10 Die Hochschulen — Kaderschmieden des MfS
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Es war wie ein Stich ins Wespennest: Als Studenten der Gesamthochschule Kassel im Sommer 1998 den förmlichen Antrag stellten, Wissenschaftler und höhere Verwaltungsbeamte auf eine frühere Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit zu überprüfen, lösten sie in der Professorenschaft eine Welle empörter Reaktionen aus. Der Stadtplaner Pfromm bezeichnete den Antrag als »bescheuert« und meinte, nun solle auch noch im Westen »ohne Not auf Hexenjagd gegangen werden«.
Der Psychologe Lantermann stand ihm bei und erklärte, die »Fehler«, die im Osten begangen worden seien, »müssen wir doch nicht wiederholen«. Auch der Präsident der Hochschule, Hans Brinckmann, wandte sich gegen eine »Schleierfahndung in den Stasi-Unterlagen« und verglich sie mit dem »Radikalenerlaß« der siebziger Jahre.
Wer die prinzipielle Unschuldsvermutung gegen den prinzipiellen Verdacht eintausche, stelle den Rechtsstaat in Frage.
Eine große Koalition aus allen politischen Lagern stimmte schließlich für den Antrag des Vertreters der konservativ-liberalen Professorenliste, das Thema zu vertagen. Im Oktober 1998 wurde er gänzlich zurückgewiesen. Die Vertreter der Juso-Hochschulgruppe und der Freien Liste, die den Antrag eingebracht hatten, zeigten sich enttäuscht und meinten, jene Professoren, die mit Jürgen Habermas den kritisch-rationalen Diskurs gefordert hätten, seien selber zu diesem offenbar nicht mehr fähig.1)
Dabei gab es durchaus Anlaß, auch im provinziellen Kassel nach ehemaligen Stasi-Spitzeln zu forschen. Schon drei Jahre zuvor hatte die Hochschule ein disziplinarrechtliches Vorermittlungsverfahren gegen den Wirtschaftsprofessor und Mitbegründer der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Ludwig Bress einleiten müssen, nachdem die Bundesanwaltschaft Ermittlungen wegen des Verdachts des Landesverrats aufgenommen hatte. Auslöser waren Aktenfunde über eine IM-Tätigkeit in den Jahren 1957 bis 1967 gewesen. Das Verfahren, das normalerweise nach sechs Monaten abgeschlossen sein sollte, zog sich so lange hin, bis Bress in den vorzeitigen Ruhestand treten konnte und die Hochschule keine rechtliche Handhabe mehr zur Akteneinsicht hatte. Im Oktober 1996 tauchten dann weitere Teile seines IM-Vorgangs »Berger« auf, die aus zerrissenen Unterlagen zusammengesetzt worden waren.
Zwölf Bände mit knapp 4000 Seiten dokumentierten jetzt eine rund dreißigjährige Agententätigkeit für die Hauptabteilung XX/4, zu der auch der Gebrauch geheimdienstlicher Mittel wie chiffrierte Funkverbindungen oder Geheimtinte gehörte.2) Eine weitere ehemalige Universitätsangestellte, die einstige zweite Kasseler Frauenbeauftragte Heidemarie Regus (IM »Bärbel Ziegler«), hatte zusammen mit ihrem Mann Folke (IM »Rolf Köster«) für die Stasi jahrelang »Ermittlungen« durchgeführt und bereits als Studentin die politischen Gruppen an der Gesamthochschule ausgeforscht.3)
Tatsächlich bildeten die Universitäten der Bundesrepublik ein zentrales Aktionsfeld des Staatssicherheitsdienstes. Seit Gründung der DDR-Geheimpolizei lagen sie im Visier des Ministeriums, in kaum einem anderen Bereich der westdeutschen Gesellschaft war das MfS quantitativ bis zuletzt so präsent wie hier.4)
Der DDR-Staatssicherheit ging es dabei nicht vorrangig um Informationsbeschaffung. Die traditionell an den Hochschulen betriebene Grundlagenforschung wurde vom Staatssicherheitsdienst vielmehr als »wenig ergiebig« betrachtet. Realistischerweise ging man davon aus, daß die allerorten gesuchten Informationen über die »Pläne, Absichten und Maßnahmen, des Feindes« an den Universitäten kaum zu finden seien. Allerdings ergäben sich durch die vielfältigen Verbindungen der Hochschulen zu den »feindlichen Zentren« in Wirtschaft, Politik oder Militär durchaus bedeutsame »Ressourcen«.5)
Relevant erschien der Staatssicherheit dabei besonders die Auftrags- und Drittmittelforschung an den Universitäten, als, wie man meinte, »vorherrschende« Form der Verbindung zu den als »feindlich« eingestuften Institutionen. Inhaltlich interessierte man sich vor allem für die DDR- und Osteuropaforschung an den Universitäten, etwa am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, am Institut für Ostrecht an der Universität Kiel und an anderen einschlägigen Instituten.6)
»Aufklärungsnotwendigkeit« bestand nach einer MfS-internen Untersuchung aus dem Jahr 1976 über die »politisch-operative Bearbeitung der Hochschulen« in der Bundesrepublik auch im Fall des Sonderforschungsbereiches 10 der Freien Universität Berlin (»Die Sowjetunion und ihr Einflußbereich seit 1917«), da hier durch die zentrale Zusammenführung von 48 Wissenschaftlern aus 11 Wissenschaftsdisziplinen »eine neue Qualität« entstanden sei.7)
Als wichtig wurden zudem Forschungen eingestuft, denen in den Augen des MfS eine militärische Bedeutung zukam — beispielsweise Untersuchungen am Mikrobiologischen Institut der Universität Göttingen, im Fachbereich Chemie der Universität Freiburg oder im Sonderforschungsbereich »Flugführung« der Technischen Universität Braunschweig, um nur einige Beispiele aus den siebziger Jahren zu nennen.
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Auch persönlichen Verbindungen von Hochschullehrern zu »militärischen Zentren«, wie im Fall des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Verteidigung, dem zwanzig Professoren und Wissenschaftler angehörten, sei große Aufmerksamkeit zu widmen.8)
Verbindungen zu anderen Regierungseinrichtungen, etwa im Rahmen der Beratungs- und Gutachtertätigkeit von Hochschullehrern, erschienen dem MfS ebenfalls von Bedeutung, wobei man zwischen den einzelnen Politikfeldern große Unterschiede machte: »Während zum Beispiel ein wissenschaftlicher Beirat beim Gesundheitsministerium kein politisch-operatives Aufklärungsinteresse begründet, ist das beim Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung beim Minister für innerdeutsche Beziehungen unbedingt der Fall. Ein Hochschullehrer, der zum Beispiel ein führendes Mitglied dieses Arbeitskreises ist, bietet Möglichkeiten zur Erarbeitung politisch-operativer Informationen.«
Als »wertvolle Informationsträger« wurden auch solche Professoren betrachtet, die persönliche Verbindungen in die Regierung hatten, wie Karl-Dietrich Bracher und Hans-Adolf Jacobsen, oder solche, die in einer Partei ein hohes Amt bekleideten, wie Horst Ehmke (SPD), Werner Maihofer (FDP) oder Kurt Biedenkopf (CDU).9)
Zur »Förderung des revolutionären Weltprozesses«, so die erwähnte MfS-Untersuchung, sei es auch erforderlich, nach Möglichkeiten zu suchen, wie die beschafften Informationen politisch genutzt werden könnten. Durch »aktive Maßnahmen« wollte man die Position der DDR-freundlichen Kräfte an den Universitäten stärken. Voraussetzung dafür waren nach Ansicht des MfS genaue Kenntnisse über die politischen Auseinandersetzungen und Gruppierungen an den Universitäten, damit sich seine Maßnahmen unauffällig darin einfügten und nicht als MfS-gesteuert erkannt würden.10
Tatsächlich war die Staatssicherheit in vielen studentischen Gruppierungen durch Inoffizielle Mitarbeiter vertreten. Die Liste der Berichterstatter reicht vom 1961 angeworbenen Gruppenvorsitzenden des SDS am Berliner Otto-Suhr-Institut, Dietrich Staritz (»Erich«), und dem Berliner SDS-Funktionär und späteren Initiator des »Extra-Dienstes«, Walther Barthel (»Kurt«), über die siebzehn Inoffiziellen Mitarbeiter und elf Kontaktpersonen, die Ende der sechziger Jahre der Aufklärungsapparat des MfS in der Berliner Studentenbewegung führte, bis hin zum früheren Bundesvorsitzenden der Studentenorganisation des NPD, Lutz Küche (»Bakker«).11 Über das politische Leben an den Universitäten war die Stasi auf diese Weise in der Regel gut informiert. Die von ihr gesammelten Berichte bilden heute einen umfangreichen, kaum genutzten Quellenbestand zur westdeutschen Studentenbewegung.
Das MfS ging davon aus, daß geheimdienstliche Aktionen an den Universitäten »die Politik der Zentren des Feindes in der Tendenz nicht direkt« träfen.
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Studenten wurden deshalb auch für »politisch-aktive Maßnahmen« gegen außeruniversitäre Ziele eingesetzt, beispielsweise im Fall der erwähnten Diskreditierungsaktion gegen den CDU-Politiker Rainer Barzel. Zudem war man sich bewußt, daß die konspirative Einflußnahme auf die Universitäten »immenser Kräfte« bedurfte und unter Umständen auch unerwünschte politische Folgen nach sich ziehen könnte. »Mithin sind die Hochschulen nicht das Hauptfeld für politisch-aktive Maßnahmen. Dennoch sind die sich an den Hochschulen bietenden Möglichkeiten für politisch-aktive Maßnahmen zur weiteren Differenzierung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Progressiven zu nutzen.«12
Die Rekrutierung von »Perspektivagenten«
Die eigentliche Bedeutung der westdeutschen Hochschulen lag für das MfS darin, sie systematisch für die Gewinnung von Nachwuchsagenten zu nutzen — als eine Art Kaderreservoir und Anlernstätte für die spätere geheimdienstliche Arbeit in einem »feindlichen« Objekt. »Die Nutzung des personellen Potentials«, so formulierte es die 1976 erstellte Untersuchung der HVA, bilde den »Schwerpunkt der konzentrierten Bearbeitung«.13
Ausschlaggebend dafür war, daß hier die Werbung von inoffiziellen Mitarbeitern verhältnismäßig einfach vonstatten ging — einfacher, als in den Zentren der Macht, die oftmals durch besondere Sicherheitsvorkehrungen geschützt waren und deren Mitarbeiter in der Regel wenig Neigung zeigten, sich mit dem MfS einzulassen. Studenten, so die frühzeitige Erfahrung des Staatssicherheitsdienstes, waren mit finanziellen Gegenleistungen oder aufgrund einer regierungskritischen Einstellung als Informanten dagegen leichter anzuwerben als andere Bevölkerungsgruppen.
Waren sie erst einmal verpflichtet, gelangten sie, jedenfalls bis zur Bildungsexpansion der siebziger und achtziger Jahre, im Verlauf ihres normalen beruflichen Aufstiegs fast automatisch in eine gehobene und für das MfS interessante Position.
Schon in den fünfziger Jahren schickte das MfS deshalb seine Mitarbeiter in den Westen, um an den dortigen Universitäten Agenten zu werben. In seinem Buch <Ohne Chance> beschreibt der ehemalige HVA-Offizier Hans Eltgen, wie er — damals selber noch Student an der Technischen Hochschule Dresden — in Braunschweig, Hannover, Hamburg, Aachen, Darmstadt, Göttingen, Stuttgart und München Kommilitonen technischer Fachrichtungen observierte und an das MfS zu binden versuchte.
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»Ich erarbeitete dabei Hinweise auf interessante Personen, prüfte in erster Instanz, ob sie sich für eine Zusammenarbeit eignen könnten, und vermittelte den Kontakt in einem fortgeschrittenen Stadium an andere Mitarbeiter unseres Dienstes, die den jeweiligen Besonderheiten entsprechend legendiert in Erscheinung treten konnten« — etwa, indem sie sich als Mitarbeiter eines unverdächtigen DDR-Institutes ausgaben.14
Fast immer hätten aktuelle politische Ereignisse, wie das KPD-Verbot (1956) oder der Erfolg der <Sputnik>-Mission (1957), den Ausschlag gegeben, »daß sich meine Gesprächspartner für eine Unterstützung der DDR entschieden«.
Bei aller Bescheidenheit habe er, wie viele andere, »eine gehörige Portion beigetragen, das Agentennetz des erst wenige Jahre alten DDR-Aufklärungsdienstes mit aufzubauen.«15
Über ähnliche Vorgehensweisen berichtet auch der ehemalige MfS-Offizier Wolfgang Hartmann, der seit 1964 für die HVA arbeitete und als sogenannter »Einzelkämpfer« in der Bundesrepublik eingesetzt war: »In den 60er Jahren suchte und fand ich an Universitäten der BRD Studenten, deren Fach, Leistungsniveau und andere Eigenschaften besonders gute Karrierechancen erwarten ließ.«
Die Idee sei gewesen, sie entweder durch politische Überzeugungsarbeit oder durch Vorgaukelung eines anderen Auftraggebers (»unter fremder Flagge«) als sogenannte »Perspektiv-IM« für das MfS zu werben.
Tatsächlich hätten seine Kandidaten später »hohe Funktionen in der bundesdeutschen Ministerialbürokratie« erreicht. Die Suche, Werbung und Zusammenarbeit mit den gewonnenen Agenten, so Hartmann über die Besonderheiten seines Gewerbes, habe es erforderlich gemacht, mit den »Regimeverhältnissen« — das heißt, mit den Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik — gut vertraut zu sein.
»Ich mußte mich glaubhaft wie ein Bundesbürger bewegen, hatte also buchstäblich eine <Doppelexistenz> zu führen. Einmal im mehr technischen Sinn, im Westen also mit falscher Identität, falschen Papieren, ohne verräterische Sprachmelodie und Dialekt. Viel wichtiger war aber, daß ich alles, was in den Beziehungen zu meinen Partnern von Belang sein könnte, nicht nur mit dem eigenen Kopf bedenken mußte, sondern hineinversetzt immer auch in die Denkweise der Partner.«16
Die auf diese Weise geworbenen Mitarbeiter im Westen wurden dann selber oft als »Tipper« eingesetzt. Dazu gaben sie regelmäßig Einschätzungen über Personen aus ihrem persönlichen, politischen oder universitären Umfeld und machten Vorschläge für Neuanwerbungen. Das MfS überprüfte dann die Kandidaten mittels verschiedener Quellen und entwickelte ein Konzept zur Werbung.
Gelang diese wie vorgesehen, wurde auch der neue IM aufgefordert, »Personenhinweise« zu geben — das Agentennetz der Staatssicherheit verbreiterte sich nach dem Schneeballsystem.
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Anschaulich wird dieses Verfahren in dem überlieferten IM-Vorgang von Dietrich Staritz. Aufgewachsen im Westteil Berlins, studierte er ab 1956 an der Humboldt-Universität in Ostberlin und wurde 1957 in die SED aufgenommen. Nach der Verhaftung seines Bruders und politischen Auseinandersetzungen an der Universität ging er 1958 in den Westsektor, um sein Studium an der damaligen Hochschule für Politik fortzusetzen. Dort wurde er durch seinen Freund Walther Barthel für die Stasi »aufgeklärt und getippt«, er war wie Staritz im SDS aktiv war und arbeitete schon vor diesem für das MfS.17
»Die Möglichkeit, Staritz zur Mitarbeit zu gewinnen, halte ich grundsätzlich für gegeben«, heißt es in einem Spitzelbericht, der auf die Rückseite eines Geschäftsrundbriefes von Barthels Frau getippt worden war, mit dem sie dem Berliner Fachhandel ein neues Universal-Reinigungsmittel offerierte — offenbar Altpapier, dessen Nutzung das MfS aus Gründen der Konspiration später unterband. Allerdings, so der Bericht, sei ein psychologisch kluges Vorgehen geboten. Recht konkret wird dann empfohlen: »Ich halte es nicht für sinnvoll, wenn Staritz allein durch seine Schwiegermutter angesprochen wird [...]. Die Überzeugung von Staritz sollte von einem Genossen übernommen werden, der auf seine Mentalität flexibel eingehen kann.«18
Nach seiner Anwerbung im September 1961 betätigte sich Staritz dann selbst als »Tipper«, indem er, wie erwähnt, der Stasi seitenweise Empfehlungen für die Gewinnung neuer Informanten gab.19 Das MfS hatte ihm dabei die Perspektive zugedacht, daß er nach Abschluß seiner Promotion eine Assistentenstelle an der Universität übernehmen sollte. Grund war, daß so »ein ständiger Kontakt mit den Studenten möglich wäre und die Aufklärung evtl. geeigneter Kandidaten systematisch erfolgen könnte«.20
Richtig bezahlt machten sich die Agenten aber erst, wenn sie — manchmal erst nach Jahren — in ein sogenanntes »Hauptobjekt« eindringen konnten. »Fürsorglich« begleitete das MfS deshalb den beruflichen Aufstieg der angeworbenen Studenten. Monatliche »Stipendienzahlungen« wie an die Kasseler Studenten Wolfgang Fischer und Rudolf Horst Brocke gehörten ebenso dazu wie die »väterlichen« Ermahnungen an den FU-Studenten Dietrich Staritz, sein Studium rasch abzuschließen und ein gutes Examen zu machen. Berufliche Perspektiven, Bewerbungsmöglichkeiten sowie die einzelnen Stufen der weiteren Karriere wurden zumeist detailliert mit dem Führungsoffizier besprochen und, wenn möglich, durch bereits vorhandene IM aktiv befördert.
In Spionageprozessen ist deutlich geworden, wie viele Spitzenquellen des MfS bereits während ihrer Studienzeit angeworben worden waren. Der Vortragende Legationsrat im Auswärtigen Amt, Klaus Kurt von Raussendorf (»Brede«), der nach der Wende von einem Überläufer enttarnt wurde, hatte sich schon 1957 während seines Studiums der Geschichte und Germanistik in Berlin aus politischer Überzeugung zu einer Zusammenarbeit bereit erklärt.
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Von seiner Führungsstelle bestärkt, hatte er sich im Sommer 1960 beim Außenministerium als Attache beworben und wurde 1961 eingestellt. Auch sein Kollege Hagen Blau (»Detlev«), ebenfalls Vortragender Legationsrat, wurde 1960 während seines Studiums der Japanologie und Sinologie an der Freien Universität Berlin zur geheimdienstlichen Mitarbeit verpflichtet und bewarb sich, von seinem Führungsofflzier ermuntert, noch im selben Jahr mit Erfolg beim Auswärtigen Amt.21
Eine hochrangige Quelle für das MfS wurde auch der ehemalige Student der Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg, Knut Gröndahl, der sich während seines Studiums 1966 mit einem als Wissenschaftsjournalisten getarnten IM der HVA anfreundete und nach seiner Anstellung beim Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen ab 1972 die HVA (Referat 1/5) mit Informationen belieferte.22 Eine steile Karriere als Fachmann für Ost-West-Beziehungen machte nicht zuletzt der Politikwissenschaftler Hanns-Dieter Jacobsen, der 1968 als Vierundzwanzigjähriger von der HVA angeworben worden war und es bei seiner Festnahme im Oktober 1992 bis zum Dekan des Otto-Suhr-Institutes der Freien Universität (FU) Berlin gebracht hatte.23
Auf Agentenwerbung an bundesdeutschen Hochschulen gingen fast alle »operativen« Diensteinheiten der Staatssicherheit — auch die, deren Aufgaben eigentlich vorrangig im Innern der DDR lagen. Während Eltgen und Hartmann für die HVA Agenten rekrutierten, zu der auch von Raussendorf und Blau zählten, war Staritz von der Hauptabteilung V/6 angeworben worden, die vor allem SED-Kritiker bekämpfen sollte. Nach einer Umbenennung war für Staritz dann ab 1964 die Hauptabteilung XX/5 verantwortlich,24 aus deren Tätigkeit im »Operationsgebiet« ein ganzer Schwung von IM-Akten überliefert ist. Einige ihrer West-IM wirkten ebenfalls über Jahre hinweg an der FU, etwa der Student und spätere Assistent im Bereich Publizistik, Peter Heilmann (IM »Adrian Pepperkorn«), der später an die Evangelische Akademie ging, oder der wissenschaftliche Mitarbeiter im Arbeitsbereich DDR-Forschung und Archiv, Walter Völkel (IM »Walter Rosenow«).25 An der Bremer Universität arbeitete deren Pressesprecher Wolfgang Schmitz (IM »P. Lothringer«) für die Abteilung.
Darüber hinaus wurden die Westberliner Universitäten von der Aufklärungsabteilung XV der Stasi-Verwaltung Groß-Berlin infiltriert, die in den sechziger Jahren eine eigene »Arbeitsgruppe D« unterhielt, in der vier hauptamtliche Mitarbeiter ausschließlich »an der Werbung Westberliner Studenten« arbeiteten.26 Über die Zahl der auf diese Weise angeworbenen Studenten sind bislang keine Angaben aufgefunden worden, doch allein in der Westberliner APO verfügte diese Abteilung 1969 über acht Inoffizielle Mitarbeiter (IM) und drei Kontaktpersonen (KP).
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Systematisch bearbeitet wurden die westdeutschen Universitäten auch von den anderen Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit, von den »operativen« Hauptabteilungen und Abteilungen der Stasi-Zentrale sowie vor allem von der HVA, die in den Organisationen und Gruppen der APO in Westberlin noch einmal elf IM und fünf KP führte.27 Resümierend heißt es in einer »Diplomarbeit« der Stasi aus dem Jahr 1968, »daß die Abteilungen XV der Bezirke und auch die HV A sehr konzentriert an den Westberliner Universitäten arbeiten«.28
Die angeworbenen Studenten wurden frühzeitig zur regelmäßigen Berichterstattung »erzogen«. Heilmann, der sich 1956 zur Mitarbeit verpflichtete und sein Studium an der FU Berlin im Auftrag des MfS aufnahm, berichtete unter anderem über die Gewerkschaftliche Studentengemeinde, den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), den Internationalen Studentenbund, den Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) und eine Unterorganisation dieses Verbandes, den Studentischen Arbeitskreis. Aus der FU informierte er auftragsgemäß über seine Verbindungen zu Studenten, Beschäftigten, Assistenten und Professoren, über hochschulpolitische Belange, Studententage usw. Darüber hinaus übergab er dem MfS eine Vielzahl von schriftlichen Unterlagen. Zudem knüpfte er im Auftrag der Stasi Kontakte zur SPD, berichtete über Mitglieder und Funktionäre der Partei, informierte über Veranstaltungen der CDU und SPD, über Flüchtlinge aus der DDR, Vorkommnisse im Interzonenverkehr, Personen mit öffentlichen und politischen Ämtern, Gäste der Industrie- und Handelskammer sowie angebliche Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Berlin.29
Auch Dietrich Staritz (»Erich«) berichtete über ein breites Spektrum von Personen und Vorgängen. In der von ihm selbst formulierten Verpflichtungserklärung von September 1961 schrieb er: »Alle Kenntnisse, die ich mir im Verlaufe meiner beruflichen oder anderer Tätigkeiten aneignen kann - seien es Informationen über politische, ökonomische, personelle oder sonstige Angelegenheiten, werde ich den Mitarbeitern der Sicherheitsorgane — MfS — zur Kenntnis bringen .«30 Staritz kam zirka alle drei Wochen zum Rapport nach Ostberlin, das MfS revanchierte sich mit Beträgen zwischen 200 DM und 500 DM und finanzierte unter anderem seinen Führerschein. Später sprach Staritz seine Berichte auf Sprechplatten, die seine Frau dem Führungsoffizier überbrachte. Bald belieferte er — wie Barthel — auch noch das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Berichten, das ihn, ausweislich der MfS-Akten, mit einem monatlichen Fixum von 900 DM honorierte.
Staritz lieferte zahlreiche Hinweise auf Personen in seinem Umfeld und wurde vom MfS auch zur gezielten »Kontaktanbahnung« eingesetzt. Darüber hinaus interessierten die Stasi sogenannte »Stimmungsberichte« aus Westberlin — insbesondere über Reaktionen auf bestimmte politische Entscheidungen und Entwicklungen in der DDR.
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Vor allem aber berichtete er umfassend und regelmäßig über das Otto-Suhr-Institut, wo er als studentische Hilfskraft und dann als wissenschaftlicher Hilfsassistent arbeitete; vermittelt hatten ihm den Job zwei andere IM, darunter der erwähnte Peter Heilmann. Das Institut war für das MfS aufgrund der dort angesiedelten Forschungen zur DDR von großem Interesse.31 Systematisch ging Staritz mit seinem Führungsoffizier, Hauptmann Wilhelm Nistler, Aufbau, Personen, Forschungsschwerpunkte und politische Ansichten der Mitarbeiter durch — so ausführlich, daß die mehrstündigen Treffs nicht ausreichten und man sich auf die nächste Zusammenkunft vertagen mußte.
Außerdem sollte Staritz aus seinen Zusammenkünften mit SDS-Funktionären sowie mit ehemaligen DDR-Bürgern berichten und, natürlich, von seinem Kontakt zum Verfassungsschutz, für den ihn den Akten nach der frühere Honecker-Vertraute und FDJ-Funktionär Heinz Lippmann anwarb. Zwecks Entwicklung einer vielversprechenden Einsatzperspektive befürwortete das MfS auch seine vom Verfassungsschutz in Aussicht gestellte Einstellung beim DGB. Erst 1973 wurde der Vorgang eingestellt, weil nach Ansicht des MfS »keine effektive und zuverlässige Zusammenarbeit mehr möglich« sei — man hatte das Gefühl, daß sich der sonst immer als »ehrlich und gewissenhaft« eingeschätzte IM allmählich zurückziehen wolle und womöglich dem Verfassungsschutz mehr diene als dem eigenen Geheimdienst.32
Werbeerfolge in den siebziger Jahren
Eine neue Qualität gewann die Nutzung der westdeutschen Hochschulen als Kaderschmiede des MfS zu Beginn der siebziger Jahre. Die Hinwendung vieler Studenten zum Marxismus oder zu einer sozialismusfreundlichen Einstellung eröffnete den Werbern der DDR-Staatssicherheit bis dahin ungeahnte Wirkungsmöglichkeiten. Beinahe penetrant sprach die Stasi Mitte der siebziger Jahre von den »gegenwärtig günstigen politischen Bedingungen für die Erschließung der Ressourcen der Hochschule«.33
Der Kreis von Studenten, die als »potentielle Kandidaten für eine politisch-ideologische Werbung« in Betracht kämen, sei sehr groß. »Die politische Aufgeschlossenheit vieler Studenten ist für uns von Wert und eröffnet eine Reihe von Möglichkeiten, um auf ideologischer Grundlage anzuknüpfen.« Das Problem bestand eher in einem Überangebot an Kandidaten oder, wie es die HVA-Experten formulierten, darin, »die gegenwärtig politisch günstige Situation optimal zu nutzen, die Masse der Sympathisanten zu erfassen und die geeignetsten durch effektive Methoden für die Aufklärung zu gewinnen.«34
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Die Aktivitäten der HVA an den Hochschulen der Bundesrepublik wurden unter diesen Umständen seit Anfang der siebziger Jahre intensiviert und umorganisiert. Auf einem zentralen Führungsseminar des MfS im März 1971 hatte Mielke-Stellvertreter Markus Wolf in einem Grundsatzreferat noch einmal betont, daß die angestrebten Einschleusungen die »Gewinnung geeigneter Perspektiv-IM, besonders Studenten, Sekretärinnen, Schreibkräfte und andere Kategorien« voraussetzten. Deshalb müsse ein »ausreichender Vorlauf« an Nachwuchsagenten geschaffen werden, wofür »objektiv günstige politische und operative Bedingungen« bestünden, namentlich eine von ihm konstatierte »zunehmende Ernüchterung breiter Bevölkerungskreise, besonders auch unter der studentischen Jugend«.
Wolf forderte eine bessere Nutzung des »Gesamtsystems« des MfS und kündigte die Ausarbeitung eines »Modells« an, welche Personenkategorien am zweckmäßigsten für die »aktive operative Bearbeitung« zu erfassen seien: Studenten bestimmter Studienrichtungen wie Jura, politische Wissenschaften, Journalistik, Sprach- und Naturwissenschaften, Personengruppen, die in Opposition zur Entwicklung in Westdeutschland stünden, Mitglieder der Außerparlamentarischen Opposition und studentischer Organisationen sowie Personen in »freien Berufen«.35 Auch künftige Soziologen und Psychologen waren gefragt.36 Außerdem benötigte die Stasi für ihre Einschleusungen Werber, Residenten und »austauschbare Originalpersonen«, deren Personalien sie benutzen konnte. »Der Bedarf an IM aller Kategorien ist sehr groß«, heißt es in der zitierten Untersuchung zur Bearbeitung der Hochschulen, und der jährliche Zuwachs sei noch immer zu gering.37
Mit einer speziellen Dienstanweisung befahl HVA-Chef Wolf 1971 die verstärkte »zielgerichtete operative Bearbeitung der Universitäten und Hochschulen im Operationsgebiet«. Zur laufenden Gewinnung von »Perspektiv-IM« und »Einschleusungskandidaten für das Eindringen in die Hauptobjekte des Feindes« sollten an den westdeutschen Universitäten feste »operative Stützpunkte« geschaffen werden.38 Für die wichtigsten Hochschulen der Bundesrepublik wurde jeweils eine Diensteinheit bestimmt, die zuständig war für deren systematische »Bearbeitung«.
Bei der Zuweisung der Universitäten ging die Stasi pragmatisch vor. Die Abteilung I der HVA, verantwortlich für die Ausforschung des zentralen Staatsapparates der Bundesrepublik, erhielt beispielsweise den Auftrag, die Universität Bonn federführend zu bearbeiten. Sie war in der Bundeshauptstadt ohnehin mit zahlreichen IM vertreten und brachte somit in den Augen des MfS die besten Voraussetzungen mit für eine nachrichtendienstliche Durchdringung. Für die Technische Hochschule Aachen zeichnete hingegen die HVA-Abteilung XV verantwortlich, die hauptsächlich die Rüstungsindustrie, die Raumfahrtforschung sowie den Anlagen- und Fahrzeugbau in der Bundesrepublik ausspionierte und daher interessiert sein mußte.
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Für die Technische Universität Braunschweig war die HVA-Abteilung XIII zuständig, die sich auf die Beschaffung von Forschungsergebnissen auf den Gebieten Geologie, Geophysik, Kernphysik, Chemie, Biologie, Biochemie und Landwirtschaft konzentrierte.39 Unter den Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit kam insbesondere der Berliner Stasi-Filiale Bedeutung zu, weil sie, zusammen mit Potsdam, die West-Berliner Universitäten »objektmäßig« zu bespitzeln hatte. Aber auch den meisten Stasi-Dependancen in der Provinz wurden »eigene« Unis zugewiesen, etwa der Erfurter Bezirksverwaltung die Universität Würzburg oder der Bezirksverwaltung in Schwerin die Universität Bremen.40
An der koordinierten Bearbeitung bundesdeutscher Hochschulen beteiligten sich insgesamt zehn Diensteinheiten der Zentrale und dreizehn Aufklärungsabteilungen der Bezirke. Daß den regionalen Ablegern des MfS ein so großer Stellenwert zuerkannt wurde, war eine Folge des bereits in den fünziger Jahren eingeführten Prinzips, bei der Ausforschung der Bundesrepublik auch und gerade die Regionen und Städte der DDR einzubeziehen, in denen eine Fülle unterschiedlichster Ost-West-Verbindungen »anfiel« — von Verwandtenbesuchen über Geschäftskontakte bis zu touristischen Reisen. Tatsächlich waren von den 1975 an westdeutschen Hochschulen vorhandenen Inoffiziellen Mitarbeitern 65 Prozent durch »Nutzung der Basis DDR« bekanntgeworden, also über direkte Kontakte nach Ostdeutschland. 32,4 Prozent hatten ostdeutsche Einsatzkader aufgetan. Lediglich 3,6 Prozent der Hinweise auf Perspektiv-IM stammten indes von Inoffiziellen Mitarbeitern aus dem »Operationsgebiet«41 — genau dies wollte man ändern.
Die verantwortlichen Diensteinheiten wurden durch die Dienstanweisung verpflichtet, über »ihre« Hochschule sogenannte Objektvorgänge zu führen, in denen alle bedeutsamen Materialien fortlaufend zu sammeln und auszuwerten waren, angefangen bei »Angaben über den Personalbestand, zur Struktur, zu den politischen Gruppierungen und ihren Aktivitäten« über Informationen »zu Institutionen der sogenannten DDR- und Ostforschung und deren subversiver Tätigkeit« bis hin zu Erkenntnissen zur »Tätigkeit imperialistischer Geheimdienste und anderen Regimefragen«.42 Der Aufbau der Objektakten war zentral vorgegeben und umfaßte gemeinhin sieben Kapitel — von der »Stellung und Funktion des Objektes im imperialistischen Herrschaftssystem« über die »Personalpolitik und personelle Besetzung« der jeweiligen Universität bis hin zu ihrer »territorialen Lage, baulichen Beschaffenheit und technischen Ausrüstung«.43
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Darüber hinaus mußten die zuständigen Diensteinheiten regelmäßig sogenannte Objektanalysen erarbeiten. Diese Analysen, »einschließlich der Feinstruktur, der operativen Basis, Personalpolitik und optimalen Einschleusungswege« galten als Voraussetzung, um »auf dieser Grundlage das Eindringen real planen zu können«.44) Konkret forschte die Stasi dabei vor allem nach Erkenntnissen über »die Möglichkeit der Einschleusung und den Aufbau von Förderverbindungen, günstige Positionen für die Schaffung von Stützpunkten, institutionelle oder personelle Verbindungen zu anderen Hauptobjekten, die Tätigkeit der Geheimdienste sowie andere Regimefragen, die eine effektive und sichere Lösung der Aufgaben gewährleisten«.45)
Das Beispiel Technische Universität Berlin
Ein Beispiel für einen Objektvorgang über eine westliche Hochschule ist die Objektakte, die die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Neubrandenburg über die Technische Universität Berlin (TUB) führte und die die Vernichtungsaktionen von 1989/90 überstanden hat. Das etwas abseits gelegene Neubrandenburg war, zusammen mit den Aufklärungsabteilungen von Berlin und Potsdam, 1971 mit der »operativen Bearbeitung« der Hochschule beauftragt worden, wobei gerade diese Diensteinheit dem Vorgang zufolge offenbar Schwierigkeiten hatte, in das Objekt wirklich einzudringen.46
Die zweibändige Akte gliedert sich in zwanzig Kapitel, von »1. Objektanalysen/Bearbeitungskonzeptionen« bis »7.2. Unterlagen über den inneren Dienstbetrieb (Telefonverzeichnis, Postverteilerschlüssel, Ausweise, Fragebögen, Dienstpläne, Kopfbögen, Stempelaufdrucke u. a. Unterlagen)«.47 Abgelegt wurden unter anderem Namenlisten von Hochschulmitarbeitern, Telefonverzeichnisse, Auszüge aus Zeitungs-, Buch- und Universitätsveröffentlichungen, Orts- und Situationsbeschreibungen, Bilddokumentationen und Lageskizzen, Organigramme, Zeugniskopien, Stellenausschreibungen, Einschreibungsformulare, Flugblätter etc. Daneben finden sich politische Einschätzungen und Analysen zu aktuellen hochschulpolitischen Tendenzen, zur westdeutschen Bildungspolitik oder zu studentischen Problemen, die in der Regel aus einem »linken« Blickwinkel geschrieben sind. Auch konkrete Informationen zu einzelnen Themen (z.B. zur Strukturentwicklung an der TUB oder zu neuen Sonderforschungsbereichen) enthält die Akte, ferner Teile einer Diplomarbeit der HVA aus dem Jahr 1968. Über die konkrete »operative Arbeit« geben diverse IM-Berichte Auskunft sowie Vorgaben zum aktuellen »Informationsbedarf« und MfS-interne Unterstützungsbitten zwischen verschiedenen Stasi-Diensteinheiten — etwa um die Personalien von Westberliner Studenten zu erhalten, die die Ostberliner Staatsbibliothek nutzten.
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Der Stand bei der Führung der Objektakte wurde 1981 als »stagnierend« bezeichnet; ohne die Schaffung inoffizieller Quellen in den Objekten werde es kaum noch möglich sein, zu wesentlich neuen Erkenntnissen zu gelangen.48 Nachdem 1983 ein anderes Referat für die Bearbeitung zuständig wurde, betrachtete man die Lage allerdings wesentlich optimistischer. In einer »Analyse des Standes der Bearbeitung« heißt es, daß durch die Übernahme von Beständen anderer Diensteinheiten, die Beschaffung offiziell zugänglicher Materialien und den Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern im Objekt Aussagen zum Personalbestand seit 1973/74 und zur wissenschaftlichen Entwicklung ausgewählter Personen getroffen werden könnten. Ferner sei man informiert über die Forschungen einzelner Fachbereiche, über die personelle Zusammensetzung ausgewählter Gremien sowie über aktuelle Probleme der hochschulpolitischen Entwicklung und der Forschungs- und Personalsituation.49
Im Rahmen der »Objektbearbeitung« wurde von der Aufklärungsabteilung Neubrandenburg eine Personenkartei angelegt, in der alle Wissenschaftler der TU, alle Mitarbeiter des Fachbereiches 16 (Bergbau und Geowissenschaften) sowie sämtliche in den Materialien erwähnten Studenten, die in universitären Gremien tätig waren, erfaßt wurden. »Zu den Personen«, so heißt es in der erwähnten Analyse, »wurden unter Einbeziehung ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichungen Personendossiers angelegt. So liegen zu ca. 70 bis 80 Prozent der promovierten Mitarbeiter des Objektes Angaben zur Persönlichkeitsentwicklung vor.«50 Einzeldossiers wurden nicht nur zur Leitungsebene der Universität (Präsident, Vizepräsidenten, Kanzler, Fachbereichsleiter, Büro des Präsidenten etc.), sondern auch zu einzelnen Funktionsbereichen (Planungsgruppe, Sicherheitsingenieur, Presse- und Informationsreferat, Postverteilung etc.) und Instituten (Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung, Heinrich-Hertz-Institut für Schwingungsforschung, Institut für Turbulenzforschung etc.) geführt.51 Auch »Personen mit Rückverbindungen in die DDR« seien herausgearbeitet worden, ihre Ostkontakte würden »systematisch« aufgearbeitet. Postkontrolle, Paßkontrolle und andere Abwehrdiensteinheiten der Stasi arbeiteten ebenfalls systematisch Hinweise zu.
Bei der Werbung von Inoffiziellen Mitarbeitern war die Neubrandenburger Dienststelle offenbar weniger erfolgreich. In der Akte finden sich nur vereinzelt IM-Berichte. In einem »Maßnahmeplan« vom März 1983 war deshalb vorgesehen, »Anforderungsbilder« für zu entwickelnde IM zu erstellen, sämtliche IM-Einsätze in Westberlin gemäß dem »Informationsbedarf« vorher abzustimmen sowie »auf der Grundlage der ständigen Führung schwerpunktbezogener Personendossiers und der Analyse der Regimebedingungen (...) dem Leiter Zielpersonen und Kontakt-/Werbungsmethoden sowie Möglichkeiten zur Informationsgewinnung vorzuschlagen.«52
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Und in einem »Informationsblatt zur Lage im Objekt TUB — September/Oktober« 1983 heißt es unter anderem: »Durch den Beginn des neuen Semesters bestehen günstige Möglichkeiten für Erst- und Schulungseinsätze von IM. [...] Dienststellen der TU erwarten, daß in dieser Zeit Personen Fragen stellen und Materialien erhalten wollen.«53
Tatsächlich setzte die Aufklärungsabteilung von Neubrandenburg wiederholt eigene IM ein, um Informationen über die Entwicklung der Forschung, studentische und universitäre Probleme sowie über die sogenannten »Regimebedingungen« (Lage, Umgebung, Bewachung der Universität etc.) zu beschaffen. Während die IM-Berichte dabei anfangs eher von Unwissenheit zeugen, enthalten sie ab Mitte der achtziger Jahre immer mehr interne Informationen, vor allem aus dem linken Hochschulmilieu. Vielfach wurden dazu offenbar Kontaktpersonen systematisch vom MfS abgeschöpft.
In den Berichten werden außerdem konkrete Vorschläge gemacht, wie das MfS an zusätzliche Interna herankommen könnte, beispielsweise durch Mitarbeit an der linken Uni-Zeitschrift »Kassandra«. Wörtlich heißt es dazu: »Für uns wäre es ein erstklassiges Informationsmedium, faktisch in die redaktionelle Arbeit hineinzukommen, an die Leute heranzukommen. Wir müssen überlegen, ob wir einen Studenten in diese Richtung bringen bzw. auch einen jüngeren engagierten Mitarbeiter, jemanden, der mal TU-Mitglied war und nach wie vor großes Interesse an der TU hat.« Auch das sogenannte »Info« böte die Möglichkeit, in bestimmte Kreise einzudringen.54 »Von operativem Interesse« sei überdies der von der TU getragene »Wissenschaftsladen Berlin e.V.«.55 Schließlich wird vom IM »J. Schüler« ein Konzept entwickelt, unter dem Namen »Ratio-Transfers« in Westberlin eine Firma zu gründen, »die uns Möglichkeiten eröffnen könnte, in die TU und in die Bereiche der Wirtschaft stabile Beziehungen anzuknüpfen«.56 Diese Firma sollte Wissenschaftler auf kommerzieller Basis an die Industrie vermitteln und dabei eine »leicht konservative oder liberale Tendenz« zeigen.57
Auch über die Friedrich-Alexander-Universität-Erlangen-Nürnberg ist eine Objektakte überliefert, die durch mehrere Beiakten mit Personendossiers, Objektanalysen und sogenannten »Regimematerialien« ergänzt wurde.58 Die Objektakte selbst enthält überwiegend legal beschafftes Material wie Zeitungsartikel oder Bekanntmachungen, die oftmals nur abgeschrieben wurde. Die Akte informiert über die historische Entwicklung der Universität, über Studentenzahlen, Strukturen, Sozialeinrichtungen, Partnerschaften, Studienberatung, Stipendien, Bibliothek, politische Verhältnisse etc. Enthalten ist auch das Personendossier eines bayerischen Staatssekretärs, eine Bilddokumentation der Örtlichkeiten sowie ein IM-Bericht mit Tips zum unauffälligen Auftreten von Stasi-Mitarbeitern in der Stadt.
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Das System der »Stützpunkt-IMs«
Während die Objektakten das Basiswissen über die jeweilige Universität dokumentierten, lag der Schwerpunkt der Bearbeitung in der »Aufklärung« von Personen. Die federführenden Diensteinheiten hatten dafür Sorge zu tragen, »daß alle geeigneten Personen-Hinweise in Richtung der festgelegten Objekte zielstrebig bearbeitet werden« — wenn sie selbst dazu nicht in der Lage waren, dann durch andere Diensteinheiten.59 Ausgangspunkt waren normalerweise kurze Hinweise mit den wichtigsten Personengrunddaten oder kleinere Personendossiers, die von inoffiziellen Mitarbeitern erarbeitet worden waren. Bei Bedarf wurde auf dieser Basis eine sogenannte »Operative Personenkontrolle« (OPK) eingeleitet, in deren Rahmen die Betroffenen über einen längeren Zeitraum hinweg von der Stasi »aufgeklärt« wurden, bis das MfS der Ansicht war, ein klares Persönlichkeitsbild zu besitzen, und über das weitere Vorgehen entscheiden konnte.60 Bei für das MfS positiver Entwicklung des Vorgangs erfolgte meist die Umregistrierung zur »Kontaktperson« (KP) und schließlich zum IM.
Das riesige Heer der Studenten und Universitätsangehörigen — das MfS ging davon aus, daß sich allein durch den Abschluß des Studiums alle vier Jahre die Zahl der Studierenden in einer Größenordnung von 800.000 erneuere — verlangte aus Sicht der Stasi eine »rationelle Methode«, die eine »systematische Auswahl« und »weitestgehende Prüfung der Eignung bzw. Ergiebigkeit« ermöglichte. »Eine optimale und effektive Nutzung der Ressourcen«, so die Schlußfolgerung des MfS, »ist nur zu sichern, wenn wir in und an den Hochschulen selbst über qualifizierte IM verfügen, die mit Sachkenntnis als Spezialisten Entwicklungen sowie Möglichkeiten erkennen und befähigt sind, die Erkenntnisse operativ zu verwerten« — die sogenannten »Stützpunkt-IMs«.
Diese besondere Form des Inoffiziellen Mitarbeiters war eine Art verdeckte Stasi-Residentur an bundesdeutschen Universitäten. Ein »Stützpunkt-IM« sollte mit dem Milieu der Hochschulen »vertraut« sein und durch »stabile Beziehungen« in der Lage sein, dort legal und unauffällig zu arbeiten. Fest an seiner Hochschule »verankert«, sollte er für das MfS die »Ressourcen« aufklären und vorrangig »das personelle Potential erschließen«. Durch die nachrichtendienstlich ausgebildeten und mit dem MfS festverbundenen IM, so das Kalkül der Staatssicherheit, könnten »operativ interessante Personen, Vorgänge und Entwicklungen an Hochschulen über längere Zeiträume unter Kontrolle gehalten« werden. Dabei war es in erster Linie ihre Aufgabe, eine effektive Aufklärung, Auswahl und Werbung »leistungsstarker« und »perspektivreicher« IM zu sichern, diese anzuleiten, zu fördern sowie für den geplanten geheimdienstlichen Einsatz zu motivieren.61)
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Die HVA reagierte damit auch auf die Probleme, die mit den häufigen, relativ unvorbereiteten Anwerbungsversuchen gegenüber westdeutschen Studenten bei Besuchen in der DDR verbunden waren. Zum einen mußte das MfS feststellen, daß die Sicherheitsüberprüfungen im Westen schärfer geworden waren und »Bewerber mit DDR-Herkunft oder mit engeren Beziehungen in die DDR oder andere sozialistische Länder für eine Einstellung in wichtigen Geheimbereichen feindlicher Hauptobjekte in der Regel kaum noch eine Chance« hätten.62 Zum anderen bestand bei unzureichender »Personenaufklärung« das Risiko, daß die Werbung mißlang und das Vorgehen des MfS auf diese Weise für den »Feind« transparent wurde.
Die Agentenrekrutierung sollte deshalb nach Möglichkeit in das »Operationsgebiet« selbst verlagert werden. Der »Stützpunkt-IM« war in der Lage zum »aktuellen Studium der Reaktion der Kandidaten, die operativ bearbeitet werden, auf politische Ereignisse, auf die Kontaktentwicklung bzw. auf Werbeprozesse«. Die beim MfS vorliegenden »Hinweise« konnten »durch das Studium der Personen in ihrem unmittelbaren Tätigkeits- und Freizeitbereich« zunächst gründlich überprüft werden — mit dem Ziel, »die persönliche, berufliche Perspektive, die Motivation der Handlungen, das politische Denken bzw. die Suche nach einem politischen Engagement sowie die begünstigenden und hemmenden Faktoren herauszuarbeiten«. Damit würden wichtige Voraussetzungen für den effektiven und sicheren Einsatz der Werber, insbesondere aus der DDR, geschaffen.63
Zur besseren Selektion der aussichtsreichsten Kandidaten bemühte sich das MfS auch um den Aufbau von Datenbanken über »operativ interessante Personen« aus dem Bereich der Hochschulen. »Dabei wird das Bestreben sichtbar«, so die Stasi-Expertise von 1976, »nicht mehr jeden Hinweis zu bearbeiten, sondern langfristig zu beobachtende Personen zu speichern, die Bearbeitungsrealität ständig zu prüfen und das Wissen ständig zu vervollkommnen. Der Vorlauf reicht aber noch nicht aus. Es muß erreicht werden, daß in allen Diensteinheiten die Zahl der langfristig zu beobachtenden Personen jene, die aktiv bearbeitet werden, um ein Vielfaches übersteigt.«64
Die Stützpunkt-IM sollten der einschlägigen Dienstanweisung zufolge nicht nur »Perspektiv-IM« gewinnen und Möglichkeiten zu ihrer Protegierung und Lancierung in die zu infiltrierenden »Objekte« schaffen, sondern auch zur Informationsbeschaffung genutzt werden. Entsprechend den von der HVA vorgegebenen »Schwerpunkten« hatten sie insbesondere die »Aufklärung« der politischen Gruppierungen an den Universitäten zu betreiben, vor allem, wenn sie maoistischer oder »rechtsextremer« Couleur waren, die DDR- und Osteuropaforschung an den Hochschulen auszuforschen und zu bekämpfen,
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Forschungsergebnisse auf politischem, ökonomischem, militärtechnischem und naturwissenschaftlichem Gebiet zu beschaffen sowie alle Aktivitäten von Geheimdiensten im Hochschulbereich festzustellen. Außerdem sollten sie Möglichkeiten für die Durchführung »aktiver politisch-operativer Maßnahmen« eruieren, also Ansatzpunkte für eine verdeckte politische Einflußnahme in Erfahrung bringen.65
Als besonders geeignet für eine Tätigkeit als »Stützpunkt-IM« wurden Professoren, Hochschulassistenten, wissenschaftliche Mitarbeiter und Tutoren betrachtet, aber auch Mitarbeiter der Verwaltung sowie bestimmte Studenten.66 Laut einer Untersuchung aus dem Jahr 1976 erschienen dem MfS »der Präsident, sein Vizepräsident und die jeweiligen persönlichen Referenten« einer Universität als »potentiell am besten geeignet«. Da dieser Personenkreis bestimmten Wahlperioden unterliege, sei jedoch den zentralen hochschulleitenden Beamten wie dem Leiter des Präsidialamtes, dem Kanzler oder den Dezernenten mit ihren Arbeitsstäben der Vorrang einzuräumen.
Hochschullehrer besäßen ebenfalls »eine hervorragend geeignete gesellschaftliche Stellung, um neue Quellen zu gewinnen«. Professoren, die als Stützpunkt-IM arbeiteten, sollten dabei »in einer operativ interessanten Fachrichtung tätig sein, um Einschleusungskandidaten auswählen, erziehen und ihre Karriere fördern bzw. Informationen erarbeiten zu können«. Besonders günstige Möglichkeiten für die Aufklärung und Beeinflussung der Kandidaten böten die Vergabe und Betreuung wissenschaftlicher Ausarbeitungen von Studenten beziehungsweise deren Einbeziehung in den Forschungsprozeß.
Als »außerordentlich effektiv« galten auch IM-Stützpunkte in studentischen Vereinigungen, da sie in der Lage seien, »politisch interessierte Studenten zu einem frühen Zeitpunkt zu erfassen, die Motive und Stabilität des politischen Handelns zu testen, den politischen Reifegrad in der Praxis des Lebens zu überprüfen«. Laborleiter, Bibliothekare, Repetitoren oder IM in Studentenwohnheimen, Druckereien, Studentenlokalen etc. wurden dagegen als eher ungeeignet betrachtet, da sie weniger Gelegenheit zu intensiven persönlichen Kontakten hätten — es sei denn, daß der Stützpunkt-IM »bestimmte fehlende operative Möglichkeiten durch hohe Leistungs- und Verhaltenseigenschaften ausgleichen« könne.67)
Über ihre Erfahrungen bei der Werbung von Stützpunkten an Westberliner Hochschulen berichtete 1982 die Ostberliner Aufklärungsabteilung:
»Mit der Stützpunktproblematik an Universitäten befassen wir uns in unserer Abteilung ca. 8 Jahre. (...) Grundvoraussetzungen, auch an die richtigen Personen zu kommen, sind ausgezeichnete Objektkenntnisse, die wir durch Sammlung von Material zu Personen und Sachverhalten über das schon bestehende inoffizielle Netz erarbeiteten, aber auch durch zielstrebige Analyse offiziellen Materials, zum Teil auch mit Hilfe von DDR-IM und Verbindungen.
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Bei der Suche und Auswahl geeigneter Stützpunktkandidaten legten wir auch Wert darauf, daß sie politisch in einer Partei oder Organisation fest gebunden waren und sind und dort aktiv wirken. Wir legten und legen nicht Wert auf solche Kandidaten, die im <Elfenbeinturm> sitzen, praktisch Fachidioten sind, sondern solche, die über den universitären Bereich hinaus ein breites natürliches Umfeld haben. Dies verbinden wir mit der zielgerichteten Feststellung ihrer personellen und Objektverbindungen, um hier systematisch ihre Förder- und Lancierungsmöglichkeiten festzustellen und später aktiv operativ nutzen zu können.«68
Die Aufklärer aus Ostberlin konzentrierten sich bei der Schaffung von Stützpunkt-IM hauptsächlich auf die gesellschaftswissenschaftlichen Bereiche an der Freien und an der Technischen Universität Berlin. In dem entsprechenden Referat existierten 1982 mehrere Stützpunktvorgänge. Aufgrund ihrer sozialen Stellung und ihrer langfristigen Förder- und Abschöpfmöglichkeiten galten Professoren als geeignetste Kandidaten.
Über die praktischen Wege zu ihrer Anwerbung heißt es: »Solche Professoren haben wir und bearbeiten sie zur Zeit mit hochgestellten, wissenschaftlich international ausgewiesenen DDR-Einsatzkadern, die sich global mit Imperialismusforschung befassen bzw. Bezugspunkte in dieser Richtung haben. Oft war es notwendig, noch einen zusätzlichen DDR-Hintergrund im Kontakt aufzubauen (wir nutzen IM aus Verlagen, Presse und anderen staatlichen Einrichtungen, die leitende Stellungen haben und den Hintergrund tatsächlich verkörpern können). Kontakte bereiteten und bereiten wir langfristig mit den E[insatz]-Kadern vor, so durch zielgerichtete Veröffentlichungen, auf den Kandidaten zugeschnitten, bei Verlagen der DDR. Der oder die Kandidaten werden rezensiert, zitiert, widerlegt. Dies gut gemacht, ist schon die halbe Kontaktaufnahme. Vorbereitungsdauer 1-3 Jahre. Gut sind auch die Möglichkeiten der Kontaktherstellung oder Anbahnung auf Symposien und Tagungen im Ausland.«69)
Ideologische Anknüpfungspunkte und quantitative Dimensionen
Tatsächlich wurde eine beträchtliche Zahl hochrangiger DDR-Spione während ihres Studiums in den siebziger Jahren angeworben — fast immer auf der Basis von »progressiven« politischen Überzeugungen.
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»Das effektivste Motiv für die Bereitschaft zur bewußten operativen Arbeit«, so formulierte es am Ende des »roten« Jahrzehnts ein »Kommentar« zur Richtlinie für den Einsatz von West-IM, »ist die im Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse, in der Verbundenheit mit der Sowjetunion und der sozialistischen Staatengemeinschaft sowie in der marxistisch-leninistischen Weltanschauung wurzelnde Überzeugung von der Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der sozialistischen Kundschaftertätigkeit als einer spezifischen Form des Klassenkampfes gegen den Imperialismus und andere reaktionäre Kräfte.«
Zunehmende Bedeutung hätten aber auch solche »progressiven« Überzeugungen wie Friedensliebe, die Solidarität mit den unterdrückten Völkern, Patriotismus, bürgerlich-demokratische und humanistische Bestrebungen und Absichten oder der »Wille zur Wiedergutmachung«, wie im MfS-Jargon Erpressungssituationen umschrieben wurden.70
Aus ideologischen Gründen hatte sich beispielsweise der spätere Bonner Ministerialrat Dr. Hartmut Meyer (»Rubinstein«) Anfang der siebziger Jahre während seines Psychologiestudiums an der FU Berlin zur Mitarbeit bereit erklärt — der Beginn einer langen Agentenkarriere.71) Ähnliches gilt für den zeitweiligen SPD-Landtagsabgeordneten in Nordrhein-Westfalen, Dr. Wilhelm V, der als Student und Mitglied des Sozialistischen Hochschulbundes (SHB) bei einer Reise nach Leipzig ins Blickfeld des MfS geriet und sich gleichfalls Anfang der siebziger Jahre zur Zusammenarbeit verpflichtete — wie Meyer berichtete er dem MfS in erster Linie aus dem Bereich der Jungsozialisten und der SPD.72)
Als typischen Vertreter der 68er Generation betrachtete das MfS auch den Diplom-Politologen Dr. Reinhard Ott (»Richard«), der 1973 von seinem Bruder Rainer der HVA »zugeführt« worden war und dieser später unter dem Decknamen »Richard« gegen ein Honorar von insgesamt 250.000 DM berichtete — unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeiter im seinerzeit von Kurt Biedenkopf geleiteten Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sowie als wissenschaftlicher Referent der CDU-Landtagsfraktion von Nordrhein-Westfalen.73)
Aufgrund politischer Sympathien für die DDR verpflichtete sich auch die spätere Referentin beim Parteivorstand der SPD in Bonn, Ursula Vollert (»Udo«), spätestens 1975 schriftlich zur Mitarbeit beim MfS.74 Ins Blickfeld der Abteilung XV der Leipziger Bezirksverwaltung des MfS war die Studentin der Rechtswissenschaften, später der Politologie und der Orientalistik, bei offiziellen Besuchsreisen in die Messestadt geraten, zu denen sie als Funktionärin des SHB von der örtlichen Kreisleitung der FDJ eingeladen worden war. Ähnlich war die Anwerbung der Jura-Studentin Ulli P. verlaufen, die als Vertreterin des SHB im Sommer 1975 von der FDJ zu einer zweiwöchigen Studienfahrt nach Potsdam eingeladen worden war.75
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An ihrem Studienort Frankfurt am Main wurde sie wenig später von zwei IM der HVA aufgesucht, die sich als Mitarbeiter des »Instituts für Imperialismusforschung« der DDR ausgaben, und nach einer Reihe weiterer Treffen erklärte sie sich unter dem Decknamen »Angelika« zur Mitarbeit bereit. Sie beantragte die Mitgliedschaft in der SED sowie für den Fall einer eventuellen Flucht die DDR-Staatsbürgerschaft und wechselte auf Anraten des MfS zur als »konservativer« geltenden Universität Köln. Von der DDR wurde sie wegen ihrer guten Examensnote sogar mit einem Orden ausgezeichnet.
Auch der spätere Spitzenagent in der NATO, Rainer Rupp alias »Mosel«, ab 1979 »Topas«, war vom MfS bereits als Student »entdeckt« worden. Ein unter falschem Namen in der Bundesrepublik operierender Werber der HVA hatte ihm und mehreren anderen Teilnehmern einer Demonstration gegen die Notstandsgesetze in einer Mainzer Gaststätte eine Gulaschsuppe spendiert.
»Kurt«, ein Mitarbeiter der für die USA und die NATO zuständigen Abteilung III, beeindruckte den Volkswirtschaftsstudenten mit seinem klaren, bestimmenden Auftreten so sehr, daß dieser nach seiner Einstellung als »Country Rapporteur« der NATO im Januar 1977 die HVA — gegen Zahlung von insgesamt 550.000 DM — mit zahllosen geheimen Dokumenten belieferte. Die Liste der übergebenen Dokumente umfaßt mehr als zwanzig Seiten — im Kriegsfall wären sie kriegsentscheidend gewesen.76 Noch deutlicher war die ideologische Übereinstimmung mit der DDR bei dem Berliner Publizistikstudenten Peter W., der als Mitglied und Funktionär der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin (SEW) 1974 in das Blickfeld der HVA geriet und sich 1977 zu einer konspirativen Zusammenarbeit bereit erklärte — er berichtete unter anderem über das Bundesamt für Verfassungsschutz, wo sein Onkel den Sprachendienst leitete.77
1974 wurden die Zuständigkeiten im Staatssicherheitsdienst für die »objektmäßige« Bearbeitung der westdeutschen Hochschulen noch einmal umverteilt, um dem Grad der »operativen Verankerung« besser Rechnung zu tragen.78 In seiner Orientierung für die Arbeitsplanung der HVA nach dem IX. Parteitag der SED (1976) unterstrich HVA-Chef Wolf, wie wichtig die Schaffung eines größeren Vorlaufs an Perspektiv-IM sei, die hohen »qualitativen Anforderungen« entsprächen. »Dazu ist die koordinierte Bearbeitung der Universitäten und Hochschulen entsprechend der D[ienst]A[anweisung] 5/71 so zu intensivieren, daß in diesen Objekten stabile operative Stützpunkte geschaffen werden, die eine allseitige Nutzung im Sinne der Hauptaufgabe ermöglichen.«79 Bereits im Januar hatte er den Auftrag erteilt, die in der Praxis gesammelten Erfahrungen zu untersuchen und Vorschläge für das weitere Vorgehen auszuarbeiten. Zu diesem Zweck wurde eine dreiköpfige Forschungsgruppe gebildet, die eine umfangreiche Befragung unter den betroffenen Mitarbeitern, Referatsleitern und Abteilungsleitern durchführte und eine statistische Erhebung über die bereits vorhandenen IM und Kontaktpersonen an den Hochschulen anfertigte.80
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Wie wichtig der HVA-Spitze das Thema war, zeigte sich auch daran, daß der stellvertretende Leiter der für die Ausforschung des westdeutschen Staatsapparates zuständigen Abteilung I, Helmut Reinhold, persönlich daran mitarbeitete — er erwarb sich auf diese Weise den Titel eines »Doktors der Rechtswissenschaften«.81
Die Gespräche mit den Leitern der Diensteinheiten, so die Autoren der Untersuchung, hätten die Gewißheit vermittelt, daß die Anlaufzeit bei der Arbeit mit Stützpunkt-IM zu Ende gehe und die Erschließung der »Ressourcen« verbessert worden sei. Die Aufklärung verfüge inzwischen über neunundzwanzig inoffizielle Mitarbeiter an bundesdeutschen Hochschulen, die als »Stützpunkte« wirksam bzw. vorgesehen seien - nach Ansicht der Autoren noch eine »geringe« Zahl. Als positives Beispiel wird ein »Stützpunkt« angeführt, der aufgrund seiner Stellung in der Lage sei, das Potential seiner Hochschule »komplex« zu erschließen und die relevanten Forschungsbereiche aufzuklären.
»Der Stützpunkt besitzt ausgezeichnete Möglichkeiten für die Gewinnung von Perspektiv-IM, für den Aufbau geeigneter Protektionen und für die Aufklärung aktueller Aspekte des politisch-operativen Regimes an den Hochschulen. Der genannte Stützpunkt zeigt Möglichkeiten der Einflußnahme auf die studentische Bewegung und für die Erarbeitung aktiver Maßnahmen.«82 Mehr verriet die Stasi nicht zu diesem offenbar besonders erfolgreichen Agenten.
Was die eigentliche Nachwuchsrekrutierung anbetrifft, kamen die Autoren zu dem Ergebnis, daß die HVA an den Universitäten der Bundesrepublik über eine »relativ hohe« Zahl an Perspektiv-IM und Kontaktpersonen (KP) verfüge. »Diese relativ hohe Anzahl ist Ergebnis der Anstrengungen der Diensteinheiten, des konzentrierten Einsatzes der Kräfte, der Anwendung vielfältiger operativer Methoden und Mittel sowie des Verständnisses für die Notwendigkeit der verstärkten Arbeit mit Perspektiv-IM.« Das quantitative Anwachsen des Bestandes sei Folge der verstärkten Anstrengungen bei der Bearbeitung der Hochschulen sowie der Nutzung der »günstigeren« politischen Möglichkeiten.83 Die Autoren waren aber mit dem Erreichten noch nicht zufrieden. Sie hielten es vielmehr für unabdingbar, daß »mehrere IM aus dem vorhandenen Netz stärker auf Wachstumsfragen orientiert werden« — sprich: als Stützpunkt-IM selber Agenten rekrutierten. »Eine solche Orientierung schwächt das vorhandene Potential zum Eindringen in feindliche Zentren auf Perspektive nicht, sondern führt im Gegenteil zu einer quantitativen und qualitativen Verstärkung des operativen Potentials.«84
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Hochgerechnet verfügten die »objektmäßig« verantwortlichen Diensteinheiten 1975 an bundesdeutschen Hochschulen wahrscheinlich über 170 IM, von denen 22,5 Prozent als Werber, siebzehn Prozent als »Stützpunkt-IM«, drei Prozent als Residenten und 57,5 Prozent für die »Einschleusung in feindliche Hauptobjekte« vorgesehen waren. Nicht in diesen Zahlen enthalten sind die Hochschul-IM der Abwehrdiensteinheiten, die ebenfalls an westdeutschen Universitäten operierten. An einer ungenannten »großen« Hochschule hatte die HVA nach eigenen Angaben insgesamt siebenunddreißig IM. Neun von ihnen waren Professoren, zwei waren Dozenten und zwei hatten andere Berufe; fünfundzwanzig studierten noch. Von den siebenunddreißig IM waren siebenundzwanzig als Perspektiv-IM, fünf als Objektquellen, drei als Abschöpfquellen und je einer als Werber und als Sicherungs-IM eingestuft; ihre Führungsoffiziere saßen in acht verschiedenen Diensteinheiten.85)
Vorschläge für eine »konzentriertere Bearbeitung«
In ihrer Untersuchung machten die Autoren, ungewöhnlich für das MfS, eine Menge kritischer Bemerkungen zum bisherigen Vorgehen. So hätten die meisten Diensteinheiten, als ihnen eine Universität als »Objekt« zugewiesen wurde, über »keine operative Basis am Ort« verfügt. Zudem würden sie sich auf ihre sogenannten Hauptobjekte konzentrieren, etwa ein westdeutsches Ministerium oder einen Rüstungskonzern, wofür die Schaffung von »Stützpunkten« an einer bestimmten Hochschule keinen erkennbaren Nutzen bringe.
Um hier Erfolge zu erzielen, müßten die Diensteinheiten vielmehr an mehreren Hochschulen gleichzeitig operieren, zum »Eindringen« sei auch nicht unbedingt eine Hochschulausbildung erforderlich. Schließlich monierte man, daß die meisten IM-Werbungen auf dem Boden der DDR erfolgt seien; die »erfolgreiche Praxis« bei der Werbung von westdeutschen Studenten in der DDR hätte dazu geführt, daß diese immer noch nicht genügend in den Westen verlagert worden sei.86 Oft agierten die Diensteinheiten auch nur in bestimmten, für sie interessanten Fachbereichen, da ihnen zur Bearbeitung der gesamten Hochschule die Kraft fehle. Die Aktivitäten konzentrierten sich dabei vorrangig auf die Hochschulen in Bonn, München, Hamburg, Köln, Frankfurt/Main, Stuttgart, Mannheim und Westberlin. Überfordert seien besonders die Aufklärungsabteilungen der Bezirksverwaltungen, wo in der Regel nur ein oder zwei Mitarbeiter mit der Ausforschung der zugeteilten Universität befaßt seien. Die Zuständigkeiten seien auch nicht kongruent mit denen für die »Absicherung« der Kontakte von SED und FDJ in die westdeutschen Hochschulen durch den Staats Sicherheitsdienst — hierfür seien zumeist andere Bezirksverwaltungen verantwortlich.
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Mangels »natürlicher Verbindungen« zur zugewiesenen Hochschule erhielten die Aufklärungsabteilungen nur wenig »Personenhinweise«, so daß ihnen eine ausreichende »operative« Bearbeitung ohne beträchtlichen Aufwand an Kraft, Mitteln und Risiken nicht möglich sei. Von den dreiundzwanzig verantwortlichen Diensteinheiten hätten deshalb elf noch keine IM-Verbindungen in den ihnen zugewiesenen siebzehn Objekten.87
Die Autoren der Untersuchung kritisierten auch die mangelhafte Zusammenarbeit innerhalb des MfS. »Eine Übersicht, welche Diensteinheiten in einer zur Bearbeitung zugewiesenen Hochschule arbeiten, besteht bei den verantwortlichen Diensteinheiten in der Regel nicht. Die in der D[ienst]Abweisung] 5/71 begründete Mitteilungspflicht wird nur von wenigen Diensteinheiten realisiert.«88 Materialien zu einzelnen Hochschulen würden nicht an die jeweils verantwortliche Diensteinheit übergeben, sondern der Auswertungsabteilung IV, da sie dort eine »Note« erhielten.
In den eigentlichen Objektvorgängen würden dagegen vorrangig offen zugängliche Materialien gesammelt wie Personen- und Vorlesungsverzeichnisse, Hochschul- und Studentenzeitungen sowie Veröffentlichungen politischer und studentischer Gruppen oder nachrichtendienstlich wenig bedeutende IM-Berichte über die äußeren Rahmenbedingungen. »Personenhinweise« von anderen Diensteinheiten würden die zuständigen Abteilungen nur selten erhalten. Die Dezentralisierung der »Objektbearbeitung« habe dazu geführt, daß die legalen Institutionen der DDR — etwa das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, der Zentralrat der FDJ oder die Berliner Staatsbibliothek — nicht systematisch genutzt würden, daß zentrale Publikationen zur Situation an den Hochschulen der Bundesrepublik nicht ausgewertet würden und daß Kenntnisse über Aktivitäten des Verfassungsschutzes an den Hochschulen aus Gründen der Konspiration nicht weitergegeben würden.89 Fazit der Untersuchung: Die Informationsströme flössen nicht wie festgelegt, der Koordinierungsmechanismus funktioniere nicht.
Zur Behebung dieser Probleme wurden verschiedene Vorschläge gemacht. Zunächst sei zu prüfen, ob die Arbeit durch eine Herabsetzung der Zahl der bearbeiteten Hochschulen oder durch eine günstigere Verteilung effektiviert werden könnte. Weil sich die Bedeutung einer Hochschule verändern könne, sei es freilich kaum möglich, eine Hochschule ganz auszusondern, ohne an »operativem Vorlauf« zu verlieren. Eine geringfüge Verringerung der Gesamtzahl sei zwar möglich, würde aber durch die notwendige Hinzunahme der neugegründeten Bundeswehrschulen wieder kompensiert werden. Eine Neuverteilung der Hochschulen nach dem Aufteilungsschlüssel für die »Absicherung« der Parteibeziehungen würde zwar »gewisse Reserven« erschließen, doch »prinzipiell dürfen die Beziehungen über das Büro der Leitung II nicht mit nachrichtendienstlichen Verknüpfungen belastet werden«.90)
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Die Autoren kommen deshalb zu dem Schluß, daß es sinnvoller wäre, nicht mehr ganze Hochschulen durch eine einzelne Abteilung bearbeiten zu lassen, sondern sich statt dessen auf bestimmte universitäre Teilbereiche zu konzentrieren. Einzelne Institute oder Fachbereiche sollten von derjenigen Diensteinheit alleinverantwortlich bearbeitet werden, für deren »Hauptobjekte« diese von besonderer Bedeutung seien. Hochschulen bzw. Fachbereiche, die nur in indirekter Beziehung zu den Hauptobjekten stünden, könnten dagegen von allen Diensteinheiten beliebig infiltriert werden.
»Demnach werden einzelne Diensteinheiten an operativ interessanten Fachbereichen mehrerer Hochschulen und mehrere Diensteinheiten an einem operativ interessanten Fachbereich operative Aktivitäten entfalten«, heißt es in bestem Stasi-Deutsch.91 Für die konzentrierte Bearbeitung im »Stellvertreterbereich BRD« der HVA - gemeint war damit der Teil des Aufklärungsapparates, der für die Infiltrierung der Bundesrepublik zuständig war - kämen die Hochschulen in Bonn, Köln, München, Hamburg, Frankfurt am Main und Westberlin in Betracht, da sie im Territorium der »feindlichen Hauptobjekte« lägen und über vielfältige Beziehungen zu diesen verfügten. An diesen Hochschulen seien die Diensteinheiten dieses Stellvertreterbereiches zudem bereits mit IM verankert. Die Spionageabteilungen im Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) könnten dagegen bestimmte Technische Hochschulen übernehmen.92
Wichtigster Punkt der Neukonzipierung war es, in der HVA eine zentrale Analysegruppe Hochschulen und eine entsprechende Koordinierungsstelle zu bilden. Hier sollten in Zukunft zu den wichtigsten Hochschulen der Bundesrepublik »Objektvorgänge« geführt werden, mit Angaben über Leitungsgremien und Hochschullehrer zum Erkennen »günstiger Positionen« für die IM-Rekrutierung, mit Informationen über vorhandene Beziehungen zu »Hauptobjekten« zum Erkennen möglicher »Förderverbindungen« und »Einschleusungsmöglichkeiten«, mit Materialien zur politischen Lage an der jeweiligen Universität und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten für »politisch-aktive Maßnahmen« sowie mit Hinweisen zu Aktivitäten der Geheimdienste. Auf Grundlage eines detaillierten Informationskataloges sollten alle Diensteinheiten der Aufklärung dazu verpflichtet werden, für diese Zwecke Materialien zu erarbeiten und an die Analysegruppe zu übersenden. Die Objektvorgänge zugewiesener Hochschulbereiche, die man weiterhin dezentral bearbeiten wollte, sollten — außer dem Personalteil — Bestandteil dieser zentralen Objektvorgänge über die westdeutschen Hochschulen werden.
Ziel des neuen Konzeptes war es, die Hochschulbereiche, die in direkter Beziehung zu den »Hauptobjekten« der Liniendiensteinheiten standen, in deren Arbeit zu integrieren, die anderen »operativ« relevanten Bereiche dagegen zentralisiert zu bearbeiten.
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In den Bereichen »BRD« und Wissenschaftsspionage (SWT) sollte die Arbeit mit Stützpunkten zentralisiert werden, so daß eine bessere Koordinierung möglich würde, während daneben noch ein »Gesamtfonds« an Nachwuchsagenten geschaffen werden sollte, aus dem im Bedarfsfall — »nach den Gesamtinteressen der HVA« — der passende IM ausgewählt werden könnte. »Perspektivisch«, so schließen die Autoren ihre Untersuchung, »ist die Bildung einer Diensteinheit in der HVA zur komplexen operativen Bearbeitung der Hochschulen vorstellbar.«93
Im Juni 1977 wurden die »Forschungsergebnisse« im Rahmen eines förmlichen Promotionsverfahrens ausführlich beraten. HVA-Chef Wolf würdigte dabei den Wert der Arbeit, wandte sich aber gegen eine schwerpunktmäßige Einengung und Einschränkung bei der Bearbeitung der Hochschulen. Bis zur Verabschiedung eines neuen Leitungsdokumentes seien zunächst »Empfehlungen« an die Diensteinheiten herauszugeben, wobei diese »sehr kurzfristig« erarbeitet werden sollten. Für die stärkere Konzentration auf die Nachwuchsrekrutierung an den Hochschulen müßten an einigen Universitäten entsprechende Beispiele geschaffen und die vorgeschlagenen Stützpunkte entwickelt werden. Außerdem stellte er zur Aufgabe, die Arbeit zu einem handlichen Schulungsmaterial umzuarbeiten.94 Die Untersuchung selbst wurde mit dem Prädikat »magna cum laude« gewertet.95)
Ob und inwieweit die »Forschungsergebnisse« der HVA später in die Praxis umgesetzt wurden bzw. warum dies möglicherweise unterblieb, ist nicht eindeutig feststellbar. Fest steht, daß es in der Hauptverwaltung A 1989 weder eine spezielle Diensteinheit zur Infiltration der Hochschulen noch die genannte Analysegruppe und Koordinierungsstelle gegeben hat — die Bearbeitung erfolgte vielmehr weiterhin dezentral. Die Aufklärungsabteilungen der Bezirke infiltrierten bis zum Schluß »ihre« Universitäten als von der HVA zugewiesene Objekte und fertigten dafür regelmäßig Objektanalysen, Personen-gruppenanalysen und Bearbeitungskonzeptionen an. Unabhängig von der bürokratischen Form blieb die Infiltration der bundesdeutschen Hochschulen aber bis zum Ende der DDR eine der wichtigen Aufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit, an der sich nicht nur die zentralen Diensteinheiten, sondern auch die Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen beteiligten.
Den Zentralisierungsüberlegungen zum Trotz war die Aufklärung und Anwerbung von westdeutschen Studenten aus den Bezirken der DDR heraus offenbar immer noch das wirksamste Verfahren, um in ausreichender Zahl Agentennachwuchs zu rekrutieren. Die regionalen Aufklärungsabteilungen wurden deshalb durch die Dienstanweisung 3/79 erneut dazu verpflichtet, die sich bietenden Möglichkeiten für die Arbeit ins »Operationsgebiet« effektiv zu
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nutzen, um neue Informanten an den Universitäten zu schaffen und Hinweise auf »operativ interessante« Personen zu geben. Die Berliner Stasi-Dependance erhielt in diesem Zusammenhang die Freie Universität mit dem Osteuropa-Institut, dem Otto-Suhr-Institut und der DDR-, Friedens- und Zukunftsforschung zugewiesen.96
Mielke selbst war es, der in seinen Zentralen Planvorgaben in den achtziger Jahren immer wieder die »Aufklärung« von Studenten verlangte, um sie auf ihre Eignung als Nachwuchsagenten zu prüfen. Dabei interessierten ihn in erster Linie Studenten der technischen Fachrichtungen, Jura- und Volkswirtschaftsstudenten, Dolmetscher und Übersetzer, »die sich nicht in linken Gruppen exponiert haben« — die westdeutschen Abwehrstellen hatten offenbar mitbekommen, wie sehr sich das MfS in der Vergangenheit gerade hier bedient hatte.
Es seien, so Mielke, konkrete, abrechenbare Aufgaben festzulegen, um Verbindungen der vorhandenen IM zu diesem Personenkreis »kontinuierlich zu erfassen, aufzuklären und gemeinsam mit den zuständigen Diensteinheiten der HVA bzw. den Abteilungen XV der Bezirksverwaltungen auf ihre Bearbeitungswürdigkeit und -möglichkeit zu prüfen.«97 Auch Markus Wolf betonte 1983 in sogenannten »Operativen Schlußfolgerungen« noch einmal die Notwendigkeit einer verstärkten Entwicklung von »Stützpunkten« an westdeutschen Universitäten, um die Suche und Auswahl geeigneter »Perspektiv-IM«, vorrangig »in operativen Schwerpunktterritorien oder Objektstädten«, zu effektivieren.98
Eine größere Zahl von Perspektiv-IM war in den Augen des MfS auch deshalb erforderlich, weil deren Erfolgsaussichten aufgrund der Akademikerarbeitslosigkeit und der demographischen Entwicklung in den achtziger Jahren drastisch sanken. Allein aufgrund der unterschiedlichen Jahrgangsstärken männlicher Berufsanfänger und der aus dem Berufsleben Ausscheidenden kam das MfS zu dem Ergebnis, »daß in den Jahren von 1980 bis 1984 die Konkurrenzbedingungen für neu eintretende akademisch qualifizierte Nachwuchskräfte deutlich viel ungünstiger sind als in den Jahren zuvor«.99 Hinzu kam, daß man auch für den Fall eines Regierungswechsels in Bonn mit Perspektiv-IM aus allen politischen Lagern gewappnet sein wollte. »Das zwingt uns zur Schaffung von Reserven für beide Grundmöglichkeiten bzw. von Reserven an hochqualifizierten Akademikern, um parteipolitische Kriterien leichter überspielen zu können.«100)
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Agentengewinnung aus Gera
Wie das Verfahren der breitflächigen IM-Werbung unter Studenten zuletzt funktionierte, zeigen Unterlagen aus der Stasi-Dependance in Gera.101) Die dortige Aufklärungsabteilung bekam zu diesem Zweck von allen Seiten regelmäßig »Personenhinweise« geliefert — von der Zentrale der HVA, von eigenen IM, aus Ost und West, sowie von »Offizieren für Aufklärung« (OfA), die in den Kreisdienststellen Dienst taten. Die Betroffenen wurden »aufgeklärt«, wenn möglich kontaktiert und bei positiver Entwicklung des Vorgangs schließlich angeworben. Nach einer Übergangszeit wurde der frischgebackene IM zumeist an die HVA-Zentrale abgegeben — wenn er nicht für die eigene Arbeit gebraucht wurde.
Hatte ein IM den ersten »Tip« gegeben, lieferte er dem MfS oft gleich ein komplettes Personendossier mit und übernahm die Anfangsbearbeitung des Kandidaten. So heißt es beispielsweise in einem Bericht vom Mai 1989 zum Hinweis »Töpfer«: »>Töpfer< hat nach Beendigung seines Dienstes bei der Bundeswehr ein Jura-Studium an der Universität Hamburg begonnen. Über die Eltern von >Töpfer< wurde durch den GMS Jürgen Kunst< der persönliche Kontakt zu >Töpfer< im Operationsgebiet aufgenommen. Neben der ergänzenden Dossierarbeit wurden durch den GMS Voraussetzungen für die Überleitung des persönlichen in einen operativen Kontakt geschaffen.«102
Wenn der Kontaktpartner kein IM war, zum Beispiel bei einem bloßen Verwandtenbesuch in der DDR, bemühte sich das MfS umgehend darum, diesen für die Bearbeitung des Kandidaten zu »gewinnen«. Unter der Überschrift »Verdichtung vorgegebener Personenhinweise« berichtete die Aufklärungsabteilung in Gera über ihre Ergebnisse bei der Abarbeitung einer langen Liste der HVA-Zentrale dann beispielsweise so: »Wolfgang Schmitz [Name geändert — es folgen kleine Personalien], Student, Uni Göttingen, Verbindung zu: Hans Müller [Name geändert — es folgen kleine Personalien), [es folgt der >interessierte< HVA-Mitarbeiter] — Gastgeberbasis zur Bearbeitung [der] Zielperson ungeeignet. [.«.]
Andrea Weber [Name geändert — es folgen kleine Personalien], Student, Uni Regensburg, Verbindung zu: Norbert Mosel [Name geändert — es folgen kleine Personalien], [es folgt der <interessierte> HVA-Mitarbeiter] — Positive DDR-Basis gewissenhaft aufgeklärt und am 6. 6. 1989 an Fachabteilung übergeben.«103
Auch die Angestellten westlicher Universitäten wurden auf diese Weise durchleuchtet und auf ihre Verwendbarkeit für das MfS geprüft. Den überlieferten Plänen und Arbeitsberichten der Geraer Aufklärungsabteilung zufolge — sie stellte nicht einmal ein Prozent der hauptamtlichen Aufklärer der Stasi104) — wurden dort im Zeitraum 1988/89 insgesamt sechzehn Beschäftigte aus bundesdeutschen Hochschulen oder Instituten »bearbeitet«, davon sechs als IM und acht als »Hinweise« (HW).
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Als IM geführt wurden unter anderem ein Dozent der Universität Brüssel (IM »Dover«), ein Mathematiker und Institutsleiter der Universität Helsinki (IM »Larsen«), ein portugiesischer Germanist und Anglist mit Verbindungen zur Freien Universität Berlin (IM »Pedro«), ein Dozent und zeitweiliger (1988) Dekan für Anglistik an der Gesamthochschule Kassel (IM »Adler«) sowie der persönliche Mitarbeiter des Leiters des Institutes für Außenhandel und Überseewirtschaft der Universität Hamburg (IM »Klaus Franz«). Die meisten von ihnen wurden als »Werber« genutzt oder sollten dazu »qualifiziert« werden. Im Fall des 1987 zunächst als »Kontaktperson« (KP) registrierten IM »Adler« beschränkte sich allerdings die »Zusammenarbeit« nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auf die Übergabe von Broschüren und Konferenzmaterial an eine Bekannte aus der DDR.105
Die Geraer Aufklärungsabteilung agierte vor allem an den Universitäten Bayerns, das ihr als »Schwerpunktterritorium« zugewiesen worden war. Zum Geschäftsführer des Zentralinstitutes für Sportwissenschaft der Technischen Universität München (HW »Techniker«) hielt ein DDR-IM im Rahmen einer Wissenschaftlerverbindung »stabilen operativen Kontakt« — Zielsetzung für 1989: »Entwicklung einer Abschöpfquelle«.
Zu einem freischaffenden Konservativismusforscher der Universität München (KP »Bürger«) knüpfte ebenfalls ein DDR-IM den Kontakt — er sollte zur »Quelle« im Bereich der bayerischen Staatskanzlei entwickelt werden. An die Universität Würzburg — eigentlich »Objekt« der Aufklärungsabteilung in Erfurt — entsandte das MfS 1989 den hauptamtlichen DDR-IM »Gerhard Menge«, der dafür eigens eine Funkausbildung erhielt und im April über die Grenze geschleust wurde. Ein westdeutscher Unternehmer, der IM »Georg Schumann«, verschaffte ihm seinerzeit ein fiktives Arbeitsverhältnis in seinem Unternehmen und ein »operatives Quartier«, damit »Menge« im Rahmen einer »zeitweiligen Übersiedlung« unauffällig an der Uni Agenten werben konnte. Ein anderer Unternehmer, Besitzer einer Software-Firma in Bitz, arbeitete für das MfS unter dem Decknamen »Steiner« als Werber und sollte, nachdem er eine spezielle Ausbildung erhalten hatte, ab Ende 1989 in Baden-Württemberg an der Universität Tübingen zum Einsatz kommen.
Besondere Anstrengungen entfaltete man bei den von der HVA-Spitze als »Basisobjekt« zugewiesenen Hochschulen. Hier ging man im wahrsten Sinne des Wortes »planmäßig« vor. Die Aufklärungsabteilung in Gera war, wie erwähnt, zuständig für die Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg/Erlangen, Deckname »Isar«.
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Die Hochschule galt - nach München - als die bedeutendste des Landes Bayern, der Ausbau der »operativen Positionen« in der Region als »von höchster Priorität«. Jedes Jahr erarbeitete die Stasi zu dieser Universität eine ausführliche Objektanalyse. Dazu wurden zunächst die analytischen Schwerpunkte bestimmt und dann die Erkenntnisse zu Sachverhalten und Personen aufbereitet und schriftlich zusammengefaßt. Zur Vervollständigung der »Objekt- und Personengruppenanalyse« sollten alle »zugänglichen Speicher« des MfS ausgewertet werden. Regelmäßig fanden »Leiterberatungen« zum Fortgang der Bearbeitung statt, die Strategien zum »Eindringen« wurden in langfristigen Konzeptionen festgelegt.
In einer überlieferten Konzeption von 1986106 heißt es, Ziel der »Bearbeitung« sei die Schaffung neuer operativer Positionen und die damit erreichbare Deckung des Informationsbedarfes des HVA: Durch planmäßige Kontaktarbeit am und im Objekt sollten »Hinweise« (HW) auf Personen erarbeitet werden, die als »Stützpunkte« und »Zwischenwerber« oder als »Perspektiv-IM« (PIM) zum »Eindringen in feindliche Hauptobjekte« geworben werden könnten. Zugleich sollten Informationen aus Wissenschaft und Technik, Politik, Geheimdiensten sowie zu den allgemeinen »Regimebedingungen« beschafft werden.
Um »der objektiven Forderung nach verstärkter Bearbeitung der Hauptobjekte des Feindes durch die Methode des Einschleusens gerecht zu werden«, wurden die Schritte für die nächsten Jahre dann wie folgt festgelegt: Planjahr 1987 — Schaffung eines »Stützpunktes« an der Universität und eines weiteren »zur Abdeckung operativer Handlungen« in der Region; Rekrutierung zweier Kontaktpersonen und dreier Bearbeitungskandidaten. Planjahr 1988 — Werbung eines Perspektiv-IM mit Eignung zur Einschleusung und Rekrutierung von drei weiteren Kontaktpersonen; Schaffung von vier »Bearbeitungskandidaten«, davon einer als künftiger »Stützpunkt« an der Universität. Planjahr 1989 — Werbung von zwei IM, davon ein »Werber« und ein »IM Verbindungswesen«, sowie Einschleusung des Perspektiv-IM in ein Hauptobjekt; Schaffung von zwei Kontaktpersonen als Bearbeitungskandidaten.
Um diese Ziele zu erreichen, ging man mehrgleisig vor. Zum einen nutzte man die »offiziellen« Verbindungen, die zwischen der Universität Erlangen und DDR-Einrichtungen bestanden. In erster Linie waren dies Kontakte zur Friedrich-Schiller-Universität in Jena, zur Martin-Luther-Universität in Halle sowie zur Karl-Marx-Universität in Leipzig; aber auch die Beziehungen zu Kombinaten, Betrieben oder Einrichtungen im Bezirk Gera sollten »aufgeklärt« werden, um sie auf eine nachrichtendienstliche Nutzung zu prüfen. Systematisch wurden insbesondere als IM verpflichtete DDR-Wissenschaftler damit beauftragt, im Rahmen ihrer fachlichen Kontakte in den Westen geheimdienstliche Verbindungen anzubahnen.107)
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Als positiv wurden Ende der achtziger Jahre deshalb die zusätzlichen »operativen« Möglichkeiten durch das Kultur- und Wissenschaftsabkommen mit der Bundesrepublik gewertet, und auch die neue Städtepartnerschaft Jena-Erlangen kam dem MfS in dieser Beziehung gelegen. »Unter strikter Beachtung des Befehls, keine direkten operativen Aktivitäten in diesen Partnerschaftsbeziehungen durchzuführen,« heißt es dazu in einem Bericht von 1988, »werden vorhandene Möglichkeiten vorwiegend für Dossierarbeit genutzt.«108
Zum zweiten setzte das MfS gezielt sogenannte »Werber« in Marsch. So war in der »Bearbeitungskonzeption« vorgesehen, daß zwei DDR-IM - ein hauptamtlicher IM des MfS (»Gerhard Menge«) und ein IM aus der Abteilung Kultur im Bezirk Karl-Marx-Stadt (»Frank Beier«) — »längerfristige Einsätze im und am Objekt durchführen«. Sie sollten dort, vorwiegend im technisch-naturwissenschaftlichen Sektor der Universität, aber auch in den Bereichen Gesellschaftswissenschaften, Kultur und Literatur neue Kandidaten auftun. Schon 1986 war dazu der Vorschlag gemacht worden, auch Veranstaltungen der Volkshochschule Erlangen zur »operativen Kontaktherstellung« zu nutzen, wobei als Voraussetzung gesehen wurde, daß die Teilnehmer — und damit auch die Abgesandten des MfS — dabei nicht namentlich registriert wurden. Auch Tischtennis, so hieß es, »dürfte wohl in unserem Fall als Sportart in Frage kommen, um als Möglichkeit der Kontaktschaffung erprobt zu werden«.109
Die »Werber« hatten darüber hinaus die bereits vorhandenen Kandidaten weiterzubearbeiten oder einen unmittelbaren »operativen Kontakt« zu ihnen herzustellen. Zwei West-IM, darunter der erwähnte Unternehmer mit dem Decknamen »Schumann«, sollten ihnen bei der »Abdeckung der Arbeits- und Aufenthaltslegende« behilflich sein. Auch die »operativen Kräfte im Operationsgebiet« wurden gezielt zur Informationsbeschaffung eingesetzt; unter anderem sollte in diesem Zusammenhang der Einsatz einer namentlich nicht genannten »Kontaktperson« in den sozialen bzw. gastronomischen Einrichtungen der Universität geprüft werden.
Ausweislich der Pläne und Arbeitsberichte gelang es auf diese Weise, im Oktober 1988 einen Dozenten am Institut für Werkstoffwissenschaften — aufgrund »persönlicher Zuneigung« und aus »Achtung als international anerkannter Wissenschaftler« gegenüber dem DDR-Werber »Wolfgang Klein« — anzuwerben. Der IM »Wegner« sollte zum »Stützpunkt« entwickelt werden, fungierte aber vor allem als »Quelle« im Bereich Konstruktionskeramik.110 Anwerben wollte man auch den Lehrstuhlleiter für Strömungsmechanik, der unter dem Decknamen »Störmer« bereits als »Kontaktperson« geführt wurde und vom DDR-IM »Röbel« bearbeitet wurde. Obwohl das MfS befriedigt den Erhalt erster Informationen registrierte, war der Werbeprozeß zu dem Kandidaten 1989 »noch nicht abgeschlossen« — die Werbung sollte 1990 erfolgen.
Darüber hinaus bemühte sich das MfS 1989 noch um einen anderen wissenschaftlichen Mitarbeiter der Universität, den Hinweis »Weber«, zu dem ein DDR-IM im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Kontakt geknüpft hatte — auch er sollte »Stützpunkt« oder »Werber« werden. Daß andere Diensteinheiten über weitere Quellen an der Uni Erlangen verfügten, von denen man in Gera offenbar nichts wußte, zeigt der bereits erwähnte Fall des Erlanger Politikwissenschaftlers Rudolf Horst Brocke, der von der Abteilung X der HVA geführt wurde.111)
Zur Verbesserung der Rekrutierungsbedingungen an der Universität Erlangen ließ sich das MfS noch etwas anderes einfallen: Ein DDR-Ehepaar — die Inoffiziellen Mitarbeiter »Hans und Regina Bogen« — wurde in einer von langer Hand vorbereiteten »Übersiedlungskombination« in die Bundesrepublik ausgesiedelt. »Hans« war zuvor Diplom-Mathematiker am Rechenzentrum der Universität Jena und ging im November 1988 als »spezieller Einsatzkader« in den Westen. Nach einer einjährigen »Legalisierungsphase« sollte er im Raum Bayern »operativ ausbaufähige Personendossiers« erstellen und 1990 einen ersten Kandidaten werben — die Wende machte diese Pläne zunichte.
Seine Frau war in der medizinischen Datenerfassung an der Uni Jena tätig und erhielt nach der Ausreise ihres Mannes eine gründliche Ausbildung für ihre künftige Funktion als »Stützpunkt« an der Universität Erlangen. In einem Bericht vom 9. November 1989 hieß es, daß ihre Übersiedlung für Anfang 1990 vorbereitet sei — am selben Tag fiel in Berlin die Mauer, und drei Wochen später wurde in Gera die Stasi-Zentrale besetzt. Die Rekrutierungsmaschinerie für den Agentennachwuchs funktionierte nicht mehr.
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