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14. Ein Blick durchs Schlüsselloch

 

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Ehe wir unsere Reise beenden, sollten wir vielleicht noch einmal zum Prolog zurückschauen, wo ich den plötzlichen Aufstieg des menschlichen Neocortex und sein schnelles Anwachsen besprach, das in der Geschichte der Evolution ohnegleichen ist. 

Wir haben gesehen, daß dieser Prozeß unter anderem zu dem chronischen Konflikt zwischen dem neuen Gehirn, dem Sitz der menschlichen Vernunft, und dem archaischen alten Gehirn führte, das von Instinkten und Emotionen beherrscht wird. Das Ergebnis war eine geistig unausgeglichene Spezies mit einem eingebauten paranoiden Zug, der sich im Verlauf ihrer Geschichte gnadenlos äußerte.

Die Gehirnexplosion im späten Pleistozän hatte allerdings noch andere — weniger dramatische, aber ebenso weitreichende — Folgen, über die wir noch sprechen müssen.

Der springende Punkt liegt darin, daß die Evolution bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns hemmungslos über das Ziel hinausschoß: 

»Es wurde ein Instrument geschaffen, das den Bedürfnissen seines Besitzers weit voraus ist .... Die natürliche Zuchtwahl hätte dem Wilden ein Gehirn schenken können, das dem des Affen ein wenig überlegen ist, während er eines bekam, das dem eines durchschnittlichen Angehörigen unserer gebildeten Gesellschaften nur sehr wenig unterlegen ist.« 311) 

Das wurde von keinem geringeren als Alfred Russell Wallace geschrieben, der zusammen mit Darwin die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese zeugte (wenn der Ausdruck erlaubt ist).312) Darwin begriff die Brisanz dieses Arguments sofort und schrieb Wallace: »Hoffentlich haben Sie Ihrem und meinem Kind nicht endgültig den Garaus gemacht.«313) Er hatte jedoch keine befriedigende Antwort auf die kritische Äußerung seines Kollegen, und seine Jünger kehrten die Kritik einfach unter den Teppich.

Warum war jene Kritik so wichtig? 

Aus zwei Gründen. Der erste ist lediglich von historischem Interesse, denn Wallaces Einwand unterminierte einen Eckpfeiler des darwinistischen Bauwerks. Nach der darwinistischen und neodarwinistischen Theorie muß die Evolution in sehr kleinen Schritten voranschreiten, die dem mutierten Organismus jeweils einen winzigen, auf Auslese beruhenden Vorteil verschaffen — sonst ergibt die ganze Konstruktion keinen Sinn, wie Darwin selbst immer wieder betonte. Die rapide Entwicklung des menschlichen Großhirns, das einige Anthropologen mit einer »tumorartigen Wucherung«314) verglichen haben, ließ sich jedoch beim besten Willen nicht mit dieser Theorie vereinbaren. So erklärt sich Darwins furchtsame Antwort — und die darauf folgende Verschwörung des Schweigens.

Der zweite und viel bedeutsamere Aspekt der Kritik scheint Wallace gar nicht richtig aufgegangen zu sein. Er betonte, das »Instrument« sei »den Bedürfnissen seines Besitzers weit voraus«315) gewesen. Aber die Evolution des menschlichen Gehirns ging nicht nur über die Bedürfnisse des vorgeschichtlichen Menschen hinaus, sondern ist auch das einzige Beispiel dafür, daß die Evolution eine Spezies mit einem Organ ausstattete, das sie nicht zu gebrauchen weiß, mit einem Luxusorgan, für dessen richtige Benutzung der Besitzer Tausende von Jahren trainieren muß, wenn er es überhaupt jemals schafft.

Das archäologische Beweismaterial läßt erkennen, daß der früheste Vertreter des Homo sapiens — der Cro-Magnon-Mensch, der den Schauplatz vor hunderttausend Jahren oder noch eher betrat — bereits ein Gehirn hatte, das in Größe und Form nicht von dem unseren zu unterscheiden ist. Doch er machte, so paradox das klingen mag, fast nie Gebrauch von diesem Luxusorgan. Er blieb ein analphabetischer Höhlenbewohner und fuhr jahrtausendelang fort, Speere, Pfeile und Bogen der gleichen primitiven Art zu fertigen, obgleich das Organ, das den Menschen zum Mond bringen sollte, bereits ausgeformt in seinem Schädel lag. Die Evolution des Gehirns schoß also um einen Zeitfaktor von astronomischer Größe über das Ziel hinaus. Das Paradoxon ist schwer zu fassen. 


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In Das Gespenst in der Maschine habe ich versucht, diese Tatsache mit einem Gleichnis zu veranschaulichen, das von der Science-fiction inspiriert ist. Ich nannte es Die Parabel von der unerbetenen Gabe:

»In einem arabischen Basar lebte einmal ein Ladenbesitzer namens Ali; er konnte nicht sehr gut rechnen und wurde daher von seinen Kunden ständig bemogelt - anstatt daß er sie bemogelte, wie sich das gehört. Also betete er jeden Abend zu Allah, er möge ihm einen Abakus schenken, jenen altehrwürdigen Apparat, mit dem man addiert und subtrahiert, indem man kleine Kugeln an Drahtstäben entlangschiebt. Aber ein boshafter Dschinn leitete sein Gebet an die falsche Dienststelle der himmlischen Postversandabteilung, und als Ali eines Morgens im Basar eintraf, mußte er zu seinem Erstaunen feststellen, daß sein Laden sich in ein vielstöckiges, modernes Bürogebäude verwandelt hatte, in welchem das jüngste Computermodell installiert war: Schalttafeln und Armaturenbretter bedeckten alle Wände, mit Tausenden von fluoreszierenden Oszillatoren, Schaltern, Hebeln, Skalenscheiben und dergleichen; es gab auch ein mehrere hundert Seiten starkes Handbuch mit Bedienungsanweisungen, das Ali, der Analphabet war, natürlich nicht lesen konnte. Nachdem er mehrere Tage lang vergeblich an diesem oder jenem Knopf herumgefummelt hatte, geriet er schließlich in Wut und gab einem der glitzernden, eleganten Armaturenbretter einen Fußtritt. Der Schock setzte eines der Millionen elektronischen Schaltsysteme der Maschine in Aktion, und nach einer Weile entdeckte Ali zu seinem freudigen Erstaunen, daß, wenn er zunächst dreimal und hernach noch fünfmal gegen das Armaturenbrett trat, eine der Skalenscheiben tatsächlich die Zahl 8 anzeigte. Er dankte Allah auf den Knien für den prächtigen Abakus und benutzte die Maschine bis an sein Lebensende, um drei plus zwei oder vier plus fünf zu addieren -ohne zu ahnen, daß der Computer fähig war, Einsteins Gleichungen im Handumdrehen abzuleiten oder die Bahnen von Planeten für Tausende von Jahren vorauszuberechnen.

Alis Kinder und Enkelkinder erbten die Maschine und auch das Geheimnis, wie man immer nach demselben Armaturenbrett tritt; aber es brauchte Hunderte von Generationen, ehe sie endlich darauf kamen, wie man die Maschine wenigstens für einfache Multiplikationsaufgaben benutzen konnte. Wir selbst sind Alis Nach-


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kommen: Zwar haben wir inzwischen noch eine Reihe anderer Verwendungsarten für die Maschine erlernt, aber trotzdem sind wir nur fähig, einen winzigen Bruchteil des Potentials ihrer schätzungsweise hundert Millionen Stromkreise zu benutzen. Denn mit der unerbetenen Gabe ist natürlich das menschliche Gehirn gemeint. Was das Handbuch mit den Bedienungsanweisungen betrifft, so ging es verloren - falls es überhaupt jemals existierte. Piaton behauptet zwar, es habe einmal existiert, aber das ist offenbar nur ein Gerücht.«316)

*

Wenn Biologen von der »geistigen Evolution« sprechen, die die biologische Evolution beim Menschen — im Gegensatz zum Tier — überlagert habe, ignorieren sie gewöhnlich den Kern des Problems. Das Lernpotential der Tiere wird nämlich zwangsläufig dadurch begrenzt, daß sie im Gegensatz zum Menschen vollen — oder beinahe vollen — Gebrauch von den Organen machen, die sie mitbekommen haben, einschließlich des Gehirns. Die Kapazität des Computers im Schädel eines Reptils oder niederen Säugetiers wird beinahe hundertprozentig ausgenutzt, läßt also keinen Raum für kumulatives Lernen und »geistige Evolution«. Nur beim Homo sapiens hat die Evolution die Bedürfnisse der Spezies um eine Zeitspanne von solchem Ausmaß vorweggenommen, daß wir jetzt gerade erst beginnen, einige der bisher ungenutzten, unerforschten Möglichkeiten der schätzungsweise zehntausend Millionen Neuronen und ihrer praktisch unerschöpflichen synaptischen Querverbindungen zu nutzen. So gesehen, ist die Geschichte der Wissenschaft, Philosophie und Kunst der langsame Prozeß, bei dem der Geist durch Erfahrung lernt, das Potential des Gehirns zu aktivieren. Die neuen Territorien, die auf ihre Eroberung warten, liegen in den Windungen der Großhirnrinde.

Die Gründe, weshalb dieser Prozeß, den Gebrauch unseres Gehirns zu lernen, so langsam, sprunghaft und so voller Rückschläge war, lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Das alte Gehirn kam dem neuen in die Quere oder bremste es. Die einzigen Zeiträume der europäischen Geschichte, in denen das Wissen wirklich kumulativ anwuchs, waren die drei großen Jahrhunderte Griechenlands vor der mazedonischen Eroberung und die vier Jahrhunderte von der Renaissance zur Gegenwart. 


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Das Organ, mit dem dieses Wissen erzeugt wurde, befand sich auch während des zweitausendjährigen Winter­schlafs zwischen jenen beiden Perioden im Schädel der Menschen, durfte aber vorübergehend kein neues Wissen mehr erzeugen. In den meisten Abschnitten der belegten Geschichte des Menschen und in den weit längeren Abschnitten der Vorgeschichte durften die wunderbaren Fähigkeiten der »unerbetenen Gabe« nur in den Dienst von archaischen, auf Emotionen basierenden, mit Tabus gesättigten Glaubenssätzen und Überzeugungen treten: in den durch Magie inspirierten Höhlenmalereien der Dordogne; bei der Übersetzung der archetypischen Vorstellungswelt in die Sprache der Mythologie; in der religiösen Kunst Asiens und des christlichen Mittelalters. Die Vernunft hatte die Aufgabe, ancilla fidei, Dienerin des Glaubens, zu sein - ob es sich nun um den Glauben von Zauberern und Medizinmännern, Theologen, Scholastikern, dialektischen Materialisten, von Anhängern Mao Tse-tungs oder König Mbo-Mbas handelte. Schuld daran sind nicht die Sterne, sondern das Pferd und das Krokodil, die wir in unserem Schädel mit uns herumtragen.

 

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Die historischen Auswirkungen der gespaltenen Persönlichkeit des Menschen sind in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich besprochen worden, und ich komme nur deshalb noch einmal auf das Thema zurück, weil ich eine ganz andere Konsequenz dieses Zustandes aufzeigen möchte, eine Konsequenz, die grundlegende philosophische Probleme aufwirft. Um noch einen Moment bei unserem Gleichnis zu verweilen: Alis Nachkommen waren von den offenbar unerschöpflichen Möglichkeiten des Computers (in den glücklichen Perioden, in denen er sie ungehindert entfalten durfte), so beeindruckt und begeistert, daß sie der verständlichen Täuschung erlagen, das Gerät sei potentiell allwissend. Diese Täuschung beruhte darauf, daß die Evolution über das Ziel hinaus geschossen war. 

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Anders ausgedrückt: Verglichen mit dem Gehirn anderer Lebewesen und in Relation zu den primären Bedürfnissen seiner Besitzer waren die Lern- und Denkfähigkeiten des Gehirns so gewaltig, daß der Mensch die Überzeugung gewann, seine ungenutzten Möglichkeiten seien unerschöpflich und seine Vernunft sei unbegrenzt. Es bestand in der Tat kein Grund zu der Annahme, es könne Probleme geben, für die der Computer keine Antwort hätte, weil er nicht darauf »programmiert« sei, sie zu lösen. Diese Einstellung läßt sich als »rationalistische Illusion« bezeichnen — als der Glaube, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die letzten Rätsel des Universums dank der unbegrenzten Fähigkeiten des Gehirns gelöst werden würden.

Dieser Illusion erlagen die meisten Nachkommen Alis, auch die klügsten von ihnen. Aristoteles meinte, alles Entdeckenswerte am Universum sei bereits entdeckt worden, und es gebe keine ungeklärten Probleme mehr.317) Descartes war von der erfolgreichen Anwendung mathematischer Methoden in der Naturwissenschaft so hingerissen, daß er glaubte, er könne das gesamte Bauwerk der neuen Physik ganz allein fertigstellen. Seine vorsichtigeren Zeitgenossen unter den Pionieren der wissenschaftlichen Revolution meinten, es könne womöglich noch zwei Generationen dauern, bis man der Natur ihr letztes Geheimnis entrissen habe. »In Wirklichkeit gibt es in den Wissenschaften und Künsten nur eine Handvoll verschiedener Phänomene«, schrieb Sir Francis Bacon. »Also dürfte die Entdeckung aller Ursachen und alles Wissenswerten nur noch eine Arbeit von wenigen Jahren sein.«318) 

Zwei Jahrhunderte später, 1899, veröffentlichte der angesehene deutsche Biologe und Darwin-Apostel Ernst Haeckel sein Buch Die Welträtsel, das die Bibel meiner jungen Jahre wurde. Der Verfasser zählte darin sieben große Rätsel auf, von denen sechs »definitiv gelöst« seien. Das siebte, die subjektive Erfahrung des freien Willens, sei aber nur eine Illusion ohne realen Hintergrund, so daß es gar keine ungelösten Rätsel mehr gebe — was beruhigend zu wissen war. Sir Julian Huxley teilte wahrscheinlich diese Ansicht, als er schrieb: »Auf dem Gebiet der Evolution hat die Genetik die grundlegenden Fragen beantwortet, und die Evolutionsbiologen können sich nun anderen Problemen zuwenden.«319)


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Die Philosophie des Reduktionismus war ein direkter Nachfahre der rationalistischen Illusion. »Also dürfte die Entdeckung aller Ursachen und alles Wissenswerten nur eine Sache von wenigen Jahren sein« — man ersetze »Jahre« durch »Jahrhunderte« und hat die Essenz des reduktionistischen Credos, nach dem das potentiell allwissende Gehirn des Menschen die Rätsel des Universums letzten Endes erklären wird, indem er sie auf »nichts als« die Wechselwirkung von Elektronen, Protonen und Quarks reduziert. Geblendet von den Wohltaten der »unerbetenen Gabe« kam es den Beschenkten nicht in den Sinn, daß die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zwar in mancher Beziehung immens, doch in anderer Hinsicht — nämlich dort, wo es um den »letzten Sinn« ging — außerordentlich begrenzt waren. 

Mit anderen Worten: Die Evolution schoß, allgemein gesehen, über ihr »Ziel« hinaus, aber was die letzten, existentiellen Fragen betrifft, erreichte sie das Ziel dennoch nicht, weil sie nicht darauf »programmiert« war. Zu diesen letzten Fragen gehören etwa die Paradoxa der Unendlichkeit und Ewigkeit (»Wenn das Universum mit einem großen Knall begann, was war dann vor dem großen Knall?«); die von der Relativität postulierte Krümmung des Raums; der Begriff der parallelen und sich gegenseitig durchdringenden Universen; die Phänomene der Parapsychologie und der akausalen Prozesse; und schließlich all die Fragen, die mit dem letzten Sinn (des Universums, des Lebens, des Guten und Bösen usw.) zusammenhängen. Zitieren wir zum letztenmal einen angesehenen Physiker, nämlich Professor Henry Margenau von der Yale-Universität:

»Ein Kunstgriff, der gelegentlich angewandt wird, um Präkognition zu erklären, besteht in der Annahme einer mehrdimensionalen Zeit. Diese gestattet ein echtes Rückwärtslaufen der Zeit, so daß ein zeitlicher Abstand in der einen Dimension positiv, in einer anderen negativ (<Wirkung vor ihrer Ursache>) werden kann. Im Prinzip stellt diese Methode ein zulässiges Denkmodell dar, und ich kenne keine Kritik, die sie als wissenschaftliche Modellvorstellung disqualifizieren könnte. Wenn sie anerkannt werden soll, muß jedoch eine vollkommen neuartige Metrik von Raum und Zeit entwickelt werden.«320)


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Für eine solche neue Metrik sind wir indessen nicht »programmiert«; wir sind nicht imstande, uns andere räumliche Dimensionen als Länge, Breite und Höhe vorzustellen, und das gleiche gilt für ein Rückwärtsfließen der Zeit von morgen nach gestern und andere Phänomene — nicht etwa, weil diese Phänomene unmöglich sind, sondern weil das Gehirn und Nervensystem des Menschen nicht für sie programmiert wurden.

Bei unseren Sinnesorganen liegen die Grenzen unseres Programms — unseres angeborenen Rüstzeugs — noch deutlicher auf der Hand. Das menschliche Auge kann nur einen sehr kleinen Bruchteil des Spektrums elektromagnetischer Strahlen wahrnehmen; unser Ohr erfaßt eine kleinere Skala von Tonfrequenzen als das Ohr des Hundes; unser Geruchssinn ist unzulänglich, und was die Fähigkeit der räumlichen Orientierung betrifft, so sind uns die Zugvögel weit überlegen.

Bis zum 13. Jahrhundert wußte der Mensch nicht, daß er von magnetischen Kräften umgeben ist; er vermag diese Kräfte nicht sensorisch wahrzunehmen, ebensowenig die Schwärme von Neutrinos, die seinen Körper zu Millionen durchqueren, und andere unbekannte Kraftfelder und Einflüsse, die in ihm und um ihn tätig sind. Wenn der sensorische Apparat unserer Spezies darauf programmiert ist, nur einen unendlich kleinen Bruchteil der kosmischen Erscheinungen aufzunehmen, warum räumen wir dann nicht ein, daß sein kognitiver Apparat vielleicht ähnlich weitgehenden Programmbeschränkungen unterworfen ist, das heißt, daß er die Antworten auf die letzten Fragen nach dem »Sinn hinter dem Ganzen« einfach nicht finden kann? Ein solches Eingeständnis würde den Geist des Menschen nicht abwerten, und es würde den Menschen auch nicht entmutigen, seinen Geist auszuschöpfen, denn die Kreativen unter uns werden ohnehin immer wieder versuchen, eben dies zu tun — »als ob« die Antworten hinter der nächsten Ecke lägen.

Das Eingeständnis der Grenzen unserer Vernunft führt automatisch zu einer toleranteren und aufgeschlosseneren Einstellung zu allen Phänomenen, die der Vernunft zu trotzen scheinen — wie der Quantenphysik, der Parapsychologie und der akausalen Ereignisse. Diese neue Einstellung würde auch das Ende der primitiven reduktionistischen Maxime bedeuten, alles, was sich nicht erklären lasse, könne auch nicht existieren. 


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Eine Spezies von Menschen ohne Augen — wie die Bürger von H. G. Wells' Land der Blinden — würde unsere Behauptung, wir könnten ferne Objekte ohne Berührungskontakt wahrnehmen, als okkulten Unsinn verwerfen. Und ein chinesisches Sprichwort sagt, daß es sinnlos ist, sich mit einem Frosch, der auf dem Grund eines Brunnens lebt, über das Meer zu unterhalten.

Wir haben gehört, wie ein ganzer Chor von Nobelpreisträgern versicherte, Materie sei nur verkleidete Energie, die Kausalität sei tot, und der Determinismus habe seinen Geist ebenfalls ausgehaucht. Wenn das stimmt, sollte man den Leichen in den Olivenhainen der Akademeia ein öffentliches Begräbnis zuteil werden lassen, begleitet von einem Requiem elektronischer Musik. Es wird wirklich Zeit, die Zwangsjacke des Materialismus á la 19. Jahrhundert, des Reduktionismus und der rationalistischen Illusion abzulegen, in die unser philosophisches Weltbild gesteckt worden ist. Wenn dieses Weltbild mit den revolutionären Botschaften der Vakuumkammern und Radioteleskope Schritt gehalten hätte, statt ein Jahrhundert hinterherzuhinken, wären wir schon vor langer Zeit von jener Zwangsjacke befreit worden.

Sobald wir diese einfache Tatsache begreifen, werden wir vielleicht aufnahmefähiger für die bizarren Phänomene in und um uns, die wir wegen der einseitigen Betonung des mechanistischen Determinismus ignoriert haben. Dann spüren wir vielleicht die Zugluft, die durch die Ritzen des Kausalgebäudes dringt, dann berücksichtigen wir in unseren revidierten Vorstellungen von der Normalität vielleicht die paranormalen Phänomene, und dann sehen wir vielleicht ein, daß wir im Land der Blinden oder auf dem Grund eines Brunnens gelebt haben.

Die Folgen einer solchen Bewußtseinsverlagerung sind nicht vorauszusehen. Professor H. H. Price hat zum Beispiel gesagt, daß die »Parapsychologie das bedeutendste Forschungsgebiet ist, das der menschliche Geist jemals in Angriff genommen hat«, und daß sie »die gesamte intellektuelle Weltanschauung, auf der unsere gegenwärtige Zivilisation beruht, verändern könnte«.321) Das sind große Worte aus dem Mund eines Oxford-Professors der Logik, aber ich glaube nicht, daß Price übertreibt.


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Möglicherweise sind wir hinsichtlich unserer sensitiven Fähigkeiten eine unterprivilegierte Spezies (von unseren anderen Handikaps einmal ganz abgesehen). Der große Plan der evolutionären Strategie schließt die Existenz biologischer Mißgeburten wie des Koalabären und selbstzerstörerischer Arten wie das paranoiden Menschen nicht aus. Wir müssen in diesem Fall so leben, »als ob« das nicht zuträfe, und uns bemühen, das Beste daraus zu machen — so, wie wir auch versuchen, trotz des individuellen Todesurteils, das über uns verhängt ist, das Beste aus unserem Leben zu machen.

Die Grenzen von Alis Computer mögen uns zu der Rolle von Voyeuren am Schlüsselloch der Ewigkeit verdammen. Aber wir können wenigstens versuchen, den Stopfen aus dem Schlüsselloch zu entfernen, der unser begrenztes Gesichtsfeld noch weiter verkleinert.

 

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Im Prolog dieses Buches habe ich die Tatsache unterstrichen, daß unsere jetzige Lage in der Geschichte einmalig ist. Noch einmal: In allen früheren Generationen mußte der Mensch mit der Aussicht auf seinen Tod als Individuum fertig werden; die jetzige Generation ist die erste, die mit der Aussicht auf den Tod unserer ganzen Spezies konfrontiert wird. Der Homo sapiens betrat den Schauplatz vor rund hunderttausend Jahren, was angesichts des evolutionären Zifferblatts nur soviel wie ein Augenzwinkern ist. Wenn er jetzt verschwinden müßte, wären sein Aufstieg und Fall nur eine kurze Episode gewesen, von den anderen Bewohnern unserer Galaxie weder besungen noch beklagt. Wir wissen ja inzwischen, daß es auf anderen Planeten in der Weite des Raums eine Vielfalt von Lebewesen gibt — und unser kurzer Auftritt hätte wahrscheinlich nie ihre Aufmerksamkeit erregt.

Noch vor wenigen Jahrzehnten nahm man allgemein an, die Entwicklung von Leben aus unbelebten chemischen Zusammensetzungen müsse ein außerordentlich unwahrscheinlicher und deshalb außerordentlich seltener Vorgang gewesen sein, der nur einmal, und zwar auf unserem privilegierten Planeten und sonst nirgendwo stattgefunden haben könne. 


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Man glaubte ferner, die Entstehung von Sonnensystemen wie dem unseren sei ebenfalls ein seltener Vorgang, und Planeten, auf denen Leben möglich sei, müßten noch seltener sein. Doch diese Annahmen, die einen starken Beigeschmack von »Erdchauvinismus« hatten, wurden durch die schnellen Fortschritte der Astrophysik widerlegt. Heute stimmen die meisten Astronomen darin überein, daß die Entstehung von Planetensystemen mit bewohnbaren Planeten »ein alltägliches Ereignis«322) ist und daß es sowohl in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, auf dem Mars, als auch in den interstellaren Staubwolken ferner Nebel organische Zusammensetzungen gibt, aus denen sich Leben entwickeln könnte. Außerdem hat man festgestellt, daß eine bestimmte Kategorie von Meteoriten organische Substanzen mit den gleichen Spektren enthält wie pollenähnliche Sporen aus Ablagerungen des Präkambriums.323) 

Sir Fred Hoyle und sein indischer Kollege Professor Chandra Wickranashinghe stellten 1977 eine Theorie auf, nach der »prästellare Molekülwolken, wie sie der Orionnebel enthält, die <natürlichsten> Wiegen des Lebens« sind. Die Wissenschaftler fahren fort: »Prozesse, die in solchen Wolken ablaufen, führen zum Beginn und zur Ausbreitung von biologischer Aktivität in der Galaxie...... Höchstwahrscheinlich findet die Umwandlung von anorganischer Materie in primitive biologische Systeme mehr oder weniger kontinuierlich im Raum zwischen den Sternen statt.«324)

Was die pollenähnlichen Strukturen in den Meteoriten betrifft, so hielten die Autoren es für möglich, daß sie »primitive, interstellare <Protozellen> in einem Zustand des Scheintodes darstellen«325). Gegenwärtig »treten jeden Tag einige hundert Tonnen von Meteoritenmaterial in die Erdatmosphäre ein; in früheren geologischen Epochen kann die Eintrittsmenge aber viel größer gewesen sein.« Ein Teil dieses Materials entstand womöglich in den »Wiegen des Lebens«, den Molekülwolken, die der Entstehung der Sterne vorausgingen.

Die Lehren des »irdischen Chauvinismus« sind also wie so viele andere hochgeschätzte Doktrinen der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts unhaltbar geworden. Wir sind nicht allein im Universum — nicht die einzigen Zuschauer im Welttheater, nicht von leeren Sitzen umgeben. Im Gegenteil, das Universum ringsum strotzt


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vor Leben, von urtümlichen »Protozellen«, die im interstellaren Raum fließen, bis zu Millionen fortgeschrittener Zivilisationen, die uns weit voraus sind, wobei »weit« die Entfernung bezeichnen könnte, die uns von unserem Reptil- oder Amöbenahn trennt. Ich finde das tröstlich und erheiternd. Zunächst einmal ist es angenehm zu wissen, daß wir dort draußen auf den Sternen Gesellschaft haben, so daß es kein allzu großes Unglück ist, wenn wir verschwinden — das kosmische Drama wird dann nicht vor leerem Haus weitergespielt werden. Der Gedanke, daß wir in dieser Unendlichkeit die einzigen Wesen mit Bewußtsein sind und daß, wenn wir verschwänden, das Bewußtsein aus ihr verschwinden würde, ist dagegen unerträglich. Umgekehrt könnte das Wissen, daß es in unserer und in anderen Galaxien Milliarden von Lebewesen gibt, die unvergleichlich weiter sind als unsere arme kranke Spezies, zu jener Demut und Selbsttranszendenz führen, die die Quelle jeder religiösen Erfahrung ist.

Das bringt mich zu einer vielleicht naiven, meiner Ansicht nach aber sehr plausiblen Überlegung, bei der es um die Art der außerirdischen Intelligenzen und Zivilisationen geht. Die irdische Zivilisation (die mit den Anfängen der Landwirtschaft, der Schriftsprache usw. begann) ist, großzügig geschätzt, etwa 10.000 Jahre alt. Vermutungen über die Art außerirdischer Zivilisationen, die einige Millionen Jahre älter sind als unsere, wären natürlich a priori vollkommen unrealistisch. Man kann jedoch mit einiger Berechtigung annehmen, daß jede dieser Zivilisationen früher oder später — sagen wir einmal, in den ersten 10.000 Jahren ihrer Existenz — thermonukleare Reaktionen entdeckt, das heißt, das Jahr Null ihres neuen Kalenders erreicht hat. 

An diesem Punkt kommt die natürliche Selektion — oder der »selektive Unkrautver-tilger«, wie ich mich ausgedrückt habe — auf kosmischer Ebene an die Macht. Die kranken Zivilisationen, die von biologischen Irrläufern gezeugt wurden, werden früher oder später zu ihren eigenen Scharfrichtern werden und von ihren verseuchten Planeten verschwinden. Die Zivilisationen, die diesen und andere Tests der geistigen Gesundheit überleben, werden sich zu einer kosmischen Elite von Halbgöttern entwickeln oder haben es bereits getan. 


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Es ist, nüchterner gesagt, ein beruhigender Gedanke, daß dank der Tätigkeit des kosmischen Unkraut­vertilgers nur die »Guten« unter diesen Zivilisationen überleben werden, während sich die »Bösen« selbst vernichten werden. Es ist angenehm zu wissen, daß der Kosmos ein Platz für die Guten ist und daß wir von ihnen umgeben sind. Die etablierten Religionen denken nicht nachsichtig über die kosmische Verwaltung.326)

 

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Ich möchte dieses Buch mit so etwas wie einem Credo beschließen, dessen Ursprung etwa vierzig Jahre zurückliegt. Während des Spanischen Bürgerkrieges saß ich 1937 einige Monate als angeblicher Spion im Gefängnis der Franco-Leute in Sevilla, und mir drohte die Todesstrafe. Damals hatte ich, in der Einzelhaft, Erlebnisse und Empfindungen, die mir dem »ozeanischen Gefühl« der Mystiker zu gleichen schienen und die ich später in einem autobiographischen Bericht zu schildern versuchte. Ich nannte jene Erlebnisse »Die Stunden am Fenster«

Der nun folgende, recht zwanglos formulierte Auszug ließe sich als »Credo eines Agnostikers« bezeichnen:

»Die <Stunden am Fenster>, die mit der rationalen Erkenntnis der Möglichkeiten endlicher Aussagen über das Unendliche begonnen hatten — und die tatsächlich eine Reihe solcher Aussagen auf einer nicht rationalen Ebene darstellten — hatten mich mit der unmittelbaren Gewißheit erfüllt, daß es eine höhere Ordnung der Realität gibt und daß diese höhere Ordnung allein dem Sein seinen Sinn verleiht. Später nannte ich das <die Realität der dritten Ordnung>. 

Die enge Welt der Sinneswahrnehmungen bildete die erste Ordnung; diese Welt war von einer begrifflichen umgeben, welche die nicht direkt wahrnehmbaren Phänomene umfaßte, wie Schwerkraft, elektromagnetische Felder und den gekrümmten Raum. Diese zweite Ordnung der Realität füllte die Lücken der ersten aus und gab der fragmentarischen Welt der Sinne erst ihre Bedeutung.

Auf analoge Art hüllte die dritte Ordnung der Realität die zweite ein, durchdrang sie und verlieh ihr Sinn. Sie enthielt okkulte Phänomene, die man weder auf der sinnlichen noch auf der begrifflichen Ebene verstehen oder erklären konnte — Meteore, die den gewölbten Himmel der Primitiven durchkreuzen.

So wie die begriffliche Ordnung die Illusionen und Entstellungen der Sinne bloßlegte, so zeigte die <dritte Ordnung>, daß Zeit, Raum und Kausalität, die scheinbare Isolierung, Abgeschlossenheit und raum-zeitliche Begrenzungen des Ichs von der nächst höheren Schicht her gesehen nur optische Täuschungen waren. Wenn man die Illusionen der ersten Art als wahr unterstellte, dann ertrank die Sonne jede Nacht im Meer, und ein Splitter im Auge war größer als der Mond; und betrachtete man die begriffliche Welt fälschlicherweise als die letzte Realität, wurde die Welt zu einer ebenso absurden, von einem Idioten oder von idiotischen Elektronen erzählten Geschichte, in der kleine Kinder von Autos überfahren und kleine andalusische Bauern durch Herz, Mund oder Augen geschossen wurden, Geschichten ohne Sinn und Verstand. 

Aber wie man die Anziehungskraft eines Magneten nicht mit der Haut spüren konnte, so konnte man auch nicht hoffen, in begrifflicher Form die Natur der letzten Realität zu erfassen. Es war ein mit Geheimtinte geschriebener Text, und obwohl man ihn nicht lesen konnte, war das Wissen um die Existenz eines solchen Textes hinreichend, um die Daseinsform eines Menschen zu ändern und ihm den Willen beizubringen, seine Handlungen dem neuen Text anzupassen.

Es machte mir Spaß, diese Parabel weiter auszuspinnen. Der Kapitän eines Schiffes begibt sich auf die Fahrt mit einer versiegelten Order in der Tasche, die er erst auf hoher See öffnen darf. Er wartet ungeduldig auf diesen Augenblick, der aller Ungewißheit ein Ende machen wird; als es aber soweit ist und er den Umschlag aufreißt, findet er nur die unsichtbare Geheimschrift, die allen Versuchen einer chemischen Behandlung widersteht. Hie und da wird ein Wort sichtbar, oder eine Zahl, die einen Meridian bezeichnet; dann verschwindet alles wieder. Er wird den genauen Wortlaut des Befehls nie erfahren, auch nicht, ob er ihn ausgeführt hat oder bei seiner Aufgabe versagte. Aber sein Wissen um den Befehl in seiner Tasche, auch wenn er nicht entziffert werden kann, läßt ihn anders denken und handeln, als der Kapitän eines Vergnügungsdampfers oder eines Piratenschiffs handelt.

Ich glaube auch zu wissen, daß Gründer von Religionen, Propheten, Heilige und Seher in manchen Augenblicken fähig waren, Fragmente des Geheimtextes zu lesen. Später hatten sie ihn dann redigiert, dramatisiert und ausgeschmückt, bis sie selbst nicht mehr sagen konnten, welche seiner Teile authentisch waren.«327

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E n d e 

 

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