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Rüdiger 

Knechtel

   

(detopia-2006:) Herr Knechtel ist wohl gestorben (Suizid?)- "Im Kontext zur PDS stellt Thomas Frenzel den Freitod von Rüdiger Knechtel, ... zeigt er per Foto auf den Ort, an dem Knechtel nach Frenzels Lesart "1997 von Stasi-Seilschaften ermordet wurde“. Da weiß der selbsternannte Bürgerrechtler mehr als der Staatsanwalt."  # derklareblick.de Juli 2004, Seite 12.

 

 

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Noch während unserer Hochzeitsreise im Februar 1962 las ich in der Zeitung, daß von der Volkskammer die Wehrpflicht beschlossen worden ist und mein Jahrgang schon acht Wochen später eingezogen werden sollte. Eine Hiobsbotschaft! Mir fiel die Trennung von meiner Frau und unserem fünf Monate alten Sohn sehr schwer. Ich war damals 20 Jahre alt. 

Nach der Grundausbildung in Zwickau kam ich nach Berlin an die Mauer. Verheiratete wurden für den Grenzdienst bevorzugt – versteht sich. Die ersten Monate in Berlin-Rummelsburg wurde ich durchweg als Zeichner im Stab eingesetzt, später mußte ich öfters, bei Personalmangel, mit an der Mauer stehen. Ein Erlebnis gleich am ersten Tag meines Dienstes als Stabszeichner bestärkte mich in meiner Aversion gegen den Schießbefehl. Zufällig (?) fand ich in meinem Schreibtischfach das Foto eines Mannes im mittleren Alter, der offensichtlich durch Kopfschuß (direkt durch die Augenhöhle) getötet worden war. 

Ich fragte vorsichtig Hauptmann B., wer der Mann sei. "Eine Leiche", antwortete der Hauptmann ungerührt. "Einer, der versucht hat, durch die Spree nach dem Westen zu türmen." Ich mußte mich beherrschen, um meine Abscheu zu unterdrücken. Diese unmenschliche Einstellung fand ich später bei fast allen Offizieren und einigen Unteroffizieren wieder. Umso mehr sah ich es als meine Aufgabe, die Soldaten zu überzeugen, nicht auf wehrlose Menschen zu schießen.

Unser Grenzabschnitt ging von der Jerusalemer Straße bis zum KPP Friedrichstraße (Checkpoint Charly). Jede Kontaktaufnahme mit Menschen jenseits der Mauer war uns streng verboten; wir durften nicht mal den Tagesgruß erwidern. Aber in unserem Zug hielt sich kaum einer daran.

In meinem Grenzabschnitt befand sich die Gedenkstätte für Peter Fechter, der 1962 beim Fluchtversuch über die Mauer von einem Oberfeldwebel mit der MPi (per Dauerfeuer!) tödlich getroffen worden war. An dieser Stelle legten viele Menschen Kränze und Blumen nieder, und ich schämte mich, wenn sie uns manchmal fotografierten.

Allmählich verlor ich die Angst und nahm Kontakt zu West-Berliner Polizisten auf, die auf der anderen Seite der Mauer den Dienst verrichteten. Es begann mit der Erwiderung des Tagesgrußes und setzte sich in ganz normalen Gesprächen fort. Natürlich mußte einer — wir standen immer als Doppelposten - bei den Kontaktaufnahmen das Hinterfeld sichern, denn täglich wurden wir durch Offizierskontrollen überwacht.

Im Laufe der Zeit wurde unser Verhältnis zu den West-Berliner Polizisten ungezwungener und kollegialer: Man warf uns Zigaretten über die Mauer (laut Befehl sollten wir solche Geschenke des Klassenfeindes zertreten), manchmal auch andere Gegenstände wie Nylonmäntel oder Jeans, die es bei uns nicht zu kaufen gab.

Bis auf einen oder zwei Soldaten konnten wir uns in unserem Zug auf jeden verlassen. Nur J. aus Stendal galt als bornierter SED-Genosse. Vor ihm mußten wir uns vorsehen, obwohl er selbst gelegentlich Camel oder Chesterfield einsteckte.

Etwa im Juni 1963 schrieb ich an den in West-Berlin stationierten Sender AFN einen Musikwunsch. Ich steckte den Brief in eine Milchflasche und warf ihn über die Mauer. Paar Tage später erführ ich, daß mein Brief ausschnittweise in mehreren westlichen Zeitungen abgedruckt war. Sender AFN hatte 10-jähriges Jubiläum, und da wurde der "Brief eines jungen Vopos aus der Zone" kurzerhand als Glückwunsch vermarktet und auf dem blauen Brett vor dem Sendegebäude neben denen des Bundeskanzlers und Präsident Kennedy's angeheftet.

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Mir war klar, welche Gefahr jetzt für mich bestand — in meinem Brief stand das Wort "Schandmauer" —, aber ich schrieb noch ein zweitesmal an den AFN. Ich war damals voller Haß gegen die unmenschlichen Praktiken an der Berliner Mauer und bat den AFN um Flugblätter, die gegen den Schießbefehl aufrufen sollten. Auch meinen zweiten Brief steckte ich in eine Milchflasche, die ich während des Grenzdienstes über die Mauer warf. Natürlich hatte ich dabei Angst und wußte, daß mir dieser Brief mehrere Jahre Zuchthaus einbringen konnte.

Wenige Wochen danach, im August 1963, wurde fast unser gesamter Zug während des Dienstes vom SSD verhaftet. J. aus Stendal, dem wir nie richtig trauen konnten, hatte uns verraten. Ich wurde mit einem PKW ins Stasi-Gefängnis Berlin-Lichtenberg gebracht. Ich saß auf dem Hintersitz, eingekeilt von zwei knüppeldicken MfS-Offizieren. "Bei Fluchtverdacht knallen wir Sie ab!", zischte der eine. Die Fahrt ging durch das sommerliche Berlin. Es war nach Dienstschluß, die Pärchen schlenderten durch die Geschäftsstraßen, ich sah spielende Kinder und alte Leute und dachte an meine Frau und unseren kleinen Sohn. Wenn die alles raus bekommen, bin ich erledigt!, hämmerte es in meinem Kopf. Sechs Wochen hätten mir noch bis zu meiner Entlassung gefehlt, dann wäre ich endlich wieder zu Hause gewesen, hätte die sinnlose Armeezeit vergessen und ein Studium begonnen. Und jetzt war mit einemmal alles aus.

Die ersten fünf Monate kam ich in Einzelhaft; nur die Weihnachtsfeiertage wurde ich in eine Dreimannzelle verlegt. Es gab Tage, da hatte ich Angst, den Verstand zu verlieren. Die unheimliche Stille in diesem großen Gefängnis, das wohl schon in der Kaiserzeit stand, steigerte die Furcht ins Irreale. Man hatte das Gefühl, der einzige Häftling in einem riesigen Zellentrakt zu sein. Selbst wenn man zu den Verhören gebracht wurde, begegnete einem auf den Gängen kein Mensch. Die rot aufleuchtenden Birnen an den Wänden signalisierten: "Ein Häftling ist auf dem Weg zum Verhör." Da durfte niemand auf dem Gang stehen.

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Auch meine Nachbarzellen waren unbesetzt. So blieb mir nichts anderes übrig, als den ganzen Tag über drei kleine Schritte hin und zurück zu laufen. Durch die Glasbausteine drang nur spärlich das Tageslicht; dem Gefangenen war kein Blick nach draußen möglich. In der winzigen Zelle stank es, als wäre seit der Kaiserzeit der Mief stehen geblieben. Manche Nächte träumte ich so intensiv von meiner Familie, daß ich, wenn ich dann aufwachte und die Wirklichkeit sah, weinte wie ein Kind. Die ersten zwei Monate bekam ich keine Post von zu Hause, da hätte ich bald durchgedreht. Man macht sich die unmöglichsten Gedanken.

Die Behandlung durch das Wachpersonal war unmenschlich, ohne daß dabei — in meinem Fall zumindest — Gewalt angewendet wurde. Man wurde ständig angeschrien und traktiert; den ganzen Tag über durfte man sich nicht anlehnen oder hinlegen — und das waren immerhin 16 Stunden. Vor allem junge SSD-Wächter übertrafen sich gegenseitig an sadistischer Willkür gegen die Gefangenen. 

Einmal, etwa im Januar 1964, bekam ich eine Nachbarin. Eine junge Frau. Ich hörte, wie sie in die Zelle gebracht wurde. Sie weinte den ganzen Tag über. Am Abend nahm ich Klopfkontakt zu ihr auf, das war gefährlich. Sie war Schneiderin von Beruf und hatte zusammen mit ihrem Mann versucht, mit einem Bus die Grenze am KPP Friedrichstraße zu durchbrechen. Ihr Mann wurde verwundet. Sie mußten mit einer langjährigen Strafe rechnen. Immer wenn sie vom Verhör kam, hörte ich sie schluchzen. Mir tat sie sehr leid. Eines Vormittags schleiften sie die Wärter aus ihrer Zelle: Sie hatte sich den Löffel in den Hals gerammelt, wollte Schluß machen. Ich weiß nicht, ob sie überlebt hat.

Bei den Verhören mußte ich meine ganze Kraft zusammennehmen. Die Stasi durfte nichts über den wahren Inhalt meines zweiten Briefes erfahren. Obwohl mich ein Spitzel, mit dem ich drei Wochen zusammen saß, denunziert hat, gelang es mir mit zäher Energie, dem Stasi-Vernehmer glaubhaft zu machen, daß auch mein zweiter Brief lediglich ein Musikwunsch an den AFN gewesen ist. Ich ließ mich weder durch Drohungen noch durch Einzelhaft zu einem Geständnis erpressen.

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Im März 1964 wurden ich und einige Kameraden aus unserem Zug vor dem Obersten Militärgericht Berlin unter Anklage gestellt. Die Höchststrafen lagen bei 10, 7, 5 und dreieinhalb Jahren - angeblich wegen Spionage. Auch bei mir wurde anfangs wegen Spionage ermittelt, aber dann bekam ich zweieinhalb Jahre Zuchthaus. Später ging mein Rechtsanwalt in Berufung und erreichte, daß das Urteil auf 2 Jahre abgeändert wurde.

Nach 10 Monaten Stasi-Haft kam ich mit dem Grotewohl-Express und Gefängnis-Barkas über Neustrelitz nach Bernshof. Bernshof war Armeestraflager und liegt bei Ückermünde. Dort herrschte jener militant-faschistische Drill, mit dem jede Selbstachtung des Gefangenen zerstört werden sollte. Ich kam ins Außenkommando und mußte Eisenbahnschienen verlegen. Eine körperlich harte Arbeit. Wir wurden von Polizisten mit Hunden bewacht, trugen Sträflingskleidung mit gelbem Streifen. Die erste Zeit war ich so erschöpft, daß mir manchmal die Schwungramme aus den Händen fiel. Aber am schlimmsten empfand ich die Furcht vor Denunzianten, denn ein straff organisiertes Spitzelsystem funktionierte in jeder sozialistischen Haftanstalt.

Als ich entlassen wurde, gab mir der Anstaltsleiter mit auf den Weg: "Wenn Sie zu Hause sind, schauen sie nicht wieder so viel Westfernsehen, sie haben ja gesehen, wohin das führen kann..."

 

Eine unbeschreibliche Freude überwältigte mich, als ich meine Frau und meinen Sohn in die Arme schließen konnte: Endlich wieder daheim! Paar Tage später gestand mir dann meine Frau, daß sie seit längerer Zeit ein Verhältnis mit ihrem Arbeitskollegen hatte und schlug mir die Scheidung vor. Das war für mich schlimmer als die Haft, und ich habe es psychisch nie überwunden. Die Scheidung ging im Eilzugtempo über die Bühne; meine Frau bekam die Wohnung und unser Kind zugesprochen. Ich mußte meine Sachen packen und gehen. Mein alter Betrieb erklärte mir, daß ich auf Grund meiner Haftstrafe nicht zum Studium zugelassen werde. Ich stand also plötzlich vor dem Nichts, denn auch meine Freunde waren inzwischen verheiratet und gingen ihre eigenen Wege. Den Verlust meiner Familie konnte ich nicht überwinden. Mir zitterten die Hände, wenn ich tagsüber am Reißbrett arbeitete, und nachts konnte ich nicht mehr schlafen. Ich kam in nervenärztliche Behandlung und wurde zur Schlaftherapie in eine Klinik eingewiesen.

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Die Schlafstörungen behielt ich 15 Jahre, konnte nur mittels Psychopharmaka die Situation einigermaßen erträglich gestalten. Auch heute habe ich Angstphobien in kleinen Räumen und vor Menschen und bei Befragungen.

 

1982 im Juli wurde ich ein zweitesmal inhaftiert und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Sieben Männer des SSD und der K holten mich aus unserer Wohnung. Es ging um Antiquitäten, und ich war nicht schuldlos. Aber der SSD hatte besonderes Interesse, politische Gegner zu kriminalisieren und bei dieser Gelegenheit zum Zweck der Devisenbeschaffung wertvolle Antiquitäten zu ergattern. Uns wurden fünf alte Gemälde von der Stasi entwendet und in die BRD verschoben.

Mit Schreiben vom 14.2.1990 entschuldigte sich jetzt die Staatsanwaltschaft und befürwortete eine angemessene Entschädigung. Der Schaden liegt bei 30.000 Mark.

Mehr noch als bei meiner ersten Haft, lernte ich diesmal die kriminelle Allianz von SSD und Justiz kennen.

Nach meiner Entlassung war ich fest entschlossen, gegen das SED-Regime kompromißlos zu argumentieren, wo immer sich Gelegenheiten boten. Ich gab meinen Beruf als Geologie-Ingenieur auf und ging in ein psychiatrisches Pflegeheim als Hilfstherapeut. Diesen Vorsatz hatte ich bereits im Gefängnis gefaßt. In meinem Arbeitsbereich lehnte ich jede gesellschaftliche Tätigkeit ab, nahm an keinen politischen Feiern während und nach der Arbeitszeit teil. Einmal, zum Tag des Gesundheitswesens, verweigerte ich eine mir zugedachte Auszeichnung, und als die versammelte Belegschaft sich von den Plätzen erhob, um auf das Wohl der DDR anzustoßen, blieb ich als einziger sitzen und rührte das Glas nicht an. Am nächsten Tag mußte ich dann zum Heimleiter...

 

Infolge unserer Freundschaft zu Irmgard Kneifel — ihr Mann hatte 1980 das sowjetische Panzerdenkmal gesprengt und war zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden — galt uns die liebevolle Fürsorge des SSD. Unser Telefon wurde abgehört, manchmal wurden auch die Gespräche in die BRD unterbrochen, die Briefe geöffnet, die Wohnung beobachtet. An manchen Tagen stand morgens ein vollbesetzter "Wartburg" hinter meinem "Trabi", ganz ungeniert, um mich einzuschüchtern. Andermal folgte mir ein "Wartburg" mit abgestellten Scheinwerfern nach einer kirchlichen Veranstaltung.

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Im Sommer 1988 mußten wir auf Vorladung beim Bezirksstaatsanwalt Böhm erscheinen. Es ging um unsere Verbindung zu Herrn Kneifel, der inzwischen nach sieben Jahren Einzelhaft in die BRD ausreisen durfte. Die Stasi hatte natürlich mitbekommen, daß wir brieflich und telefonisch kommunizierten. In einem Ton, der mich an Aufzeichnungen vom Volksgerichtshof Freislers erinnerte, schrie uns Böhm mit wutverzerrtem Gesicht an: "Sie wollen Christen sein und geben sich mit dem Kneifel ab, diesem Mörder!" 

Ich wollte schon fragen, wen denn der Herr Kneifel eigentlich ermordet habe, aber dann stieß mich meine Frau unterm Tisch mit dem Knie an. "Ich will keine Erwiderung von Ihnen hören, Herr Knechtel, haben Sie mich verstanden!", brüllte Böhm. "Und sollten sie weiterhin mit Kneifel dieserart Kontakte pflegen, können wir Sie bis zu zehn Jahren hinter Schloß und Riegel bringen, haben Sie mich verstanden!" (Das war gar nicht anders möglich — bei dieser Lautstärke.)

Kurz vor den "Wahlen" 1989 – wir hatten illegal gedruckte Aufrufe gegen die von der SED inszenierte Zustimmungskampagne in einigen Häusern angeklebt – wurde unsere Wohnung von Stasitypen per Fernglas beobachtet. Als ich zur Arbeit wollte, stand wieder ein PKW mit zwei neugierigen Herren hinter meinem "Trabi". Wahrscheinlich hoffte man, mich in flagranti mit einem Packen Flugblätter unter dem Arm zu erwischen. Natürlich hat man in einer Diktatur beruflich keine Aufstiegschancen mehr, wenn man sich offen als ihr Gegner bekennt. Seitdem ich politisch denken konnte, aber vor allem nach meiner zweiten Haft, konnte ich jede Heuchelei um des eigenen Vorteils willen nicht mehr ausstehen. Für mich stand fest, daß das hohe Ideal des Sozialismus - dem der Mensch nicht gewachsen zu sein scheint — von den "sozialistischen" Ländern in unerträglicher Weise pervertiert wird. Aber eigenartigerweise huldigen die Menschen der Lüge und der Macht wie in Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider". Nicht alle und nicht undifferenziert, aber trotzdem. Ich gestehe, daß ich darüber verbittert bin und tröste mich mit Elie Wiesel, der gesagt hat, daß nicht der Haß das Gegenteil von Liebe ist — sondern die Gleichgültigkeit.

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Ab 7. Oktober vorigen Jahres sah ich meine Aufgabe in der Offenlegung geheimdienstlicher Praktiken in unserem Lande, unter denen ich, meine Frau und unser Sohn sehr gelitten haben. Ich wurde beim Neuen Forum Redakteur. Infolge mehrerer Interviews mit Offizieren und einem Informanten des SSD, die zum Teil auch in BRD-Zeitschriften erschienen sind, zog ich mir den Haß der Stasi zu, die mir brieflich und telefonisch Morddrohungen zukommen ließ.

In einem Telefonat vom 12.Februar 1990 an die "Freie Presse" Karl-Marx-Stadt wurde mir empfohlen, "bei Dunkelheit möglichst nicht allein auszugehen", da man für meine Sicherheit nicht mehr garantieren könne. Und ultimativ wurde gefordert: "... wenn bis spätestens Mittwoch dieser Woche kein Dementi in der 'FP' erscheint,... raten wir an, sich ab Donnerstag früh unter Polizeischutz zu stellen." Ich sollte also meine "satanischen Verse" (Rushdie) zurücknehmen! "Das Dementi hat unter der fett gedruckten Überschrift 'Berichtigung' auf der Titelseite zu erscheinen. Im Inhalt haben die Begriffe 'böswillige Provokation, Ehrabschneidung und damit Anstacheln zum Pogrom gegen ehemalige Mitglieder der MfS' zu stehen/'In einem anderen Brief wurde mir mit einem Salzsäure-Attentat gedroht. Der anonyme Schreiber behauptete, sein Sohn habe sich auf Grund meiner Artikel das Leben genommen - eine sentimentale und erlogene Geschichte, wie die K bald ermittelt hat.

Kürzlich habe ich einen Pfarrer gefragt, ob es nicht doch richtiger wäre, wenn man einfach die Untaten des SED-Regimes und seiner Exekutive verzeihen würde. Er hat mir seinen Standpunkt aus christlicher Sicht gesagt: Vergebung ist wichtig — sie setzt aber Schulderkenntnis und Reue voraus. Und dann muß jeder einen Schritt auf den anderen zugehen.

Chemnitz,
30.4.1990

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Die Mitschrift des erwähnten Telefonates:
Karl-Marx-Stadt,12.2.1990
Anruf eines Herrn Schmiede!, mit der Aufforderung, die telefonisch durchgegebenen Zeilen an den Chefredakteur zu übergeben.

Wie sich zeigt, wird das Neue Forum nicht müde, Greuelmärchen über das MfS zu erfinden und veröffentlichen zu lassen. Die Veröffentlichung des erlogenen und erstunkenen Beitrages auf der Forum-Seite Ihrer Zeitung von Sonnabend über das MfS hat bei den Mitarbeitern unseres Bundes das Faß zum Überschäumen gebracht. Nur mit äußerster Mühe konnten wir Unbesonnenheiten verhindern. Wir hatten bisher sehr viel Geduld und haben uns mit allem möglichen Dreck bewerfen lassen. Aber damit ist es jetzt vorbei. Wenn bis spätestens Mittwoch dieser Woche kein Dementi in der "FP" erscheint, welches von Ihnen und Verantwortlichen des Neuen Forum unterzeichnet ist, können wir für Ihre Sicherheit nicht mehr garantieren. Und wir raten an, sich ab Donnerstag früh unter Polizeischutz zu stellen. Den Anheizern und Schmierfinken empfehlen wir, bei Dunkelheit möglichst nicht allein auszugehen. Das soll keine Drohung sein, sondern zu Eurer eigenen Sicherheit dienen. Diese Situation habt ihr selbst provoziert.

Das Dementi hat unter der fett gedruckten Überschrift "Berichtigung" auf der Titelseite zu erscheinen. Im Inhalt haben die Begriffe "böswillige Provokation, Ehrabschneidung und damit Anstacheln zum Pogrom gegen ehemalige Mitglieder des MfS" zu stehen. Weiterhin sollte entscheidend sein, aus "genannten Gründen" sollte sich das Neue Forum von den Redakteuren Bertel und Knechtel trennen.

Wir würden Ihnen abraten, eine weitere Schweinerei gegen uns produzieren zu lassen oder dies selbst zu tun. Eine schriftliche Erklärung geht Ihnen und dem Neuen Forum noch zu.

Schmiedel

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Das erwähnte Schreiben an Herrn Knechtel:

Rüdiger Knechtel!
Du fühlst Dich als Revolutionsheld. Deine Pressepamphlete rufen zu Pogromen. Mein Sohn nahm sich Deinetwegen das Leben. Ich komme nie darüber hinweg. Vielleicht bin ich deshalb schon irre. 
Jetzt kenne ich Deine Adresse. 
Mein Schwur!
Bis 31.12.1991 töte ich Dich nicht. Dir schütte ich eine Tasse Salzsäure ins Gesicht. Du wirst blind sein. Damit ist mein einziger Sohn gerächt und dann mache auch ich meinem Leben ein Ende. Dir Forum-Typen macht das Volk und das Land kaputt !!

Ein kranker Vater, der nichts mehr vom Leben hält

 


 

Ralf Knechtel  

82-84

Vor zwei Jahren, im Mai 1988, saß ich in einer Zelle des MfS Karl-Marx-Stadt. Der Weg dorthin verlief unter "sozialistischen Umständen" geradezu zwangsläufig. Meine Eltern erzogen mich leicht religiös. Ich schreibe das, weil der Glaube nicht vordergründig war. Dafür wurde mehr auf Gerechtigkeitssinn und Hilfsbereitschaft Wert gelegt. Mit 12 Jahren wurde ich getauft, mit 14 Jahren konfirmiert. 

Ich war der einzige Schüler der Klasse, der nicht an der Jugendweihe und am Wehrlager teilnahm. Was mich heute sehr freut, belastete mich damals, denn zum ersten Mal schloß ich mich aus der Gemeinschaft aus. Die Lehrer redeten während der Lehrstunden vor der ganzen Klasse auf mich ein, um mir deutlich zu machen, daß ich den falschen Weg gehe und mir die Zukunft verbaue. 

Schon als Kind mußte ich lernen, meine politischen Gedanken vorsichtig zu äußern. Es ist mir nicht immer gelungen, und ich bekam dafür Tadel, Hausbesuche und andere kleine Strafen.

"Ralf muß sich noch bemühen, einen positiven Standpunkt zu unserer sozialistischen Gesellschaft zu finden!" Mit diesem Satz im Zeugnis suchte ich nach einer Lehrstelle, denn die Aufnahme an die EOS wurde mir verweigert. Die ersten drei Betriebe lehnten dankend ab und sagten offen, daß Zensuren die geringste Rolle bei ihrer Wahl spielen.

Zum Schluß durfte ich zwischen zwei verbliebenen Lehrstellen wählen. Ich wurde Schweißer im VEB ROBA. Unser Betrieb hatte damals zwei Auslandsstellen und warb dafür intensiv um Fachleute.

Ich meldete mich für die SU, gab 20 Paßbilder ab. Daraufhin bekam ich eine Schutzimpfung und einen Einsatztermin. Mit Stolz teilte ich meiner Verwandtschaft meinen Entschluß mit. Einen Monat vor dem Abflug kam dann die Absage, natürlich ohne Begründung. Meine zwei Bewerbungen für die Mongolei endeten ähnlich. 

Bis dahin hatte ich gehofft, ein ganz normales Leben in der DDR führen zu können, vielleicht politisch zu ändern, was zu ändern geht. Nun bin ich aber auch nicht so selbstlos, um auf alle persönlichen Rechte zu verzichten. Ich wollte einfach über mein Leben selbst entscheiden, wollte reisen, frei sein, alles frei sagen dürfen.

Am 8. Oktober 1985 stellte ich den Antrag auf Ausreise in die BRD.

Es folgten einige Gespräche über dieses Thema mit SED-und Stasileuten, die wohl jedem bekannt sein werden, der einen solchen Antrag laufen hatte. Es ging vom Lob über Bestechung bis zur Beschimpfung. Ich war ein "Idiot" und ein "dummes Schwein". Das hat mich nie getroffen. Schlimmer war die verstreichende Zeit. Man ist "reisefertig", hat mit dem bisherigen Leben abgeschlossen, aber nichts passiert. Ich wurde immer unruhiger. Zweieinhalb Jahre gingen vorbei. Die Taktik des Stasi: Hoffnung machen und zerstören.

Durch einen Arbeitsunfall wurde ich zwei Wochen krank geschrieben. Ich hatte Zeit zum Überlegen. Keiner wußte damals, wie es im Land weitergehen soll. Vielleicht würde es bald keine Ausreisegenehmigungen mehr geben. Man konnte doch nicht alle ziehen lassen, oder doch? Sicher ist, daß politische Häftlinge bessere Chancen hatten. Mein Entschluß stand nach einer Woche fest, aber er fiel mir nicht leicht, und ich hatte Angst vor dem, was mich im Gefängnis erwartet. Am 7.Mai 1988 drohte ich zwei Beamten beim VPKA mit einer Demo am Karl-Marx-Monument. Das reichte zur Verhaftung durch die Stasi. Ich wurde mit Handschellen abgeführt und in die U-Haft auf den Kaßberg gebracht. Zu Hause wurde mein Zimmer in der elterlichen Wohnung von Stasileuten durchsucht. Drei Wochen später das Urteil: l Jahr Gefängnis. Mein Verteidiger, Rechtsanwalt Bock aus Karl-Marx-Stadt, plädierte für sieben Monate, nicht etwa für Freispruch. Dafür bekam Herr Bock eine Menge Geld, obwohl er fast nichts getan hat. Die Gerichtskosten übernahm dann später die Bundesregierung. Die Hartzeit dauerte glücklicherweise nur sechs Monate, dann wurde ich freigekauft. Es war erniedrigend, was man in Haft alles erleben mußte. Jeden Tag, vor und nach der Arbeit, nackt ausziehen, Arme heben und von einem Wärter überprüfen lassen. Ich hatte, wie jeder andere, gehofft, vorzeitig in die Bundesrepublik entlassen zu werden. Die Wärter machten sich manchmal einen Spaß daraus, ließen Häftlinge ihre Sachen packen, um ihnen dann zu sagen, daß alles nur ein "Irrtum" war. Wer diese Situation nicht kennt, kann das kaum verstehen.

Am 19.0ktober 1988 wurde ich abends direkt aus dem Gefängnis zum Bahnhof gebracht und unter Stasi-Bewachung in einen Zug gesetzt, der über Leipzig nach Gießen führ. Meine Eltern wußten von dieser Aktion nichts, ich durfte sie nicht benachrichtigen. Ich kam in die Bundesrepublik mit dem, was ich am Körper trug, und 1,50 Mark in der Tasche. Dies alles ist jetzt schon wieder zwei Jahre her, doch manchmal habe ich das Gefühl, als wäre es gestern gewesen. Ich habe immer noch das Bedürfnis, es allen zu erzählen, was ich erlebt habe. Wahrscheinlich geht es jedem so, der aus dem Gefängnis kommt. Es gibt viele Menschen, die sehr gelitten haben. Ich war zwar nie ein Held, habe mir aber auch nicht alles gefallen lassen.

Was die Menschen in der DDR im Oktober 1989 vollbracht haben, macht mich stolz. Schade, daß ich nicht dabei sein konnte. Es hat gezeigt, daß die Stimme eines jeden einzelnen, auch die des "kleinen Mannes" eine Macht sein kann. Die Anhänger der SED und Vertreter der alten Staatsmacht müssen zur Verantwortung gezogen werden. Sie haben Menschen getötet, gefoltert, Familien getrennt und mit brutaler Macht über ein Volk geherrscht. Das darf man nicht vergessen.

Ich bin 24 Jahre alt. Mir tut es leid um meine Generation, daß sie so zerstückelt wurde. Viele sind in die Bundesrepublik übergesiedelt. Den DDR-typischen Zusammenhalt wird es in dieser Generation nicht mehr geben. Jeder weiß, wem er das zu verdanken hat.

Köln, 
Juni 1990

 

84


Wolfgang B. (Chemnitz)

85-87

Nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 in Berlin wurde ich verhaftet und gemäß § 19, Abs.1, Ziff. 2 StEG zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Mein Verbrechen bestand darin, daß ich mich öffentlich gegen den Bau der Mauer und die damit verbundene vollkommene Isolierung der Bevölkerung aussprach. Gleichzeitig habe ich den Schießbefehl an der Grenze zur BRD verurteilt. Ich konnte es nicht verstehen, daß an dieser Grenze Deutsche auf Deutsche schießen.

Dies genügte, um mich als staatsfeindlichen Verbrecher zu bezeichnen. Wenn ich, der nur seine Meinung gesagt hat, ein Verbrecher sein soll, was sind dann diese Leute, die den Auftrag gaben, diese menschenfeindliche Mauer zu bauen und auch noch den Schießbefehl erteilten!

Damals lebte man schon sehr gefährlich, wenn man nur mal einen politischen Witz erzählte. Es war immer nur das richtig, was die Partei sagte. Jeder, der eine andere Meinung hatte, war für sie ein gefährliches Subjekt. Wenn so ein Subjekt der Stasi ausgeliefert war, hatte diese freie Hand. Ihre Machenschaften und Vernehmungsmethoden habe ich kennengelernt.

Bei der ersten Vernehmung waren sie überrascht, daß ich alles gestand, was ich öffentlich gesagt hatte. Als sie aber die Namen meiner Arbeitskollegen und Bekannten wissen wollten, die auch so dachten wie ich, wurde es sehr hart. Je mehr sie mich mißhandelten und demütigten, umso verschwiegener wurde ich. Bei mehreren Verhören wurde ich von den Stasi-Offizieren mit den Fäusten ins Gesicht und in den Magen geschlagen; manchmal schlugen sie von beiden Seiten auf mich ein, bis ich mich vor Schmerz krümmte.

Als ich ihnen sagte, ihr könnt mich schlagen wie ihr wollt, eines Tages komme ich wieder hier raus, und dann möchte ich meinen Arbeitskollegen und Freunden ehrlich in die Augen sehen können, ließen sie mich in Ruhe.

Mein Anwalt, dem ich erzählte, daß ich von der Stasi geschlagen wurde, sagte nur: "Um Gottes Willen, behalten Sie das für sich. Sie haben ja keine Beweise!"

Nach der Einzelhaft kam ich in eine Zweimannzelle, in der wir zu sechst untergebracht waren. Die U-Haft auf dem Kaßberg war überbelegt.

Verurteilt wurde ich am 26.10.1961 vom Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 1. Strafsenat, Aktenzeichen 1 BS 175/61. Der Oberrichter Meyer, seine Schöffen und der Staatsanwalt hatten alle ein großes Parteiabzeichen anstecken. Meine Chance auf ein faires Urteil war gleich Null.

Ich habe die Worte, die der Oberrichter zu mir sagte, nicht vergessen: "Angeklagter, solche Verbrecher wie Sie müssen wir unschädlich machen, oder denken Sie, wir warten so lange, bis Sie eine Waffe auf uns richten?"

Von diesem Augenblick an war mir klar: sie hatten Angst. Angst vor denen, die eine andere Meinung hatten. Das waren viele, doch wenige hatten den Mut, offen zu sprechen, aus Angst, ihren Posten zu verlieren.

Die dennoch ihre Meinung vertraten und der Partei und Regierung widersprachen, wurden mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft. Das war gleichzeitig eine Abschreckung, die ihre Wirkung nicht verfehlte.

Die Strafe verbüßte ich in der Strafvollzugsanstalt Zwickau, Schloß Osterstein. Hier arbeitete ich als Dreher und Kontrolleur. Zweimal wurde ich zu verschärftem Arrest verurteilt, weil ich mich über das miserable Essen geäußert habe. Das wurde als Unruhestiftung bezeichnet.

Nach einem Jahr Haft wurde ich durch die Amnestie (damals hieß es Straferlaß) mit 33,59 Mark auf Bewährung entlassen. Ich war jetzt nicht mehr im Strafvollzug, aber immer noch unter Kontrolle. Beim ABV mußte ich mich täglich melden und ein- bis zweimal in der Woche auf dem VP-Kreisamt Freiberg. Hier ließ man mich eine halbe bis eine Stunde warten, um mir dann zu sagen, ich könne wieder gehen. Diese Erniedrigung ging ein Jahr lang.

Ich habe Bergmann gelernt und 10 Jahre im Bergbau gearbeitet. Nach der Haftentlassung wurde ich im Bergbau nicht wieder eingestellt. Man sagte zu mir: "Hier wird mit Sprengstoff gearbeitet, und Sie mit ihrer Vorstrafe sind hier nicht tragbar."

Mir blieb nichts anderes übrig, als in einem halbstaatlichen Betrieb als Hilfearbeiter zu beginnen. Der Verdienst war dementsprechend niedrig. Auch da bin ich durch, habe mich dann weiterqualifiziert und mich nicht unterkriegen lassen. Als man mich später zur Armee einziehen wollte, habe ich den Wehrdienst verweigert. Da man mir mit Strafmaßnahmen drohte, habe ich erklärt, daß ich die Mauer in Berlin und den Schießbefehl verurteilt habe und deshalb abgeurteilt wurde. Ich hatte den Eindruck, daß hat ihnen noch keiner gesagt! Man muß es wohl überprüft haben, denn ich wurde in dieser Sache nicht mehr belästigt.

Ich habe 28 Jahre lang die Frage gestellt, warum man uns so isoliert und somit die einfachsten Menschenrechte mißachtet hat. Eine richtige Antwort habe ich nie bekommen. Zu meiner Frau sagte ich immer, diese Kommunisten betrügen uns. Sie konnte es oft nicht mehr hören.

Nach der Wende mußte sie entsetzt feststellen, daß ich die ganzen Jahre die Wahrheit gesagt habe. Das Öffnen der Grenze und der Mauer wurde von uns fröhlich gefeiert. Als wir zum ersten Mal zur Demo die Verse "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland" sangen, waren wir mit vielen anderen ergriffen, und manche hatten Tranen in den Augen.

Chemnitz, 
Frühjahr 1990

87


Steffen B. (Chemnitz)

88-90

Meine erste Verurteilung erfolgte am 10.10.1968 durch das Kreisgericht Karl-Marx-Stadt-West. Der Richter hieß Wendlandt, der Staatsanwalt Lehmann. Die Anklage lautete auf Staatsverleumdung. Bei dieser Gerichtsverhandlung prallte das erstemal die ganze Borniertheit des kommunistischen Systems auf mich herab. Aber es sollte noch schlimmer kommen. 

Ich wurde zu acht Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Der Staatsanwalt legte aber gegen diesen Urteilsspruch Berufung ein. Er war der Meinung, daß dem Sachverhalt, welcher dieser Verhandlung zugrunde lag, eine strengere Strafe folgen muß. Er betonte, daß die Gesellschaftswidrigkeit meiner Handlung einen so hohen Grad erreicht habe, daß unter Beachtung der Schwere der von mir ausgesprochenen Verleumdung und der am 21. August 1968 gegebenen Situation eine Verurteilung auf Bewährung nicht gerechtfertigt sei. Daraufhin wurde ich wegen Staatsverleumdung zu acht Monaten Haft verurteilt.

Hier nochmal zur Erinnerung: Am 21.8.1968 marschierten die Truppen des Warschauer Paktes in die befreundete CSSR ein. Da ich an die Souveränität eines jeden Staates glaubte, was ja auch vom SED-Regime immer wieder betont wurde, bezweifelte ich, daß dieser Einmarsch legitim ist, und sagte, daß das Volk der CSSR diese Truppen nicht zu Hilfe gerufen habe. Weiterhin erzählte ich, daß im Fernsehen berichtet wurde, wie Bürger der CSSR in ein Tuch gebunden, von sowjetischen Soldaten an einen Wagen gehängt und durch die Straßen gezogen wurden. 

Ich sagte aber bei der Vernehmung nicht aus, von wem ich das gehört hatte, und war somit selbst dran. Außerdem wurde mir noch eine allgemein negative Einstellung unterstellt, da ich westliche Rundfunk- und Fernsehsender hörte. Es wurden auch bei der Hausdurchsuchung zwei alte Wildwest-Romane gefunden, und schon war die Staatsfeindlichkeit vorprogrammiert.

Dies war meine erste Begegnung mit den Justizorganen des SED-Regimes. Ich wurde, trotzdem ich noch in der Lehre stand und erst 18 Jahre alt war, zu dieser Freiheitsstrafe verurteilt. Die Verurteilung zog aber keine sofortige Inhaftierung nach sich, denn ich war ein sogenannter "Selbststeller". In der Zeit nach meiner Verurteilung, also noch vor der Vollzugsvollstreckung, kam ich zum zweitenmal mit unserer Justiz in Konflikt. Nach Verlassen einer Tanzveranstaltung ging ich zur Haltestelle der Straßenbahn und mußte dort mit ansehen, wie Jugendliche von der Polizei mit Schlagstöcken zusammengeschlagen wurden. 

So etwas hatte ich in der DDR noch nicht erlebt. Ich äußerte mich deshalb empört mit den Worten: "Das ist eine Schweinerei und der Notstand in Aktion!" Es war eine subjektive Empörung, eine Affektstimmung, auch aus meiner vorangegangenen Verurteilung heraus geboren. Aber ich habe mich in keiner Weise an irgendwelchen Tätlichkeiten gegen die VP-Angehörigen beteiligt. Ich hatte auch keine konkrete Beziehung zu den Jugendlichen. Trotzdem wurde ich nunmehr als "Gruppentäter" zur Verantwortung gezogen und wegen "Staatsverleumdung" sowie "Zusammenrottung" in U-Haft genommen und nach den Paragraphen 217 und 220 verurteilt. Natürlich bekam ich das Urteil nicht ausgehändigt.

Es ist ein Hohn, daß ich trotz der Einschätzung des Gerichtes, mein Tatbeitrag und meine Schuld sei gering und mein Persönlich­keitsbild positiv, zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden bin. Ich hatte somit eine Gesamtstrafe von 23 Monaten abzubüßen.

Wie sich diese Verurteilung auf mein weiteres Leben auswirkte, möchte ich in folgenden Eindrücken beschreiben. Viele Menschen, welche eigentlich auch nur dahingelebt haben, aber das Glück hatten, an keinen Denunzianten zu geraten, werden sich kaum vorstellen können, welches Leid, welche psychische Belastung so eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen kann. Und das bezieht sich nicht nur auf den Betroffenen selbst, sondern oftmals auf dessen ganze Familie. Ich muß sagen, durch diese Gefängniszeit ist mein ganzes Leben deformiert worden, man ist als Mensch abgewertet. Auch heute kommen mir immer wieder die Erinnerungen, wie wir nachts von vier bewaffneten Wächtern aus dem Bett geholt wurden, vor die Zelle treten mußten und dabei als "Schweine" und Menschen "dritter Klasse" beschimpft wurden. Auch denke ich daran, wie man mich zum Verhör oder zur Verhandlung mit der Knebelkette abführte, oder wie ich angeschrien und körperlich bedroht worden bin. Und es war erniedrigend, wenn man sich die Leibesvisitationen gefallen lassen mußte. Ich denke auch an die Zeit in der Einzelhaft. Man liegt in dieser nackten Zelle und hört nur seine eigenen Atemzüge und den Wärter beim Rundgang. Es ist eine deprimierende Ausweglosigkeit des Alleinseins. Nach der Haftentlassung kam es bei mir zu einem gestörten Verhältnis mit meinen Mitmenschen. Vor allem gegen Vorgesetzte bildete sich ein Unsicherheitsgefühl heraus. Bei Gesprächen bin ich gehemmt und ängstlich. Vor Unterredungen habe ich Angst, und das hat meine Entwicklung nach der Haft total gestört. Es war einem ja auch nicht bekannt, wen man bei den Gesprächen eigentlich vor sich hatte, da es in diesem Staat zahlreiche Stasi-Spitzel gab. Ich bekam auch ganz massive Schlafstörungen, die ich ebenfalls bis heute nicht verloren habe.

Aber auch für meine Mutter und meine Schwester war das eine schwere Zeit. Meine Schwester, mit der ich ein sehr gutes und kameradschaftliches Verhältnis hatte, konnte meine Verhaftung und die mehrmaligen Hausdurchsuchungen nicht verkraften und unternahm einen Selbstmordversuch. Selbst viele Jahre danach, 1987, mußte sie nochmals eine psychiatrische Behandlung auf sich nehmen. Sie arbeitet heute in verantwortlicher Stellung und möchte daran nicht erinnert werden. So hat meine Gefängnisstrafe unsere ganze Familie getroffen.

Chemnitz,
 31.5.1990   

90


 

Hildegard H. (Grüna)

 

91-93

Ich war private Einzelbäuerin und lebte mit meinem Bruder und seiner Frau zusammen. Wir bewirtschafteten gemeinsam unseren Besitz, den wir jederzeit mit Übersoll geführt haben. Dieser landwirtschaftliche Besitz war über Generationen Eigentum unserer Familie.

1959 begann die Werbung auch in unserem Ort für die LPG. Der Parteisekretär Bertram, unser Nachbar, besuchte uns jetzt häufig mit dem Auftrag, daß wir als erster Hof in Grüna der LPG beitreten sollten. Wir lachten ihn aus und verwiesen ihn vom Hof. Mein Bruder entgegnete ihm aufgebracht: "Wir werden im Leben keine LPG, mach, daß Du vom Hof kommst!" Trotzdem versuchte es der Parteisekretär Bertram immer wieder. Wir sprachen daraufhin mit einem Kollegen, ebenfalls Einzelbauer, der genau wie wir dachte und ebenso nicht in die LPG gehen wollte. Kurz darauf kam der Bertram zu uns und verkündete freude­strahlend, daß dieser Kollege gerade die Unterschrift zum Beitritt in die LPG gegeben hat. Wir waren darüber erschüttert, aber wir vermuteten, daß man ihn unter Druck gesetzt hat, denn sonst wäre er uns nicht in den Rücken gefallen. Ich konnte es nicht glauben, aber leider stimmte es doch. Bertram drohte uns: "Wenn Ihr Eure Felder nicht bestellt, kommt Ihr ins Gefängnis."

Vorangegangen war ein Gespräch, in dem wir Saatgut von Bertram für die Bestellung der Felder forderten, aber Bertram konnte uns das Saatgut nicht zusichern. Ihm kam es nur darauf an, uns in die LPG zu kriegen.

Ich war wütend über den Verrat unseres Kollegen und schrieb ihm in großer innerer Erregung am selben Abend einen Brief. Mein Bruder und meine Schwägerin wußten nichts davon. In meinem Brief nannte ich meinen Kollegen "Kommunist" und "Lump", weil er uns so enttäuscht und verraten hatte.

Ungefähr 4 Wochen später wurde ich früh 5.30 Uhr verhaftet. In unseren Bauernhof kamen vier große Personenautos und sperrten alle Ausgänge ab, drei Stasi-Leute bewachten den Hof und fünf kamen mit den Worten auf mich zu: "Sie sind wegen ihrer feindlichen Einstellung zur LPG verhaftet! Steigen sie ins Auto!" Ich wurde in die U-Haft eingeliefert, ohne mich zuvor von meinem Bruder verabschieden zu dürfen. Von Stund an hatte ich Einzelhaft. Für mich, die ich damals im 50.Lebensjahr stand und immer anständig und geradlinig gelebt habe, war das ein großer Schock. Die Zelle war in der Diagonalen 9 Fuß lang, das kleine vergitterte Fenster mit Glasbausteinen zugesetzt, so daß mir kein Blick nach draußen möglich war. Als Nachtlager hatte ich eine Holzpritsche und eine Decke. Die Toilette befand sich außerhalb der Zelle. Stuhl oder Tisch gab es nicht. Tagsüber durfte man sich nicht aufs Bett setzen. Als arbeitsamer Mensch war für mich das Untätigsein eine zusätzliche Strafe. Der Tag begann früh 4.30 Uhr mit Aufstehen, Zelle sauber machen, 7 Uhr gab es Frühstück, das aus drei Brotscheiben, belegt mit ausgepreßten Johannisbeerkörnern, bestand. 12 Uhr gab es Mittagessen, 17 Uhr Abendbrot. Diese Einzelhaft ging bis zum 24. August 1959.

Während dieser Zeit wurde ich öfters verhört. An ein besonderes Verhör kann ich mich gut erinnern: Der Stasi-Offizier drückte mich mit zwei Fahnenstangen an die Wand, die bei der Hausdurchsuchung gefunden worden waren. Er sagte mir, ich sei "ein Verbrecher, für die kommende Zeit". Tagelang hatte ich noch Schmerzen im Brustbereich. Mein Urteil lautete: ein Jahr und sechs Monate, wegen meiner feindlichen Gesinnung gegen die LPG.

Danach kam ich ins Frauengefängnis Hoheneck. Ich wurde zur Arbeit in die Wäschenäherei, später ins Elektrokommando eingeteilt. Der Umgangston der Aufseher war teils sehr streng, teils human. Der Arbeitstag ging von früh 4.30 Uhr bis abends manchmal 20.30 Uhr. Zum Abendbrot durften wir dann unsere Brote nicht mit dem Messer streichen, sondern mußten die Zahnbürste nehmen.

Selbst in Hoheneck wurde ich öfters zur Befragung geholt, um meine Unterschrift für die LPG zu erzwingen. An einem Tag wurde ich nach Arbeitsschluß mehrmals geholt, selbst nachts. Man versprach mir: "Wenn Sie heute ihre Unterschrift zum Beitritt in die LPG geben, werden sie morgen früh um acht entlassen!" Man legte mir Bleistift und Papier vor die Nase und erwartete meine Unterschrift. Aber ich blieb eisern. Am 4. November wurde ich aus der Haftanstalt Hoheneck entlassen. 

Am 1. September 1961 erhielt ich dann eine Vorladung vom Bürgermeister Eifler in Grüna. Die dreistündige, harte Auseinandersetzung war die letzte Frist zum Beitritt in die LPG. Die Worte vom Kommunisten Eifler waren: "Wenn Sie heute keine Unterschrift geben, dann sind sie morgen früh 8 Uhr enteignet und müssen Ihren Hof verlassen!" Mein Hof war in Grüna der einzige Betrieb, der seit 2 Jahren nicht in der LPG war. Nun blieb mir nichts anderes mehr übrig, als der LPG beizutreten. 

Es gab harte Stunden in den Jahren, und heute bin ich froh, daß ich die Wende noch erleben darf.

93

Grüna,
Juli 1990

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