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L. D.

Workuta

 

 

14-20

Unter dem Vorwand einer Befragung verhaftete man mich am 13.5.1953 in Plauen. Eine Nacht war ich beim MfS. Da ich mit einem russischen Offizier befreundet war, beschimpfte man mich mit den unflätigsten Worten. Früh führte man mich den Russen zu, ohne jegliche Erklärung einer eventuellen Verfehlung. Zwei Tage saß ich in einem bewachten Raum, ohne daß man sich um mich kümmerte, nur der Posten war da. Versuchte ich zu fragen warum, bekam ich keine Antwort. 

Ich hatte ja meine kleine Tochter zu Hause mit Eindreiviertel-Jahren — das interessierte überhaupt nicht. Ein Offizier forderte mich dann auf, ihm zu folgen. Ich mußte in ein Auto steigen, die Fenster waren verhangen, konnte nicht sehen, wohin es ging. Nach ca. zwei Stunden wurde ich in ein großes Gebäude gebracht. Ohne Verhör sperrte man mich in eine schmutzige Zelle.

Einen klaren Gedanken konnte ich nicht fassen, aber ich dachte immer, die müssen dich ja gehen lassen, hast doch nichts gemacht.
Dann das erste Verhör. Nun wußte ich endlich, was man mir vorwarf.
Punkt 1: Spionage, Punkt 2: Ich hätte einen russischen Offizier über die Grenze gebracht.
Mir war nichts davon bekannt.

Ein Untersuchungsrichter mit Dolmetscherin verhörte mich dann Tag und Nacht. Die Verhöre waren ein Alptraum. Dabei erfuhr ich, daß ich in Weimar bei der damaligen NKWD bin.

Mir wurde weder ein Haftbefehl noch sonst irgend etwas vorgelegt, was meine Inhaftierung rechtfertigen würde. In die Zelle hatte man mir eine gewisse Jutta Weinkauf reingesetzt, die mich aushorchen sollte. Als ich es merkte, war sie verschwunden — als ich vom Verhör kam.

So vergingen die Wochen. Ich vergesse meinen 27. Geburtstag nicht. Da hatte ich ein Verhör von 19 Stunden. Die Untersuchungsrichter wechselten, und ich schlief laufend auf dem Hocker ein — dann brüllte man mich an. Um endlich Ruhe zu haben, gab ich alle Anschuldigungen zu.

Es folgte dann die Verurteilung vor dem Kriegs-Tribunal. (Dies wirkte auf mich wie ein Marionetten-Theater.) Man verurteilte mich wegen angeblicher Spionage und "Vaterlandsverrat" als Deutsche zu 25 Jahren Arbeitslager, 5 Jahren Verbannung und Aberkennung der Staatsbürgerrechte. Es war von einem Beisitzenden des Gerichts sogar mein Tod gefordert worden. Das Erziehungsrecht für mein Kind wurde mir entzogen.

Das Tribunal bestand nur aus Russen. Ich konnte einfach weder verstehen noch fassen, was die mit mir machten, kapierte gar nichts mehr.

Dann begann der Leidensweg erst richtig.

Mit einem "Brot"-getarnten Kastenwagen ging ich dann zusammen mit verurteilten Russen auf Etappe nach Potsdam. Wieder einige Tage Einzelhaft, aber das war ich ja schon gewohnt. Ich wurde dann mit vier deutschen Frauen zusammengelegt. Sie wußten auch nicht, weswegen sie verurteilt waren. Von ihnen habe ich nie wieder etwas gehört. Nach ca. drei Stunden wurde ich wieder allein mit Russen vom Bahnhof Wildpark nach Brest-Litowsk gebracht. Die Fahrt war furchtbar. Mit Handschellen führte man mich in ein Gefängnis: Einzelhaft, kein deutsches Wort, furchtbare Zustände, kalt und schmutzig die Zelle. Die Posten beschimpften mich als "Faschistenschwein".

Dann wieder als einzige Deutsche auf Etappe nach Briansk. Man kann sich die Zustände im Gefängnis nicht vorstellen: Mit ca. 20 Ukrainerinnen saß ich in einer Zelle und konnte mich nicht verständigen. Von Hygiene keine Rede. Die Inhaftierten waren alles nur Kriminelle. 

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Eine der Gefangenen entband in der Zelle ohne jegliche medizinische Hilfe ein Mädchen — ein Drama. Von Seiten der Bewacher kümmerte sich niemand darum. Nach zwei Tagen konnte das Baby in einer Schüssel das erste Mal gebaden werden. Aus Bettlaken habe ich kleine Hemdchen genäht.

Wieder mußte ich allein mit Russen auf Etappe gehen nach Moskau. Was ich da alles erleben mußte!

Eine große Zelle mit ca. 40 Frauen, darinnen ein einziges Chaos. Verlauste und verdreckte Russinnen, die sich prügelten, ich hatte solche Angst!

Mir kam der Gedanke, daß ich der einzige deutsche Häftling in Rußland bin. Der Gedanke war furchtbar, habe dann immer mit Selbstmordgedanken gespielt, aber ich hatte ja noch meine kleine Tochter zu Hause, und vielleicht komme ich doch noch einmal zurück.

Das nächste Gefängnis in Rosajewka brachte mich dann endlich mit deutschen Frauen zusammen. Es waren auch alles zu 25 Jahren Arbeitslager Verurteilte. Keine wußte genau warum. Nun gingen wir alle zusammen auf Etappe.

Nach einem langen Marsch, bei Schneesturm total durchgefroren, begann nun die Hölle für uns. Wir wurden in Güterwagen gestopft. Unter unwürdigsten Verhältnissen begann die letzte Fahrt an das Endziel Workuta Komi. Im Waggon waren unvorstellbare Verhältnisse. Einer lag am anderen, unten und oben. Darunter war auch ein junges Mädchen mit ihrer Schwester aus Dresden, sie war schwer TBC-krank. Sie war ohne jegliche Medikamente und Hilfe. (Später ist sie dann in einem anderen Lager verstorben.) Unsere Bedürfnisse mußten wir durch ein Rohr, welches nach draußen ging, verrichten. Durch ein Gitter waren wir von der Bewachung getrennt. Die Fahrt war unendlich. Man stellte uns oft bei größter Kälte auf ein Abstellgleis, Nahrung gab es kaum.

Wie lange wir unterwegs waren, wußten wir nicht, da uns jegliches Zeitgefühl fehlte. Dann endlich waren wir am Ziel, 14 Tage Quarantäne, danach wurden wir in Lager aufgeteilt. Wir kamen ins Arbeitslager Workuta 2. Es war ein strenges Regimelager. Totale Überbelegung der Baracken. Wir wurden in Brigaden eingeteilt und bekamen Sträflingskleidung. 

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Jeder hatte eine Nummer, welche am Arm und Rock oder an der Wattehose getragen werden mußte. Ich bekam die No 168. Ich war nun nur noch eine Nummer, hatte keinen Namen mehr. Im Lager befanden sich schon viele Deutsche, natürlich war aber die Überzahl Russen, Ukrainer und alle möglichen Ost-Nationen.

Den nächsten Tag ging es dann unter strengster Bewachung zur Arbeit, 10 bis 12 Stunden! Mit dem Zug wurden wir in die Tundra gefahren. Dort mußten wir schwer arbeiten. Eine neue Bahnlinie anlegen, und dies ohne jegliche Maschinen. Wir mußten oft bei Schneesturm und 40 Grad Kälte arbeiten. Man konnte kaum die Schaufel oder Spitzhacke halten. Wir mußten uns sogar anseilen, wenn so eine 'Burka' (Schneesturm) kam. Da oben waren es neun Monate Winter und dann drei Monate Sommer, da war es dann Tag und Nacht hell.

Selbst sonntags mußten wir raus Schnee schippen. Irgendeinen Vorwand fanden sie immer, uns rauszuschicken. Verließen wir das Lager, wurden wir erst durchsucht. Wenn wir "Glück" hatten, mußten wir uns in der Wache ganz ausziehen. Kamen wir abends todmüde ins Lager zurück, war des öfteren die ganze Baracke durchsucht. Ehe man dann seine Sachen wiedergefunden hatte, ging man dann kaum noch zum Essen. Wir mußten auch Baumstämme und Kohlen entladen. Beim Hausbau wurden wir auch eingesetzt. Dann für die Lichtmasten Gruben ausheben — das war Knochenarbeit, da der Boden total gefroren war. Aber wir mußten ja jeden Tag die an uns gestellte Norm schaffen.

Essen gab es gerade zum Überleben. Kascha, Salzheringe oder gekochten Lachs, einen Fingerhut Öl und nasses Brot— das war der tägliche Speiseplan. Einmal in der Woche gab es einen Klumpen Zucker. Selten gab es Suppe. Da waren gefrorene Kartoffeln, ein paar Fäden Sauerkraut und Rentierfleisch drin. Vor Hunger konnte man dann kaum schlafen. Irgendwelchen Schikanen waren wir immer ausgesetzt. Ich hatte zum Beispiel eine Magen-Darm-Grippe und lag im Krankenbau. An einem Abend verabreichte man mir ein Glas Bittersalz. Früh wurde eine Magensonde gemacht, wobei noch Kristalle gefunden wurden. Die Ärztin stellte die Diagnose, ich hätte Kochsalz genommen, um nicht arbeiten zu müssen. Obwohl ich gar nicht aufstehen konnte, bekam ich 10 Tage Karzer, bei Brot und Wasser, in diesem Zustand!

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Völlig von der Heimat abgeschnitten, verging ein Monat um den anderen. Wir waren sehr verzweifelt. An Flucht war nicht zu denken. Wohin auch? Tundra oder Eismeer.

Kamen neue Gefangene, war das für uns schon ein Höhepunkt. Da konnte man schon einmal etwas aus der Heimat erfahren. Zwei Tote hatten wir auch zu beklagen. Eine junge Frau wurde bei Straßenarbeiten von einem LKW überfahren. Trotz Operation verstarb sie. Man hatte ihr im Gefängnis die Brille weggenommen, und sie konnte so wenig sehen. Eine ältere Frau, die Oma Aust, starb an Schwäche. Wir lagen zusammen im Krankenbau, dort hat sie mir immer von ihrem einzigen Sohn erzählt. Ihr einziger Wunsch, den Sohn noch einmal in die Arme zu nehmen, wurde nicht erfüllt.

Nach Stalins Tod sollten wir Erleichterung bekommen, aber dem Lager wurde nur das Regime abgenommen, sonst tat sich für uns nichts.

Ende 1954 gingen dann die ersten Etappen auf Transport. Es hieß, es geht in die Heimat. Mit der letzten Etappe kam ich dann nach. Ich erkrankte aber an einer Meningitis und lag Wochen im Krankenbau. Mein Zustand war bedenklich, bekam viele Lumbaipunktionen und Morphium. (Dies erzählte mir später eine lettische Schwester.) Ich selbst wußte nicht, was mit mir geschah. 

Eines Tages lud man mich wie ein Stück Vieh auf einen Schlitten. Man brachte mich mit noch anderen Kranken in ein Invalidenlager, in eine nasse Baracke und ein Metallbett ohne Strohsack. Es herrschten chaotische Zustände, nicht einmal medizinische Versorgung war an diesem Tag da. Dadurch bekam ich nun auch noch eine Lungenentzündung dazu. Nach Monaten kam ich dann endlich wieder auf die Beine, mußte erst wieder laufen lernen, hatte durch eine schlechte Punktion cerebrale Anfälle und Lähmungserscheinungen bekommen. Daß ich die Krankheit überlebt habe, verdanke ich einer russischen Ärztin, die sich sehr für mich engagiert hatte. In dem Invalidenlager war ein einziges Elend. Junge Mädchen und Frauen, denen durch Unfälle ein Bein oder Arm fehlte. Eine Ukrainerin hatte durch einen Unfall (der Fahrer eines LKW fuhr betrunken in einen Zug, die meisten Gefangenen waren tot) Arme und Beine verloren. Nur der Rumpf war übrig. Grausam. Sie wollte sterben. Dieser Anblick wird mich immer verfolgen.

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Durch den Lagerfunk wurde ich dann aufgerufen und mußte mich sofort fertigmachen zur Rückkehr in die Heimat. Unterwegs wurde die Fahrt unterbrochen. Auf dem Bahnhof wurde mir in einer Wache erklärt, daß ich keine Gefangene mehr bin, sondern mich als "freier Bürger" betrachten kann. Bekam aber wieder keine Papiere oder etwas Amtliches in die Hände. Durfte allerdings meine Nummer abnehmen, aber jeder sah, daß ich eine Gefangene war, denn ich hatte doch Sträflingskleidung an. Nach Tagen kamen wir dann in einem Lager an. Nun traf ich meine ganzen Bekannten wieder. Sie waren ganz erstaunt, daß ich noch am Leben bin. Denn der Arzt hätte mir keine Chance mehr gegeben.

Im Oktober 1955 ging es dann endlich in Richtung Heimat. Wir konnten es kaum glauben. Mit dem "blauen Express" brachte man uns zurück. Hunderte von Gefangenen, es waren auch noch Kriegsgefangene darunter. In Moskau holte man wieder einige aus dem Zug. Kriegsverbrecher, sagte man.

In Finsterwalde kam ich ins Krankenhaus. Da wurde ich von einem Arzt mit den Worten begrüßt: "Es wäre besser gewesen, man hätte so eine politische Hure verrecken lassen. Schade um den ganzen Aufwand !"

Dann das Wiedersehen mit meiner Tochter, sie war ja nun schon über 5 Jahre. Meine Mutti weinte nur, ich kam ja noch mit einer Krücke heim. Meine Tochter betrachtete mich immer ganz schüchtern von der Seite, sie war ganz aufgeregt. Ich hatte ja noch Zöpfe, dies muß schon einen Eindruck gemacht haben. Vor meiner Ankunft hatte man sich schon nach uns erkundigt. Meine Mutti sagte, es waren "zwei von denen" da.

Nun lebte ich in ständiger Angst. Klingelte es, versteckte ich mich im Schrank. Schlafen konnte ich lange Zeit nur mit Licht, ich fühlte mich ständig verfolgt. Irgendwer hatte immer Interesse an mir. Das Erziehungsrecht für mein Kind bekam ich nie wieder. Habe noch Jahre mit meiner Krankheit zu kämpfen gehabt. Konnte kaum einer Arbeit nachgehen, man hatte mir auch nichts Anständiges angeboten.

Nie wieder soll sich so ein Unrecht wiederholen. Mögen die nächsten Generationen so etwas Schreckliches nur von der Literatur her kennen. Gegen meine Peiniger hege ich keine Rachegefühle. Ich bin erstaunt, daß man mit so einer Schuld auf dem Gewissen ruhig leben kann. Man kann nur Mitleid empfinden für ihre Gesinnung. Ich möchte auch im Namen anderer Geschädigter hiermit Genugtuung fordern.

19-20

  Plauen,
 27.5.1990

 

 


 

     

  Walter G.

 

3. Mai 1946 — Leuna-Werk, der Meister kommt mittags zu mir: In der Verwaltung, Bau 24, Kaderleiter Wunderlich melden. Dort drei Männer, der Kaderleiter und zwei in dunklen Anzügen, Krawatte, musternde Blicke. Ich bin verhaftet. Abends befinde ich mich im Gefängnis in Querfurt.

Eigentlich wollte ich im April 1946, gerade 17 Jahre alt geworden, die Schule fortsetzen, zwei Jahre bis zum Abitur. Zunächst kam die Verpflichtung, zur Demontage im Leuna-Werk zu arbeiten.

Gleich in der ersten Nacht mehrere Verhöre. Es sind noch sechs weitere Jugendliche aus dem damaligen Wohnort Nebra/ Unstrut dort. Am 4.5.1946 in meinem Beisein Durchsuchung der elterlichen Wohnung — es gibt keine Waffen. In einer Vielzahl nächtlicher Verhöre habe ich viele Seiten in russischer Sprache zu unterschreiben. Am Tage sitzen oder stehen, je nach Laune des NKWD.

Endlich, am 14.7.1946, Ende der Einzelhaft, und am 8.8.1946 das "Tribunal". Wir, sieben Jugendliche aus Nebra, sitzen vor diesen Offizieren, die viel russisch reden und prächtiger Stimmung sind. Ergebnis: Aus uns hat man hier eine Werwolforganisation "Edelweiß" gemacht.

Urteile: einmal 20, fünfmal 15, einmal 10 Jahre, für mich 20 Jahre Arbeitslager nach Artikel 58, Absatz 8, 9, 11 des sowjetischen Strafgesetzbuches. Wir erfahren später, daß fünf weitere Jugendliche aus dem Ort verhaftet und in gleicher Sache vom NKWD in Querfurt verurteilt wurden.

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Am 23.8.1946 per LKW, Arme mit Bindfäden auf dem Rücken verschnürt, nach Halle/Saale, Kirchtor, dem "Roten Ochsen". Zuchthauskleidung und Einrücken in die Säle im Obergeschoß des D-Blocks, dessen Fußböden schon überfüllt sind. Am 1.9.1946 Verlegung nach unten in Zellen.

Im Block A, so stellen wir mit Hilfe der Kalfaktoren fest, liegen Ehemalige der Wlassow-Armee. Im Keller des Blocks B die zum Tode Verurteilten. Ein NKWD-Offizier mit dickem Schnurrbart — "der Mann mit der Zwiebel"— sorgt dort ständig für freie Plätze. Wir erfahren, es geht laufend in die Döhlauer Heide zur Erschießung. Ich hoffe, es wird gelingen, auch diese Gräber zu finden.

Am 3.10.1946 wird die karge Verpflegung noch um 50 Prozent gekürzt. Das ist der eigentliche Auftakt zum furchtbaren Winter 1946/47. Hunger und Kälte fordern hohen Tribut unter den Gefangenen, dabei sind die Todesfälle unter den Jugendlichen extrem hoch. Am 31.10.1946 wieder Aufrufe, ich bin dabei. Wir erhalten die eigene Kleidung, liegen in den Sälen Block C. Die Spannung löst sich am 14.12.1946, es geht per LKW zum Güterbahnhof Halle, vollgestopfte Güterwaggons, eine eiskalte Nacht.

Früh: Bahnhof Sachsenhausen, wir werden in das Lager getrieben. Den 15.12.1946 über warten in der Vorzone: das Aufnahmezeremoniell. Abends in den "Steinbau" (Zellenbau), am nächsten Tag wieder Aufnahmeverfahren. Abends Abmarsch in die Zone II, Baracke 41. Das ist eine dieser Holzbaracken, eiskalt, dreietagige Pritschen, keinerlei Strohsäcke o.a., Kälte und Hunger. Baracke ist total überbelegt. Ein Umdrehen nachts im Liegen ist nur in ganzen Reihen möglich. Die Baracke (wie alle hier) bleibt verschlossen, außer zum Zählappell morgens und abends. Die Fenster sind vernagelt, die Scheiben angestrichen. Die Sterbefälle nehmen rapid zu. Am 24.12.1946 werden alle über 50 Jahre und die Invaliden rausgeholt.

Am 28.12.1946 draußen antreten, nackt vor einer Gruppe von Offizieren, Leitung eine Frau: eine Arbeitsgruppe 1a wird ausgewählt, am 1.1.1947 auf Block 8/9 untergebracht, erhält Kleidung und verläßt dann am 9.1.1947 das Lager Richtung Osten.

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Erneute Musterung am 4.1.1947, ich trete an, abschließend ein Kniff der Russin ins Hinterteil: ich komme auf die Liste, tauglich Arbeitsgruppe n. Es geht am 07.01.1947 in Baracke 2, eine Massivbaracke, die im Vergleich angenehm temperiert wirkt. Strohsäcke und etwas reichlichere Verpflegung. Die tägliche Wassersuppe aus Sauerkraut, in normalen Aschenkübeln transportiert, ist wenigstens lauwarm. Die wenigen alten Kochgeschirre und Löffel gehen von Mann zu Mann.

Am 28.1.1947 Verlegung nach Baracke 9. Jeder hofft, schlimmer kann es woanders kaum sein, sicher endlich Arbeit. Das Nichtstun ist zermürbend. Es kommt anders, am 29.1.1947 wird alles abgeblasen, die Verpflegung geht wieder unter Minimum zurück. Damit wird das Lager Sachsenhausen, Zone D, wie ich jetzt weiß, "Speziallager des NKWD", die Stätte meiner herrlichen Jugendjahre.

Ungeziefer, Krankheit, Hunger, Seuchen und Epidemien, absolutes Nichtstun, in totaler Isolation über weitere drei Jahre.

 

Glücklich über solche "Verbesserungen" wie:
— Ab 7.5.1947 darf man tagsüber nach dem Morgenappell auf den "Hof", die winzige Fläche zwischen zwei Baracken. Nach dem Zählappell abends wieder Einschluß.
— Am 9.5.1949 darf ein Brief geschrieben werden. Jegliche Angaben über uns selbst sind verboten. Nach Zensur wird der Brief am 7.7.1949 in Berlin-N 4 aufgegeben. Am 25.7.1949 habe ich Antwort von den Eltern, sie ahnen nicht, wo ich bin.
— Frühjahr 1949 erhalten die Barackenhöfe einen Lautsprecher. Wir erfahren etwas von der Welt draußen, die wir total Abgemagerten uns nur in "Essidealen" vorstellen können.
— Auch gibt es ab Mitte 1949 monatlich etwas Tabak, der sofort neben Brot den Charakter einer Währung unter uns annimmt (z.B. für ein Minimum an Kleidung).

Ende Dezember 1949 häufen sich Gerüchte über Entlassungen, die dann tatsächlich am 17.1.1950 beginnen. Gleichzeitig erfolgen auch tägliche Verlegungen von Gruppen in andere Baracken bzw. nach Bautzen (ab 27.1.1950). Mit jedem Aufruf steigt die Angst: Freiheit oder Übergabe an die Deutsche Volkspolizei.

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Am 31.1.1950 bin ich dabei. Am 3.2.1950 zum Klubhaus des NKWD in der Vorzone: dort sitzen Offiziere der VP und erledigen die Formalitäten der Entlassung. Überlebt: den schlimmen Winter 1946/47, die verschiedensten Krankheitsepidemien, zweimal im Jahr 1948 "die Endstation" im Lager West, Block IV (Baracken 25 bis 28) und in (Baracken 21 bis 24), lebend verlassen. Diese Baracken stehen noch heute in ihrer elenden Häßlichkeit, offenbaren aber nichts vom vielfältigen, langsamen Sterben ihrer damaligen Insassen. Überlebt auch die totale Dystrophie, die vorherrschend war. Unser äußeres Erscheinungsbild war extreme Abmagerung, Geschwüre, Furunkel und Flechten, eingehüllt in die Überreste der Kleidung bei der Verhaftung.

Krankheit bedeutete meist das Ende. Ärzte, Häftlinge wie wir, hatten mit fast leeren Händen keinerlei Möglichkeiten wirksamer Hilfe.
Erschüttert waren wir, als wir erführen, Ende 1949 sei ein Probst Grüber im Lager gewesen. Seine Berichte darüber in der Öffentlichkeit lösten im Lager Empörung aus.
Empört waren wir über Entlassungsberichte in Zeitungen der DDR, Februar 1950, aus dem Lager Sachsenhausen.
Ein Herr Otto Donath berichtete für die "Neue Berliner Illustrierte". Fotos wurden veröffentlicht von "ND Archiv" sowie "Illus" über Nazi-Aktivisten! Diese Zeitungen sollten sich eigentlich noch heute für soviel Hohn öffentlich entschuldigen.

Vorherrschend in der Erinnerung sind auch heute noch die unzähligen Toten, die vielen, die unschuldig oder wegen Geringfügigkeiten denunziert und furchtbar bestraft wurden. - Ich gedenke meiner toten Kameraden aus Nebra/Unstrut, gesunder, jugendlicher Menschen, zum "Werwolf" gestempelt und verurteilt. Die Geschichte dieser Zeit, dieser Speziallager des NKWD sollte heute sachlich, konkret und mit gebotenem Anstand gegenüber den Opfern geschrieben werden.

Chemnitz, 11.6.1990

*

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Gotthold L.

 

Mein Vater wurde im Februar 1946 im Alter von 46 Jahren inhaftiert. Er mußte sich in Schwarzenberg melden und kehrte nicht zurück. Meine Mutter erhielt keine Nachricht. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt in Kriegsgefangenschaft. Nach meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1948 unternahm ich alles, um das Verschwinden meines Vaters aufzuklären. Es gelang mir letztlich unter Mitwirkung eines vorzeitig entlassenen Mitgefangenen meines Vaters. 

Im Januar 1954 kehrte mein Vater nach 8-jähriger Haft als völlig gebrochener Mensch nach Hause zurück. Er konnte keiner Arbeit nachgehen, bekam aber weder Rente noch irgend eine andere Unterstützung. Er verdiente sich etwas Geld durch gelegentliche Schnitzarbeit.

Ab Juni 1965 bekam mein Vater Altersrente - sage und schreibe 143,-M! —, obwohl er doch nebenbei noch Beiträge zur Beamten-Versicherung gezahlt hatte. Nach einer Beschwerde bei der Sozialversicherung wurde ihm mitgeteilt, daß die Beitragsjahre von 1933 bis 1945 und die Jahre der Inhaftierung 1946 bis 1954 aus dem Rentenanspruch entfallen.

 

Ende 1965, vier Monate vor seinem Tod, erzählte mir mein Vater seine Leidensgeschichte. Auf die Frage, warum er das erst jetzt, 11 Jahre nach seiner Freilassung tue, sagte er mir, daß sie sich mit Unterschrift verpflichten mußten, von dem Erlebten nichts an die Öffentlichkeit zu bringen. Um sich und seine Familie nicht zu gefährden, habe er alles für sich behalten. Und dann wörtlich: "Jetzt im Angesicht des Todes sage ich dir als meinem Sohn die volle Wahrheit, die du zu einem gegebenen Zeitpunkt der Öffentlichkeit mitteilen kannst und mußt. Damit sich so etwas nie wiederholen kann. Prüfe aber erst genau, damit dir keine Nachteile daraus erwachsen. Diese Zeit kann man niemandem wünschen."

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Mein Vater war Meister in der Lackiererei der ehemaligen Firma Lippert & Arnold in Grünhain und hatte auch sowjetische Kriegsgefangene als Arbeitskräfte. Meiner Mutter fiel auf, daß die Arbeitsmäntel meines Vaters regelmäßig braune Flecken auf dem Rücken hatten, die sich dann zersetzten und Löcher wurden. Außerdem bekam mein Vater auf der Kopfhaut Ausschlag, so daß er sich ärztlich behandeln lassen mußte. Meine Eltern konnten sich den Zusammenhang nicht erklären. Eines Tages kam ein Arbeiter meines Vaters zu ihm und sagte: "Ein sowjetischer Kriegsgefangener spritzt dir beim Vorbeigehen von hinten Säure auf den Rücken, und zwar immer derselbe."

Eines Tages erwischte ihn mein Vater auf frischer Tat und ohrfeigte ihn deshalb. Vermerkt sei in diesem Zusammenhang, daß der Arbeiter, der meinen Vater warnte, auch der Denunziant war. Und nun zum Bericht meines Vaters. Mein Vater wurde 1946 von einem sowjetischen "Gericht" zum Tode verurteilt. Urteilsbegründung, man höre und staune: Ohrfeigen eines sowjetischen Kriegsgefangenen. Warum war dieser Kriegsgefangene aber nicht anwesend, und warum dies alles erst im Jahre 1946? Die Kriegsgefangenen waren 1945 zu Kriegsende noch im Ort. Warum haben sie zu diesem Zeitpunkt keine Anklage erhoben ?

Hier eine Antwort: Mein Vater brachte fast jeden Sonntag zwei bis drei Kriegsgefangene mit nach Hause, zu Gartenarbeiten. Dafür bekamen sie Essen, und dafür waren sie sehr dankbar. Mein Vater wurde nicht von ihnen zur Rechenschaft gezogen, nein, er wurde Opfer einer Denunziation. In der Verhandlung wurde immer wieder der Name eines Mannes erwähnt, der bei meinem Vater arbeitete. Er war bei den Nazis "Blutfahnenträger der SA", und dieser Mann war der Auslöser dieser Denunziation. Damit wusch er sich rein.

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Und nun nochmal zum Urteil "Todesstrafe". Nach einer gewissen Zeit wurde mein Vater erneut einem Verhör unterzogen, und bei diesem sollte er ein Gnadengesuch unterschreiben. Mein Vater lehnte dies mit der Begründung ab, er habe nichts getan, was eine Todesstrafe rechtfertigen würde. Daraufhin wurde er bis zur halben Bewußtlosigkeit geschlagen, in diesem Zustand unterschrieb er letztlich. In den Medien erschien dann die Mitteilung, die sowjetische Besatzungsmacht begnadigt zum Tode verurteilte Kriegsverbrecher. Später wurde mein Vater nochmals begnadigt, zu 10 Jahren.

Der Leidensweg meines Vaters ging von Zwickau über Bautzen, Brandenburg, Sachsenhausen. Entlassen wurde er im Januar Jahre 1954 aus der Strafvollzugsanstalt Untermaßfeld.

Als mein Vater 1966 verstarb und ich mich nach der Todesursache beim behandelnden Arzt erkundigte, sagte dieser, es war kein Organ mehr lebensfähig. Als kerngesunder Mensch wurde er 1946 inhaftiert. Ich klage dieses stalinistische Gewaltregime als menschenverachtend und inhuman an.

Durch die "Vergangenheit" meines Vaters hatte ich in den letzten 40 Jahren Diskriminierungen jeglicher Art zu ertragen. Das ging vom Arbeitsplatzverlust bis zu Lohneinbußen und zum Verlust meiner Lebensversicherung. Begründung: "Sohn eines Kriegsverbrechers".

Grünhain. Juni 1990

Das Foto auf Seite 25 zeigt den Vater des Verfassers. Herrn Fritz Leonhardt.

 

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Sieghard P.

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Im August 1963 wurde ich wegen eines Sabotagefalles in einer Raketeneinheit der NVA verhaftet. Ich war damals Soldat in dieser Einheit.

Nach Monaten der U-Haft im Stasi-Gefängnis in Berlin-Lichtenberg fanden die Beamten heraus, daß ich mit dieser Tat nichts zu tun hatte. Dies nutzte mir aber wenig.

Das Unfaßbare begann schon wenige Stunden nach meiner Verhaftung bei der Stasi in der NVA-Dienststelle in Cottbus. Ich war jung, unerfahren und naiv. Verzweifelt beteuerte ich meine Unschuld, aber es half nichts. "Ein Soldat ohne Knast ist wie ein Baum ohne Ast" zitierte lächelnd ein hagerer Stasi-Major mittleren Alters. Er gab sich väterlich, erkannte sofort meine Schwächen. Es wäre alles nicht so schlimm, und wenn ich nur einsichtig sei, käme ich sofort wieder zurück zu meiner Dienststelle. Mit ein paar Tagen Arrest müßte ich allerdings rechnen. Sollte ich jedoch weiterhin die Tat leugnen, würde ich meine Familie lange nicht wiedersehen. Mir wurde schlecht, meine Hände zitterten. Ich gestand, um mir selbst zu helfen.

Am nächsten Tag war ich in der U-Haft Berlin-Lichtenberg. Hier ging es richtig los. Es begannen die schlimmsten Monate meines Lebens. Ich widerrief mein Geständnis von Cottbus, aber mein Vernehmer wurde wütend und schrie mich an, wenn ich weiterhin so lügen würde, könnte ich mit einer hohen Strafe rechnen. Ich war völlig am Boden. Paar Tage später "gestand" ich erneut, aus Angst vor der angekündigten hohen Strafe.


Die Verhöre waren die Hölle. Was ich aussagte, zählte grundsätzlich nichts. In die Protokolle wurde nur aufgenommen, was der Vernehmer hören wollte, was den Menschen zerstörte. Ich wurde zum Verbrecher, Dieb und Staatsfeind aufgebaut. Oft spät am Nachmittag, entnervt, demoralisiert und am Ende meiner Kräfte, unterschrieb ich dann alles. Sechs Monate lang. Ich wurde von den Stasi-Offizieren traktiert, gedemütigt, genötigt und zu immer neuen "Geständnissen" gezwungen. Wollte ich mich verteidigen, schrie man mich an, woher ich die Frechheit besäße, in der U-Haft noch weiter zu hetzen.

Man nahm mir sofort meinen Ehering weg, weil ich durch die lange Freiheitsstrafe, die ich ja durch Lügen und Unbelehrbarkeit vom Gericht bekommen würde, sowieso keine Frau mehr brauchte. Man drohte mir, daß ich mein Kind bis zum Erwachsen­werden nicht wiedersehen würde. Ich stand vor der Wahl "Gestehe alles, und du bekommst als Einsichtiger eine milde Strafe, oder lüge weiter, und du bekommst als Unbelehrbarer die Höchststrafe", und gestand Dinge, zu denen ich nie im Leben fähig gewesen wäre.

Schläge vor die Brust, Schütteln und Zerren an der Kleidung oder Zusammenstauchen waren bei diesen Verhören normale Begleitumstände. Ständige Drohungen, daß mir die U-Haftzeit wegen Lügen und böswilligem Hinauszögern nicht als Haftzeit angerechnet wird, bei jedem Verhör. Wenn morgens um acht der Schlüssel knackte und ich zum Verhör geholt wurde, wünschte ich mir tausendmal, tot zu sein.

Mitinhaftierte setzten mir zu, ich sollte mein falsches Geständnis widerrufen. Mit dem Mut der Verzweiflung widerrief ich schließlich. Ich war unschuldig!

Aber die Hoffnung auf baldige Entlassung aus der U-Haft konnte ich schnell begraben, denn wer sich in den Fängen dieser Organisation des Schreckens befand, konnte, durfte nicht unschuldig sein!

Eines Tages gestand mir mein Vernehmer, daß derjenige, der den Sabotageakt durchgeführt hatte, verhaftet worden sei. Eigentlich hätte man mich jetzt freilassen müssen, aber mir wurde gesagt, bei der Hausdurchsuchung habe man Material gefunden, das mich belastet.

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Nach sechs Monaten Ermittlungen wegen "Verletzung der militärischen Schweigepflicht" und "staatsfeindlicher Propaganda und Hetze" wurde ich zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen ich zwei absaß.

Als ich verhaftet wurde, war meine Tochter 10 Monate alt, als ich nach Hause kam, drei Jahre. Viele Jahre konnte ich den herzlichen Kontakt zu meiner Tochter nicht finden und war damit wahrscheinlich der schönsten Jahre meines Lebens beraubt.

Regelmäßig träume ich heute noch von der Stasi-Untersuchungshaft in Berlin, sehe den Vernehmer, damals Hauptmann und ca. 40-jährig, mit welligem, weißem Haar, wie er mich mit wutverzerrtem Gesicht anschreit: "Wir sehen uns wieder!" Immer nach diesen Träumen stelle ich entsetzt fest, daß dieser Hauptmann recht behalten hat.

Die Zelle: ein Quadratmeter groß, mit der noch von den Nazis gezimmerten Holzpritsche, tagsüber nicht benutzbar. In diesem Loch nichts weiter als ein stinkender Kübel für die Notdurft. Vier Monate Einzelhaft, bis zur völligen Erschöpfung! Das einzige "Verbrechen", was ich begangen hatte, waren politische Diskussionen bei der NVA mit den Kameraden, war das Hören des "Deutschlandfunks", waren Briefe an meine Angehörigen, beschlagnahmt bei der Hausdurchsuchung. Private Briefe mit angeblich "staatsfeindlichem Inhalt".

Greifenhain, Juni 1990

 

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Theo Jakob

Es waren so etwa die Jahre 1959 bis 1961, wo in mir der Wunsch laut und immer lauter wurde, die DDR zu verlassen und im Westen einen Start zu versuchen. Gründe dafür gab es genug. Allein das Wohnen im Sperrgebiet, in unmittelbarer Nähe der Grenze, das wenige Wissen über den anderen Teil der Heimat, die Schikanierung von Bürgern und andererseits die Bevorzugung einiger Bürger.

Meine Tätigkeit als Verkaufsstellenleiter im Konsum, zuletzt in der Betriebsverkaufsstelle Schiefergruben "Staatsbruch" bei Lehesten, führte mich täglich mit ca. 70 bis 80 Arbeitern aus den grenznahen Orten in Oberfranken zusammen. Durch Gespräche mit einigen von ihnen wurde mein Vorhaben bestärkt. Es blieb für mich eigentlich nur die Frage, wann und wo.

Daß ich beobachtet wurde, war mir schon lange klar. Ich weiß nicht warum, aber es war so. Ich habe z.B. einmal einen Brief in den Kasten gesteckt, der nie angekommen ist, aber im Verlaufe der Gerichtsverhandlung erwähnt wurde...

Einmal saß ich mit meiner Verkäuferin im Speisesaal des Betriebes. Es waren fast alle Tische leer, da wir nicht in der Hauptmittagspause zu Tisch gehen konnten. Ein Mann mit Schutzhelm setzte sich zu uns an den Tisch, obwohl einige hundert Plätze frei waren. Das Gespräch, das ich mit meiner Verkäuferin dort geführt habe, wurde zur Verhandlung ebenfalls wortgetreu wiedergegeben. Dieser Mann, als Kumpel getarnt, war ein Mitarbeiter der Stasi aus Leipzig, zu allem Unglück auch noch ein entfernter Verwandter von mir, wie ich im Nachhinein erfahren habe. Ich fühlte, wie ich immer mehr in die Enge gedrückt wurde, wie es immer ernster wurde, einen Entschluß zu fassen.

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Schließlich erinnerte ich mich an einen Grenzer, den ich durch die Tätigkeit in einer anderen Verkaufestelle kennengelernt hatte. Er hatte mit der Versorgung der Kompanie zu tun und bezog Waren aus besagter Verkaufsstelle. Dieser Grenzer machte auf mich den Eindruck, daß man sich auf ihn verlassen könne und daß er gewillt sei, einen Fluchtweg zu zeigen oder wenigstens einen Hinweis zu geben.

Ich erkundigte mich nach ihm, und mir wurde gesagt, er sei entlassen, seine Dienstzeit sei zu Ende. Das war etwas merkwürdig. Na, schließlich gab man mir seine Adresse, ich schrieb ein paar Zeilen und wir lernten uns kennen. Es war nicht der Mann, den ich suchte und zu dem ich Vertrauen hatte, es war ein ganz anderer. Sein Name ist Reinhold Wirth, er wohnt in Kaulsdorf bei Saalfeld.

Er hatte ein Motorrad und ich ebenfalls, ich besuchte ihn mehrmals, und wir machten auch gemeinsame Ausfahrten, es entwickelte sich so etwas wie eine kleine Freundschaft. Ganz geheuer kam mir die Sache allerdings nicht vor. Als ich ihn einmal besuchen wollte, sagte man mir, er sei nicht da, und der, den ich gesehen hatte, sollte sein Bruder gewesen sein. Einen Bruder hatte er aber wahrscheinlich gar nicht, wie ich später errühr.

Eines Abends war der Entschluß reif. Ich führ noch zu einer Cousine, um ihr Lebewohl zu sagen, und dann eben zu diesem Reinhold Wirth, nach Kaulsdorf, um mich auch von ihm zu verabschieden. Dieser jedoch brachte mich von meinem Vorhaben, noch an diesem Abend wegzugehen, ab. Er sagte, er wolle selbst rüber und wir könnten doch zusammen gehen, das müsse aber richtig geplant werden usw. usw. Er frug mich auch noch, ob ich denn welche kenne, die die gleiche Absicht hätten, dann könnten wir uns doch zusammentun.

Ich ließ mir all das einreden und fuhr wieder nach Hause. In den folgenden Tagen sprach ich mit zwei Kolleginnen, mit meiner Cousine und einer Anwohnerin der Schiefergruben. Es ging alles recht schnell, alle hatten den gleichen Wunsch. Ich fuhr wieder zum Wirth, um ihm zu berichten, wer alles mitmacht.

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Inzwischen hatte die eine Kollegin einen größeren Betrag von der Sparkasse abgehoben und wurde auch näher beobachtet. An seinem Wohnzimmertisch machte Wirth eine Skizze: die Lage der Grenze, den besten Weg dorthin, den besten Schlupf usw. Er zog die Linien auf das Papier, ich sollte die Wege und Plätze, Kreuzungen usw. namentlich kennzeichnen.

Vor Gericht hat er behauptet, diese Skizze habe ich angefertigt. Richter und Staatsanwältin waren fest davon überzeugt, da es meine Handschrift war. — So einfach haben sich das die Leutchen gemacht.

Es kam dann der 9. September, ich führ zu R. Wirth, er mit seiner Maschine hinter mir her, wir beide dann zu mir bzw. in meine elterliche Wohnung. Er blieb eine Nacht bei uns, und am nächsten Tag wollten wir uns alle an einem Punkt im Wald treffen, um dann den Schritt zu tun.

Soweit kam es jedoch nicht. Am frühen Morgen, so gegen fünf Uhr, wurde ich geweckt. Im Zimmer standen zwei oder drei Männer, wie man sie nur aus dem Film kennt...

Wir wurden dann in Begleitung von zwei weiteren Stasi-Leuten zu den Fahrzeugen gebracht, die auf der Dorfstraße standen. Die Fahrt ging Richtung Lobenstein zur Dienststelle der Stasi. Dort begann sofort eine Vernehmung, die ich herabwürdigend fand. Es wurde auch der Wirth verhört und alle anderen, die mit abhauen wollten.

Ich vermutete, daß ich der einzige war, der am Abend nach Gera in das Untersuchungsgefängnis der Stasi gebracht wurde, und so war es auch, wie ich viel später erführ. Von Gera aus kam ich ein paar Tage danach nach Berlin-Hohenschönhausen. Dort wurden dann alle Vernehmungen geführt. Die Behandlung, vom Entkleiden bis zu Einkleiden mit Häftlingsklamotten, die herabwürdigende Art der Haftrichterin, das Provozierende an der Art, wie ich vernommen wurde, usw. — das war alles zum Ersticken. In der Zelle war ein Häftling, aus dem man nicht schlau wurde, er schnüffelte wahrscheinlich für die Stasi.

Mir ist heute nicht mehr bekannt, wie lange sich die Verhöre hinzogen, ich weiß nur, daß jeder Tag in Hohenschönhausen

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zur Qual wurde. Ich kam wieder mit dem "Grotewohl-Express" nach Gera, wo ich die Gerichtsverhandlung zu erwarten hatte, die dann am 15.1.1962 stattfand. Beantragt wurden von der Staatsanwältin entsprechend der §§19 und 21 des Strafrechtsergänzungsgesetzes fünfeinhalb Jahre, die aber auf fünf Jahre zusammengefaßt wurden. Dazu kam das Aufenthaltsverbot für alle Grenzkreise an der Staatsgrenze West, um Berlin und in Berlin!!!

Als Hauptzeuge war dieser Reinhold Wirth geladen... Die Verhandlung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Ein schriftliches Urteil habe ich nie gesehen. Der Rechtsanwalt teilte lediglich meinen Eltern mit, daß ich am.. .zu.. .wegen.. .verurteilt wurde und bald in eine Strafvollzugsanstalt verlegt würde. Dies geschah dann am 14. Februar, am 16.2. traf ich mit vielen anderen im Zuchthaus Brandenburg ein. Meine erste Gefangenennummer war 393/62, die neue dann 150408. Die ersten Tage und Wochen waren schlimm. Erst eine Einzelzelle, die schon viele Schicksale erlebt haben mußte, dann eine Verlegung in eine Mannschaftszelle, wieder Verlegung usw. usw., bis ich dann eines Tages zur Einteilung in den Arbeitsprozeß kam und wieder verlegt wurde.

In Brandenburg kam ich mit den verschiedensten kriminellen Häftlingen zusammen. Diese waren in den meisten Fällen die "Besten" und "Größten" und wollten einfach nicht akzeptieren, daß man auch rein politisch in den Knast kommt.

Als die Entlassungs- bzw. Abkaufwelle einsetzte, kam ich aus der Produktion in das Farbenlager, von dort dann in den Bereich Büro/Versand, wo ich bis zur letzten Stunde in Brandenburg beschäftigt war.

Die Verpflegung ließ viel zu wünschen übrig, sie war knapp und schlecht. Ich lehnte alle Besuche meiner Eltern und Geschwister ab. Ich wollte nie eine Besuchserlaubnis haben. Mein Vater hatte wohl zwei Gesuche eingereicht auf vorzeitige Haftentlassung, diese wurden aber abgelehnt.

Bald wurde es in Brandenburg etwas lockerer und aufregender, denn die Entlassungswelle ging los, der erste Freikauf war in vollem Gange. Eines Tages hatte ich die Aufgabe, in wenigen Stunden den Nachfolger auf meinem Platz einzuarbeiten,

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mußte dann in der gleichen Art packen wie die anderen und wurde zum Transport auf einen anderen Flügel verlegt. Von Brandenburg ging es nach Berlin, Magdalenenstraße. Um ehrlich zu sein, am ersten Abend fühlte ich mich schon wie frei. Ich bekam meine Uhr, meine Kleidungsstücke, durfte Zigaretten bestellen und dergleichen mehr. Dort wurde ich, wie wahrscheinlich alle, in ein Zimmer geführt. Darin saß ein Herr in Zivil. Es wurde nochmal das Warum und Weshalb besprochen. Dann sagte der Herr, daß ich entlassen werden soll, und frug mich nach dem Entlassungsort. Ich sagte ihm ohne Umschweife, daß ich nach Frankfurt/Main will. In einem zweiten Gespräch teilte mir dieser Herr meine Entlassung mit. Allerdings nicht nach Frankfurt/Main, sondern dorthin, wo ich herkam. Er sagte: "Sie können dort leben und arbeiten wie zuvor und niemand darf Ihnen ein Haar krümmen." Von Berlin aus schickte ich ein Telegramm an meine Eltern, daß ich komme, von Leipzig noch eins mit Uhrzeit, Bahnhof usw. Vom Bahnhof Lichtentanne, Kreis Saalfeld, wurde ich von einem Nachbarn abgeholt. Dieser sagte mir, daß ich nicht nach Hause darf, ich solle zunächst zu meinem Bruder nach Wurzbach. Alle Versprechen von Berlin waren in diesem Moment dahin. Ich hätte mich auf keine Überredung eingelassen, wenn ich auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, wie man mit mir verfährt.

Schuld daran war der damalige Leiter der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises Lobenstein, Kurt Färber aus Brennersgrün. Seine Frau machte die Poststelle im Ort, erhielt die Telegramme — so jedenfalls denke ich mir das — und verständigte ihren Mann beim Rat des Kreises.

Als Mensch zweiter und dritter Klasse kam ich mir vor, als ich in den Kreis Greiz gebracht wurde und in Elsterberg in einer unverputzten Dachkammer hausen mußte. Von allen Seiten schief angesehen, wenig Geld und die Angst und Schüchternheit im Leibe. Es war eine furchtbare Zeit, aber ich faßte in der Stadt und im Betrieb schnell Fuß.

Ich hatte immer den Wunsch, in die Heimat zurückzuziehen. Einmal führ ich mit einem Leihmoped, um meine Eltern zu besuchen, nach Wurzbach. Am nächsten Tag mußte ich in Greiz zum VPKA. Dort wurde mir mein Ausweis abgenom-

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men, ich bekam einen vorläufigen PA und mir wurde Bestrafung angedroht, wenn ich die Aufenthaltsbeschränkung ein weiteres Mal verletze.

Die Zeit nach dem Knast, die Demütigungen, das Ausgeliefertsein, die Macht der Stasi-Leute und ihrer Helfer, die Gesetze und die vielen ehrenamtlichen Schnüffler — sie war eigentlich die schlimmste Zeit. Bis zur Tilgung meiner Strafe im Register fühlte ich mich eingekesselt und beobachtet von allen Seiten.

Schaden, ja Schaden hat wohl jeder davongetragen, am meisten jedoch seelischen, durch das Herabwürdigen der Person. Körperlich bin ich seit dieser Zeit anfällig im Herzbereich (Anfälle und Infarkt) und habe ein gestörtes sexuelles Verhalten, außerdem begleiten mich ständig Depressionen. Das alles kann niemand wieder gutmachen!

Greiz, 
13.5.1990

 

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Heinz K.

 

 

Um meinen "Fall" verständlich zu machen, muß ich kurz einiges zur Vorgeschichte desselben ausführen. Durch Ratschläge von berufenen Personen wurde ich 1952 auf meine Bewerbung hin bei der Kriminalpolizei des VPKA Aue eingestellt, mit dem Versprechen, daß ich nach einem Jahr mein 1950 an der Uni in Leipzig begonnenes Studium als Angehöriger der Kriminalpolizei wieder aufnehmen kann. Ich unterschrieb deshalb eine dreijährige Verpflichtung.

Nach einem Jahr wurde ich wegen dieser Angelegenheit in der Personalabteilung der VP vorstellig. Man bedeutete mir, daß das, was ich studieren werde, sie bestimmen würden. Außer mündlichen Vereinbarungen hatte ich nichts Schriftliches, was mich rechtlich abgesichert hätte. 1954 wurde ich laut Befehl zu einem Lehrgang an die Zentralschule der VP für Kriminalistik nach Amsdorf bei Dresden "delegiert", legte dann meine Offiziersprüfung in Zwickau ab und wurde 1956 zum Unterkommissar der Kriminalpolizei ernannt. 1957 wurde ich zum Kommissar, später Leutnant der Kriminalpolizei befördert.

Von übergeordneten Organen wurde ich bedrängt, als Offizier Mitglied der SED zu werden. Ich wurde zwar Kandidat der SED, konnte aber die Mitgliedschaft bis zu meiner Verhaftung, die am 31.1.58 erfolgte, hinauszögern.

Dies hatte folgenden Grund: Ich kam mit Menschen zusammen, die aus der DDR flüchten wollten, Menschen, die ihrem Zorn über Ungerechtigkeiten auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet Luft verschafften, Bauern, die nicht in die LPG gepreßt werden wollten, sowie ehemaligen Häftlingen aus Bautzen nach 1945. 

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All dies ließ eine Welt in nur zusammenbrechen. Hinzu kam noch, daß wir als Kriminalisten mehr und mehr von der politischen Macht der Staatssicherheit umklammert wurden. In mir reifte der Gedanke, mich aus dieser Umklammerung zu befreien. Aber wie? Ein legales Ausscheiden gab es nicht, und so nutzte ich einen Urlaubsaufenthalt 1957 in Potsdam zu einem Besuch in West-Berlin, obwohl mir bekannt war, daß dies für mich verboten ist. Wenige Wochen später war ich nochmals in West-Berlin, unter anderem im Notaufnahmelager Marienfelde. Ich lernte eine andere, eine freie Welt kennen, die uns jedoch in den schwärzesten Farben geschildert wurde, und mußte erkennen, auf welch gemeinste Art und Weise wir betrogen wurden.

 

Am 31.1.1958 wurde ich verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis des MfS Karl-Marx-Stadt eingeliefert. Meine Privatkleidung mußte ich sofort abliefern und bekam eine Art Schlosserbekleidung verpaßt. Die Zelle selbst bestand wie alle anderen aus einem Holzpodest als Schlaflager, versehen mit einer dünnen Schlafmatte sowie einer Decke. Gleich am ersten Abend öffnete sich die Zellentür, wir mußten mit dem Gesicht zum Fenster, der Tür abgewandt, Hände auf dem Rücken, stehen, immer der Dinge harrend, die da kommen würden. Es wurde die Nummer Drei, also ich, aufgerufen. Hände auf dem Rücken, hinter mir zwei Schergen mit gezogener Waffe, wurde ich in das Vernehmerzimmer geführt. Hier war ein Schemel, auf dem ich Platz zu nehmen hatte. Hinter einem Schreibtisch saß ein junger Mann, den ich nicht richtig erkennen konnte, da mir aus einer Stehlampe grelles Licht ins Gesicht schien. Es war ein Verhör, das sich über Stunden hinzog. Der Schemel stand inmitten des Zimmers, so daß man sich nicht anlehnen konnte, beide Hände mußte man auf die Knie legen, oft nahm es mir die Gedanken, man war versucht einzuschlafen. Fiel der Kopf nach vom oder hinten, wurde man durch einen starken Faustschlag ins Gesicht ermuntert. Manchmal waren es auch zwei Vernehmer, die einen nachts bearbeiteten. Der eine versuchte es auf die brutale Art, der andere kam auf die humane Tour. 

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In den ewigen Stunden der Nachtvernehmungen war es einem dann egal, was man sagte bzw. was die wissen wollten — die Hauptsache war, daß man schnell die Sache hinter sich hatte, in der Zelle schlafen konnte, denn ohne Rücksicht wurde früh geweckt und man mußte aufstehen. Tagsüber durfte man sich nicht setzen, denn außer dem Schlafpodest befand sich keine Sitzgelegenheit in der Zelle.

Am zweiten oder dritten Tag nach meiner Verhaftung wurde ich dem Bezirksstaatsanwalt Lach vorgeführt, der mir eröffnete, daß gegen mich ein Ermittlungsverfahren liefe wegen Spionage und wegen dringenden Verdachts der Spionage für die Spionageorganisationen "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit in der DDR" beim Ost-Büro der SPD. In den ersten Tagen meiner Inhaftierung unterlag ich besonderen Schikanen, und man ließ an mir als sogenanntem Verräter den vollen Haß aus. In der Zelle drängte mich der ältere der beiden Mithäftlinge, ihm Vertrauen zu schenken. Er gab sich als Spion des US-Geheimdienstes aus. Mir fiel auf, daß er tagsüber mehrmals aus der Zelle geholt wurde und nach langem Ausbleiben nach Tabak roch. Auf mein Befragen sagte er, daß er etwas sauber zu machen hätte, dafür dürfte er eine Zigarette rauchen. Er stellte sich als "Gruber" vor.

Gruber sagte mir, daß ich ein "schwerer Junge" wäre. Wenige Tage später erfuhr ich von ihm, daß er meine Frau als Häftling gesehen hätte, und ich soll doch die Wahrheit sagen, um meine Frau zu retten. Auf meine Frage, woher er meine Frau kennen wolle, meinte er, ich hätte ihm doch gesagt, daß sie blond wäre. Da ich mit diesem Gruber nie über meine Frau gesprochen hatte, kam in mir der Verdacht auf, daß er ein Zellenspitzel ist. Meinen Verdacht teilte ich dem jüngeren Mithäftling während einer Zigarettenpause des Gruber mit. Bei einer Vernehmung wurde mir eine Aussage eines Zeugen" Schaarschmidt" alias Gruber oder Brunner vorgelegt, die mich auf das Schwerste als Spion belastete. Ich empörte mich, daß zwischen den Untersuchungsmethoden der Staatssicherheit und der Gestapo keinerlei Unterschiede bestehen, daß man Spitzel in die Zelle schleust, um Geständnisse zu erpressen, und daß man nicht davor zurückschreckt, die Ehefrau zur Geständniserpressung zu inhaftieren. An diesem Tag trat ich in den Hungerstreik bis zur Entlassung meiner Frau.

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Ich war bereit, bis zur Endkonsequenz mein Vorhaben durchzustehen. Nach vier Tagen wurde ich abends dem Vernehmer zugeführt, der mir versicherte, daß meine Frau am gleichen Abend gegen 20 Uhr aus der Stasi-UHA entlassen wurde. Hierbei konnte ich nicht ahnen, daß meine Frau ohne jeden Grund 14 Tage in der UHA des MfS gefangengehalten wurde und gegen mich aussagen sollte, um ihre Freiheit zu erlangen. Bei der Entlassung erhielt sie Fahrgeld, aber keine Entlassungspapiere. Ihr wurde verboten, jemandem zu sagen, wo sie sich in den 14 Tagen aufgehalten hat. Nur der Fürsprache einer Meisterin in ihrem Betrieb verdankte sie das Glück, wegen Fehlschichten nicht fristlos entlassen zu werden.

Nach wenigen Wochen wurde ich in der Haftanstalt des MfS abermals dem Staatsanwalt Lach vorgeführt, der mir auf die brutalste Weise klarzumachen versuchte, daß ich die Untersuchungstätigkeit des MfS verzögere. Er drohte mir mit entsprechenden Konsequenzen.

Am 18.6.1958 wurde durch den 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Karl-Marx-Stadt Anklage gemäß § 14 des StEG wegen Spionage für westliche Geheimdienste erhoben. Die Verhandlung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Staatsanwalt war Herr Lach, der mich während der Verhandlung auf das Übelste beleidigte. Er bezeichnete mich als Lump und Staatsverbrecher und untermauerte seine Beleidigungen damit, daß ich aus staatsfeindlichem Grund nicht den Weg in die SED gefunden habe.

Am 19.6.1958 wurde das Urteil unter Vorsitz der Oberrichterin Hauptner verkündet. Es lautete auf 5 Jahre Zuchthaus gemäß § 14 des StEG (Spionage für westliche Geheimdienste). Am 1.9.1958 wurde ich nach Ablehnung der Berufung durch das Oberste Gericht der DDR in das Zuchthaus Torgau überführt. Hier wurde ich in einer Art Sackleinwand, rote Ringe an Arm und Hosenbeinen, und in Holzschuhen in eine Zelle der Station I (Isolierstation) gebracht. Diese Zellen waren während der Nazizeit Todeszellen. Doppeltüren, ein Betonklotz als Schlafgelegenheit, Fenster, die mit Blenden versehen waren, um den Ausblick nach draußen zu verhindern. Ein Wachtmeister erklärte mir, bevor er die Doppeltüren verschloß, ich sei kein Mensch, kein Tier, sondern nur Strafgefangener.

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Dann befand ich mich allein, hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen. Nur nachts bekam ich Besuch, wenn die Ratten aus dem Klosettbecken krochen und die routinemäßige Inspektion nach eventuellen Speiseresten vornahmen. Eine Abwechslung war die tägliche "Freistunde". Die Gefangenen mußten in Abständen von ca. 5 Metern einzeln hintereinander um zwei Volleyballplätze laufen. Scheinbar erfreute es den in der Nähe auf einem Postenturm befindlichen Wächter, wenn er seine Waffe auf uns anlegte.

In dieser Isolierstation waren Mörder, Räuber, aber auch politische Häftlinge eingekerkert, ein Studentenpfarrer aus Leipzig, Dr. Schmutzler, Zeugen Jehovas, ein gewisser Stoll, Paul aus Eisenach sowie andere, deren Namen mir im Laufe der Zeit entfallen sind. Nach der langen Zeit der Einzelhaft bei der Stasi trieb mich die unmenschliche Unterbringung und Behandlung in Bautzen an den Rand der Verzweiflung. Hätte ich die entsprechenden Möglichkeiten gehabt, so hätte ich meinem Leben ein Ende gesetzt. Vollkommen von allem abgeschlossen, der Willkür geistig minderbemittelter Menschen ausgesetzt, zweifelt man langsam an sich selbst. Ich schämte mich, diesem "Verein" angehört zu haben, der sich "Volkspolizei" nannte. Ich bekam einmal ein Buch, das ich mehrere Monate las, dessen Wörter, Sätze und Buchstaben ich zählte, Harich's "Hinter den schwarzen Wäldern". Oftmals ertappte ich mich bei Selbstgesprächen usw.

Kino gab es für die Isolierhäftlinge nicht, zum Arzt wurden wir gesondert gerührt. Nach einem knappen Jahr der Isolierhaft kam ich in das Arbeitskommando (Kfz-Ersatzteile Meißen). Über die Haftanstalt Rummelsburg kam ich in das Sonderlager X des MfS Hohenschönhausen, wo ich als Feinbohrer und Zylinderschleifer (Kfz-Motoren) tätig war. Die Behandlung hier war Zuckerbrot und Peitsche. Es ging sehr human zu, doch die kleinsten Vergehen wurden mit drastischen Strafen belegt. Arrest war eher eine Folter, und dazu kam man sehr schnell. Hier war ein ständiges Kommen und Gehen, keiner traute dem anderen, die Unliebsamen oder sogenannten Unbelehrbaren wurden wieder in die Zuchthäuser abgeschoben. Nach einem knappen Jahr wurde ich als "Unbelehrbarer" über Rummelsburg wieder in das Zuchthaus Torgau verbracht und verbüßte dort meine Haftstrafe bis zum 6.8.1962.

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Hier war ich wieder als Bohrer bzw. Scharfschleifer im 3-Schichtsystem tätig. Wir waren in diesem Betrieb wie Arbeiter angestellt, allerdings mit den niedrigsten Löhnen, ohne Urlaubs- und soziale Ansprüchen als bessere Arbeitssklaven. Um nicht aufzufallen, empfand man kleine Schikanen der Wachtmeister wie Schlag mit dem Kerkerschlüssel, Beinstellen beim Einschluß in die Zellen, Einkaufssperren oder Sperren von Vergünstigungen als "Liebkosung". Je näher der Entlassungstermin rückte, desto mehr mußte man vor eventueller Denunziation zwecks sogenannten "Nachschlags" auf der Hut sein, dies geschah sehr schnell. Alles in allem war ja jeder Tag für jeden ehrlichen Häftling eine große Gefahr. Wie viele Spitzel gab es in den Zellen, und man neigt im Laufe der Zeit dazu, sein Herz auszuschütten oder sich Luft zu machen. Das konnte jedem zum Verhängnis werden.

 

Ich habe noch wichtige Dinge vergessen zu schildern. Nach meiner Verhaftung wurde meine Frau überall beschattet. Nach ihrer Verhaftung und Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis des MfS Karl-Marx-Stadt bleuten ihr die Vernehmer immer wieder ein, was ich für ein Schwerstverbrecher wäre, sie solle gegen mich aussagen, ich hätte sie auch in der Ehe laufend betrogen, ansonsten könnte sie als Mittäter bestraft werden, und dies würde ihr mehrere Jahre Zuchthaus einbringen. All das sowie die falsche Zeugenaussage des Zellenspitzels "Schaarschmidt" bewogen mich dazu, in Torgau das Oberste Gericht der DDR um Wiederaufnahme des Verfahrens zu ersuchen, was mir nach längerer Zeit auch stattgegeben wurde. Nachdem ich meine schriftliche Eingabe der Anstaltsleitung vorgelegt hatte, erschienen zwei Angehörige des MfS. Sie hielten mein Schriftstück in der Hand und erklärten mir, daß auch sie wüßten, daß ich unschuldig wäre. Da ich aber in allen Kreisen der VP als entlarvter Spion publik gemacht worden wäre, könne man sich die Blamage einer Haftentlassung nicht leisten, und ich hätte eben das Pech, die Strafe abzusitzen, schließlich wäre dies meiner eigenen Dummheit zuzuschreiben, und einer zerriß im gleichen Atemzug mein Ersuchen und warf es in den Papierkorb.

Auf unzählige Schreiben meiner Frau an das Bezirksgericht sowie Oberste Gericht um Straferlaß für mich wurde die ablehnende Haltung immer mit der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Straftat begründet sowie damit, daß der Strafgefangene Klaumünzner noch keinerlei Anzeichen einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung zeige.

Ich hatte also für nichts eine Zuchthausstrafe von 5 Jahren erhalten und mußte 4 Jahre und 6 Monate als Staatsverbrecher hinter Gitter, damit andere ihr Gesicht wahren konnten. Nach der Haftentlassung mit 3-jähriger Bewährung ließ man mich im beruflichen Leben spüren, daß ich ein Feind der DDR bin. Trotz Qualifizierung zum Meister hatte ich gegen Genossen der SED keine Chancen und bin trotz meines Meisterabschlusses mit der Note 1,3 jetzt als Raumpfleger beschäftigt, welche Ironie des Schicksals. 

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  Aue,
14.5.1990

 

 

 

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