( W.Stiller bei Detopia )        Start    Epilog

12  Wirtschaftsspionage — Die Stasi als kriminelle Vereinigung

 

 

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An einem frostigen Winterabend im Januar 1979 verließ der Oberleutnant des MfS, Werner Stiller, mit einem Koffer streng geheimer Unterlagen der HVA die DDR. Der im Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) beschäftigte Stasi-Offizier hatte sich ein dreiviertel Jahr zuvor dem Bundes­nach­richtendienst (BND) angeboten und diesem einen Einblick in die Spionagepraxis des MfS gewährt. Das Bundesinnen­ministerium mußte wenig später einräumen, »daß Intensität und Erfolg der Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage seitens der DDR-Nachrichtendienste in der Bundesrepublik bisher unterschätzt worden sind.«1

Tatsächlich erfuhren die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik durch den Übertritt Werner Stillers erstmals Einzelheiten über das Ausmaß der DDR-Spionage im Bereich von Wirtschaft und Forschung. Stiller, seit 1972 hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS,2) arbeitete in der Abteilung XIII der HVA, die für die Aufklärung und Bearbeitung von Forschungseinrichtungen, Universitäten, Behörden und Wirtschaftsinstituten zuständig war. 

Die Abteilung hatte den Auftrag, aus der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung des Westens — unter anderem auf den Gebieten Kernphysik, Biologie, Chemie und Biochemie — neueste Forschungsergebnisse zu beschaffen und auszuwerten. Stiller selbst war Mitarbeiter des Referates 1, das für die Ausspionierung der physikalischen Grundlagenforschung und der Nukleartechnik verantwortlich war. Aus erster Hand konnte er darüber Auskunft geben, wie die Wirtschaftsspionage des MfS im Westen funktionierte.

Für die westdeutschen Sicherheitsbehörden war Stillers Übertritt eine glückliche Fügung. Der MfS-Offizier war im Frühjahr 1978 von sich aus an den BND herangetreten und hatte eine Zusammenarbeit angeboten. 

Ab Juli kam es zu einer festen Verbindung. Doch schon nach wenigen Wochen fiel dem MfS bei der routinemäßigen Kontrolle des DDR-Postverkehrs ein Brief mit fingiertem Absender in die Hände, in dem Stiller mit unsichtbarer Tinte dem BND per Zahlencode eine Nachricht übermitteln wollte. 

Mit gigantischem Aufwand suchte die Stasi nun im Operativ-Vorgang <Borste> den Urheber des Briefes zu ermitteln. Im Dezember 1978 kam sie zu dem Ergebnis, daß die Handschrift einer Kellnerin aus Oberhof gehörte — der Freundin Stillers.3

Ohne es zu ahnen, schwebte Stiller seit diesem Moment in Lebensgefahr. Aufgrund des plötzlichen Winter­einbruchs und der Schneekatastrophe zum Jahreswechsel verzögerten sich jedoch die Ermittlungen bis in den Januar. Als der stellvertretende Leiter der Hauptabteilung II, Oberst Klippel, dann persönlich nach Oberhof zur »Einleitung von Kontroll- und Überprüfungs­maßnahmen« reiste, erreichte ihn am 20. Januar die Nachricht von Stillers Übertritt — die Stasi war anderthalb Tage zu spät gekommen.4

In der Hierarchie des MfS war Werner Stiller zwar nur ein kleiner »operativer« Mitarbeiter, doch durch seinen Aufstieg zum Ersten Sekretär der Partei­organisation »und damit zum zweitmächtigsten Mann der Abteilung auf Parteiebene« im November 1978 hatte er einen relativ großen Überblick.5

Zudem hatte er seinen Übertritt in den Westen sorgfältig vorbereitet, so daß er nicht mit leeren Händen kam. Insgesamt, so konnte man in seinen 1986 erschienenen Erinnerungen erfahren, hatte er 20.000 Blatt mit geheimen Operativakten und Namenslisten, Befehlen, Dienstanweisungen und Ausbildungs­materialien der Staatssicherheit in die Bundesrepublik gebracht.6

Ein Mitarbeiter des Westberliner Landesamtes für Verfassungsschutz, der bei Stillers Erstvernehmung am Flughafen Tegel dabei war, berichtete dem MfS später, allein der Stapel der mitgebrachten Mikrofiches sei »etwa zehn Zentimeter hoch« gewesen.7) 

Obwohl es Stiller nicht gelang, den Panzerschrank seines Abteilungsleiters Günter Jauck aufzubrechen, war das von ihm entwendete Material so umfangreich, daß die betroffene Abteilung neun Seiten brauchte, um alle Unterlagen, Akten und Dokumente aufzulisten. Außer streng geheimen Befehlen, Direktiven, Analysen, Schulungsmaterialien, Mitarbeiterverzeichnissen und Aufzeichnungen aus Dienstbesprechungen waren darunter auch Personalakten von drei West-IM und einem Kandidaten, diverse gefälschte Westberliner Ausweise, die Stillers DDR-IM zu benutzen pflegten, sowie eine Objektauskunft des KGB über das Kernforschungszentrum in Karlsruhe.8)

Stillers Material und sein Wissen über die Arbeit des MfS führten dazu, daß siebzehn Inoffizielle Mitarbeiter, vornehmlich aus dem Bereich der westdeutschen Kernenergieforschung, festgenommen wurden. Mindestens fünfzehn weitere wurden vom MfS aus Furcht vor einer Enttarnung aus der Bundesrepublik abgezogen, wobei es sich in nahezu allen Fällen um hochqualifizierte Wissenschaftler handelte. Insgesamt leitete der General­bundesanwalt mehr als einhundert Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit ein.9

»Aus Führungsoffizieren, die bislang allenfalls als Schemen aufgetaucht waren«, so erinnerte sich später der ehemalige Richter am Oberlandes­gericht Düsseldorf, Wagner, »wurden Personen aus Fleisch und Blut mit Klarnamen und Arbeitsbereichen.«

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Insbesondere die von Stiller mitgebrachten »Materialbegleitlisten« warfen Licht auf das geheime Agentennetz der Stasi, da darin die aus dem Westen gelieferten Berichte und Dokumente allesamt verzeichnet waren.10

Für den perfektionierten Apparat des MfS war Stillers Übertritt eine große Niederlage — »ein Schock für die Hauptverwaltung Aufklärung«, wie zwei leitende Mitarbeiter sich nach der Wende erinnerten.11 Der »Gegner« bekam durch Stiller detaillierte Einblicke in die Organisation und Arbeitsweise der Staatssicherheit. Schlimmer noch: Der für die Rekrutierung von West-IM so wichtige Nimbus der absoluten Konspiration im MfS war erschüttert worden.

»Der Feind verfolgt [...] das Ziel«, so formulierte es Markus Wolf in einer Weisung zwei Tage nach der Flucht, »das IM-Netz des MfS und der sozialistischen Bruderorgane im Operationsgebiet zu verunsichern und labile oder schwankende IM und K[ontakt]P[ersonen] zur Offenbarung und zum Verrat zu bewegen.«12

Und Anfang Mai, nach der Serie von Verhaftungen und Rückzügen aus dem »Operationsgebiet«, machte Mielke seinen Mitarbeitern in einem Schreiben Mut: »Die Erkenntnisse des MfS, aber auch des Feindes, besagen, daß sie nicht verhindern können, daß wir weitere Kämpfer an der unsichtbaren Front gewinnen werden.«13

Stillers Übertritt machte aber auch deutlich, wie wenig die bundesdeutsche Spionageabwehr bis dahin vom Vorgehen des MfS im Westen wußte. So fungierten die Stasi-Informanten in den Berichten des Verfassungs­schutzes bis dahin grundsätzlich als »Geheime Mitarbeiter«, obwohl diese Bezeichnung bereits 1968 abgeschafft worden war — seit über einem Jahrzehnt hießen sie nur noch »Inoffizielle Mitarbeiter«.14) Entsprechend euphorisch wurde Stiller als »einer der wertvollsten Überläufer« bezeichnet, der den westlichen Abwehrdiensten ein nahezu lückenloses Bild über den »Sektor Wissenschaft und Technik« (SWT) der HVA vermittelt habe.

Die von ihm mitgebrachten Unterlagen belegten, so das Bonner Innenministerium nach Auswertung des Materials, daß in den Jahren 1975, 1977 und 1978 mehr als 50 DDR-Agenten etwa 530 wissenschaftlich-technische Ausarbeitungen von teilweise erheblichem Umfang an die HVA geliefert hätten.15 

»Nach dem Übertritt des MfS-Offiziers Stiller steht fest, daß die Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage innerhalb der nachrichten­dienstlichen Tätigkeit der DDR einen besonderen Rang einnimmt und in großem Umfang der DDR-Wirtschaft zugute kommt.«16

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    Das Agentennetz des Werner Stiller   

 

Der spektakulären Stiller-Flucht ist es auch zu verdanken, daß heute über die Wirtschafts- und Wissen­schafts­spionage des MfS eine Reihe von Unterlagen überliefert ist, die die praktische Arbeit der Staatssicherheit auf diesem Gebiet anschaulich machen. Während über das Spitzelnetz des Sektors Wissenschaft und Technik (SWT) ansonsten so gut wie keine Akten überliefert sind, ist Stillers frühere Tätigkeit für das MfS vergleichsweise gut dokumentiert.17)  

Um die Auswirkungen des »Verrats« zu analysieren und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten, wurden die ihn betreffenden Unterlagen seinerzeit nämlich der für Spionageabwehr zuständigen Hauptabteilung II übergeben — und entgingen so dem Vernichtungsfeldzug bei der »Selbstauflösung« der HVA.

Aus Stillers Jahresplan für 1978 geht hervor, daß der Schwerpunkt seiner Arbeit in der Bearbeitung der Gesellschaft für Kernforschung (GfK) in Karlsruhe lag.18 Neben einer gründlichen »Objektanalyse« ging es der HVA vor allem um die »Schaffung eines personellen Stützpunktes« im dortigen Kernforschungs­zentrum, dem sogenannten Objekt »Waffe«, wofür bereits zwei »Ausgangsmaterialien« zur Verfügung standen. Stiller konnte sich bei seinen Bemühungen vor allem auf den stellvertretenden Verwaltungsdirektor der Gesellschaft für die Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen, Rainer Fülle, stützen, der vom MfS als IM »Klaus« geführt wurde und sogar einen Generalschlüssel für das Kernforschungszentrum lieferte.19 

»Klaus« sollte den Plänen nach nicht nur »qualifizierte Hinweise« auf mögliche IM-Kandidaten erarbeiten, sondern auch »wichtige Unterlagen zum Komplex nukleare Wiederaufbereitung und Endlagerung« beschaffen. Außerdem erhoffte sich das MfS Aussagen über angebliche Bestrebungen der Bundesrepublik, eigene Kernwaffen zu produzieren. Das Kernforschungszentrum wurde vom MfS für so bedeutend gehalten, daß sogar einzelne Studien daraus an Parteichef Walter Ulbricht weitergeleitet wurden.20) 

Wie der gesamte Fall Stiller könnte auch Fülles Schicksal einem Agententhriller entnommen sein. Mehr als hundertmal traf er sich mit Kurieren der Staatssicherheit, die meist als Tagungsteilnehmer oder Handels­vertreter in den Westen fuhren. Über Funk wurde ein Trefftermin vereinbart, dann gab es Vortreffs, »Briefkästen« mit Reißzwecksignalen usw.; seine Aufwendungen ließ er sich vom MfS mit 90.000 DM honorieren.21 

Nur wenige Stunden nach dem Übertritt seines Führungsoffiziers am Abend des 18. Januars 1979 wurde Fülle in der Bundesrepublik verhaftet und kurz darauf vernommen. Auf dem Weg geriet jedoch sein Bewacher auf einem Stück Glatteis ins Stolpern, so daß sich Fülle zur sowjetischen Militärmission in Baden-Baden durchschlagen konnte; von dort aus wurde er dann in einer Holzkiste in die DDR geschmuggelt.22 Seine Frau, die nach Fülles abenteuerlicher Flucht von Süddeutschland nach Westberlin zog, um sich mit ihrem Mann besser treffen zu können, wurde vom Verfassungs­schutz nunmehr ebenfalls der Spionage verdächtigt.

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Da Fülle mit seinem neuen Leben in der DDR jedoch bald unzufrieden wurde und am liebsten zurück in die Bundesrepublik wollte, wurde im Berliner Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) der Plan entwickelt, ihn in den Westen zurückzuholen. Seine Frau überbrachte ihm dazu einen vom LfV besorgten westdeutschen Reisepaß, mit dem er im September 1981 über Ungarn aus der DDR flüchtete. Über die Einzelheiten dieser Aktion wurde die Stasi wenig später von einem übergelaufenen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes informiert, der dem MfS im April 1982 die internen Abläufe in aller Ausführlichkeit offenbarte — auch diese Unterlagen haben in der Stiller-Akte überlebt.23 Nach Zahlung einer Kaution wurde Fülle damals vom Generalbundesanwalt auf freien Fuß gesetzt und 1984 vom Oberlandesgericht Stuttgart zu sechs Jahren Haft verurteilt.24

Neben Fülle führte Werner Stiller noch eine Reihe weiterer Agenten im Westen. Der selbständige Computer­fachmann Gerhard Arnold, Deckname »Sturm«, konzentrierte sich dem Jahresplan zufolge auf die Beschaffung von Unterlagen zur Datenverarbeitung und zu Datenbanksystemen »mit hoher volkswirtschaftlicher und auch militärischer Bedeutung«. »Sturms« Kontakt zu einem Professor sollte zudem zur »Abschöpfung parteipolitischer Informationen« aus der CSU genutzt werden — nach Stillers Übertritt wurde er 1981 zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Rolf Dobbertin, Spezialist beim französischen nationalen Rat für wissenschaftliche Forschung, informierte dagegen als IM »Sperber« über Fragen der Kernfusion, der Lasertechnik und der Plasmaphysik. 

Ein emeritierter Physikprofessor und Institutsdirektor aus Göttingen, Karl Hauffe, sollte als IM »Fellow« Unterlagen zur Energieproblematik und zur Werkstoffentwicklung beschaffen und zur Schaffung von »qualifizierten« Personenhinweisen seinen Kontakt zu den Konzernen Hoechst und Bayer ausbauen — 1982 wurde er zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Für einen neu geworbenen Ingenieur bei Siemens in Coburg mit dem Decknamen »Hauser« war schließlich »der Aufbau einer Förderverbindung zur Vorbereitung der Schleusung« in das Tochterunternehmen KWU vorgesehen, während eine Sekretärin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn (IM »Gabi«) Informationen zur Parteipolitik der SPD beschaffen sollte.25

Darüber hinaus waren für Stiller rund vierzig DDR-IMs tätig, die, getarnt als Tagungsteilnehmer oder Handelsreisende, vor allem als Kuriere eingesetzt wurden. Für die Treffen mit ihnen stand Stiller unter anderem eine Konspirative Wohnung (KW) in der Marienburger Straße 5 in Ost-Berlin zur Verfügung (KW »Burg«), in der er vor seiner Flucht in den Westen auch die für den BND beschafften Unterlagen deponierte.26 Dem Jahresplan für 1978 zufolge sollte der DDR-IM »Sekretär« beispielsweise eine Reise nach Karlsruhe dazu nutzen, Möglichkeiten der legalen Informationsbeschaffung über das Kernforschungs­zentrum festzustellen.

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Zudem sollte die »Physikalische Gesellschaft der DDR« zu einer »legalen Residentur« entwickelt werden — das heißt mit MfS-Mitarbeitern bestückt werden, die unter dem Deckmantel einer offiziellen Wissenschafts­organisation spionieren und IM-Kandidaten ausfindig machen sollten.27 Außer den eigenen Agenten kannte Stiller noch zahlreiche andere West-IM oder konnte zumindest Hinweise auf sie geben. Die Übersicht der Staatssicherheit vom April 1979 über verhaftete, vernommene oder zurückgezogene IM umfaßt insgesamt siebenundzwanzig Seiten. Festgenommen wurden laut MfS beispielsweise der Personalleiter in den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken (IM »Bronze«), ein Diplom-Ingenieur bei Messerschmidt-Bölkow-Blohm (IM »Nathan«) und ein Wissenschaftler vom Zentrallabor für Mutagenitätsprüfung in Freiburg (IM »Rolf«).

In Frankreich verhaftet und in die Bundesrepublik abgeschoben wurde ein Atomphysiker im Europäischen Atomforschungszentrum in Genf, der für den Aufklärungsdienst der NVA arbeitete, während ein Mitarbeiter für Öffentlichkeitsarbeit bei der Firma Boehringer (IM »Grundmann«) gegen Kaution freigelassen wurde. »Ermittelt« wurden neun weitere West-IM, darunter ein Mitarbeiter von BASF, der interne Materialien aus der chemischen Großindustrie beschaffte, ohne zu wissen, daß diese direkt ans MfS gingen. Durch »Materialbegleitlisten« waren den westdeutschen Sicherheitsbehörden darüber hinaus noch sechzehn IM unter Decknamen bekannt geworden. Den überlieferten Unterlagen nach mußte die Stasi seinerzeit einundzwanzig Inoffizielle Mitarbeiter in die DDR zurückziehen, darunter Abteilungsleiter der Firmen Preußag, Degussa, Osram und Interatom, den Produktionsdirektor bei Hoechst Holland, den Hauptbuchhalter der Firma Concord in Wien, einen Referenten aus dem Hessischen Sozialministerium sowie mehrere Professoren. Manche von ihnen waren zum Teil mehr als zwanzig Jahre früher im Auftrag des MfS in die Bundesrepublik übergesiedelt.28)

 

    Spionage als Planfaktor  

 

Die Unterlagen zum Fall Stiller machen deutlich, wie umfassend die Unterwanderung von westdeutschen Forschungsstätten, Entwicklungslabors und Wirtschaftsunternehmen durch das Ministerium für Staatssicher­heit angelegt war. Tatsächlich war die Wirtschaftsspionage kein unbedeutender Nebenzweig des MfS, sondern wurde von diesem mit enormem personellem und materiellem Aufwand betrieben. Dabei ging es nicht um die punktuelle Ausforschung potentieller Konkurrenten oder herausragender technologischer Entwicklungen, sondern um den systematischen Diebstahl fremder ökonomischer Werte.

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Im Unterschied zu »herkömmlichen« Formen der Betriebsspionage operierte die Staatssicherheit dabei unter der Ägide eines anerkannten Staates und mit den Potenzen eines 91.000 Mann starken Ministeriums. Außerdem war die Stasi verantwortlich für die konspirative Beschaffung von Hochtechnologien, deren Ausfuhr in den Osten strafrechtlich verboten war, sowie für die geheimdienstliche Unterstützung von DDR-Betrieben, die in den Westen exportieren wollten und dazu vom MfS beispielsweise die Angebotsunterlagen konkurrierender Firmen erhielten.

Die vielfache Zusammenarbeit von westdeutschen Professoren, Entwicklungsingenieuren, Geschäftsleuten oder Wissenschaftlern mit dem Staats­sicherheits­dienst der DDR ist bis heute dennoch kaum ins öffentliche Bewußtsein gedrungen. Wenn überhaupt Agenten in diesem Bereich enttarnt wurden, haben die betroffenen Firmen oder Institute zumeist einer »stillen« Lösung den Vorzug gegeben. Anträge auf Überprüfung des westdeutschen Personals durch den Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen — im Gesetz ausdrücklich vorgesehen — hat es kaum gegeben. Die erste systematische Darstellung des Problems hat bezeichnenderweise eine Amerikanerin geschrieben.29

Den Auftrag zur umfassenden Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage hatte das MfS direkt von der Staats- und Parteiführung der DDR bekommen. Ihre Ergebnisse waren fest in das ökonomische System eingeplant und wurden durch eine ausgefeilte bürokratische Struktur implementiert. Bei der Beschaffung war das MfS so erfolgreich, daß es nicht nur die Sowjetunion laufend mit versorgte, sondern ein beträchtlicher Teil der ausspionierten technologischen Neuerungen überhaupt nicht eingesetzt werden konnte — den DDR-Betrieben fehlten die Voraussetzungen für die Anwendung allen Spionagematerials. Ziel der nachrichtendienstlichen Ausforschung war es nicht nur, weltmarktbestimmende leistungsfähige Technologien auszuspionieren, westdeutsche Konkurrenz­unternehmen auszubooten und von den Milliardeninvestitionen der Bundesrepublik im Bereich der Grundlagenforschung zu profitieren. SED und MfS zielten vielmehr auf eine grundlegende Veränderung des ökonomischen Kräfteverhältnisses zugunsten des sozialistischen Lagers.

Während in den frühen Jahren die Wirtschaftsspionage der DDR oftmals damit begründet wurde, die »Aufklärung« von Konzernen und Forschungslabors im Westen diene dem Zweck, deren »aggressive Pläne« zu erkunden, um einen »Überraschungsschlag« zu verhindern, sprechen die Planvorgaben in den achtziger Jahren unumwunden aus, worum es dem MfS tatsächlich ging: 

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»Geeignete Inoffizielle Mitarbeiter sind zur Erkundung vor allem derjenigen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der führenden kapitalistischen Industrieländer einzusetzen, die unserem eigenen Entwicklungsstand überlegen sind und die zur Stärkung des ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Potentials der DDR und der anderen sozialistischen Länder beitragen können. [...] Die qualifizierte Auswertung, Überarbeitung und Nutzung operativ beschaffter wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse ist dabei so zu organisieren, daß sie, bei Gewährleistung der Sicherheit der zur Informationsbeschaffung eingesetzten IM, unmittelbar und wesentlich zur Intensivierung der gesellschaftlichen Produktion beitragen.«30)

Von Anfang an gehörte die Wirtschaftsspionage zum zentralen Aufgabenrepertoire des DDR-Geheim­dienstes. Schon bei der Gründung des Außenpolitischen Nachrichtendienstes der DDR (APN) im Jahr 1951 legte die sowjetische Direktive über den als »Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung« getarnten Dienst fest, daß dieser »die wissenschaftlich-technischen Zentren und Laboratorien« der Bundesrepublik ausforschen sollte.31 Den »Erinnerungen« des langjährigen HVA-Chefs Wolf zufolge war eine spezielle Abteilung 2 dafür zuständig, »wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Aufklärung auf den Gebieten der Kern- und Trägerwaffen, der Kernenergie, Chemie, Elektronik und Elektrotechnik, des Flugzeug- und Maschinenbaus und der konventionellen Waffen« zu betreiben.32 Darüber hinaus beteiligte sich auch die für die DDR-Wirtschaft zuständige Hauptabteilung III des damals noch separaten Ministeriums für Staatssicherheit frühzeitig an der Ausspionierung von westlichen Forschungseinrichtungen und Unternehmen.

Nach der Integration des APN in den Staatssicherheitsdienst der DDR, erließ der damalige Staatssekretär für Staatssicherheit, Ernst Wollweber, Mitte der fünfziger Jahre eine Dienstanweisung, die die Bildung einer neuen Linie »Konzerne« vorsah, um »Unterlagen und Material zu beschaffen, welches über die Wirtschaft Westdeutschlands sowie Wissenschaft und Technik, insbesondere auf militärischem Gebiet, Aufschluß gibt«. Innerhalb der Hauptabteilung III wurde dazu ein eigenes Referat »für wirtschaftliche und wissenschaftlichtechnische Aufklärung« mit Dependancen in fast allen Bezirksverwaltungen geschaffen, welches das anfallende Material konzentriert bearbeiten und mit geheimen Informanten in westdeutsche Laboratorien, Konstruktionsbüros, Forschungsorganisationen und Wirtschaftsvereinigungen eindringen sollte. Aufgabe der Agenten war es, »die gegen die DDR und gegen alle friedliebenden Völker gerichteten Maßnahmen zu erkunden und wirtschaftliches sowie wissenschaftlich-technisches Material zwecks Auswertung in der volkseigenen Wirtschaft zu beschaffen«.33)

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Zur Umsetzung dieser Vorgaben folgte wenig später eine detaillierte Richtlinie, die vorschrieb, zu den wichtigsten Konzernen und Wirtschaftsvereinigungen in Westdeutschland sogenannte »Objektvorgänge« anzulegen,» »in denen alle das Objekt umfassenden Informationen, auch personeller Art, so einzuordnen sind, daß eine ständige konzentrierte operative Bearbeitung des Objektes gewährleistet wird«. Die Liste der auszuforschenden Unternehmen reichte von den großen westdeutschen Werften über die Firmen AEG, Daimler-Benz und Siemens bis hin zu Krupp, Telefunken und Schering. Da die vollständige »Bearbeitung« dieser Unternehmen die damaligen Möglichkeiten des MfS überstieg, konzentrierte man sich, neben der Erstellung einer allgemeinen Übersicht über den jeweiligen Konzern, »auf die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen sowie die Labors und Versuchsanlagen in den Betrieben und auf die wichtigsten Abteilungen (wirtschaftspolitische Abteilungen) in den Generaldirektionen«. Die Richtlinie beschrieb ausführlich die Möglichkeiten, wie in diesen Bereichen Informanten zu gewinnen wären, »die uns ständig Aufklärung über den Betriebsablauf und die Produktion geben«.34

 

In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre bemühte sich das MfS, auf ökonomischem Gebiet »Aufklärung«, »Abwehr« und »Auswertung« auszubauen und enger zu verzahnen. Das Spitzelnetz in Wirtschaft und Außenhandel der DDR sollte dazu ebenso systematisch herangezogen werden wie der Agentenbestand der Auslandsaufklärung. Im Mai 1956 wurde deshalb die »Bearbeitung der westdeutschen Konzerne und der zugehörigen Forschungsstellen und Versuchsanlagen« auf eine breitere Basis gestellt. Per Dienstanweisung löste Wollweber die spezielle Linie »Konzerne« auf und übertrug deren Aufgaben auf die gesamte Linie III (Volkswirtschaft); lediglich für die Ausforschung der Flugzeugkonzerne wurde die Linie VI verantwortlich. Ausdrücklich erklärte Wollweber auf dem Gebiet der Wirtschaftsspionage die »systematische Werbung von G[eheimen] Mitarbeitern]« zur Aufgabe aller Mitarbeiter der betroffenen Linien.35 Zur Nutzung der einlaufenden Spionageergebnisse wurde im MfS eine eigene Arbeitsgruppe Wissenschaftlich-technische Auswertung (WTA) gebildet.36 In der HVA zeichnete ab 1959 die Abteilung V für die wissenschaftlich-technische Aufklärung verantwortlich.37

Wie wichtig die Spionage schon damals für die Wirtschaft der DDR war, illustriert ein Beschluß der Führungsspitze des MfS vom Juli 1959, in dem festgelegt wurde, »besonders solche Unterlagen [zu] beschaffen, die die Rekonstruktion beschleunigen«, speziell auf dem Gebiet der Halbleiter-Elektrotechnik. Durch die Linien III, WTA und HVA/V müsse erwirkt werden, daß »die Kader zuverlässig sind und die Sicherheit der vom MfS beschafften Unterlagen garantiert ist«.38 Daß das MfS dabei nicht erfolglos war, belegt eine Belobigung Mielkes aus dem Jahr 1960, in der er »bedeutende Ergebnisse« auf dem Gebiet der wissenschaftlich-technischen Aufklärung würdigt. 

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Darin wird unter anderem dem Leiter der Hauptabteilung III für die erzielten Ergebnisse auf dem Gebiet der Elektronik und Radiotechnik gedankt und auch der Dank des damaligen Leiters des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit übermittelt.39

In den sechziger Jahren, als die Parteiführung der SED dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt eine geradezu metaphysische Bedeutung zumaß, wurde die Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage zu einem umfassenden Beschaffungsapparat für die DDR-Ökonomie ausgebaut. Die Federführung lag nun bei der Abteilung V der HVA, der 1962 auch die Auswertung übertragen wurde.40 Alle Diensteinheiten des MfS waren verpflichtet, dieser Abteilung die im Westen beschafften Materialien und Muster zu übergeben. Ihre Bedeutung wuchs so an, daß sie 1969 in eine Reihe hochspezialisierter Einzelreferate untergliedert wurde.41 Zugleich wurde der Auswertungsbereich (WTA) um dreiundzwanzig Planstellen vergrößert, um die Spionageergebnisse schneller und effektiver der DDR-Wirtschaft zugute kommen zu lassen.42 Ein Jahr später wurde dann aus den bestehenden Strukturen der »Sektor Wissenschaft und Technik« (SWT) geschaffen — das Herzstück der DDR-Wirtschaftsspionage.

Die Entspannungspolitik der siebziger Jahre brachte zusätzliche Möglichkeiten der Wirtschaftsspionage. Sie bedeutete in den Augen des MfS aber auch eine Vergrößerung der »Gefahr«, daß im Zuge des innerdeutschen Handels unkontrollierte Verbindungen entstanden. Mit ungeheuren Anstrengungen bemühte es sich deshalb um die »Sicherung« der Handelsbeziehungen in den Westen, indem es Geschäftsleute, Reisekader und Beschäftigte im Außenhandel systematisch überwachte und die Zahl der »Inoffiziellen Mitarbeiter mit Feindverbindung im Operationsgebiet« weiter erhöhte — 123 IM führte 1976 allein die für den Außenhandel zuständige Hauptabteilung XVIII/7. Obwohl die Hauptabteilung XVIII (bis 1964: Hauptabteilung III) eigentlich zur »Sicherung der Volkswirtschaft« im Innern der DDR diente, waren ihre Aktivitäten im Westen mittlerweile so umfangreich, daß zu deren Bündelung im Januar 1977 eine eigene Struktureinheit geschaffen wurde: die Arbeitsgruppe Operationsgebiet. Diese erhielt 1981 den Status einer Operativgruppe und 1987 den einer eigenen Abteilung (Hauptabteilung XVIII/14).

Mit umfangreichen Anweisungen zur Arbeit der Hauptabteilung XVIII und der HV A wurde die Wirtschaftsspionage Anfang der achtziger Jahre weiter perfektioniert. In einer Dienstanweisung wurde die Linie XVIII beauftragt, mit ihren spezifischen »operativen« Kräften und Mitteln die DDR-Wirtschaft zu unterstützen. Als Basis für die »Entwicklung« von »Inoffiziellen Mitarbeitern mit Feindverbindung« sollten vor allem Auslands- und Reisekader der DDR-Wirtschaft dienen, »Zielpersonen des Gegners« in DDR-Betrieben sowie westliche Geschäftsleute und Techniker. Zu den Aufgaben der Hauptabteilung XVIII gehörte nun unter anderem

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Die konspirativ beschafften Technologien, Erzeugnismuster und Forschungsergebnisse mußten »unverzüglich« an den Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) der HVA übergeben werden — »zur Veranlassung der Auswertung und volkswirtschaftlichen Nutzung bzw. zur Gewinnung von Schlußfolgerungen für die Qualifizierung« der Wirtschaftsspionage, wie es in der 1983 erlassenen Durchführungsbestimmung über die Auswertung der Spionageergebnisse hieß.45 Umgekehrt sollte der SWT den operativen Diensteinheiten »Orientierungshilfen« geben, wenn es darum ging, die »Zielobjekte« zu bestimmen und neue »Quellenpositionen« zu schaffen, mit denen das Informationsaufkommen erhöht werden sollte. Ein spezielles Referat sollte dazu eine genaue Übersicht über die in Bearbeitung befindlichen Objekte führen, ein anderes wurde mit der »ständigen Aktualisierung der Informationsschwerpunkte unter Beachtung des Informationsbedarfs der Parteiführung und der zuständigen Staats- und Wirtschaftsorgane« beauftragt. Die sogenannte »Wirtschaftsaufklärung« war nunmehr als »zentrale Schwerpunktaufgabe« in den Jahresarbeitsplänen und -berichten separat »abzurechnen«.46

Zur aufgabenbezogenen Diversifikation der MfS-Strukturen gehörte es auch, daß 1983 eine eigene Diensteinheit für den Arbeitsbereich von Alexander Schalck-Golodkowski gebildet wurde — die Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung (AG BKK). Der KoKo-Bereich war 1966 zur »maximalen Devisenerwirtschaftung außerhalb des Plans« geschaffen worden und dem Ministerium für Außenhandel (MAH) unterstellt. Schalck war dort Staatssekretär, zugleich aber auch Offizier im besonderen Einsatz (OibE) der Staatssicherheit. In dem Firmengeflecht waren überdies zahlreiche IM plaziert. Mit der AG BKK sollte die nachrichtendienstliche Kontrolle des Schalck-Imperiums verstärkt werden, nachdem zwei führende Manager in den Westen übergelaufen waren. Die Arbeitsgruppe hatte zuletzt über 120 hauptamtliche Mitarbeiter, denen eine unbekannte Zahl von IM in Ost und West zuarbeitete.47

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Eine große Rolle spielte in den achtziger Jahren auch der illegale Technologieimport in die DDR. Dieser wurde nicht nur vom geheimdienstlich unterwanderten KoKo-Bereich organisiert, sondern vom Ministerium für Staatssicherheit selbst umfassend und systematisch betrieben. Zur Beschaffung sogenannter »Embargowaren« wurde 1987 eine strukturübergreifende Arbeitsgruppe im MfS gebildet, die den Auftrag hatte, alle Möglichkeiten des Technologieschmuggels auszuforschen und diesen über die in Frage kommenden Diensteinheiten zu realisieren. Verantwortlich dafür war der Leiter des SWT, Generalmajor Vogel. Die Arbeitsgruppe sollte auch die vorhandenen Beschaffungsaufträge bzw. -möglichkeiten mit den volkswirtschaftlichen Erfordernissen abstimmen und alle Aktivitäten »seitens anderer Organe der DDR (Institutionen, Einrichtungen, Außenhandelsunternehmen)« auf diesem Sektor kontrollieren. Dabei hatte sie »höchste Anforderungen an die Gewährleistung der Konspiration und Geheimhaltung zu stellen und durchzusetzen«.48 

Die Beschaffung ausgewählter Spezialausrüstungen der Hochtechnologie sowie »qualifizierter Dokumente« zu Erzeugnissen, die unter die COCOM-Regelungen fielen, blieb bis zur Auflösung des MfS eine »vorrangige« Aufgabe der Stasi, die »durch den koordinierten Einsatz geeigneter operativer Kräfte und Mittel« gelöst werden sollte.49

 

    Der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT)  

 

Dem MfS stand mit diesen Strukturen und Regelungen ein hochkomplexer Spionageapparat zur Verfügung, dessen Aufgabe allein darin bestand, wissenschaftlich-technische Erkenntnisse, geheime Unternehmensinformationen und mit Ausfuhrverboten belegte Güter illegal aus dem Westen zu beschaffen — die Stasi als kriminelle Vereinigung. Sein Kernstück bildete der Sektor Wissenschaft und Technik der HVA, der aus vier verschiedenen Abteilungen bestand: den Aufklärungsabteilungen XIII (Grundlagenforschung; ca. fünfundsechzig hauptamtliche Mitarbeiter), XIV (Elektronik, Optik und EDV; zirka siebzig hauptamtliche Mitarbeiter) und XV (Wehrtechnik und Maschinenbau, etwa vierzig bis fünfzig hauptamtliche Mitarbeiter) sowie der für die Auswertung und Umsetzung der Spionageergebnisse verantwortlichen Abteilung V (rund hundert hauptamtliche Mitarbeiter).50 Hinzu kamen drei Arbeitsgruppen, die für Spezialaufgaben zuständig waren wie die Vorbereitung von Mitarbeitern auf Einsätze in Auslandsvertretungen der DDR (AG 1), die heimliche Beschaffung von Rüstungsgütern im Westen (AG 3) sowie die systematische Nutzung von offiziellen Kontakten, beispielsweise durch die Auswertung der Berichte von Reisekadern, die ins Ausland fahren durften (AG 5).

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In sich waren die Abteilungen noch einmal in vier bis sechs Referate gegliedert, die in der Regel für ein bestimmtes Themenfeld und die dazugehörigen »Objekte« verantwortlich waren — vom Referat XIII/1, das den Bereich der Nukleartechnik und hier unter anderem die Firma Kraftwerk-Union (KWU) in Erlangen bearbeitete, bis zum Referat XV/4, das Banken und Wirtschaftsverbände51 ausforschte und unter anderem für den Bund Deutscher Arbeitgeber (BDA) zuständig war. Die Abteilung V unterhielt daneben in Betrieben, Forschungseinrichtungen und Ministerien sogenannte Operative Außengruppen, die für die Anforderung, fachliche Bewertung und praktische Nutzung des Spionagematerials zuständig waren — beispielsweise in den Kombinaten Nachrichtenelektronik und Robotron, in der Akademie der Wissenschaften oder in den Ministerien für Chemische Industrie, Wissenschaft und Technik sowie für Hoch- und Fachschulwesen.52 Darüber hinaus beteiligten sich auch die bezirklichen Aufklärungsabteilungen, die fachlich der HVA unterstellt waren, mit eigenen IM-Netzen an der Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage im »Operationsgebiet«.

Eine zweite, eng mit dem SWT verbundene Struktur bildete die mit der »Sicherung« der DDR-Wirtschaft beauftragte Hauptabteilung XVIII des Ministeriums für Staatssicherheit, die für alle wesentlichen Branchen eigene Abteilungen unterhielt — vom Bauwesen (Abteilung 1) über die Landwirtschaft (Abteilung 6) und die moderne Elektronik (Abteilung 8) bis hin zur Leichtindustrie (Abteilung 11). Auch diese Abteilungen untergliederten sich nochmals in hochspezialisierte Referate — im Fall der Abteilung 8 unter anderem für Rechentechnik (Referat 1), Automatisierungstechnik (Referat 2), Mikroelektronik (Referat 3) etc. Diese Hauptabteilung mit ihren zuletzt 647 hauptamtlichen Mitarbeitern, darunter 229 IM-führende, verfügte über eine unbekannte Anzahl Inoffizieller Mitarbeiter im »Operationsgebiet«, die zusätzlich für einen Zufluß einschlägiger Erkenntnisse sorgten.53

Allein die Zahl der wichtigsten vom Sektor Wissenschaft und Technik bearbeiteten »Haupt- und Basisobjekte« in der Bundesrepublik betrug einer Aufstellung aus dem Jahre 1986 zufolge rund 150.54) Hinzu kamen die Objekte anderer HVA-Abteilungen wie einzelne Universitäten oder Ministerien sowie die der bezirklichen Aufklärungsabteilungen. Ob und gegebenenfalls welche Objekte der Hauptabteilung XVIII in Westdeutschland zugewiesen waren, um diese auszuspionieren, ist bisher nicht bekannt.55 

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Belegt ist jedoch, daß sich die »Linie« intensiv an der Ausforschung westdeutscher Unternehmen und Forschungseinrichtungen wie Siemens oder des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) beteiligte. So ließ die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Potsdam beispielsweise jahrelang drei Wirtschaftsforscher aus Westberlin bespitzeln, und 1985 wurde die »personenbezogene Arbeit in und nach dem Operationsgebiet auf Linie XVIII« sogar zum Thema einer »Dissertation« an der Juristischen Hochschule des MfS gemacht.56

Praktisch bedeutete die Zuständigkeit für ein »Objekt«, daß — wie bei den Universitäten — zur jeweiligen Institution ein »Objektvorgang« geführt wurde, der die wichtigsten Informationen zu Personal-, Sach- und anderen geheimdienstlich interessanten Fragen enthielt und durch regelmäßige »Objektanalysen« unterlegt wurde. Die zahlreichen Objektvorgänge zu westdeutschen Unternehmen wurden 1989/90 wahrscheinlich alle vernichtet. Zusätzlich wurden zu den »operativ« relevanten Personen — Agenten, »Kontaktpersonen« oder »Aufzuklärende« — eigene Dossiers geführt. Während das »Eindringen« in die »Hauptobjekte« ganz oben auf der Prioritätenliste stand, galten die Basisobjekte eher als Ausgangspunkt für die Informationsbeschaffung, als Reservoir zur Werbung von Perspektivagenten und als Sprungbrett in die »Hauptobjekte«.

Als Hauptobjekte der Abteilung XIII (Grundlagenforschung) galten beispielsweise im Bereich der chemischen Industrie 1986 die Firmen Bayer und Hoechst, einschließlich der Dortmunder Tochterfirma Uhde, die Essener Bergbauforschung GmbH sowie die Fachbereiche Chemie und Biologie der Technischen Universität München. Die dazugehörigen Basisobjekte bildeten die Chemischen Institute der Universitäten Frankfurt, München und Hamburg, das Max-Planck-Institut für Kohleforschung in Mülheim sowie die Behringwerke in Marburg. Zusätzlich wurden elf weitere Firmen als Objekte der chemischen Verfahrenstechnik bearbeitet sowie als vorgelagertes Basisobjekt das Engler-Bunte-Institut der Universität Karlsruhe.57 1989 hatte die Abteilung XIII unter anderem den Auftrag, Forschungsergebnisse aus den Unternehmen Siemens, KWU, Hoechst und Bayer sowie aus diversen wissenschaftlichen Instituten zu beschaffen.58

Die Abteilung XIV (Elektronik, Optik und EDV) bearbeitete hingegen das Bonner Verteidigungsministerium, das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung sowie die Firmen Siemens, AEG Telefunken, Standard Elektrik Lorenz, IBM, Philips, Zeiss und Schott als »Hauptobjekte«. Als »Basisobjekte« fungierten ein Dutzend verschiedener Forschungsinstitute, das Fernmeldetechnische Zentralamt der Deutschen Bundespost sowie diverse Universitäten und Unternehmen. Bei den Hauptobjekten wurden in der Regel bestimmte Unternehmensbereiche als »operativ bedeutend« besonders hervorgehoben — bei der Firma Siemens beispielsweise die Bereiche Nachrichtentechnik/Sicherungstechnik, Bauelemente der Elektronik und Mikroelektronik, Forschung und Technik sowie Kommunikationstechnik. 

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Auch die jeweiligen Zweigbetriebe zählten dazu.591989 war die Abteilung XIV unter anderem damit beauflagt, die Institute der Forschungsgemeinschaft für angewandte Naturwissenschaften in Karlsruhe, Meckenheim, München, Tübingen und Wachtberg-Werthoven auszuforschen sowie die Fraunhofer-Gesellschaft, das Max-Planck-Institut für Festkörperphysik und den Zentralverband der elektronischen Industrie in Frankfurt am Main auzuspionieren.60

Die Objekte der Abteilung XV (Wehrtechnik und Maschinenbau) lagen in erster Linie im militärischen Bereich: das Bundesministerium für Verteidigung, das Bundesamt für Wehrtechnik, die Rüstungsfirmen Krauss-Maffei, Krupp, Rheinmetall, Messerschmidt-Bölkow-Blohm (MBB) etc.; auch eine Reihe von einschlägigen Forschungsinstituten gehörte dazu. Zu ihren Hauptobjekten zählten aber auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT), der Bundesverband Deutscher Banken (BDB) sowie die westdeutschen Großbanken Deutsche Bank, Commerzbank und Dresdner Bank. Basisobjekte waren unter anderem das Finanzinstitut der Universität Köln, der Fachbereich Finanzwirtschaft der Universität Frankfurt/ Main, die Hauptabteilung Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik des Hamburger Institutes für Wirtschaftsforschung sowie die Industrie- und Handelskammern der westdeutschen Bundesländer.01

Bei der »Bearbeitung« dieser Objekte stützte sich die HVA auf ein Spitzelnetz aus Bundesbürgern und zeitweilig eingesetzten DDR-Bürgern. Abschriften aus der zentralen Kartei des MfS, die 1992 von den USA dem Bundesamt für Verfassungsschutz übergeben wurden und sich heute im Zentralarchiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen befinden, weisen aus, daß der SWT Ende 1988 mindestens 261 Bundesbürger als Inoffizielle Mitarbeiter und siebzig als Kontaktpersonen führte. Dreiundachtzig dieser IM waren im Bereich der Wirtschaft eingesetzt, 104 waren als »Objektquelle« registriert — das heißt unmittelbar in einem Zielobjekt der HVA verankert. Dreiundvierzig IM bezogen ihre Informationen durch »Abschöpfung« und waren als »Abschöpfquelle« erfaßt, achtunddreißig fungierten als »Werber«, zwanzig als »Perspektiv-IM« und fünf als Residenten, die übrigen einundfünfzig erfüllten im wesentlichen logistische Aufgaben.62 Daß diese Zahlen vollständig sind, ist unwahrscheinlich — hinzuzurechnen ist auf jeden Fall eine bislang unbekannte Zahl von Ausländern und DDR-Bürgern, die ebenfalls für den SWT Spionageaufträge erfüllten.

Eine beliebte Anwerbebasis, besonders nach dem Bau der Mauer, stellte die Leipziger Messe dar, wo das MfS gleichsam auf heimischem Gelände westliche Geschäftsleute in Augenschein nehmen konnte. Vor allem die HVA unter ihrem stellvertretenden Leiter Hans Fruck war dort regelmäßig mit einem großen Aufgebot präsent.

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Zufrieden hieß es etwa in einem »Abschlußbericht« zur Herbstmesse von 1962: »Der Einsatz der Mitarbeiter der HV A in Leipzig und an den Grenzkontrollpunkten hat sich für die Herstellung neuer operativer Kontakte gelohnt.«63 Unter dem Vorwand lukrativer Handelsmöglichkeiten führten MfS-Offiziere während der Messen mit westdeutschen Geschäftsleuten sogenannte »Anbahnungsgespräche«, die bei der zweiten oder dritten Begegnung dann nach Möglichkeit in eine förmliche Werbung überführt wurden. Auf diese Weise wurde beispielsweise der niederrheinische Baustoffhändler H.J.L. 1985/86 durch verschiedene »Handelsvertreter« der DDR bei Leipziger Messen an eine nachrichtendienstliche Arbeit herangeführt, in deren Rahmen er dann unter anderem das Haus eines BND-Mitarbeiters filmte und dem MfS weitere Werbekandidaten zuführte.64

Eine Reihe weiterer Wirtschaftsspione wurde nach Auflösung des MfS enttarnt und juristisch zur Verantwortung gezogen. Über dreißig Jahre lang spionierte beispielsweise Gerhard Müller bei der Stuttgarter Elektronik-Firma Standard Elektrik Lorenz (SEL) und beschaffte dem MfS unter anderem die Unterlagen eines neuen Systems digitaler Vermittlungstechnik, in die das Unternehmen rund drei Milliarden Mark investiert hatte.65 Beinahe drei Jahrzehnte lang war auch der Vertriebsbeauftragte der Firma IBM in Essen als DDR-Agent tätig, der für seine Lieferungen modernster Software unter anderem mit der »Medaille für treue Dienste« in Bronze, Silber und Gold ausgezeichnet wurde.66 Auf zwanzig Jahre Spionagetätigkeit brachte es der Abteilungsleiter der Firma Siemens in Westberlin, Gerhard R, der ebenfalls aus der Computerbranche dem MfS Informationen lieferte.67 Mit Ausschreibungsund Angebotsunterlagen für Großfeuerungsanlagen versorgte hingegen ein vietnamesischer Diplom-Ingenieur, der als Projektleiter eines westdeutschen Konzerns für Kraftwerksanlagen arbeitete, in den achtziger Jahren das MfS — der Firma entstand ein Schaden in Millionenhöhe.68

 

    »Beschaffungsaufträge« und »Informationsschwerpunkte«   

 

Die Beschaffungstätigkeit der Agenten erfolgte nicht zufällig oder ziellos, sondern nach genauen Planvorgaben, die von der Spitze des MfS bis hinunter zum einzelnen operativen Mitarbeiter immer weiter konkretisiert wurde. So verpflichtete die Zentrale Planvorgabe für 1986 bis 1990 das gesamte MfS zur »maximale [n] Unterstützung der Verwirklichung der ökonomischen Strategie der Partei« entsprechend der Fünfjahrplan-Direktive des letzten SED-Parteitages. 

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Zur Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und zur Erhöhung von Produktivität und Effektivität in der Volkswirtschaft« seien »zielgerichtete Maßnahmen zur wissenschaftlich-technischen und Wirtschaftsaufklärung« durchzuführen. Im Mittelpunkt müsse dabei die Beschaffung von Informationen, Materialien und Gegenständen zu Forschungsvorhaben und Entwicklungsprojekten der führenden kapitalistischen Unternehmen, zu Spitzenerzeugnissen und Schlüsseltechnologien stehen, die vor allem die Realisierung der Vorhaben im Staatsplan Wissenschaft und Technik wirksam unterstützten. Ganz oben auf der Wunschliste standen dabei »neue wissenschaftlich-technische Erkenntnisse auf dem Gebiet der Mikro- und Optoelektronik, Verfahren für energieeinsparende Prozesse in allen Zweigen der Volkswirtschaft sowie [...] Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für neuartige Werkstoffe und neue Ergebnisse und Lösungen zur Biotechnologie und Gentechnik«.69

In den Jahresplanungen wurden diese Aufgaben näher spezifiziert. In seiner Zentralen Planvorgabe für das Jahr 1985 verlangte Mielke beispielsweise vor allem diejenigen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zu erkunden, die dem eigenen Entwicklungsstand überlegen seien und zur Stärkung des ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Potentials der DDR beitragen könnten. Die Auswertung und Nutzung der vom MfS beschafften Erkenntnisse sei so zu organisieren, daß sie — bei Gewährleistung der Sicherheit der Informanten — unmittelbar der Produktion zugute kämen. Aus diesem Grund legte Mielke auch auf die »Gewährleistung eines umfassenden Geheimnisschutzes« extrem großen Wert.70 Darüber hinaus sollten alle geeigneten IM zur Umgehung der Embargobestimmungen des Westens und »zur Herausarbeitung von Ansatzpunkten für die Erweiterung des Exports der DDR in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet« eingesetzt werden.71

Die speziellen Planvorgaben der Aufklärung enthielten weitere Angaben zur Wirtschaftsspionage. So verlangte die Planorientierung der HVA für 1989 von den Diensteinheiten, ihren Beitrag zur schnelleren Entwicklung der DDR-Wirtschaft zu leisten und das »Streben nach im Weltmaßstab überdurchschnittlichen Leistungen und Zeitgewinn sowie hohen ökonomischen Effekten maximal zu unterstützen«. Die Beschaffung von Informationen zu wissenschaftlich-technischen Spitzenerzeugnissen und Schlüsseltechnologien sei auf solche Gebiete zu konzentrieren, die unmittelbar der Lösung von Schwerpunktaufgaben des Staatsplanes Wissenschaft und Technik dienten. Katalogartig wurden die prioritär zu beschaffenden Informationen aus den Bereichen Elektronisierung der Volkswirtschaft, komplexe Automatisierung von Fertigungslinien, Weiterentwicklung der energetischen Basis, Biotechnologie sowie Herstellung und Verarbeitung von neuen Werkstoffen aufgelistet. Eine vorrangige Aufgabe sei zudem die Beschaffung ausgewählter Spezialausrüstungen der Hochtechnologie sowie qualifizierter Dokumente zu Erzeugnissen, die unter die COCOM-Regelungen fielen.72

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Zusätzlich formulierte die HVA sogenannte »Schwerpunktaufgaben zur Informationsbeschaffung« als Teil der Orientierungen für die Arbeitsplanung der Aufklärung. Diese wurden auch an die anderen Diensteinheiten des MfS versandt, damit diese der HVA entsprechend zuliefern konnten — praktisch eine Aufforderung an das gesamte MfS, sich, wann immer möglich, an der Wirtschaftsspionage zu beteiligen.

Unter der Überschrift »Wichtige Probleme auf dem Gebiet des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der Technologie und der Sicherung und Versorgung mit Rohstoffen und Energie« verlangte die HVA beispielsweise »Angaben über Neuentwicklungen und Entwicklungstendenzen auf dem Energiesektor, insbesondere auf den Gebieten Kernenergie (Urananreicherung mit Gaszentrifugen und Plasmazentrifugen, Verfahren für die Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen und für die Behandlung und Lagerung radioaktiver Abfälle, Entwicklung von natrium- und gasgekühlten schnellen Brütern und Hochtemperaturreaktoren, Fusionsreaktoren, magneto-hydrodynamischen Generatoren, Kernkraftwerksanlagen, Errichtung von Kernkraftwerken im Meer und unter der Erde) und neuer Sekundärenergiesysteme«. 

Ähnlich detaillierte Beschaffungswünsche wurden auch für die anderen Wirtschafts- und Wissenschaftsbereiche formuliert. »Konkrete wissenschaftlich-technische Aufgabenstellungen«, so der Schlußsatz des Papiers, »können vom Sektor Wissenschaft und Technik/SWT der HVA angefordert werden.«73

Noch konkreter wurde es in den sogenannten »Informationsschwerpunkten zum Komplex Wirtschaftsaufklärung«. Überliefert sind beispielsweise die sechzehn Seiten umfassenden »Informationsschwerpunkte« vom November 1985. Diese gliedern sich in zwölf Kapitel, die den Informationsbedarf zu Außenhandels- und wirtschaftspolitischen Fragen sowie zu branchenbezogenen Ausforschungsfeldern wie Elektronik, Biotechnologie, Maschinenbau etc. im einzelnen vorgeben. Zum Bereich Chemieindustrie lauteten die Beschaffungsziele zum Beispiel:

»— Langfristige Entwicklungspläne führender Konzerne auf wissenschaftlichtechnischem und technologischem Gebiet. Insbesondere interessieren die Entwicklung energiesparender hocheffektiver Produktionsverfahren; moderne Herstellungstechnologien und Verarbeitungsverfahren für Plast- und Elastwerkstoffe sowie der Einsatz von ökonomisch günstigen Rohstoffen. — Interne Markteinschätzungen führender Konzerne und Wirtschaftsinstitute zu ihren Produkten sowie zu Exportprodukten der DDR-Chemieindu-

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strie einschließlich Preisvergleiche, ökonomische Folgeabschätzungen, Hinweise über erforderliche Qualitätsverbesserungen, zu Veränderungen der Verbrauchsstruktur in den verschiedenen Bereichen sowie zum Auftreten von Marktlücken und zu in diesem Zusammenhang geplanten Maßnahmen der Konzerne. — Hinweise auf Pläne und Absichten führender kapitalistischer Industriestaaten bzw. einzelner Konzerne/Verbände, durch Embargomaßnahmen die Versorgung der DDR-Volkswirtschaft mit spezifischen Produkten zu stören.«74

Die »Informationsschwerpunkte« wurden vom stellvertretenden HVA-Chef Vogel als Vorgaben nach unten »durchgestellt« und durch spezielle Leiterinformationen zu Einzelproblemen ergänzt. Nicht nur die eigentlichen Aufklärungsabteilungen, sondern auch die vornehmlich nach innen gerichteten Diensteinheiten wie die Kreis- und Objektdienststellen des MfS wurden auf diese Weise ausführlich instruiert.75 Tatsächlich war nach der einschlägigen Dienstanweisung »die Nutzung der politisch-operativen Möglichkeiten zur Erlangung von wissenschaftlich-technischen Erkenntnissen aus dem Operationsgebiet [...] Aufgabe aller Diensteinheiten«.76 An den SWT lieferten deshalb, entsprechend ihren jeweiligen Möglichkeiten, auch die anderen Bereiche des MfS regelmäßig Informationen oder Dokumente — ein ständiger Zustrom an Spionagematerial, das von der HVA am Jahresende mit Punkten honoriert wurde. Koordiniert wurden all diese Aktivitäten durch den Leiter des Sektors Wissenschaft und Technik.77

Während die Jahrespläne und die Informationsschwerpunkte nur den thematischen Rahmen der Wirtschaftsspionage absteckten, erfolgte die eigentliche Informationsbeschaffung noch zielgerichteter. Die Auswertungsabteilung V des SWT sandte dazu regelmäßig sogenannte »Aufgabenstellungen« an diejenigen Diensteinheiten, die für die Beschaffung einer bestimmten Information in Frage kamen. In einem standardisierten Begleitschreiben hieß es dann beispielsweise: »Berlin, den 6. 8. 1986. [Betr.:] Keramikherstellung bei Fa. Elektroschmelzwerk Kempten. Als Anlage erhalten Sie unsere Aufgabenstellung mit der Kenn-Nr. 97.86.60138 zur o.g. Thematik. Wir bitten um Rückantwort bis 20. 9. 1986, ob o.g. Aufgabenstellung innerhalb der Laufzeit durch Ihre Diensteinheit realisiert werden kann. Sollten keine Realisierungsmöglichkeiten bestehen, bitten wir um Rücksendung der Aufgabenstellung.«78

Die »Aufgabenstellung« selbst enthielt neben der vorgegebenen Lieferzeit — in diesem Fall das vierte Quartal 1987 — alles das aufgelistet, was die Stasi konkret wissen wollte. Bezüglich der Keramikherstellung im Elektroschmelzwerk Kempten interessierten das MfS beispielweise Muster und interne wissenschaftlich-technische Unterlagen zu den dort benutzten Ausgangspulvern sowie zu den aufbereiteten Massen für die anschließende Press-, Gieß- bzw. Spritzformgebung.

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Unter anderem fragte die Staatssicherheit: »Nach welcher Technologie werden die Pulver hergestellt? Wie erfolgt der Versatz beziehungsweise das Mischen des Ausgangspulvers (prozentuale Zusammensetzung)? [...] Welcher Ofenvorgang wird eingesetzt bzw. wie erfolgt das Heißpressen (genaue Beschreibung der Anlage)? Welcher Zeitverlauf besteht bezüglich Temperatur, Gasdruck, Preßdruck (beim Heißpressen), Schutzgaszugabe (Luft, Sauerstoff, Stickstoff, Argon oder Wasserstoff)?« — und so weiter und so fort.79

Wie viele derartige »Aufgabenstellungen« die Stasi Jahr für Jahr verschickte, ist nicht bekannt. Der Versand erfolgte zielgerichtet zu den Diensteinheiten, die über einschlägige »operative« Möglichkeiten verfügten, zum Teil auch auf deren Anforderung.80 In einer Mappe aus der Aufklärungsabteilung in Gera sind insgesamt neunundsechzig Anforderungen enthalten, die den Zeitraum von 1982 bis 1989 betreffen. Das Spektrum reichte vom »Dünnfilm-Hochtemperatur-Supraleiter« über »Software zu speicherprogrammierbaren Steuerungen der Firma Siemens« bis zur »Fernwärmeauskopplung aus Kernkraftwerken«. Die meisten Aufgaben in diesem Konvolut stammten jedoch aus dem Bereich der Keramikherstellung und der Kernenergie, wo die Geraer Wirtschaftsspionage einen Schwerpunkt besaß.81 Unter anderem war die Diensteinheit für die Bearbeitung der Universität Erlangen zuständig und führte am dortigen Institut für Werkstoffwissenschaften einen Dozenten als Quelle.82

Sah sich eine Diensteinheit zur Beschaffung in der Lage, teilte sie dies der Auswertungsabteilung V des SWT per Formbrief mit. War die gesetzte Frist nicht ausreichend, wurde um Verlängerung der Laufzeit gebeten. Wenn die Zentrale das erwünschte Material erhalten hatte, wurde die »Aufgabenstellung« annulliert. Daneben wurden die Diensteinheiten aber auch von sich aus aktiv und sandten die von ihren Agenten beschafften Unterlagen oder Informationen an die Zentrale und baten um deren Bewertung. Manchmal kam es auch zu Korrespondenzen über einzelne Beschaffungsangebote oder über zusätzliche Möglichkeiten, den Informationshunger des SWT zu stillen.83 

Da der SWT verpflichtet war, jede Information auf einer Stufenskala von I bis V zu benoten, und diese Noten wiederum die Grundlage dafür bildeten, die Arbeit der Diensteinheit einzuschätzen, waren letztere daran interessiert, möglichst viele wertvolle Informationen an die Auswertung zu liefern. Am Jahresende erstellte die HVA dann eine statistische Übersicht, welche Informationen welcher Agenten mit welchem Wert benotet wurden. Einer solchen Übersicht zufolge hatte beispielsweise die Aufklärungsabteilung in Gera 1989 dem SWT insgesamt 106 Informationen geliefert, von denen 68 mit III und 37 mit II bewertet worden waren.84 Spitzenreiter war der IM »Holger Rum« — ein Firmenangestellter aus Westdeutschland, der 41 Informationen, größtenteils aus dem Bereich der Optoelektronik, beschafft hatte.85)

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     Auswertung und Implementierung   

 

Da die Spionageergebnisse vom SWT unbearbeitet an die zuständigen Ministerien, Kombinate und Betriebe weitergeleitet wurden, mußten die Führungsoffiziere für eine »völlige Neutralisierung« der Informationen sorgen und durften keine MfS-typischen Begriffe benutzen. Der Quellenschutz bestand auch gegenüber der Auswertungsabteilung der HVA. In der Praxis sollte gegebenenfalls wie folgt verfahren werden: »Ergibt sich die Notwendigkeit zu Aussagen über den IM und evtl. weitere Beschaffungsmöglichkeiten usw., kann das mit erforderlichem Abstand zusammenfassend am Ende der Information dargestellt werden. Das schneiden die Genossen nach Kenntnisnahme weg.«86 War die Konspiration auf andere Weise nicht zu gewährleisten, konnten die liefernden Diensteinheiten diese in drei verschiedenen Stufen auch als vertraulich deklarieren. Der SWT mußte dann, wie beispielsweise bei einem vom IM »Holger Rum« beschafften Service-Handbuch für eine CCD-Farbkamera, gegebenenfalls um Herabsetzung des Vertraulichkeitsgrades auf 4 (= offen) bitten - zur, wie es hieß, »weiteren Erhöhung der Effektivität der Auswertung und zur Verbesserung der Umsetzungsmöglichkeiten der Erkenntnisse«.87

Der Sektor hatte zu gewährleisten, daß alle geeigneten wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse aus dem Westen unverzüglich der DDR-Wirtschaft zur Auswertung und Nutzung bereitgestellt wurden.88 Zu diesem Zweck wurden die Spionageergebnisse an speziell ausgewählte Geheimnisträger in zentralen Wirtschafts- und Wissenschaftseinrichtungen geleitet, wobei der SWT ebenfalls verpflichtet war, »Hinweise auf Quellen und das Quellobjekt weitestmöglich zu entfernen«.89 Dort wurden die Materialien in eigens dafür eingerichteten Hauptstellen der HVA für Verschlußsachen entsprechend ihrem Geheimhaltungsgrad als »Geheime Verschlußsache« (GVS), »Vertrauliche Verschlußsache« (VVS) oder »Vertrauliche Dienstsache« (VD) gekennzeichnet. Von dort wiederum wurden die Verschlußsachen an vom MfS sorgfältig überprüfte, schriftlich bestätigte und ständig überwachte Auswerter — in der Regel Wissenschaftler oder betriebliche Experten des jeweiligen Fachgebietes — gesandt, wobei die Sendung »ausschließlich und ungeöffnet dem benannten Empfänger ausgehändigt« werden durfte.90 Welchen Stellenwert in manchen Branchen die Auswertung dieses staatlich organisierten »Ideen-Diebstahls« hatte, zeigt das Beispiel des Optik-Kombinates Carl Zeiss Jena, in dem eine ganze Abteilung dieser Tätigkeit nachging.91)

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Die Verzahnung zwischen Wirtschaft und Spionage funktionierte auch in umgekehrter Richtung und war dort ähnlich konspirativ organisiert. Spitzenleute in Ministerien, Betrieben oder Instituten der DDR waren als inoffizielle Mitarbeiter verpflichtet und formulierten gegenüber dem MfS den Beschaffungsbedarf. In den wichtigsten Fachministerien existierten sogenannte legale Residenturen, die für einen engen Kontakt zum Auftraggeber sorgten — im Stasi-Jargon als »Operative Außengruppe« (OAG) bezeichnet.92)

Wie das Zusammenspiel zwischen Staat, Partei und MfS in der Praxis funktionierte, zeigt das Beispiel der sogenannten »Führungsgruppe Schlüsseltechnologien«. Zu ihren Mitgliedern gehörten der Abteilungsleiter im ZK der SED, Tautenhahn, der Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel und MfS-»Offizier im besonderen Einsatz«, Alexander Schalck, der Staatssekretär in der Staatlichen Plankommission, Siegfried Wenzel, sowie der Staatssekretär im Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik, Karl Nendel, der gleichzeitig als IM geführt wurde.

Die Umsetzung der Aufträge erfolgte beispielsweise so: »Entsprechend einem Auftrag der Staatssekretäre Genossen] Dr. Schalck/Gen[ossen] Nendel an den A[ußen]H[andels]B[etrieb] Elektronik, Handelsbereich 4 zur Beschaffung eines 64-bit-Rechners, Typ >Convex<, USA (Wert 5,7 Mio US-Dollar) und eines Rechenbeschleunigers FPS 264 (Floating Point System), USA (Wert 5,2 Mio DM) wurde aufgrund der Kompliziertheit der Beschaffung (strengstes Embargo) in Abstimmung mit Genossen] Nendel/Gen[ossen) Ronneberger der IMS >Hans< mit der Realisierung beauftragt. Über eine mehrfach bewährte Embargolieferlinie (>Sunny<) gelang es, beide Systeme vollständig und funktionstüchtig [...] in die DDR zu verbringen.«93 Auch Ronneberger, der den für »Importe« zuständigen Handelsbereich 4 des Schalck-Imperiums leitete, war für die Stasi tätig — als IM »Saale« gehörte er zu den Schlüsselfiguren des internationalen High-Tech-Schmuggels.94

Der Rechenbeschleuniger machte es möglich, die Geschwindigkeit von DDR-Computern von 1,2 auf 38 Millionen Rechenoperationen pro Sekunde zu erhöhen. Der eingeschmuggelte Hochleistungsrechner versetzte die DDR in die Lage, Spitzenleistungen bei wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Rechenoperationen zu vollbringen, beispielsweise bei Simulationsrechnungen von Speicherschaltkreisen oder bei Berechnungen für optische Systeme. Voraussetzung war freilich, daß auch die passende Software zur Verfügung stand. Vierzehn Tage später einigte man sich deshalb darauf, den Agenten noch einmal in Marsch zu setzen. 

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Dazu legte man fest: »Im Zusammenhang mit der erfolgreichen Beschaffung eines 64-bit-Rechners vom Typ CONVEX im Januar 1988 wurde durch den Staatssekretär Genossen] Schalck nach vorheriger Abstimmung mit dem Präsidenten der A[kademie] d[er] Wissenschaften], Genossen] Prof. Scheler, und dem Leiter des Z[entralinstituts für] Kybernetik und] I[nformationsprozesse], Gen(ossen) Prof. Kempe, ein Auftrag zur Beschaffung eines leistungsfähigen, multivalent nutzbaren Softwarepaketes ausgelöst. Mit der Realisierung dieses Auftrags wurde in Abstimmung mit dem Staatssekretär Genossen] Nendel der A[ußen]H[andels]B[etrieb] Elektronik/Handelsbereich 4 beauftragt. Ausgehend von der Spezifik dieses Auftrages (strengstes Embargo) wurde dem IM <Hans> die Realisierung übertragen.«95

Wie immer wurde bei der Stasi alles bestens vorbereitet. Durch die Beschaffungslinie »System« war in der Gemeinde Kirchberg bei Wien ein Wochenendhaus gepachtet und mit einem adäquaten Rechner bestückt worden. Zwei Techniker der Beschaffungslinie »Sunny« standen mit der Software in Wien bereit, und in Zagreb hielt sich »der einbezogene Mitarbeiter aus dem USA-Laboratorium« zur Verfügung. Die Softwarespezialisten der DDR, darunter der Leiter des Zentralinstitutes für Kybernetik, sollten durch den IM von Wien nach Kirchberg gebracht werden, um in dem Landhaus die Software acht Tage lang auszuprobieren.90 Für ihre Einweisung zeichnete der DDR-IM »Norbert« verantwortlich, der den Rechner im Kybernetikinstitut im Rahmen einer Numerikgruppe nutzen wollte.97 Anschließend sollten auch die West-Techniker in das Landhaus gebracht werden. Sechs Tage später befand sich die im amerikanischen Lawrence-Livermore-Laboratory entwickelte 3-D-Software in der DDR.98

 

    Umfang der Spionage   

 

Welchen Umfang die auf diese Weise organisierten Beschaffungsaktivitäten des MfS hatten, geht zumindest ansatzweise aus vereinzelt überlieferten MfS-Unterlagen zum »Output« der DDR-Wirtschaftsspionage hervor. So meldete beispielsweise die Abteilung V der HVA im Oktober 1967 an Markus Wolf, daß sie insgesamt 11.770 Blatt an die »Freunde«, das heißt, dem sowjetischen KGB übergeben habe. Damit habe sie ihre im April eingegangene Verpflichtung »erfüllt und übererfüllt«; Anlaß der großzügigen Materialübermittlung war der 50. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Die einundzwanzig Positionen umfassende Auflistung umfaßte unter anderem »das gesamte Know-how Polyester der Hoechster Farbwerke«, das von DDR-Chemikern bereits als »vollständig und realisierbar« eingeschätzt worden war. 

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Darüber hinaus gehörten interne Unterlagen aus dem Bereich der Datenverarbeitung dazu (Systemunterlagen von Spectra 70 und Siemens 4004, beschreibende Unterlagen zum System 6000/6400/6600 von Control Data Corporation etc.) sowie Konstruktionspläne zum Druckwasserreaktor der Firma Siemens in Stade. Ferner enthielt die Lieferung Unterlagen aus dem Kernforschungszentrum in Karlsruhe (unter anderem über durchgeführte und künftige Forschungs- und Entwicklungsvorhaben), aus der Firma Zeiss in Oberkochen (Unterschiede zur Meßgeräteproduktion im VEB Carl Zeiss Jena) sowie die Einstellungsbedingungen der Farbwerke Leverkusen. Die Position 8 (die »Prognos Reporte« Nr. 1 und 2), so hieß es im Anschreiben an Wolf, sei »bei unseren IM von den Genossen des ZK bestellt und von uns besorgt worden«, das Original werde der Parteiführung von Wissenschaftsminister Prey übergeben — Diebstahl im Auftrag der Parteispitze.99

In einer anderen Auflistung wird über die Spionageergebnisse im Jahr 1968 berichtet, daß allein die für die DDR-Wirtschaft zuständige »Linie« XVIII im Westen insgesamt 289 »Materialien« für die wissenschaftlich-technische Auswertung (WTA) des MfS beschafft habe. Vier davon galten als »sehr wertvoll« mit großem und direktem Nutzen für die DDR, dreizehn als »im Komplex« sehr wertvoll, 195 als brauchbar und vierundsiebzig als zum Teil noch brauchbar; fünfzig waren an den sowjetischen Verbindungsoffizier übergeben worden.100 Nach einer anderen Übersicht vom Juni 1968 waren in diesem Jahr von der »Linie« XVIII insgesamt 411 im Westen beschaffte wissenschaftlich-technische Materialien der DDR-Industrie zur »Auswertung« zugeleitet worden. 

Spitzenreiter unter den Empfängerbetrieben waren dabei mit 126 Materialien die Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Regelungstechnik, Gerätebau und Optik und mit 125 Materialien die VVB Bauelemente und Vakuumtechnik, die fünfundfünfzig Muster von Festkörperschaltkreisen und gedruckten Schaltungen erhielt. An dritter Stelle folgten mit dreiundsechzig Materialien die VVB Elektromaschinen und mit zweiundfünfzig die VVB Datenverarbeitung und Büromaschinen.101

Über die Spionageerfolge der HVA auf dem Gebiet von Wirtschaft und Forschung gibt ein Bericht von Markus Wolf vom März 1969 Aufschluß, in dem er seinem Minister »über die Erfüllung der politisch-operativen Verpflichtungen der IL Etappe der Vorbereitung des 20. Jahrestages der Deutschen Demokratischen Republik« Rapport erstattet. Darin heißt es, daß die zuständige Abteilung V »eine Reihe wichtiger politisch-operativer Verpflichtungen zur Lösung von Schwerpunktaufgaben in strukturbestimmenden Zweigen der Volkswirtschaft« ganz oder teilweise erfüllt habe. Erfüllt worden sei beispielsweise das »Projekt Ammoniak«, so daß die entsprechende Anlage in Schwedt nun mit fünfundachtzig Prozent Produktionsausstoß arbeite und mit Sicherheit auf einhundert und mehr Prozent zu bringen sei; zusätzlich seien Wege ermittelt worden, wie die Ensaanlage Kalkammonsalpeter auf vollen Produktionsausstoß zu bringen sei.

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Erfüllt worden seien auch die Verpflichtungen, verschiedene Rezepte für Kunststoffverbindungen zu beschaffen (Polyurethane, Schnellpolymerisate von Hochpolymeren, Copolymerisate des Vinylchlorids, des Styrols der Polyurethane). Ebenso erfolgreich sei man bei den Verpflichtungen »Äthylen-Oxyd Propylen-Oxyd«, »Komplettierung der Unterlagen zum TEL-Verfahren« und »Erarbeitung einer Marktanalyse technisches Glas« sowie bei der Beschaffung von Materialien über schnelle Brutreaktoren gewesen.102

Im selben Jahr übergab die Abteilung V der HVA zudem umfangreiche Materialien zum Datenverarbeitungs­system »IBM 360«, die als entscheidender »Stock bei der Produktion und geplanten Anwendung von Datenverarbeitungsanlagen der dritten Generation in der DDR (Modell 40/21 und Modell 400) entsprechend dem Regierungsabkommen« mit der Sowjetunion bezeichnet wurden. Zur Information der sowjetischen »Spezialisten« sollte eine Titelliste über insgesamt 150.000 Seiten Material und etwa sechzig Programme, die dem MfS zu diesem Zeitpunkt vorlagen, weitergeleitet werden. 

Die Materialien waren, so hieß es in einem Begleitschreiben, »unter Hilfestellung des Ministeriums für Nationale Verteidigung beschafft« worden, also vermutlich durch den militärischen Spionagedienst der DDR.103 Die »operativen Arbeiten« zur Realisierung der Arbeit am östlichen Einheitssystem elektronischer Datenverarbeitung wurden auch in der Folgezeit weitergeführt, so daß allein in den Betriebsteilen Dresden und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) des Kombinates Robotron bis Mitte 1971 ein ökonomischer Nutzen von acht Millionen Mark zu verzeichnen war. Der erwartete Gesamtgewinn für die DDR aus den Vereinbarungen mit den Bruderstaaten wurde zu diesem Zeitpunkt auf rund 100 Millionen Mark veranschlagt (ohne Software).104

 

Aus dem Jahr 1971 ist ein sogenannter »Kurzbericht« des seinerzeit gerade gebildeten Sektors Wissenschaft und Technik überliefert, in dem »wichtige Arbeitsergebnisse der wissenschaftlich-technischen Aufklärung« aufgelistet werden. In insgesamt vierzehn Positionen werden darin die Ergebnisse der Wirtschaftsspionage im ersten Halbjahr des Jahres 1971 zusammengefaßt.105 Man habe sich, so heißt es hier, »auf wesentliche Fragen des Planteiles Wissenschaft und Technik der Volkswirtschaft der DDR konzentriert, aber auch viele perspektivische Fragen der technischen Revolution bearbeitet« sowie eine Reihe von Fragen »befreundeter Dienststellen«, besonders der Sowjetunion. Ein »echter Schwerpunkt« sei die Herstellung von Festkörperschaltkreisen geworden, da das sozialistische Lager oft fünf- bis zehnmal so teuer produziere wie auf dem Weltmarkt üblich. Die »für die Aufklärung daraus abgeleiteten Aufgabenstellungen« hätten zum Teil realisiert werden können, so daß das Halbleiterwerk in Frankfurt/Oder und das Funkwerk in Erfurt einen volkswirtschaftlichen Nutzen von 4,5 Millionen Mark erwarteten.

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Einen zweiten Schwerpunkt bildete dem »Kurzbericht« zufolge die Produktion von elektronischen Bauelementen in den Keramischen Werken Hermsdorf, die sich mit der sogenannten »Dünnfilmtechnik« in »nicht gangbare Wege« hineinentwickelt hätten. Das MfS habe deshalb Meßsysteme zur Automatisierung der Produktion sowie Know-how und Pilotsysteme zur Herstellung von Bauelementen auf der Basis der Dickfilmtechnik beschafft bzw. werde diese noch 1971 beschaffen. Das werde noch 1971 oder 1972 folgende Effekte ergeben:

»a.) Sicherstellung der Produktion von Gerätesystemen in der DDR;
b.) Sicherstellung der Produktion von Gerätesystemen in der DDR, die eine geringe Anzahl von Bauelementen brauchen, die aber von wechselnder Type sind;
c.) Herstellung von Bauelementen mit angenähertem Weltmarktpreis.«

Ein anderer Schwerpunkt im Bereich Datenverarbeitung war die Herstellung von Bauelementen auf der Basis der Ionenimplantation. In dem Bericht heißt es dazu: »Zur Zeit ist eine vom MfS beschaffte Anlage [...] in der wissenschaftlichen Testung. Eine Kleinstpilotanlage, die direkt produzieren soll (Anfang 1972), wird zur Zeit von einer IM-Gruppe des MfS aufgebaut.« Darüber hinaus habe das MfS »konzentriert« an Problemen der Herstellung von Peripheriegeräten gearbeitet, da die ösüiche Industrie hier nicht weltmarktfähig sei. Dazu habe man »operativ« zwei Varianten der Produktion eines Schnelldruckersystems erarbeitet (Mosaikdruck), so daß 1972/73 die Serienproduktion zu erwarten sei.

Zufrieden äußerte sich der Leiter des Sektors auch über die Beschaffungserfolge im Bereich der Kunststoffherstellung. Die Pilotanlage Direktverspinnen von Polyesterseide in Guben arbeite bereits, zusätzlich seien der Industrie in der DDR und der Sowjetunion weitere »wertvolle Unterlagen« zur Verfügung gestellt worden. Die »Auswertung unserer Unterlagen« über die Herstellung von Finalprodukten Polyurethane habe allein im ersten Halbjahr 1971 einen ökonomischen Nutzen von 618.000 Mark ergeben; zugleich seien »kostenlos« vierundvierzig weitere Lizenzmaterialien beschafft worden, deren Nutzen schätzungsweise fünfzehn Millionen Mark betrage. Auf dem Gebiet der Energiewirtschaft profitierte die DDR in ähnlicher Weise von der geheimdienstlichen Technologie-Beschaffung. 

Das Institut für Energetik, so der SWT-Chef, habe den »Informationsnutzen« aus den Materialien zur Brutreaktortechnologie mit insgesamt acht Millionen Mark beziffert, der Außenhandel der DDR habe durch konspirativ beschaffte Materialien über Weltmarktpreisvergleiche

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fünfzehn Millionen Mark des Kaufpreises eines Atomkraftwerkes einsparen können. Die durch das MfS ermöglichte Einsparung bei Erdgas- und Erdöltransporten durch Pipelines entspreche auf zehn Jahre berechnet sogar einer neunstelligen Zahl.

Insbesondere sollte das MfS die hoffnungslos veraltete Produktionsweise modernisieren helfen, denn die DDR produzierte auf zahlreichen Gebieten weit über dem Weltmarktpreis. Der SWT hatte deshalb »Dokumentationen« zur Effektivierung der Glasschmelze, der Fördertechnik, der Schweinemast, der Zementindustrie, der Konsumgüterindustrie sowie der Herstellung von Schädlingsbekämpfungsmitteln und optischer Aufheller von Synthesefarbstoffen besorgt. »Nutzensnachweise« lagen dem MfS für das erste Halbjahr 1971 für insgesamt fünfunddreißig Objekte der Chemie mit einem Wert von 3,5 Millionen Mark vor, für siebzehn Objekte der Elektronik (14;° Millionen Mark) und für fünf Objekte des Maschinenbaus (acht Millionen Mark), zuzüglich eines Nutzens von 15,4 Millionen Mark durch die »halblegale Beschaffung von Mustern und Unterlagen«.106

Neuere Zahlen enthält ein Bericht der für die DDR-Wirtschaft zuständigen Hauptabteilung XVIII vom Januar 1986. Allein das für Elektronik und Elektrotechnik zuständige Referat 8 konnte danach 1985 sogenannte »Embargoimporte« in Höhe von siebenundneunzig Millionen Valutamark tätigen. Das Kombinat Elektronische Bauelemente Teltow erhielt beispielsweise eine komplette Fertigungslinie für Chip-Kondensatoren im Wert von elf Millionen Valutamark. Bei zweiunddreißig Millionen Valutamark lag der Wert der an das Kombinat Mikroelektronik gelieferten Ausrüstungen, bei vier Millionen der für das Kombinat Robotron.107

Eine umfassende Bilanz der Wirtschaftsspionage der DDR läßt sich auf der Basis der bislang vorliegenden Unterlagen freilich nicht erstellen. Exakte Übersichten über den Nutzen für die DDR und den Schaden für die Bundesrepublik beziehungsweise die betroffenen Unternehmen gibt es nicht und wären angesichts des Ausmaßes des »Ideen-Diebstahls« auch nur mit großem Aufwand zu erstellen. Schätzungen zufolge soll der jährliche Nutzen der SWT-Informationen für die DDR-Wirtschaft zwischen 150 und 300 Millionen DM betragen haben, denen Aufwendungen von zwei bis drei Millionen gegenübergestanden hätten.108 Der Überläufer Werner Stiller wird mit der Aussage zitiert, daß das MfS mit einem Aufwand von fünf Millionen Mark insgesamt 300 Millionen Mark Entwicklungskosten eingespart habe.109 Tatsächlich weist das Ausgabenbuch des SWT im Zeitraum von 1986 bis 1989 Ausgaben in Höhe von gut zwei Millionen DM auf.110 

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Nach anderen Quellen soll der Beitrag des SWT zur Stärkung der DDR-Volkswirtschaft im Jahr 1979 150 Millionen Valuta-Mark betragen haben, gegenüber einem Aufwand von 2,5 Millionen. In den frühen achtziger Jahren habe der jährliche Nutzen rund 300 Millionen Ostmark ausgemacht, während für Ausgaben 1,2 Millionen DM und 400.000 Ostmark angefallen seien.111)

Die ökonomische Relevanz der Wirtschaftsspionage daran zu bemessen, daß sie, wie der selbsternannte Geheimdienstforscher Erich Schmidt-Eenboom schreibt, statistisch nur 0,2 Prozent zum Nationaleinkommen der DDR beigetragen habe, dürfte jedenfalls zu kurz greifen. Die Bremsen lagen nicht bei der Beschaffung, sondern bei der Implementierung der technologischen Neuerungen.112 Erinnerungen ehemaliger HVA-Offiziere zufolge waren die Ergebnisse der Industriespionage für die ständig mit Schwierigkeiten kämpfende DDR-Wirtschaft von großer Bedeutung. Innerhalb des MfS wurden die SWT-Mitarbeiter deshalb mitunter beneidet, weil sie, im Gegensatz zu anderen Stasi-Abteilungen, mit relativ geringem operativem Aufwand Ergebnisse präsentieren konnten, »deren Wert sich meist auch noch exakt in Millionen Valuta-Mark ausdrücken ließ«.113

Tatsächlich präsentierte der Leiter der für Wirtschaftsfragen verantwortlichen Hauptabteilung XVIII, Kleine, noch im November 1989 dem für Sicherheits­fragen zuständigen Politbüromitglied Wolfgang Herger eine Kosten-Nutzen-Rechnung, aus der hervorging, wieviel die DDR seiner Arbeit zu verdanken hatte: 6,5 Millionen DM Einnahmen gegenüber 150.000 DM Ausgaben habe seine Abteilung von 1986 bis 1989 allein durch die Eintreibung sogenannter »Wiedergut­machungs­zahlungen« bei Rechtsverletzungen von westlichen Personen und Firmen »erwirtschaftet«. Fachminister und General­direktoren hätten die wertvolle Beschaffungstätigkeit der Abteilung gewürdigt. 

Tief enttäuscht und besorgt sei man deshalb über die »unzureichende« Darstellung der MfS-»Erfolge« durch Erich Mielke in der DDR-Volkskammer, als dieser Anfang November nach seinem berühmt gewordenen Ausspruch »Ich liebe Euch doch alle!« von den Abgeordneten öffentlich ausgelacht worden war.114

Trotz unmittelbar drohender Zahlungsunfähigkeit der DDR konnten diese Berechnungen zur »Wirtschaftlich­keit« der Wirtschafts- und Wissen­schafts­spionage die aufgebrachte Bevölkerung Ostdeutschlands nicht davon abhalten, die endgültige und vollständige Auflösung des Staats­sicherheits­dienstes zu verlangen. Nachdem der Zentrale Runde Tisch Anfang Dezember einen entsprechenden Beschluß gefaßt und sich Anfang Januar der damalige Ministerpräsident Hans Modrow vorläufig diesem Druck gebeugt hatte,115) stand auch die Wirtschaftsspionage zur »Abwicklung« an. Innerhalb einer einzigen Woche verzeichnete der SWT noch einmal Ausgaben in Höhe von 3,5 Millionen Mark — und »rutschte« damit wohl zum ersten und letzten Mal in seiner Geschichte in die roten Zahlen.116

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