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Die Gefahr, die der Menschheit auf ihrem Weg in die Zukunft droht, bezieht sich weniger auf das Leben unserer eigenen Art als vielmehr auf die Erfüllung der höchsten Ironie der organischen Evolution:
daß Leben in dem Augenblick, da es durch den Geist des Menschen zur Selbsterkenntnis gelangt, seine schönsten Schöpfungen dem Untergang geweiht hat.
 --Edward O. Wilson, Der Wert der Vielfalt, München 1995 [1992], S. 420

Jahrhunderte um Jahrhunderte, und doch geschieht alles in der Gegenwart. --Jorge Luis Borges, »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen« [1941],
in:
Sämtliche Erzählungen. Das Aleph, Fiktionen, Universalgeschichte der Niedertracht, München 1970, S. 200


Prolog

9-11

Anfänge neigen dazu, im Dunkeln zu liegen, heißt es. So ist es auch bei dieser Geschichte, die mit dem Auftauchen einer neuen Spezies vor etwa zweihunderttausend Jahren beginnt. Diese Art hat - wie alles - noch keinen Namen, besitzt aber die Fähigkeit, Dinge zu benennen.

Ihre Lage ist wie bei jeder jungen Spezies prekär. Die Population ist klein, und ihr Lebensraum beschränkt sich auf ein überschaubares Gebiet in Ostafrika. Allmählich nimmt sie zu, schrumpft aber dann wahrscheinlich wieder auf wenige tausend Paare zusammen - was nach Ansicht mancher beinahe zu ihrem Aussterben geführt hätte.

Die Mitglieder dieser Spezies sind weder sonderlich schnell oder stark noch besonders fruchtbar. Aber sie sind ausgesprochen findig. Nach und nach dringen sie in Regionen mit unterschiedlichen klimatischen Bedingungen und verschiedenen Raub- und Beutetieren vor. Keiner der Faktoren, die andere Arten in ihrer Ausbreitung einschränken - spezifische Anforderungen an ihren Lebensraum, geografische Hindernisse -, scheint sie aufzuhalten. Sie überqueren Flüsse, Hochebenen, Gebirgszüge. In Küstenregionen sammeln sie Krebse und Muscheln, im Binnenland jagen sie Säugetiere. Überall, wo sie sich niederlassen, passen sie sich an und bringen Innovationen hervor.

Als sie nach Europa kommen, treffen sie dort auf Lebewesen, die ihnen sehr ähnlich, aber gedrungener und wahrscheinlich kräftiger sind und schon wesentlich länger auf diesem Kontinent leben. Mit ihnen paaren sie sich und töten sie dann auf die eine oder andere Weise.

Das Ende dieser Affäre wird sich als exemplarisch erweisen. Bei der Ausweitung ihres Verbreitungsgebiets trifft diese Spezies auf Tiere, die zwei-, zehn- und sogar zwanzigmal größer sind: Großkatzen, Bären, elefantengroße Schildkröten, viereinhalb Meter große Faultiere. Diese Arten sind zwar stärker und häufig auch angriffslustiger, pflanzen sich aber langsamer fort und sterben aus.

Obwohl unsere Spezies zu den Landtieren gehört, überquert sie - erfinderisch, wie sie ist - das Meer. Sie erreicht Inseln, die von Ausreißern der Evolution bewohnt sind: Vögel, die gut dreißig Zentimeter große Eier legen, schweinsgroße Flusspferde, Riesenskinks. Diese an Isolation gewöhnten Tiere sind schlecht gerüstet für die Begegnung mit den Neuankömmlingen und ihren Begleitern (meist Ratten). Viele von ihnen sterben ebenfalls aus.

Dieser Prozess setzt sich in Wellen über Tausende Jahre fort, bis die nun nicht mehr ganz so junge Spezies sich praktisch auf der ganzen Erde ausgebreitet hat. An diesem Punkt passieren mehr oder weniger gleichzeitig mehrere Dinge, die dem Homo sapiens, wie er sich mittlerweile nennt, eine beispiellos schnelle Vermehrung ermöglichen. Innerhalb eines einzigen Jahrhunderts verdoppelt sich seine Population, dann verdoppelt sie sich ein zweites und ein drittes Mal. Riesige Wälder werden gerodet - eine gezielte Maßnahme der Menschen, um sich zu ernähren. Weniger gezielt schaffen sie Organismen von einem Kontinent auf den anderen und bringen damit die Biosphäre durcheinander.

Zugleich setzen die Menschen einen noch merkwürdigeren, radikaleren Wandel in Gang. Die Entdeckung und Nutzung unterirdischer Energiereserven wirkt sich auf die Zusammensetzung der Atmosphäre aus, was wiederum Folgen für das Klima und die chemischen Eigenschaften der Meere hat. Manche Pflanzen und Tiere passen sich durch Migration an. Sie klettern Berge hinauf oder wandern in Richtung der Pole. Aber die große Mehrheit - zunächst einige Hunderte, dann Tausende und schließlich vielleicht Millionen - bleibt auf der Strecke. Immer mehr Arten sterben aus, und das Gefüge des Lebens verändert sich.

Noch nie zuvor hat eine Spezies so stark in das Leben auf der Erde eingegriffen, und doch haben bereits vergleichbare Ereignisse stattgefunden. Ganz vereinzelt erlebte die Erde in ferner Vergangenheit Momente eines so drastischen Wandels, dass die Artenvielfalt beträchtlich abnahm. Fünf dieser Ereignisse bilden wegen ihrer katastrophalen Auswirkungen eine eigene Kategorie: die fünf Massenextinktionen. Es wirkt wie ein fantastischer Zufall - ist aber vermutlich keineswegs ein zufälliges Zusammentreffen -, dass man die Geschichte dieser Ereignisse ausgerechnet zu einem Zeitpunkt enträtselt, an dem der Menschheit bewusst wird, dass sie ein weiteres Massen­aussterben verursacht.

Obwohl es noch zu früh ist, um sagen zu können, ob es die Ausmaße der fünf großen Artensterben erreichen wird, bezeichnet man es bereits als das sechste Massenaussterbeereignis.

Die Geschichte des sechsten großen Artensterbens, so wie ich sie erzähle, gliedert sich in dreizehn Kapitel. Jedes verfolgt die Spuren von Spezies, deren Schicksal in gewisser Weise exemplarisch ist: des Amerikanischen Mastodons, des Riesenalks oder der Ammoniten, die ebenso wie die Dinosaurier am Ende der Kreidezeit verschwanden. Die in den ersten Kapiteln behandelten Lebewesen sind bereits ausgestorben. Dieser Teil des Buches befasst sich überwiegend mit den großen Artensterben der Vergangenheit und der verzwickten Geschichte ihrer Entdeckung, angefangen bei den Arbeiten des französischen Naturforschers Georges Cuvier.   

Der zweite Teil des Buches ist weitgehend in der Gegenwart angesiedelt, im zunehmend fragmentierten Regenwald des Amazonasbeckens, an den sich immer schneller erwärmenden Hängen der Anden, an den Ausläufern des Great Barrier Reef. Diese Orte habe ich aus den üblichen journalistischen Gründen bereist - weil es dort eine Forschungsstation gibt oder jemand mir angeboten hat, eine Expedition zu begleiten. Aber der Wandel, der sich gegenwärtig vollzieht, hat mittlerweile solche Ausmaße angenommen, dass ich eigentlich überallhin hätte fahren können und mit der entsprechenden Anleitung Anzeichen dafür gefunden hätte.

Ein Kapitel widmet sich einer Tragödie, die sich mehr oder weniger in meinem eigenen Garten vollzieht.

Wenn schon das Aussterben einer Art ein morbides Thema ist, gilt das für das Massenaussterben erst recht. Aber es ist auch ein faszinierendes Thema. In diesem Buch versuche ich, beiden Seiten gerecht zu werden: sowohl dem Faszinierenden als auch dem Erschreckenden der gegenwärtigen Erkenntnisse. Und ich hoffe, ich kann den Lesern vermitteln, dass wir in einer wahrhaft außerordentlichen Zeit leben.

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  wikipedia  Georges_Cuvier  1769-1832

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