Holger  I. (Glauchau)

     

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Aus normalen und geordneten Familienverhältnissen kommend, begann ich nach Abschluß der 10. Klasse an der POS in Glauchau eine dreijährige Ausbildung als Gasanlagenmonteur. In den sozialistischen Erziehungsstil im Internat konnte ich mich nur recht und schlecht einfügen und stand oft auf Konfrontation. Ich fand schnell Kontakt zu den damals bestehenden Tramper­kreisen, und so tourte ich an den Wochenenden zu Tanz- und Konzert­veranstaltungen, zu Volksfesten, in die Natur usw. 

Im Mai '74, in der Prüfungszeit, war ich unterwegs in Richtung Ostsee und durchstreifte die Insel Rügen. Bei einer Personal­kontrolle durch Grenzposten wurde ich festgenommen – ich hätte die Meldepflicht mißachtet –, nach Sellin transportiert und in dem dortigen Armeeobjekt in Verwahrung genommen. Ich stand unter Verdacht auf "Republikflucht". Da das weder erhärtet noch mir eingeredet werden konnte, trotz stundenlanger Vernehmungen, wurde ich wieder auf freien Fuß gesetzt und mußte mich bei den zuständigen Organen im Wohnort zurückmelden. Durch diesen Zeitverzug konnte ich einem mündlichen Prüfungstermin nicht nachkommen. Mir wurde mitgeteilt, daß ich die Prüfung im September nachholen könne, wenn ich mich arbeits- und einstellungs­mäßig bewährt habe. Dies nahm ich nicht in Anspruch.

Nach meinem Wehrdienst begann, ich September '76 in Glauchau ein Fachschul-Studium in der Richtung Montagetechnologie. Durch die Tramperszene hatte ich einen engen und festen Kontakt zu oppositionellen Kreisen, Mitgliedern der Studentenbewegung, zur Kirche, zur Liedermacherszene. Wir hörten und sahen Kunert, Pannach, Biermann, erfuhren von der Republik-Fluchtwelle, erlebten das Auflösen von Wohnungstreffs durch die Stasi usw.

Nach der Ausbürgerung Biermanns sammelte ich ca. 80 Unterschriften gegen diesen Beschluß. Daraufhin wurde ich von Stasi-Leuten aus der Schule geholt und in die Dienststelle auf der Dr.-Richard-Sorge-Straße in Chemnitz gebracht. Hier wurde ich stundenlang verhört und befragt, erlebte zum erstenmal so richtig die Praktiken der Stasi, die Art und Weise ihres Auftretens. Wieder entlassen, erfolgte in der Schule eine Aussprache. Ich erhielt einen Verweis wegen "schlechter Studieneinstellung" und wurde 1977 exmatrikuliert.

In den Folgejahren jobte ich als Grobkeramiker, Hilfstransportarbeiter und Lackierer. Über die Sommermonate tourte ich ausgiebig durch die sozialistischen Länder, fand auch zur Jazzszene.

Auch in Chemnitz gab es einen festen "Kundenstamm", der sich regelmäßig traf, wo in alle Richtungen diskutiert, über die Verhältnisse im Staat gelesen und gesprochen wurde, über die Werke von Freud, Kunert, Solschenizyn, Fuchs, Bahro usw. Dieses Büchermaterial hatte ich von Freunden aus der BRD erhalten und gab es weiter zum Lesen. Wir tippten auch J. Fuchs' "Gedächtnisprotokolle" ab und ließen sie kursieren.

Im Februar '79 wurde ich in den Vormittagsstunden von der Stasi vom Arbeitsplatz weg abgeführt. Ganztägig erfolgte ein Verhör über mein bisheriges Leben, meinen Bekanntenkreis usw. An diesem Tag führte die Stasi bei mir, etlichen Verwandten, Freunden und Bekannten Hausdurch­suchungen durch und beschlagnahmte Tagebücher, Literatur, Brief- und Fotomaterial. Am darauffolgenden Tag erfolgte meine Überführung in die UHA, mit der Begründung, es bestehe Verdacht auf "staatsfeindliche Hetze".

In den Verhören wurde mir bewußt, daß ich seit Frühjahr '74 unter Beobachtung durch die Stasi stand. Sie waren allumfassend und ausreichend informiert über mein Tun und Handeln, meinen Werdegang, den Bekanntenkreis, die Treffs und Zusammen­künfte. Selbst von den Buchsendungen aus dem Westen wußten sie. 

Im Mai 1979 wurde ich wegen "staatsfeindlicher Hetze" nach den Paragraphen 106 und 108 des StGB zu 28 Monaten Gefängnis verurteilt. Mit dem berüchtigten "Grotewohl-Express" kam ich dann nach Cottbus. Mit dem Eintritt in den Strafvollzug war zwar die Isolierung beendet, aber die Praxis, das Ich zu deformieren, zu schmähen, zu kränken, wurde weitergeführt.

Im November '79 erfolgte die Amnestierung. Die restliche Strafe wurde auf drei Jahre Bewährung ausgesetzt. In den folgenden fünf Jahren durfte ich die DDR nicht verlassen. In der Bewährungszeit erfolgten ständig Zuführungen zu Verhören bei der Stasi wegen meiner Aktivitäten, meines Freundes- und Bekanntenkreises usw. Auch zu verschiedenen Ereignissen wurde ich in Beziehung gebracht, zum Beispiel wegen der Panzersprengung, Marx-Monument-Schändung, wegen Sexual- und Scheck­betrugs­delikten. 

Die Befragungen meiner Verwandten und Freunde belasteten mich und meine Familie. Die Folgen waren bei mir Verunsicherung und Verfolgungswahn.  

Bei staatlich organisierten Festen wie Freundschaftstreffen, Volks- und Pressefesten erhielt ich Stadt- und Besuchsverbot.

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Chemnitz, 
19.5.1990  

 


 

Werner J. (Glauchau)

 

 

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Am 12.4.1945 besetzten amerikanische Truppen Glauchau, wohin meine Eltern – Vater: Betriebsleiter in einer Textilfabrik und Mitglied der NSDAP, Mutter: Hausfrau – inzwischen verzogen waren. Ich selbst war damals Oberschüler und Jungvolkführer. Zur Familie gehörte noch meine Schwester. Diese Besetzung wurde damals allgemein als ein glücklicher Umstand gewertet, war doch erstens der Krieg mit all seinen Schrecken zu Ende und zweitens die Befürchtung, den "Russen" in die Hände zu fallen, zunächst gebannt. Wie groß war aber der Schrecken, als die Rote Armee zunächst bis zur Mulde – wir wohnten westwärts davon – und nach weiteren ca. 4 Wochen bis zu der späteren Demarkationslinie, die jahrzehntelang die Grenze bezeichnete, vorrückte. Da wurde schlagartig all die Angst wieder wach, die uns durch 12jährige NS-Propaganda eingeimpft worden war.

Wie bald sollten wir merken, daß das alles nicht nur Propaganda war, diese Meldungen über die stalinsche Schreckens­herrschaft! Bereits im August '45 wurde der berüchtigte Befehl 42 der SMAD erlassen, der auch meinen inzwischen aus der englischen Gefangenschaft heimgekehrten Vater betraf. Die ständige Angst, weil bald dieser, bald jener spurlos verschwand, wahllos, ohne erkennbares System, ohne erkennbaren Grund! Es gab die Befehle 160 und 201 der SMAD, die sich gegen "Klassenfeinde" und ehemalige Inhaber von "öffentlichen und halböffentlichen Posten" und den "entsprechenden Posten in den Privatbetrieben" richteten, die "Sequestierungen des Eigentums und Zwangsausweisungen aus den Wohnungen" vorsahen. Hatten wir in der elterlichen Wohnung doch schon im Herbst 1945 sieben zwangsausgewiesene Angehörige – Großeltern, weit über 70 Jahre alt, und eine Tante mit zwei Kindern – aus der Tschechoslowakei aufgenommen.

Nachdem im Herbst 1945 der Unterricht in den Schulen wieder aufgenommen wurde, habe ich zum erstenmal "direkte" Berührung mit der "neuen Zeit" erfahren. Weil einer der neuen Lehrer im Fach "Gesellschaftswissenschaften" (so hieß das nach meiner Erinnerung damals) unsere Väter ständig global als Verbrecher beschimpfte, habe ich die von ihm geleiteten Stunden nach anfänglichem Widerspruch boykottiert. Das führte zur Relegation im Frühjahr 1946. Darauf folgte der Einsatz bei der "Arbeitseinsatzstelle Glauchau", bei der wir – ehemalige Beamte, Offiziere, Lehrer und andere "Mißliebige" – alle möglichen Tätigkeiten verrichten mußten, vom Straßenkehren bis zum Reinigen der sowjetischen Garnisonsunterkünfte.

Da die in jenen Jahren nach und nach gleichgeschaltete Presse (Rundfunkempfang war nicht möglich, da 1945 alle Radio­empfänger beschlagnahmt worden waren) keine umfassende Information zuließ, führ ich ab 1949, zunächst sporadisch, nach Westberlin, um mir "Informations­material" zu besorgen, auszuwerten und im engsten Kreis zu diskutieren, Auszüge zu machen und weiterzugeben.

Später bin ich dann regelmäßig gefahren, um Zeitungen, Broschüren, auch die von den Machthabern besonders gefürchtete "Tarantel", eine satirische Zeitung von antikommunistischem Zuschnitt, zu holen. Unter anderem unternahm ich anläßlich der "III. Weltfestspiele" im August '51 im Rahmen einer Freiberger Jugenddelegation eine solche Tour und wurde auf der Rückreise von einem gewissen Bautzmann aus Freiberg, Nonnengasse 2, denunziert. In Dresden wurden mir alle Zeitschriften und Broschüren abgenommen. Nachdem ich meine Reise zunächst fortsetzen konnte, wurde ich in Freiberg vom Zug weg verhaftet. In zweitägigen Verhören in der Freiberger Beethovenstraße gelang es mir, meinen "Informationshunger" als "einmalige Entgleisung" darzustellen, worauf ich wieder entlassen wurde.

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Ich war damals Bergmann von Beruf und mit einem Arbeitskollegen Walter D., der wie ich und meine inzwischen gegründete Familie in Weißenborn/Freiberg wohnte, eng befreundet. Wir lernten den ebenfalls ortsansässigen Hans Kröhnert kennen, mit dem wir gelegentlich zu einer Skatrunde zusammentrafen und auch später familiär verkehrten. Diese Bekanntschaft sollte sich als verhängnisvoll erweisen.

1952 erkrankte ich und mußte mich im Juli einer Struma-Operation unterziehen. Am 6. August wurde ich unter mysteriösen Umständen aus dem Krankenhaus entlassen und am 10. August – bei meiner Schwiegermutter in Dresden weilend – von zwei Herren aufgefordert, "an einer Hausdurchsuchung teilzunehmen". Die Hausdurchsuchung fand in meiner Wohnung in Weißenborn statt, und am Abend befand ich mich auf dem berühmten Kaßberg, der UHA des MfS in Chemnitz.

In einem bis in die Morgenstunden dauernden ersten Verhör, in dem man mir, dem frisch Operierten, offensichtlich zur Einschüchterung alle möglichen Zwangsmaßnahmen, Prügel und dergleichen mehr anbot, wurde mir vorgeworfen, "die Grundfesten der DDR und des Sozialismus" durch die Einfuhr von "Hetzliteratur" (immerhin Literatur!), Boykott-, Kriegs-, Rassen- und was weiß ich nicht noch für Hetze "erschüttert" zu haben. Diese Vernehmung dauerte, bis ich nicht mehr sprechen konnte und vor Erschöpfung "wegtrat". Meiner am nächsten Tag geäußerten Bitte, einem Arzt vorgestellt zu werden – ich trug noch einen Verband –, wurde erst nach mehreren Tagen durch einen Dr. Rech (noch heute als OMR in Chemnitz tätig) entsprochen, der lediglich meinen Verband erneuerte, mich aber für durchaus haftfähig hielt. 

Die Vernehmungen wurden vorwiegend nachts fortgesetzt! Die Zelle, "möbliert" mit Eisenbett und Fäkalienkübel, war nachts ständig beleuchtet, das Fenster mit einer "Blechblende", nur einen schmalen, wenige Zentimeter weiten Spalt freilassend, versehen. Hinlegen – auch wenn die Vernehmung die halbe Nacht andauerte – war tagsüber nicht erlaubt! Strengste Isolierung! Mir ist während der bis Ende Oktober dauernden "U-Haft" außer den Stasi-Leuten und einmal (!) dem Arzt kein anderer Mensch begegnet. In mehrtägigen Abständen eine halbe Stunde "Hofgang" in einem

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Zwinger von ca. 30 Quadratmetern, Vernehmungen, die mit wüstesten Beschimpfungen und Drohungen "gewürzt" wurden. Auch anders wurde versucht, mich "weichzumachen". So z.B., wenn der "Vernehmer" sich zur Abendstunde während der Verhöre per Telefon lange mit seiner Tochter über deren einstige Streiche unterhielt und mir diese dann ausführlich schilderte. So vergingen die Wochen im ständigen Wechsel zwischen "heißem Bad und kalter Dusche". Dann die Verlegung nach der U-Haftanstalt Hartmannstraße. Dort wurden wir zu 6 bis 8 Personen in eine Ein-Mann-Zelle gepfercht, auf den "Prozeß" wartend. Die psychische Belastung war während der ganzen Zeit ungeheuer, das Körpergewicht infolge unzureichender Ernährung stark reduziert. Es herrschte ein nicht zu beschreibender Mangel an Sauberkeit, wir trugen noch seit der Verhaftung die eigene Wäsche und Kleidung. Die sanitäre Betreuung bestand darin, daß sich ein "Sanitätspolizist" in Abständen den Penis mit zurückgezogener Vorhaut zeigen ließ. Wir haben nie erfahren, zu welchem Zweck das geschah.

Am 6.11.'52 erfolgte meine Verurteilung wegen "Verbrechen" nach Artikel 6 der Verfassung (vom 7.10.49) und Kontrollrats­direktive 38, Abschnitt III A III, zu 5 Jahren Zuchthaus und Auferlegung der obligatorischen Sühnemaßnahmen, Ziffer 3-9 (Staatsanwalt Jülich).

Der erste Briefkontakt mit meiner Familie war Ende Oktober möglich. Bis dahin wurde meiner Frau, Mutter dreier Kleinkinder, auf ständige Nachfragen bei Polizei und Staatsanwaltschaft nur gesagt, man wisse nicht, wo ich mich aufhielte.

In der UHA Hartmannstraße traf ich auch meinen Mitangeklagten, Walter D., wieder. Der angeblich ebenfalls beschuldigte Hans Kröhnert war wenige Tage nach unserem "Verschwinden" wieder zu Hause. Wir haben ihn bis heute nicht wiedergesehen! Nach der Verurteilung erfolgte die "Verlegung" nach Schloß Osterstein in Zwickau. Bei klirrender Kälte, im Sommeranzug mit einer Decke, gefesselt auf einem LKW mit Plane!

Zwickau: Kahlgeschoren, erstmalig "Knastklamotten" (Drillichanzug, Holzschuhe). Kommando II, 500 Gefangene ohne Arbeit in einem ca. 800-1000 Quadratmeter großen Saal, tag-

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aus-tagein. Wer das nicht erlebt hat, kann sich keine Vorstellung machen! Da wird der Mensch in kurzer Zeit zum willenlosen Herdentier, wenn er nicht mit aller Energie dagegen ankämpft! Im Frühjahr '53 erfolgte die Verlegung ins "Haftarbeitslager" Oelsnitz zur Untertagearbeit im Kohleschacht.

Vor meiner Inhaftierung war ich Alleinverdienender in meiner Familie und meine Frau mit der Betreuung und Erziehung unserer Kinder eigentlich voll ausgelastet. Durch den plötzlichen Wegfall meines Verdienstes änderte sich diese Situation schlagartig. Der Lebensunterhalt der Familie war nicht mehr gesichert. Die Bemühungen meiner Frau, einen wie auch immer gearteten Arbeitsplatz zu finden, verliefen monatelang ergebnislos, manchmal mit dem Hinweis auf das "verbrecherische Treiben" des Ehemannes, von dem sie sich doch als verantwortungsvolle Mutter mit Rücksicht auf die Kinder scheiden lassen sollte. Schließlich wurde ihr für eine kurze Zeit eine geringe Sozialhilfe gewährt, die man aber wieder einstellte, indem man meinen Vater etwa eineinhalb Jahre zum Unterhalt für meine Familie verpflichtete, bis es meiner Frau gelang, einen Arbeitsplatz zu finden.

Die - gemessen an den Bedingungen im Zuchthaus Zwickau - relativ erträgliche Zeit im HAL Oelsnitz war nach dem 17. Juni 1953 abrupt beendet. Alle politischen Häftlinge wurden aus den Lagern wieder in "feste Häuser" verlegt. Das hieß für mich wieder Zwickau. Diesmal Zellenbau. Wieder keine Arbeit. Im Spätsommer '53 kamen dann die ersten "X-er", Teilnehmer am Volksaufstand, die für jeden erkennbar ein großes weißes X auf die Kleidung gemalt bekamen und unter besonders rüder Behandlung zu leiden hatten. In der Folge erlebte ich mehrmals "21 Tage", d.h. verschärften Arrest. Die Begründungen waren durchaus unterschiedlich, z.B. ein beim "Filzen" gefundener Bleistiftstummel oder "Uneinsichtigkeit", die aus provozierten oder auch denunzierten Äußerungen zu politischen Ereignissen abgeleitet wurde. "Bunker", wie wir das nannten, hieß: Essensentzug, Schlafen auf Holzpritsche ohne Matratzen, vollständige Isolierung durch Einzelhaft im Keller und Entzug des "Hofganges".

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1955 im Herbst wurde ich abermals in ein HAL verlegt, diesmal zum Untertageeinsatz im Kohleschacht "Karl Marx" in Zwickau. Von dort erfolgte im April '56 meine Entlassung "auf Bewährung".

Inzwischen war nach Stalins Tod die Auseinandersetzung mit all dem, was man später schamhaft als "Personenkult" bezeichnete, in Gang gekommen, und Chrustschow rechnete auf dem XX. Parteitag der KPdSU mit seinem Vorgänger ab. Die Stalinbüsten wurden von den Sockeln gestoßen, und der Volksaufstand der Ungarn ließ Hoffnungen auf eine Veränderung der Verhältnisse aufkommen.

Es wurde wieder diskutiert, auch etwas freier. Jedoch mußten wir allzubald erkennen, daß es keine Reformierung des kommunistischen Systems geben könne. Nach einigen "kosmetischen" Reparaturen wurde "die alte Ordnung" wiederhergestellt.

Auch in der wiedergewonnenen "Freiheit" habe ich zu keiner Zeit einen Hehl aus meiner Vergangenheit gemacht und habe über meine Erlebnisse bei der Stasi und im Strafvollzug wahrheitsgemäß berichtet. Ebenso bin ich Fragen zu meiner Meinung bezüglich politischer Ereignisse nie ausgewichen, wenn ich mich auch aufgrund gemachter Erfahrungen einer gewissen "Dosierung" befleißigte.

Unter — wie sich später herausstellte — entscheidender Mitwirkung eines Bergmannes namens Wohlfahrt aus Magdeburg hatte die Stasi wieder Veranlassung gefunden, mich "aus der Gesellschaft zu eliminieren". Am 29.7.1957 stand abermals ein EMW mit "unauffälligen Herren" vor meiner Tür. Wieder UHA der Stasi auf dem Kaßberg in Chemnitz, der gleiche Ablauf der Vernehmungen, nur wurde jetzt gefragt, ob man "im Interesse der zügigen Aufklärung" einverstanden sei, wenn es mit den Vernehmungen "etwas über die gewohnte Arbeitszeit" hinausginge. 

Auch die Zellen waren etwas "modernisiert" worden. Die Fenster waren mit Glasbausteinen vermauert, der größte Teil des "Verwahrraumes" mit einem Holzpodest zugebaut, so daß eine "Bewegungsfläche" von etwa 2 Quadratmetern übrigblieb, von der allerdings ein WC (!) abging. Die Vernehmungsmethoden waren inzwischen psychologisch verfeinert, aber die Einschüchterungsversuche, die mir aus meiner

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ersten Haftzeit bekannt waren, erzielten nicht mehr die beabsichtigte Wirkung. Absolutes Novum war, daß ich gegen Ende der U-Haft mit einem zweiten Mann auf einer Zelle zusammengelegt wurde. Peter S. aus Chemnitz ist mir noch heute bekannt, allerdings hat es außer persönlichen Dingen keine die "Straftat" betreffenden Unterhaltungen gegeben, was — wahrscheinlich von beiden Seiten — mit Bedacht vermieden wurde.

Ergebnis: Wegen "Verbrechens" nach, Art. 6 der Verfassung der DDR 4 Jahre Zuchthaus unter Auferlegung der obligatorischen Sühnemaßnahmen (Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt).

Nach anfänglicher Verlegung in das Zuchthaus Zwickau erfolgte bald die Unterbringung in dem bei allen Gefangenen gefürchteten Zuchthaus Waldheim. Dort herrschte schon rein optisch — die VP-Büttel trugen ständig Gummiknüppel am Mann — ein wesentlich rauherer Ton als in Zwickau. Zunächst Unterbringung im sogenannten "Kuhstall". Vier Mann in einer Zelle, die für eine Person vorgesehen war, ca. ein Jahr, keine Arbeit — zum Eingewöhnen. Danach Verlegung in die "Bremen", einen mehrstöckigen Zellenbau, und Einsatz bei Textima. Textima war eine Außenstelle des Chemnitzer Spinnereimaschinenbaubetriebes, in dem Streckzylinder für Spinnmaschinen hergestellt wurden. Akkordarbeit mit leistungsorientiertem Lohn. Von dem erzielten Nettolohn, der durch den Betrieb durchaus ordnungsgemäß versteuert werden mußte und von dem auch die vollen SV-Abgaben entrichtet wurden (er lag um die 1000 Mark), behielt die Anstalt — ein wahrhaft "sozialistisch orientiertes Unternehmen" — 75 % für Aurwendungen zum Unterhalt des einsitzenden Strafgefangenen ein (Kost und Logis). Die übriggebliebenen 25 % wurden abermals aufgeteilt in 65 % Familienunterstützung, 30 % "Einkauf", d.h. für zusätzliche Lebensmittel, und 5 % "Rücklage", das war das "Startkapital" für die Entlassenen. Der Strafvollzug war also ein äußerst gewinnträchtiges "Unternehmen" der "sozialistischen Gesellschaft". Da liegt der Verdacht nicht fern, daß die SED-Clique und ihre Stasi-Häscher dringend an unaufhörlichem "Nachschub" solcher Staats-Heloten interessiert waren, wie sich das auch bei den ab 1965 einsetzenden Häftlingsverkäufen an die Bundesrepublik Deutschland vermuten läßt!

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Meine weiteren Stationen waren (im einzelnen aus der Erinnerung nicht mehr eindeutig mit Terminen zu untersetzen):

StVA Leipzig, HAL Brandis (Flugplatzbau für die Sowjetarmee), wieder Leipzig, Waldheim (wieder Textima) und schließlich HAL Oelsnitz, Steinkohle, etwa ab Frühjahr 1961. Einmal, im Zuge einer "Kulturoffensive", habe ich mich mit Lessings "Nathan" in einer Lesung auseinandergesetzt. Am Beispiel der Ringparabel habe ich den Wert einer Weltanschauung, die sich in ihrem inneren Gehalt manifestiert, in Beziehung mit solchen gebracht, die dieser inneren Wahrheit entbehren. Das verstand sogar der aufsichtführende Polizist. Offensichtlich wurde in den Kreis , der sich mit weltanschaulichen und natürlich auch mit tagespolitischen Themen befaßte, wieder ein Denunziant eingeschleust, denn als ich am 14.11.1961 aus dem Haftarbeitslager nach Verbüßung der vier Jahre plus des zur Bewährung ausgesetzten Restes meiner ersten Haft entlassen wurde, standen abermals vier "unauffällige Herren" vor dem Lagertor, um mit mir "einen Sachverhalt zu klären".

Mein nunmehr dritter Aufenthalt auf dem Kaßberg im Stasi-Bau "mußte eingeleitet werden, weil der zweifach einschlägig Vorbestrafte noch immer keine Lehren aus seiner zutiefst verabscheuungswürdigen, verbrecherischen Vergangenheit gezogen hatte und selbst in der Haft seine staatsfeindliche Tätigkeit in Form gemeinster Hetze gegen den sozialistischen Arbeiter-und-Bauern-Staat permanent fortsetzte". So etwa ist mir die haßtriefende Tirade des Staatsanwaltes in der auf die abermalige Stasi-U-Haft folgenden Verhandlung vor dem Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt in Erinnerung geblieben. Ergebnis: 5 Jahre Zuchthaus wegen Verbrechen nach § 19, 2 Strafrechtsergänzungsgesetz.

Wieder Waldheim. Einstufung in die Kategorie zwei. Die inzwischen erfolgte Kategorisierung der Verurteilten bewirkte unterschiedliche "Erziehungsmaßnahmen", die sich in abgestuften Haftbedingungen äußerten. Nach einer "Eingewöhnungszeit" ohne Arbeit erfolgte mein abermaliger Einsatz bei Textima in Waldheim zu den bereits erwähnten Bedingungen. Ich sehe mich außerstande, über mich und meinen psychischen Zustand, der diese Jahre bestimmte, noch Ausführungen zu machen. Da

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wird jedes Wort zum inhaltslosen Gewäsch. Das kann nur nachvollziehen, wer dergleichen ausgesetzt war! Meine Frau war den Belastungen nicht mehr gewachsen und hat im November 1962 die Scheidung eingereicht. Obwohl ich diesem Begehren meiner Frau Verständnis entgegengebracht habe, führte das zur Zersplitterung meiner Familie, indem sich mein Sohn von seiner Mutter lossagte, weil er ihre Entscheidung nicht zu billigen bereit war. Wenige Monate nach einem Aufenthalt im Haftkrankenhaus Waldheim wegen Verdachts auf Tbc (was sich später, 1970, als eine hochgradige Silikose herausstellen sollte, damals aber nicht erkannt wurde) wurde ich nach Berlin/Magdalenenstraße (MfS) verlegt.

Was damals in mir vorgegangen ist, ist nicht in Worten auszudrücken! Welche Befürchtungen dadurch ausgelöst wurden! Aber es kam ganz anders.

Nach etwa zwei, drei Tagen wurde mir von einem Zivilisten, der sich nicht zu erkennen gab, angeboten, nach dem Westen entlassen zu werden. Das war im November 1965! Neben allen Überlegungen, was da wieder für eine Teufelei dahinter steckt - von den inzwischen einsetzenden "Freikäufen" war noch nichts bis in die Haftanstalten gedrungen —, habe ich das Anerbieten, welches mir unter Hinweis auf eine mögliche hohe Haftentschädigung durchaus "schmackhaft" gemacht wurde, abgelehnt. Dem lag folgende Überlegung zugrunde: Wenn ich mich dazu bereit erkläre - erstens: ist das nicht eine Finte, um aufkeimende Hoffnungen durch Hinweis auf die noch immer abzubüßenden ca. 15 Monate hohnlächelnd zunichte zu machen? Wenn ich mich zweitens dafür entscheide, werde ich selbstverständlich bei Behörden und allen, die mich danach fragen, über meine Haftzeit berichten. Habe ich jemals eine Chance, meine Kinder, die ich nun schon über acht Jahre nicht mehr gesehen hatte, oder meine inzwischen 70jährigen Eltern wiederzusehen!? Unter den damaligen Bedingungen waren die Chancen, daß dies möglich wurde, außerordentlich gering einzuschätzen.

Obwohl meine Entscheidung bei dem Unbekannten, der sich einmal als Major bezeichnete, auf Unverständnis stieß, wurde ich tatsächlich am 24.11.1965 nach ununterbrochener Haft von

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8 Jahren und vier Monaten nach Glauchau entlassen. Mit rund 400 Mark "Eigengeld" in der Tasche, dem Ergebnis 7jähriger "Sparsamkeit"!

Nach erfolgter Entlassung: Einstellung im VEB Spinnereimaschinenbau Karl-Marx-Stadt als Rundschleifer. Man wußte, woher der "neue Kollege" kommt. Da ich trotz alledem noch immer keine Veranlassung gesehen habe, "die Augen niederzuschlagen", habe ich auch zu keiner Zeit einen Hehl daraus gemacht. Nach meinem Empfinden hat mir das aber bei dem überwiegenden Teil meiner Kollegen eher Anerkennung als Ablehnung eingebracht. Ganz offensichtlich war die Sensibilität im Laufe der Jahre gewachsen. Ich fand allgemeines Verständnis und auch bereitwillige Unterstützung.

1968 sollte ich mich zum Meister qualifizieren. Diesem von der unteren Leitungsebene des Bereiches initiierten Vorhaben wußte sich aber die von der SED-Betriebsparteiorganisation beherrschte Kaderkommission etwa ein halbes Jahr zu widersetzen, lange genug, um den Vorbereitungslehrgang zu versäumen. Trotzdem habe ich mit Unterstützung der Bereichsleitung schließlich diesen zweieinhalbjährigen Lehrgang im Abendstudium mit gutem Erfolg absolviert. Bei der Besprechung meines künftigen Einsatzes erinnerte sich aber eine Genossin W. der gegen mich verhängten Sühnemaßnahmen, die einen Einsatz in einer leitenden Stellung ausschlössen. Daraufhin habe auch ich in meinen Erinnerungen gekramt und bin auf eine mir zugegangene Wahlaufforderung gestoßen, die ja demzufolge auch nicht rechtens gewesen sein kann. Also: Selbstanzeige bei der Bezirksstaatsanwaltschaft wegen unerlaubter Wahlteilnahme, die mir ja aufgrund der "Sühnemaßnahmen" verboten war. Darin eingeschlossen den Hinweis, daß ja nun auch das Wahlergebnis nicht stimme und zu berichtigen sei. Konsequenz der Staatsanwaltschaft: "Die Sühnemaßnahmen werden Ihnen durch die Gnadenkommission erlassen. Sie können also künftig sowohl das aktive wie auch das passive Wahlrecht ausüben!" Ich gestehe freimütig, daß ich es unterlassen habe, das Wahlergebnis weiter zu monieren. Das war 1971. Trotzdem konnte ich zu keiner Zeit als Meister arbeiten, sondern wurde in einer schlecht bezahlten Stellung als Betriebsorganisator weiterbeschäftigt,

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wozu auch die im gleichen Jahr manifestierte Silikose, eine Berufskrankheit, wesentlich beitrug.

1976 Lymphogranulomatose mit nachfolgender Invalidisierung 1977. Seitdem, nach Wiederverheiratung, aber verwitwet, war ich nur noch stundenweise zur Aufbesserung meiner durch die Haftzeiten wesentlich verkürzten Rente im gleichen Betrieb und in eingeschränkter Funktion tätig. Ich geriet allmählich ein wenig von der täglichen Auseinandersetzung mit dem "real existierenden Sozialismus" ab, weil sich für mich die Prioritäten verändert hatten. Jetzt ging es in des Wortes wahrster Bedeutung um das nackte Überleben.

Der Amtsantritt Gorbatschows und die nachfolgende Entwicklung ließ neue Hoffnung keimen. Die sich überstürzenden Ereignisse des Jahres 1989, die Fluchtwelle, die Vorgänge in den "Bruderländern" — zunächst in Polen und Ungarn, dann das, was sich im eigenen Land vollzog — veränderten die Situation schlagartig.

Die Zeit war reif!

Gleich nach den Oktoberereignissen war ich wieder "in vorderster Front" zu finden. Teilnahme an vielen Demonstrationen, zunächst bei den in Kirchen stattfindenden Zusammenkünften, und dann auf den Straßen — da war ich dabei! Nach einigen Diskussionsbeiträgen in Kirchen, dann am 12.11.'89 im Chemnitzer Schauspielhaus und erstmalig "massenwirksam" bei der großen Demonstration der Theaterschaffenden am 19.11.'89. Dort habe ich vor vielen Tausenden am "Karl-Marx-Monument", dem "Nischel", wie wir zu sagen pflegen, zur Problematik der politischen Verfolgung in der DDR gesprochen. Meine Rede enthielt scharfe Angriffe auf das verbrecherische SED-Regime und die Praktiken der Staatssicherheit. Dann folgte die Mitarbeit in der Bürgerinitiative (BI) "Änderung der Verfassung der DDR" wie auch in der Bürgerinitiative "Aufarbeitung der Geschichte der DDR". Viele der uns zugegangenen Briefe enthielten Schilderungen von unrechtmäßig erlittener Haft. Das veranlaßte mich in Übereinkunft mit den anderen Mitgliedern der BI, am 14.1.'90 zur Gründung einer Interessengemeinschaft der Opfer des Stalinismus aufzurufen. Dieser Aufruf hatte eine große Resonanz gefunden, der

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Briefkasten quoll vor Zuschriften förmlich über. Aus meiner Einraumwohnung entwickelte sich ein "Wohnbüro". Die daraus resultierende Arbeit war schließlich nicht mehr allein zu bewältigen. So habe ich mich nach Mitstreitern unter den Betroffenen umgesehen.

In kürzester Zeit konstituierte sich ein Bezirksvorstand, dem so bewährte Kameraden wie Walter Gorgas, Volkmar Rahnfeld, Horst Thümmler, Horst Fleischer, Manfred Zucker und andere angehören, der sich zu einem funktionierenden Organ entwickelt hat, der — noch immer ehrenamtlich arbeitend — schon weit über 1500 Betroffene erfaßt hat und betreut, der dabei ist, neben schon bestehenden Kreisverbänden in Reichenbach, Flauen und Freiberg noch weitere aufzubauen.

Zwischenzeitlich fand am 10.2.'90 die Vereinigung mit anderen Gruppen aus Leipzig, Dresden und Halle zum "Bund der stalinistisch Verfolgten" statt, mit der Wahl des Kameraden Jörg Büttner zum amtierenden Bundesvorsitzenden und Sitz in Schkeuditz. Die Bestätigung durch das Ministerium für Innere Angelegenheiten erfolgte ebenso wie die Registrierung als "eingetragene Vereinigung" (e.V.) beim Kreisgericht Leipzig. Wir sind in der Perspektive republikweit tätig. Unsere Ziele sind:

— die Rehabilitierung aller in der DDR politisch Verurteilten und Gemaßregelten,
— eine materielle "Wiedergutmachung" für erlittene Haftzeit, physische und psychische Schäden, gesellschaftliche und berufliche Benachteiligungen,
— die Durchsetzung und Verwirklichung der anerkannten Menschenrechte für alle Bürgerinnen und Bürger,
— durch aktive Beteiligung an der demokratischen Umgestaltung unseres Landes die demokratische Entwicklung unumkehrbar zu machen.

Wir sind als Bund partei- und konfessionsunabhängig. Noch wird unsere Arbeit erschwert durch fehlende materielle Voraus­setzungen. Wir finanzieren uns aus unseren eigenen Mitteln und sind auf die Hilfe befreundeter Organisationen angewiesen. Unser Bezirksverband wird durch die Bereitstellung von Räumen und Bürotechnik uneigennützig durch das Neue Forum unterstützt. Dort führen wir auch wöchentlich Sprechstunden durch und erledigen unseren umfangreichen Schriftverkehr. Trotz dieser schwierigen Bedingungen haben wir schon zum dritten Male mit konstruktiven Änderungs- und Ergänzungsvorschlägen auf die Ausarbeitung eines Rehabilitierungsgesetzes Einfluß genommen (einschließlich sich daran anschließender Nachfolgegesetze), wir haben in öffentlichen Veranstaltungen in Chemnitz, Weimar/Buchenwald, Berlin und Halle unseren unbeugsamen Willen dokumentiert, in diesem Sinne weiterzuarbeiten, bis auch in diesem Teil unseres Vaterlandes eine von Recht und Gesetz bestimmte, demokratische und humanistische Gesellschafts­ordnung für immer das friedliche Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger gewährleistet.

Ich selbst konnte dabei meinen persönlichen Beitrag leisten. Das habe ich auch als Mitglied des "Ausschusses zur Auflösung des MfS" wie als Mitglied des "Runden Tisches" der Stadt Karl-Marx-Stadt getan. Mein "Erlebnis DDR" wird zu einem guten Ende geführt sein, wenn es dieses Gebilde nicht mehr gibt, wenn ganz Deutschland eine einige, liebenswerte Heimstatt für meine Kinder und Enkel geworden ist!

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Chemnitz, Juni 1990  

 

 

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