worden sei.179) Drei Tage nach der »Arbeitsbesprechung« diskutierte die Stasi mit Staritz die »Erfordernisse der derzeitigen oppositionellen Bewegung« in Westberlin, einschließlich der »zweckmäßigsten Losungen dieser Bewegung«. Als »Hauptaufgabe« wurde dabei die »enge Verbindung mit [den] Arbeitern in [den] Betrieben« sowie mit Gewerkschaftsfunktionären herausgestellt. Der Kampf gegen die Notstandsgesetze und den »Ausverkauf« Westberlins sollte im Mittelpunkt stehen. Unter »Maßnahmen« notierte sich Führungsoffizier Brabant: »Beratung [im MfS] über evtl. Unterstützung der <linken> Kräfte.«180)

Die Hinwendung zur Arbeiterklasse zeitigte freilich nur begrenzte Erfolge. Erfolgreicher war man an der Hochschule selbst, wo gegen Dutschke und andere im Sommer 1967 ein Disziplinarverfahren durchgeführt wurde und sich deshalb viele Kommilitonen mit ihnen solidarisierten. Darüber hinaus startete die Westberliner APO eine großangelegte politische Kampagne zur Enteignung des Verlegers Axel Cäsar Springer. Zur Vorbereitung eines entsprechenden Tribunals sammelte der sogenannte »Springer-Ausschuß« des Republikanischen Clubs »sehr intensiv alles Material«, über die konzeptionellen Überlegungen wurde die Stasi schon im Vorfeld informiert.181) Der SDS mobilisierte auch für die staatliche Anerkennung der DDR. Als »Auftakt« für eine entsprechende Kampagne fand — nach Vorbesprechungen zwischen Rudi Dutschke und dem Vorsitzenden der Westberliner SED, Gerhard Danelius — im Dezember 1967 eine sogenannte Stehdemonstration statt. Bei der Aktion, an der sich auch der Republikanische Club beteiligte, sollten die Studenten Plaketten mit der Aufschrift tragen: »Ich bin auch Anhänger der Anerkennungspartei«.182)

Die November-Gesellschaft suchte in dieser Zeit ihre Führungsrolle in der APO zu verstärken. Im September 1967 teilte Staritz der Stasi mit, daß man die Gesellschaft umgestalten und »ihr endlich die Funktion als Koordinierungsausschuß der Westberliner Linken« geben wolle.183 Im Oktober wurde auf einer Klausurtagung ein Organisationskonzept beschlossen, daß die »verbindliche Disziplin« und Weisungsgebundenheit aller Mitglieder und Funktionäre sowie die Unvereinbarkeit mit Ämtern in anderen Organisationen vorsah.184 Später übernahm jedoch immer mehr der Republikanische Club die Rolle des organisatorischen Zentrums, und die November-Gesellschaft wurde aufgelöst.

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    Das Attentat  

 

Einen gravierenden Einschnitt in der Geschichte der Studentenbewegung bedeutete der Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 12. April 1968. Obgleich der Studentenführer die Schüsse überlebte, verlor die antiautoritäre Linke über Nacht ihre wichtigste Symbolfigur. Ein Werk der Staatssicherheit? Den überlieferten Unterlagen zufolge kam das Attentat für die Stasi genauso überraschend wie für die westdeutsche Öffentlichkeit. Zwar stammte der Attentäter, der Malergeselle Joseph Bachmann, aus dem ostdeutschen Städtchen Reichenbach, wo er bis 1989 bei der örtlichen Kreisdienststelle der Staatssicherheit erfaßt war,185) doch der DDR hatte er lange vorher den Rücken gekehrt.

Die eingeölte Maschinerie des MfS lief in diesen dramatischen Apriltagen jedenfalls tagelang auf Hochtouren, um die Hintergründe des Anschlags aufzudecken. So berichtete eine Quelle mit dem Decknamen »Erika« noch am selben Tag über den Verlauf der Demonstration in Westberlin, bei der auch Schüsse zu hören gewesen seien. 24 Stunden später sandte die Kreisdienststelle Reichenbach ein Blitztelegramm nach Berlin, in dem sie übermittelte, daß der Attentäter Joseph Bachmann im Alter von 12 Jahren zusammen mit seinen Eltern 1956 illegal die DDR verlassen habe.

Am 15. April faßte das MfS dann seine Erkenntnisse in einer Information zusammen, in der unter Hinweis auf sein antikommunistisches Elternhaus betont wurde: »Die aus der Westpresse zu ersehende Orientierung, den Bachmann als <Sonderling> darzustellen, soll offensichtlich von seiner neofaschistischen Grundeinstellung ablenken.«186 Bereits am Vortag hatte das Neue Deutschland die Linie gewiesen, wie der Mordversuch für die Politik der SED zu instrumentalisieren sei: »Die Saat der Renazifizierung geht auf: Ein Anschlag auf alle Notstandsgegner«.187) Ansonsten beschränkte sich das MfS den überlieferten Akten zufolge darauf, Zeitungsartikel und Flugblätter zum Attentat möglichst komplett abzuheften.188)

Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke und der Niederlage der Linken beim Mai 1968 in Paris setzte in der Studentenbewegung eine Phase der Ernüchterung ein. Während die revolutionäre Bewegung an Dynamik verlor, rüsteten sich die Sozialdemokraten zur Übernahme der Macht in Bonn und zur Umsetzung ihrer neuen Ostpolitik. Der innere Kern des Republikanischen Clubs, darunter Barthel und Guggomos, traf sich vor diesem Hintergrund im Juni 1968 erneut zu einer Strategiebesprechung, bei der festgelegt wurde, die Arbeit der APO in Westberlin auf drei Ebenen fortzusetzen — in den Basisgruppen, als zentrale »Stadtkampagnen« und in den vorhandenen Institutionen. Einem Spitzelbericht zufolge grenzte man sich dabei ebenso von den »antiautoritären« Tendenzen ab wie von Vorschlägen, auch die »Auseinandersetzung mit dem DDR-Sozialismus« zum Gegenstand einer Kampagne zu machen.

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Tatsächlich hatte die Einführung der Visumspflicht für Transitreisen zu dieser Zeit in der APO zu Kritik geführt und sogar eine kleinere Demonstration am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße zur Folge gehabt.189 Im Republikanischen Club wurde der Vorwurf laut, die DDR habe damit eine »konterrevolutionäre Situation« geschaffen, andere bezeichneten die Maßnahmen hingegen als »längst überfällig«. Die Traditionalisten im RC vertraten die Meinung, daß eine »Wiederbelebung der SDS-Revoluzzerei« zwar verhindert werden müßte, auf der anderen Seite aber nicht die gesamte Aktivität in der momentanen Weise stillgelegt bleiben dürfte. »Es gilt also, das durch die >Müdigkeit< der Ultralinken entstandene Vakuum schnell und sinnvoll auszufüllen.«190)

Der Differenzierungsprozeß innerhalb der Studentenbewegung wurde durch den Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 weiter vorangetrieben. Staritz erhielt noch am selben Tag den Auftrag, »geplante Maßnahmen der APO und anderer Organisationen in Erfahrung [zu] bringen«.191 Einen Monat später wurde dann in Westdeutschland die »Deutsche Kommunistische Partei« (DKP) aus der Taufe gehoben und im Januar 1969 der DDR-hörige »Marxistische Studentenbund Spartakus« (MSB) gegründet. Getreu der sowjetischen Drei-Staaten-Theorie nannte sich die Westberliner SED wenig später in »Sozialistische Einheitspartei Westberlins« (SEW) um, zu deren »Grundsätzen und Zielen« auch die Teilnahme an »außerparlamentarischen Aktivitäten« gehörte. Tatsächlich gewann die SEW bis 1970 etwa 3000 junge Mitglieder aus dem Umfeld der APO.192)

 

   Die Proteste gegen die Bundesversammlung  

 

In der Folgezeit entfaltete die SED beträchtliche Anstrengungen, die Studentenbewegung insbesondere für die Durchsetzung ihrer von der Sowjetunion bestimmten Berlinpolitik zu instrumentalisieren. Während in der Vergangenheit direkte Pressionen die antikommunistischen Gegenkräfte in der Regel noch gestärkt hatten, gab es nun einen Bündnispartner im Inneren Westberlins, der erstmals nicht mehr nur aus Kadern und Sympathisanten der Partei bestand. Vorrangiges Ziel war es dabei, die Bindungen der Halbstadt zur Bundesrepublik zu lockern und die Herrschaft der SED in Ostdeutschland völkerrechtlich zu legitimieren.

Das Vorgehen der SED läßt sich exemplarisch zeigen anhand einer Bundesversammlung am 5. März 1969 in Berlin, bei der Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt wurde.

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Nach der jahrelangen Kampagne von SED und MfS hatte dessen Vorgänger, Heinrich Lübke, 1968 seinen vorzeitigen Amtsverzicht angekündigt. Obwohl die SED seinem designierten Nachfolger wohlwollender gegenüberstand, agitierte sie jetzt von innen und außen dagegen, daß eine Amtshandlung der Bundes­republik auf Wunsch des Berliner Senates in Westberlin stattfinden sollte — so wie es auch bei den vorangegangenen beiden Präsidentenwahlen der Fall gewesen war. Mit Zuckerbrot und Peitsche versuchte sie, das »völkerrechtswidrige Vorhaben« zu Fall zu bringen. In einer offiziellen Note legte sie im Februar 1969 gegenüber der Bonner Regierung »schärfsten Protest« ein und forderte sie auf, »die geplante provokatorische Durchführung der Bundesversammlung in Westberlin zu verhindern«.193)

Mit einer speziellen Anordnung verbot der Innenminister der DDR zwei Tage später allen Mitgliedern und Mitarbeitern der Bundesversammlung sowie Generälen und Offizieren der Bundeswehr die Durchreise durch die DDR; auch Arbeitsmaterialien durften zu diesem Zweck nicht transportiert werden.194 Auf der anderen Seite erklärte man sich gegenüber dem Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz überraschend bereit, der Westberliner Bevölkerung zu Ostern erstmals wieder die Möglichkeit zu Verwandtenbesuchen im Ostteil der Stadt einzuräumen — »unter der Voraussetzung, daß die Bundesversammlung und die Wahl des westdeutschen Bundespräsidenten nicht in Westberlin stattfindet«.195

In einer parteiinternen Dokumentation wurde diese Offerte damit begründet, daß die Bundesregierung durch »gewisse Kanäle« der DDR die Mitteilung habe zukommen lassen, daß eine Verlegung des Versammlungs­ortes in Erwägung gezogen werde, wenn diese mit dem Berliner Senat wieder Kontakte aufnehme »und über Ostern eine gewisse Verhandlungsbereitschaft für Verwandtenbesuche zeige«.196 Die Stimmung in der Bevölkerung, so die SED-interne Einschätzung, richte sich »immer klarer gegen die westdeutsche Provokation in Westberlin«, und selbst bei den NATO-Verbündeten wachse der Unmut über den Bonner »Kollisionskurs«.197 Im wahrsten Sinne bis zur letzten Minute versuchte die DDR in Verhandlungen mit dem Senatsbeauftragten Horst Grabert, eine Verlegung des Versammlungsortes zu erpressen.

Zugleich agitierte die DDR mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Versammlung, die als »Unrechtsakt«, »verbrecherisches Vorhaben« oder »Anschlag auf Europas Sicherheit« bezeichnet wurde. Arbeiterbrigaden verurteilten in Stellungnahmen die »widerrechtliche Revanchistenprovokation in Westberlin« und brandmarkten insbesondere die Teilnahme von einigen Abgeordneten der NPD, darunter auch deren Vorsitzender Adolf von Thadden. Um dem Standpunkt der SED zusätzlichen Nachdruck zu verleihen, griff das MfS in bewährter Manier auf sein »NS-Archiv« zurück und überprüfte in der Aktion »Schwarz« sämtliche Mitglieder der Bundesversammlung auf mögliche Belastungen.198)

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Aber auch in der Bundesrepublik mobilisierte man den Widerstand. Der Parteivorstand der SEW bezeichnete die Bundesversammlung als »heimtückischen Anschlag auf die Sicherheit und Lebensfähigkeit« Westberlins und rief zu Demonstrationen auf. Gewerkschaftsfunktionäre wie der sozialdemokratische Betriebsrat des Mannesmann-Hüttenwerkes in Duisburg, Herbert Dräger, verurteilten im SED-Vokabular die »offene Provokation gegenüber den sozialistischen Ländern«. In Köln und Düsseldorf blockierten Demonstranten die Zufahrtsstraßen der Flughäfen, von denen aus die Wahlmänner nach Berlin fliegen wollten. Auch der Schriftsteller Erich Kästner warnte in einer Erklärung vor dem »törichten Vorhaben« und meinte, die »Politik der Stärke« sei in Wahrheit nichts anderes als »halbstarke Politik«.199)

An der Organisierung der Proteste beteiligte sich auch das MfS. »Auftragsgemäß« übersandte Markus Wolf seinem Minister dazu am 18. Februar einen vierseitigen von der Abteilung X entworfenen Plan mit »aktiven Maßnahmen« — ein seltenes Fundstück aus der praktischen Arbeit der dafür zuständigen HVA-Abteilung X.200) Es ging um »die Störung der Vorbereitung und Durchführung der Bundesversammlung vor allem durch Unterstützung der geplanten Aktionen der Außerparlamentarischen Opposition in Westberlin und durch Ausnutzung und Vergrößerung der Unsicherheit in politischen Kreisen Bonns und Westberlins sowie durch verstärkte Bekämpfung der Politik und der Person von [Bürgermeister] Schütz«. Zusätzlich hatte auch die Stasi-»Verwaltung Groß-Berlin« einen Plan entworfen, der jedoch nicht mehr überliefert ist. Ein Teil der aufgelisteten Maßnahmen, so heißt es in dem Wolf-Plan, sei bereits realisiert worden beziehungsweise befinde sich im Stadium der Realisierung. Entsprechend der politischen Zielsetzung werde der Plan auch nach der Wahl mit weiteren Maßnahmen fortgesetzt.

Die geplanten Maßnahmen der Westberliner APO gegen die Bundesversammlung und den eine Woche zuvor stattfindenden Besuch des amerikanischen Präsidenten Nixon sollten dem Papier zufolge »mittels aller nutzbaren operativen Verbindungen in APO-Kreise unterstützt« werden. Im einzelnen ging es um die »Orientierung auf einheitliche Aktionen aller Gruppierungen der APO«, um »Hilfe bei der Organisierung politischer Demonstrationen (besonders bei der geplanten Veranstaltung des Republikanischen Clubs am 5.3. in Westberlin)«, um »Einflußnahme auf den Charakter und die Losungen der Demonstrationen« sowie um »Hilfe bei der Erarbeitung und Verbreitung von Flugblättern und anderen Agitationsmaterialien (insbesondere einer Agitationsschrift des Westberliner Republikanischen Clubs über den Zusammenhang zwischen den Bonner Berlin-Provokationen und den Nachteilen für die Westberliner Bevölkerung)«.

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Verhindert werden sollten dagegen eventuelle »Proteste und Provokationen« gegen die DDR durch bestimmte Kreise der Studentenbewegung. Zugleich wollte man über die »operativen Verbindungen« des MfS auf »politische Formen der Auseinandersetzung« hinwirken und »Sabotageakten« des an-tiautoriäten Flügels der APO »keine Unterstützung« zukommen lassen.

Außer dieser unmittelbaren Einflußnahme auf die Aktionen der APO sah der Plan auch eine Reihe sogenannter »Presselancierungen« vor. So sollte der Berliner Extra-Dienst genutzt werden für eine »Kampagne von Meldungen und Artikeln gegen die Bundesversammlung und die Politik des Schütz-Senats und die Folgen für Westberlin«, wofür die Abteilung X der HVA und die Abteilung XV der Stasi-»Verwaltung Groß-Berlin« verantwortlich zeichneten. Ein nicht näher erläutertes Projekt »Troja« sollte für eine »Presselancierung unter französischer Flagge« herangezogen werden, und ein IM »Freddy« für Lancierungen im Pressedienst dpa.

Über das sogenannte Projekt »Karstadt« wollte die Stasi »aus FDP-Sicht« gegen die Bundesversammlung agieren — wahrscheinlich eine Umschreibung für den von der HVA gesteuerten Pressedienst X-Informationen, der von dem Kölner Journalisten Rudolf Schelkmann (IM »Karstadt«) zur Beeinflussung der FDP-Politik betrieben wurde.201 Schließlich sollten in »Schwerpunktländern der Außenpolitik der DDR« ebenfalls »Stellungnahmen und Meldungen gegen die provokatorische Bonner Westberlinpolitik« lanciert werden. Über »Presseprojekte und -kanäle der Abt. X«, so wurde darüber hinaus vorgeschlagen, sollten »zur Erhöhung der Unsicherheit in den führenden politischen Kreisen Bonns und Westberlins« Informationen gestreut werden, daß die DDR und ihre Verbündeten konkrete Maßnahmen gegen die Bundesversammlung ergreifen würden.

Als dritten Schwerpunkt enthielt der Plan noch flankierende »andere aktive Maßnahmen«. So wollte die HVA umfangreiches »belastendes Material« gegen den ehemaligen Bundestagspräsidenten Gerstenmaier und verschiedene Bundestagsabgeordnete erarbeiten, das in politische Kreise sowie in die Presse Westdeutschlands und anderer Länder »lanciert« werden sollte. In Westberlin sollten Flugblätter verbreitet werden, die die damaligen Auseinandersetzungen in der Firma AEG »mit den Folgen der Bundesversammlung für die Westberliner Bevölkerung in Verbindung bringen«. Schließlich waren nicht näher erläuterte »Maßnahmen zur Beeinflussung der FDP-Führung gegen die Durchführung der Bundesversammlung« vorgesehen, die für HVA-Chef Markus Wolf offenbar von solcher Bedeutung waren, daß er sie mit einem handschriftlichen Zusatz unter das Papier noch einmal bekräftigte. Im Bundesvorstand und in der Bundestagsfraktion der FDP saß seinerzeit, wie erwähnt, der Einflußagent der HVA, William Borm, der wenig später als Alterspräsident die Bundestagspräsidentenwahl zu leiten hatte.

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Mittels der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) und Kontaktpersonen (KP) in der APO versprach Markus Wolf seinem Minister darüber hinaus, eine Einschätzung der Pläne der einzelnen Gruppen für den Tag der Bundesversammlung vorzunehmen und »unsere Haltung dazu« festzulegen. Auch eine Einschätzung der »Zuverlässigkeit und des letzten Standes der Zusammenarbeit der IM u[nd] KP« sollte noch vorgenommen werden. Ferner kündigte er an, daß »in Verbindung mit der noch zu erwartenden Orientierung ein entsprechender] spezieller Plan der Einflußnahme zu ergänzen« sei. In seinem Anschreiben an Mielke hieß es schließlich: »Der Plan ist bewußt allgemein gehalten, beinhaltet nicht die politische Steuerung einzelner wichtiger IM der operativen Abteilungen (zum Beispiel Bundestagsabgeordneter) und geht nicht auf die Möglichkeit der Beeinflussung bestimmter Aktionen der APO im einzelnen ein. Diese Möglichkeiten werden z. Z. noch präzisiert und ergeben sich allgemein aus der als Anlage zum Plan beigefügten noch unvollständigen Aufstellung über die operativen Verbindungen, die in Zukunft durch das neu geschaffene Arbeitsgebiet in der Abteilung II der HV A koordiniert werden sollen.«202)

Eine von der HVA beschlossene Sonderausgabe des Extra-Dienstes zum Thema »Bundesversammlung und die Folgen für Westberlin« erschien Anfang März und mobilisierte unter dem Titel »Bonn demonstriert — Westberlin stirbt« den Widerstand gegen die Präsidentenwahl. Gezielt wurden darin die Ängste in der Bevölkerung geschürt: »Am Donnerstag werden die westdeutschen Bundeswahlmänner wieder zu Hause sein: Spätestens dann werden wir schwerwiegende Einschränkungen des zivilen Personenverkehrs von und nach Westberlin haben. (...) Solche Pressionen haben weder Richard Nixon noch die Leute in Bonn auszubaden. Die anderen fahren wieder zurück. Wir nicht.«

Trotz gegenteiliger Äußerungen habe der Senat »eiskalte Füße« und wisse genau, daß die östlichen Maßnahmen kein kurzfristiger militärischer Operettendonner sein würden, sondern an den Lebensnerv Westberlins gingen. »Dann werden noch weniger Investitionen nach Westberlin gegeben. Noch mehr Industrie-Firmen werden still und leise davonziehen. [...] Die Bevölkerung wird noch rascher schrumpfen.« Es sei an der Zeit, daß die Westberliner und die westdeutsche Öffentlichkeit gegen das »unverantwortliche Pokerspiel« auftreten, denn Westberlin könne und dürfe kein Land der Bundesrepublik werden, sondern müsse zur offenen Freien Stadt ganz Europas werden. Den Kopf des Sonderblattes zierte ein Demonstrationsaufruf, der unter anderem eine Flugblattaktion am Kurfürstendamm und die »Begrüßung« prominenter Bonner Wahlmänner vor dem Hotel am Zoo umfaßte. Für 20 Uhr wurde zu einem Teach-in in der nahegelegenen Technischen Universität aufgerufen.203)

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Tatsächlich kam es am 4. und 5. März in Westberlin zu massiven Protestaktionen der APO. Horst Mahler, Mitbegründer des Republikanischen Clubs, hatte schon im November 1968 erklärt, daß die Außerparlamentarische Opposition Bonn und den Westberliner Senat dazu zwingen werde, entweder die Bundesversammlung abzusagen oder sie hinter Stacheldrahtbarrikaden abzuhalten. In einem anonymen Flugblatt war darüber hinaus die »Verhinderung und Zerschlagung dieses westdeutschen Demokratiespiels [...] durch zielstrebige militante Massenaktionen« angekündigt worden.204

Ein »Berliner Bürgerkomitee«, zu dem einer Aufstellung der HVA zufolge unter anderem William Borm, Professor Gerhard Kade, aber auch Günter Grass und Heinrich Albertz gehörten, hatte ebenfalls gegen die Versammlung Stellung genommen — entsprechende Äußerungen des Leiters der Evangelischen Akademie, Erich Müller-Gangloff, in der Ostberliner Presse hatten zuvor für heftige Auseinandersetzungen gesorgt.205)

Am Steinplatz, wo die SEW am Vortag der Wahl eine vom Polizeipräsidenten verbotene Demonstration hatte stattfinden lassen wollen, hatten sich, dem Aufruf des Extra-Dienstes folgend, am Nachmittag etwa 200 Demonstranten eingefunden, die von der Polizei umzingelt und zur Auflösung der Versammlung aufgefordert wurden. Danach versammelten sich zwischen 1000 und 2000 Menschen in der Mensa der Technischen Universität, wo unter anderem der SDS-Aktivist und FU-Assistent Johannes Agnoli zu Straßenblockaden aufrief. Andere Sprecher forderten zur Belagerung der Hotels auf, in denen die Wahlmänner für die Bundesversammlung untergebracht waren.

Gleichzeitig wurde von einigen Diskutanten vor »putschistischen Aktionen« gewarnt, zum Beispiel gegen einzelne Bundestagsabgeordnete. Nur Dutschke-Freund Bernd Rabehl kritisierte auch die DDR, die lediglich symbolisch die Zufahrt nach Berlin gesperrt hätte und »den Kapitalisten« gleichzeitig auf der Leipziger Messe Geschäfte anbiete. Im Anschluß an die Versammlung zogen mehrere hundert Studenten dann im Laufschritt zum Kurfürstendamm, wo es vor der Hotelunterkunft führender Teilnehmer der Bundesversammlung zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Am Amerika-Haus und später am Cafe Kranzler wurden mehrere Fensterscheiben eingeworfen. Der Kurfürstendamm, so berichtete der Tagesspiegel, war mit Tausenden anonymer Handzettel übersät, auf denen Losungen wie »West-Berlin braucht Sicherheit — Entspannung — Verständigung« standen.206)

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   Das Ende des SDS  

 

Gleichwohl zeigten sich bei dieser Aktion auch die Risse, die die Studentenbewegung mittlerweile durchzogen. Selbst innerhalb des Republikanischen Clubs war man über das Verhältnis zu SPD und SEW zerstritten, wobei der Arbeitskreis Propaganda und sozialistische Theorie ausdrücklich die Zusammenarbeit mit der SEW befürwortete — wie ein IM im Juli 1969 aus einer Zusammenkunft von zehn Vertretern berichtete.207 Die verschiedenen Strömungen gingen inzwischen auch organisatorisch verschiedene Wege, so daß sich der Bundesverband des SDS im März 1971 auf Antrag des Vorstandsmitgliedes Udo Knapp offiziell auflöste.

Für das MfS war das Kapitel »Studentenbewegung« damit freilich noch nicht beendet, denn nun galt es die diversen neomarxistischen Gruppen und Parteien »aufzuklären« und zu infiltrieren. Namentlich die maoistischen Gruppierungen, die, wie die sogenannte KPD, der SED sogar ihr ureigenstes Erbe streitig zu machen versuchten und die Sowjetunion dabei als »sozialfaschistisch« geißelten, waren der DDR-Führung ein Dorn im Auge und wurden so wichtig genommen, daß die Westabteilung des Zentralkomitees Erich Honecker höchstpersönlich über deren Entwicklung laufend unterrichtete.208 Dem MfS fiel in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, die Pläne dieser Gruppen, besonders gegenüber der DDR, in Erfahrung zu bringen und zu sabotieren sowie ein »Überschwappen« auf die DDR zu verhindern.209 Wie ernst man diese Gefahr nahm, läßt sich daran erkennen, daß die für Terrorabwehr zuständige Abteilung XXII die »Federführung« bei der Aufklärung und Bekämpfung der K-Gruppen übertragen bekam, doch auch die HVA sollte gezielt in die »linksextremistischen und trotzkistischen Zentren« im Westen eindringen.210 Welche Erfolge sie dabei erzielte, ist ein eigenes Thema, das an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden kann.

Auf der anderen Seite bot die marxistische Orientierung vieler Studenten ein wichtiges Motiv bei der Werbung von neuen Informanten. Zur »laufenden Gewinnung von Perspektiv-IM und geeigneten Einschleusungskandidaten für das Eindringen in die Hauptobjekte des Feindes« befahl Markus Wolf 1971 eine verstärkte »Bearbeitung« der Universitäten.211

Wie weit die ideologisch bedingte Bereitschaft zur Denunziation gehen konnte, zeigt das Beispiel des damaligen Westberliner Politologiestudenten Bernhard Langfermann, der später am Otto-Suhr-Institut beschäftigt und Mitarbeiter der Politologenzeitschrift »Sozialistische Politik« war. Einer überlieferten Stasi-Akte zufolge meldete er sich im Januar 1970 am Grenzübergang Friedrichstraße und berichtete, daß ein aus der DDR geflüchteter Kommilitone ihn gebeten habe, 35 Bücher in die DDR einzuschmuggeln.

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Laut Bericht brachte er dabei zum Ausdruck, daß er »nicht die Absicht hat, unserem Staat zu schaden. Er nimmt an, daß die Durchführung des in dem genannten Brief dargelegten Auftrages nicht in unserem ] Interesse sei«.212 Die Stasi registrierte Langfermann als IM-Vorlauf »Boris Buch« und setzte ihn zur Bearbeitung von Studenten ein, die gegen die Sprengung der Leipziger Universitätskirche protestiert hatten. Im Abschlußbericht hielt sie 1973 fest, daß mit seiner »qualifizierten und aktiven Mithilfe« der Operativ-Vorgang »Atom« abgeschlossen werden konnte. »Im Ergebnis des Abschlusses des Operativ-Vorgangs konnten vier Bürger der DDR inhaftiert werden, die versucht hatten, die DDR ungesetzlich über das sozialistische Ausland zu verlassen.«

Da »Boris Buch« Mitglied der SEW sei und deshalb eine nachrichtendienstliche Nutzung vom MfS vermieden werden sollte, wurde das vorhandene Material »zur Ablage gebracht«.213 Obwohl eine der damals Inhaftierten nach der Wende Langfermann wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung anzeigte, weigerte sich die Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben — mit der Begründung, daß die Verurteilung nach DDR-Recht rechtmäßig und deshalb keine Freiheitsberaubung gewesen sei.214

Das MfS suchte über seine IMs, auch in den siebziger und achtziger Jahren in diversen studentischen Gruppen politischen Einfluß auszuüben und die vom Zentralkomitee der SED angeleitete Arbeit der DKP und ihrer Studentenorganisation, des MSB Spartakus, zu unterstützen.215 Über diese Form der politischen Einflußnahme an den Universitäten, für die die HVA zuständig war, sind jedoch bislang so gut wie keine Unterlagen aufgefunden worden. Abstrakte Hinweise darauf finden sich aber in einer Forschungsarbeit über die »politisch-operative Bearbeitung der Hochschulen in der BRD und in Westberlin«, die 1976 im Auftrag von Markus Wolf angefertigt wurde. Der Nutzung der Hochschulen für sogenannte »politisch-aktive Maßnahmen« wird darin ein eigenes Kapitel gewidmet.

Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung derartiger Maßnahmen, so heißt es da, sei unter anderem, »daß sie sich einfügen in den mehr oder weniger entwickelten Differenzierungsprozeß, was wiederum genaue Kenntnisse über den Differenzierungsprozeß und die im Konkreten Beteiligten erfordert«. Die Beeinflussung erfolge dabei »mit spezifischen Mitteln und Methoden, deren sich die DKP bzw. ihr nahestehende Organisationen in der Regel nicht bedienen können. Das trifft insbesondere zu auf das Eindringen in feindliche Organisationen, die Initiierung von Artikeln in bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften unter Verwendung von internen, tendenziös eingefärbten Informationen, das Lancieren von Geheimdokumenten etwa des Verfassungsschutzes, das Ausstreuen desorganisierender oder diffamierender Fakten und Gerüchte unter Verwischung der Herkunft und dergleichen.«216

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Befriedigt wird in der HVA-Untersuchung beispielsweise konstatiert, daß an der Freien Universität Berlin, die früher ein »Hort reaktionärer Hochschullehrer« gewesen sei, nunmehr etwa 80 Prozent der Studenten die sogenannte »linke Fraktion« unterstützten.217 »Eine solche Entwicklung in dieser Größenordnung zu beeinflussen«, so heißt es weiter, »bedarf des komplexen, auf lange Sicht konzipierten Einsatzes politisch-aktiver Maßnahmen.«

Gegenüber dem als »reaktionär« und »gefährlich« eingestuften Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) könnten derartige Maßnahmen an einer oder mehreren Hochschulen »eine bundesweite Wirkung auslösen und »den progressiven Kräften förderliche Betätigungsbedingungen einräumen«. Einzelne »reaktionäre« Professoren, die eine politisch »progressive« Entwicklung in ihrem Bereich verhindern wollten und eine besondere Symbolfigur darstellten, rechtfertigten ebenfalls den Einsatz solcher Maßnahmen. Sie könnten aber auch in Erwägung gezogen werden, wenn »operative Gesichtspunkte« dies erforderten, zum Beispiel »wenn ein bestimmter Lehrstuhl von einem IM besetzt« werden müßte.218 Angesichts der Ablehnung des Verfassungsschutzes durch viele Studenten würde schließlich durch »gezielte« und »koordinierte« Maßnahmen zu seinen »Umtrieben« im Hochschulbereich »der Kette der Skandale dieses feindlichen Geheimdienstes nicht nur ein neues Glied hinzugefügt«, sondern würden auch für die Arbeit der HVA an den Hochschulen »begünstigende Umstände« geschaffen.219

In dieser Zeit rückte auch Rudi Dutschke noch einmal verstärkt ins Blickfeld der DDR-Staatssicherheit. Nach dem Attentat hatte er Deutschland zunächst verlassen, war aber, trotz seiner schweren Kopfverletzung, keineswegs gewillt, sich politisch zur Ruhe zu setzen. Ab 1973 intensivierte er insbesondere seinen Kontakt zu Wolf Biermann, mit dem er bei sporadischen Besuchen in Ostberlin über die Möglichkeiten eines Sozialismus diskutierte, der jenseits von westlichem Kapitalismus und östlicher Staatsdespotie liegen sollte. Im Mai 1973 unterzeichneten beide ein Flugblatt, in dem verlangt wurde, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in den sozialistischen Ländern gegen Berufsverbote zu kämpfen.220 Im Juli protestierte er auf einer Pressekonferenz gegen ein Einreiseverbot, das die DDR gegen ihn aus Anlaß der Weltjugendfestspiele verhängt hatte, dann aber wieder aufheben mußte. Später kam es noch mehrfach zu freundschaftlichen Begegnungen, bei denen Biermann, einem überlieferten Tonbandmitschnitt der Stasi zufolge, mit Dutschke ein wenig schulmeisterlich die DDR-Verhältnisse debattierte.221

Zu diesem Zeitpunkt ging es Rudi Dutschke um einen politischen Schulterschluß von undogmatischen Sozialisten in Ost und West. In einer ausführlichen Information vom Oktober 1973 schrieb die Staatssicherheit über ihn:

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»Seine ideologische Haltung ist wirr und entspricht der zahlreicher Vertreter der <Neuen Linken>: er ist <antiautoritär> eingestellt, befürwortet eine <permanente Diskussion> und ist von Auffassungen des Maoismus und Trotzkismus beeinflußt. [...] Er lehnt den <Staatssozialismus> in der UdSSR und der DDR ab und ist davon überzeugt, daß dieser <von Krise zu Krise> gehen werde.«222)

Im Juli 1975 gab Dutschke zusammen mit dem Havemann-Vertrauten Manfred Wilke ein Buch heraus, das den programmatischen Titel trug <Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke>.223 Natürlich wurde es vom MfS als »antisowjetisch« eingestuft. Angesichts der unübersehbaren ideologischen Erosionserscheinungen im sozialistischen Lager zeigte sich die Staatssicherheit über derartige Aktivitäten stärker alarmiert als durch offen antikommunistische Kritiker.

Erst nach Dutschkes Tod im Dezember 1979 wurde bekannt, daß er sich zu diesem Zeitpunkt von östlichen Geheimdiensten physisch bedroht fühlte. In einem Brief vom 25. Februar 1975, den seine Frau Gretchen nur im Falle eines Unglücks öffnen sollte, schrieb er:

»Du hast mir wenig geglaubt in der Einschätzung von Personen aus unserem Umkreis. Darum hat es auch keinen Sinn, Dir meine Überzeugungen und Begründungen niederzuschreiben. Nur eins sollst Du nie aus dem Kopf verlieren, das ist die 99,9-Prozent-Überzeugung von mir, daß, wenn es einen <Abgang> von mir gibt, dann ist das in der gegenwärtigen Phase eher durchgeführt durch SU-DDR-Geheimdienst als durch westlichen. [...] Was das Interesse für den ersteren wäre? Ganz einfach, und ohne Überheblichkeit, ich bin für sie leider die einzige wirkliche theoretische und politische Herausforderung. [...] Habe keine Lust, mich draufgehen zu lassen, werde wie ein Fuchs aufpassen. Aber nichts ist unmöglich. Darum schreibe ich diese Zeilen.«224) 

Zumindest aus dem überlieferten Personendossier zu Rudi Dutschke geht eine solche Bedrohung von Leib und Leben nicht hervor. Seine Frau Gretchen registrierte bei ihm in den Jahren zuvor aber wiederholt Angstzustände und Erscheinungen von Paranoia, die mit der schweren Kopfverletzung und seiner unsicheren sozialen Lage in Zusammenhang standen. Auf der anderen Seite schrieb er 1975 auch: »Ich kann mir kaum vorstellen, daß das DKP-Ziel ist, mich umzulegen.«

Seine Vermutung, daß die haßerfüllten Angriffe der DKP gegen ihn nicht ohne Zustimmung oder sogar Weisung aus Ost-Berlin denkbar waren, war jedoch sicher richtig.225 Über seine »Bearbeitung« durch das Ministerium für Staatssicherheit in dieser Zeit heißt es in einem Aktenvermerk von 1976: »Das B[üro]d[er]L[eitung] beabsichtigt, Dutschke zu löschen, da sie keinerlei Beziehungen zur operativen] Bearbeitung des D. mehr haben. D. wurde vor 1968 von ihnen erfaßt, da er Verbindungen zum ZK unterhielt. In letzter Zeit wurden ihnen mehrmals Beobachtungsberichte von der H[aupt]A[bteilung] VIII zugesandt, die für ihre Arbeit keinerlei operative] Bedeutung haben.«226

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Einem anderen Schriftstück zufolge begann die »operative Bearbeitung« von Rudi Dutschke angeblich sogar erst im Januar 1978. Wegen seiner Rolle als »maßgeblicher Mitorganisator« bei der Gründung eines »Kommunistischen Bundes«, der darum bemüht sei, »entsprechende Aktivitäten gegen die DDR zu entwickeln«, verhängte die Stasi gegen ihn 1979 schließlich ein Einreiseverbot.227)

 

   IMs in der APO  

 

Wie groß das Netz der Inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter in den Reihen der Studentenbewegung letztlich war und welche Wirkungen sie dort entfalteten, wird sich wohl niemals mehr genau feststellen lassen. Lediglich über Westberlin ist eine »Aufstellung über operative Verbindungen zu Organisationen und Gruppen der APO« überliefert, der zufolge allein der Aufklärungsapparat des MfS in der Berliner Studentenbewegung über mehr als zwei Dutzend Inoffizielle Mitarbeiter (IM) und Kontaktpersonen (KP) verfügte: drei IM und vier KP wirkten im Republikanischen Club, neun IM und vier KP im SDS, zwei IM und drei KP im ASTA von FU und TU sowie sechs IM in anderen Organisationen.228 

Diese Liste ist jedoch keineswegs vollständig, da die Agenten anderer Diensteinheiten — zum Beispiel Peter Heilmann, Dietrich Staritz und Walter Barthel — darin keine Berücksichtigung finden.229 Für deren Diensteinheit — die für Westberlin zuständige Hauptabteilung XX/5 — berichteten aus der APO auch noch weitere IMs, etwa der gelernte Rohrleger Karl Schade, der unter dem Decknamen »Georg Schneider« vor allem in den sechziger Jahren aus SPD-Kreisen und linksradikalen Gruppierungen die Stasi informierte.230

Nur wenige dieser IMs sind bislang enttarnt worden. Bei dem in der Aufstellung genannten IM »Hoffmann«, der im SDS agierte, dürfte es sich um den späteren Politikprofessor Hanns-Dieter Jacobsen gehandelt haben, der den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zufolge unter diesem Decknamen seit 1968 Kontakt zum MfS hatte und bei den etwa zweimonatlichen Treffen zielgerichtete Fragen zur Studentenbewegung beantwortete sowie bis zu zehn verschiedene Flugblätter übergab. Im Vorfeld des Stoph-Besuches in der Bundesrepublik, so war bei seinem Prozeß im November 1995 zu erfahren, fuhr Jacobsen Anfang 1970 auf Geheiß des MfS auch nach Kassel, um rechtsradikale Entwicklungen ausfindig zu machen.231

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Die ebenfalls im SDS angesiedelte Quelle »Jutta« könnte identisch sein mit einer Quelle gleichen Namens, die 1974 auch im Kampf gegen das Umwelt­bundesamt in Berlin zum Einsatz kam und bis 1989 als Angestellte in der Verbindungsstelle des West-Berliner Finanzsenators für die Aufklärung aktiv war; mit über 900 registrierten Berichten nahm sie unter den Agenten eine Spitzenposition ein.232 Dem IM »Heinemann«, der eine führende Rolle in der Vereinigung Unabhängiger Sozialisten (VUS) spielte, kann zwar ein Klarname zugeordnet werden, doch alle handfesten Belege sind von der Stasi beseitigt worden. Wer aber war »Anita«, »Alfons«, »Rolf«, »Horst«, »Elias«, »Herbert«, »Malter«, »Berg«, »Sense«, »Strauch«, »Doktor« oder »Lang«?

Auch dann, wenn prominente Wortführer des SDS öffentlich als Stasi-Mitarbeiter geoutet wurden, bleibt ihre tatsächliche Rolle zumeist im dunkeln - wie etwa bei dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der einst Vorsitzender der Kölner SDS-Gruppe war und damals der illegalen KPD nahestand.233 Anfang der siebziger Jahre publizierte er im »konkret Buchverlag« ein ominöses Buch, das - getreu der damaligen Stasi-Doktrin - die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition »von links« verteufelte und drei »Hauptfeinde« des MfS vorführte: den »Forschungsbeirat für die Fragen der Wiedervereinigung«, die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« (KgU) und die »Psychologische Kampfführung« der Bundeswehr. In einer Fußnote vermerkte er, daß »den Verfassern umfangreiche Archivmaterialien und Zeitungsausschnittdienste« zur KgU vorlägen, und bedankte sich bei dem Schriftsteller Günter Wallraff »für die Überlassung von Unterlagen, Dokumenten und Ausarbeitungen« zur KgU.234

Einem neunseitigen Stasi-Vermerk zufolge war Wallraff 1968 für eine »Zusammenarbeit mit dem Nachrichten­dienst der DDR« geworben worden und »im Auftrag« der Desinformationsabteilung X der HVA zu einem früheren KgU-Agenten nach Schweden gereist; auf der Grundlage des »erarbeiteten Materials« sei »eine Veröffentlichung« in der Zeitschrift Konkret erfolgt, die »vorher mit dem MfS abgestimmt war«. Wallraff selbst hat nach Auftauchen des Vermerkes der Berliner Stasi-Akten-Behörde eine siebenundvierzig Seiten umfassende »Gegendarstellung« übermittelt, in der er bestreitet, jemals Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen zu sein oder auch nur wissentlich mit ihr zu tun gehabt zu haben.235

In den achtziger Jahren arbeitete Roth am <Hamburger Institut für Sozialforschung>, das ehemalige Achtundsechziger mit dem Geld des Zigarettenerben Jan Philipp Reemtsma gegründet hatten. Nach dem Ende der DDR beschuldigte die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe Roth, von 1986 an unter dem Decknamen »Zeus« für die Abteilung X der HVA gearbeitet zu haben, und ließ im Oktober 1994 seine Wohnung durchsuchen. Im Potsdamer Dokumentationszentrum der DDR-Archivverwaltung — eine »legale Residentur« der HVA — habe ihn der Stasi-Mitarbeiter Detlef Blell für das Referat 3 rekrutiert, das zuständig war für Einflußagenturen und »Multiplikatoren« in der Bundesrepublik.

Roth teilte daraufhin in einem Rundschreiben an Freunde und Kollegen mit, daß ihm zur Last gelegt werde, er habe die Aufgabe gehabt, Mitarbeiter für die HVA zu werben und in Richtung Hamburger Medien (Spiegel und Stern) zu arbeiten. Er habe jedoch nach Aufhebung seines Einreiseverbotes im Jahr 1985 lediglich als Historiker Archive und Bibliotheken der DDR genutzt, wobei »vielfältige Kontakte mit Einzelpersonen« entstanden seien — mehr wolle er angesichts der bundesanwaltschaftlichen Beschuldigungen nicht dazu sagen.

Tatsächlich verfügte die HVA-Abteilung X jedoch über eine gut informierte Quelle im oder am Institut. Dies belegt ein Schriftwechsel, der 1987 mit der Abteilung geführt wurde, in der Akte des ausgewiesenen Bürgerrechtlers Roland Jahn, nachdem die Stasi vom Schriftsteller Sascha Anderson (IMB »Peters«) erfahren hatte, daß Jahn dort tätig sei.

»Den Aussagen einer Quelle zufolge«, so teilte die Abteilung seinerzeit den MfS-Kollegen von der Hauptabteilung XX/5 mit, »ist Jahn als Mitarbeiter dieses Institutes nicht bekannt.« Er könne aber eventuell eine ABM-Stelle haben oder einer von den etwa zwanzig bis dreißig Stipendiaten des Institutes sein. Wenig später bestätigte die HVA, daß Jahn in der Tat ein derartiges Stipendium habe, und lieferte weitere Interna aus dem Institut. Der Leiter der Hauptabteilung bedankte sich dafür, daß mit Unterstützung der HVA-Abteilung X »der inoffizielle Nachweis erbracht« worden sei, daß Jahn von dem Institut ein bis Herbst 1987 befristetes Stipendium erhalte.236)

Doch im Rechtsstaat der Bundesrepublik, dem die Achtundsechziger über Jahre hinweg »Klassenjustiz« vorgeworfen hatten, fand Karl-Heinz Roth einen milden Richter: Mangels aussagekräftiger Unterlagen über die Tätigkeit des IM »Zeus« wurde das Verfahren 1997 wegen geringer Schuld und gegen Zahlung einer Geldstrafe eingestellt.237 Roth selbst revanchierte sich wenig später durch eine neuerliche Desinformations­schrift über den Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands — veröffentlicht im Auftrag der PDS.238

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