9. Mein Leben beim Militär
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Mehr und mehr verlor ich den Kontakt mit Nikolai Powalejew, Boris und Mikhail Kirilin, die ihre Drogengeschäfte in der Unterwelt fortsetzten. Gelegentlich sah ich sie an den Wochenenden, wenn ich nach Nowosibirsk fuhr. Meine Studien und Pflichten als Führer der kommunistischen Jugendliga nahmen mich immer mehr in Anspruch. Ich verlangte viel von den Mitgliedern, um alle Projekte und Ziele erreichen zu können.
Allmählich kam ich in den Ruf, daß alle Arbeit, die ich mit meiner Gruppe zu erledigen hatte, immer aufs beste ausgeführt wurde, und ich war entschlossen, daß unsere Jugendorganisation die beste im ganzen Distrikt sein sollte. Damit hatte ich mir ein hohes Ziel gesteckt, denn unser Distrikt umfaßte Nowosibirsk und das riesige umliegende Gebiet. Doch für meine Karriere war es wichtig, daß meine Gruppe als beste abschnitt.
Die Monate vergingen schnell. Meine Studien brachten mir Lob und Anerkennung ein. Meine kommunistische Jugendgruppe stand an der Spitze des gesamten Distrikts. Im Juni 1967 verließ ich als Klassenbester die Schule. Den drei besten Schülern der Schule wurden Medaillen überreicht. Ein Mädchen gewann die Goldmedaille, und ich erhielt eine der Silbermedaillen.
Dann kam der große Tag, an dem alle kommunistischen Jugendgruppen im Distrikt Nowosibirsk bewertet wurden. Hohe kommunistische Offiziere waren extra angereist, und ich saß nervös zwischen meiner Liga und wartete auf die Durchsage der Gewinner.
"Die beste kommunistische Jugendliga von Nowosibirsk ist die Gruppe aus ..." Der Sprecher machte eine kleine Pause, und ich wartete atemlos. "... Barysewo!"
Ich konnte es noch nicht glauben. Ich hatte gewonnen! Alle Augen wanderten in meine Richtung, und während ich mir meinen Weg zum Podium bahnte, um die Ehrung als Führer der Jugendliga von Barysewo entgegenzunehmen, schlugen mir viele anerkennend auf den Rücken. Es war ein großer Tag für mich. Ich bekam lauten und anhaltenden Applaus. Hohe kommunistische Parteigenossen aus unserem Distrikt drückten mir die Hand und gratulierten mir. Als ich die schriftliche Urkunde überreicht bekam, sagte der Sprecher: "Dieser Junge wird es einmal weit bringen."
Und das war mein Ziel im Leben — voranzukommen und es weit zu bringen. Während ich den Applaus und die Glückwünsche über mich ergehen ließ, wußte ich: Dies ist mein Leben. Ich wußte, worauf es ankam. All die Jahre in Barysewo und V-I, ja selbst damals in Nummer eins hatten mich die harte Behandlung und das auf mich selbst Angewiesen-Sein robust und hart gemacht. Diese Lektionen hatten mir einen Vorteil verschafft gegenüber all denen, die umhegt und beschützt aufgewachsen waren, die Mutter und Vater gehabt hatten, die sich um sie kümmerten.* Im Wettbewerb mit allen anderen konnte ich bestehen. Mein Leben und meine Karriere lagen vor mir, und ich war bereit. Ich war ein Geschöpf dieses Systems. Ich verstand es und wußte, daß ich es bis an die Spitze schaffen würde.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich für eine bestimmte Karriere entscheiden mußte. Das unmittelbar nächste war der Militärdienst. Sollte ich zur Armee gehen? Ich hatte mit einigen darüber gesprochen, die bei der Armee gewesen waren, und sie hatten mir gesagt:
"Sergei, das ist das letzte, was du dir wünschen könntest. Bleib bloß der Armee fern! Es ist ein hartes Leben, und du hast so gut wie keine Aussicht, es weiterzubringen. Du wirst aus der Armee entlassen und fängst als Fabrikarbeiter an. Was ist das schon für eine Zukunft?"
Ich hatte bereits festgestellt, daß das Leben eines Fabrikarbeiters nicht gerade rosig war. Nein, das strebte ich nicht an. Ich suchte etwas, wodurch ich vorankam.
Dann sprach ich mit einigen Freunden, die bei der Marine gewesen waren. Nachdem ich mir ihre Erfahrungen angehört hatte, entschied ich mich für die Marine. Doch ich wollte Offizier werden, nicht nur ein Seemann. In jedem Kinderheim, mit Ausnahme von Nummer eins, war ich der Anführer gewesen, sowohl in der Jugendliga als auch in der Schule. Jetzt wollte ich ein Führer in der Marine werden.
Genosse Skripko versprach, mir zu helfen. "Kourdakov", sagte er. "Ich werde einen sehr guten Bericht und eine Empfehlung für dich schreiben. Bring diese der Behörde für die Rekrutierung von Seeleuten in Nowosibirsk und bitte sie, sich mit mir in Verbindung zu setzen."
So verfaßte er einen Bericht über meine Arbeit in der Jugendliga, von der Zeit an, als ich noch Oktobrist war bis hin zur Gegenwart, und ich brachte ihn zusammen mit seiner Empfehlung nach Nowosibirsk. Außerdem schickte er eine Kopie zusammen mit meinem Bewerbungsschreiben an die Marine-Akademie in Leningrad.
Anfang August 1967 erhielt ich ein Schreiben, in dem mir mitgeteilt wurde, daß ich als Offiziersanwärter bei der Marine-Akademie in Leningrad angenommen sei. Das waren großartige Neuigkeiten! Ich hatte es dem Genossen Skripko zu verdanken. Es fiel mir schwer, mich von meinen engsten Freunden zu verabschieden — und doch, mein Geist war vorwärtsgerichtet und nicht auf die Vergangenheit.
*detopia-2005: Sergej ist eine Ausnahme. Und sein unbändiger Ehrgeiz war es vielleicht auch, der ihn später auch ins Verderben stürzte? Er sagt es ja gleich selbst. (Das die meisten es nicht schaffen.) Vater und Mutter zu haben, ist langfristig doch gesünder.
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Als der Augenblick gekommen war, da ich mir im Bahnhof von Nowosibirsk eine Fahrkarte nach Leningrad kaufte, warf ich noch einen Blick zurück auf die vertraute Gegend, die vor 10 Jahren, als ich noch auf der Straße lebte, mein Zuhause war. Wie lange war das schon her! Schließlich hörte ich den letzten Aufruf: "Nach Moskau, bitte einsteigen!" Eilig bestieg ich das Abteil, schlug die Tür hinter mir zu, und wenige Momente später setzte sich der Zug in Bewegung. Plötzlich traf mich die Erkenntnis, welch großen Teil meines Lebens ich hier zurückließ. Ich starrte aus dem Fenster und verschlang noch einmal das große, massive Bahnhofsgebäude mit meinen Augen.
In meinem Kopf schwirrten die Gedanken, und ich machte mich bereit für meine lange Reise nach Leningrad. Der Zug ratterte aus dem Bahnhof und durch die Außenbezirke der Stadt. Als wir die Stadt hinter uns ließen und an Geschwindigkeit zunahmen, war es mir, als würden die Räder mir zurufen: "Klickedie-Klack, Klickedie-Klack, du hast es geschafft, du hast es geschafft. Klickedie-Klack, du hast es geschafft. Du hast es geschafft."
"Ja", sagte ich zu mir selbst, "du hast es geschafft, Sergei. Aber was ist mit all deinen Freunden, die es nicht geschafft haben?" Während ich in Erinnerungen schweifte, erschienen vor mir die Gesichter all derer, die es nicht geschafft hatten. Wir waren sieben Jungen gewesen, die ungefähr zur gleichen Zeit ins Kinderheim Nummer eins kamen, als ich sechs Jahre alt war. Wir waren zusammen aufgewachsen. Von diesen sieben war ich der einzige, der die höhere Schule abgeschlossen und überhaupt eine Aussicht hatte, es im Leben zu etwas bringen zu können.
Während meine Augen geistesabwesend über die ebene sibirische Landschaft schweiften, die an unseren Fenstern vorbeizog, tauchten andere Gesichter vor mir auf. Da waren Iwan Tschernega, Alex und Wladimir Lobuznow. Da waren Nikolai Sauschkin, Nikolai Powaiejew, Boris Lobanow, Mikhail Kirilin, Alex Popow, unser "Schatzmeister", und all die anderen guten Freunde. Einige von ihnen waren zu Dieben geworden, Rauschgiftsüchtige, ja selbst zu Mördern. Fast jeder war einmal in ernste Schwierigkeiten geraten.
Iwan Tschernega, mein guter Freund, mußte noch Jahre im Gefängnis zubringen. Und Alexander Lobuznow war unter einer Gewehrsalve zusammengebrochen. Ich war erschüttert darüber, wie viele der Jungen und Mädchen im Heim von Barysewo sich zu Kriminellen, Gangstern oder Prostituierten entwickelt hatten. Die Schwachen, wie Sascha Ognew, starben oder begingen Selbstmord.
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Mir fiel der Diakon ein, und ich fragte mich, was wohl aus ihm werden würde. Wohin würde er gehen? Würde er jemals eine Bibelschule besuchen können? Natürlich nicht. Wo gab es in diesem Leben schon einen Platz für ein Kind wie ihn? Meine Gedanken flogen zurück zu all den anderen "offiziellen Waisen", die man ihren Eltern entrissen hatte. Was würde aus ihnen werden?
Der Zug fuhr durch die weite Ebene auf Moskau und ein neues Leben zu, und plötzlich schienen die Räder ihre Botschaft zu ändern: "Sei stark, sei stark." Ich begriff, daß ich unter allen Umständen die Botschaft der Räder beherzigen mußte.
Nach einer langen und ermüdenden Reise fuhr der Zug in den Bahnhof Kasan in Moskau ein. Ich stieg aus und blieb zwei Tage in der Hauptstadt unseres Landes.
Der erste Ort, den ich aufsuchte, war die Grabstätte Lenins. Dort stellte ich mich an und wartete geduldig sieben Stunden, bis ich an der Reihe war, einzutreten. Als Oktobrist war ich sein Enkel gewesen und als Führer der Jugendliga sein Sohn. Eines Tages, als Mitglied der Kommunistischen Partei, würde ich sein Genosse sein.
Als ich den stillen Raum betrat und mich den sterblichen Überresten von Vater Lenin näherte, überflutete mich eine Woge der Andacht und der Ehrerbietung. Ich blieb dicht neben dem Sarg stehen und schaute auf den Körper des Mannes, dessen Lehren ich so intensiv studiert hatte und der für mich die Stelle eines Gottes einnahm. Er war der Gründer meiner "Religion", die mir etwas gegeben hatte, woran ich zum erstenmal in meinem Leben glauben konnte. Er lehrte Gleichheit, Brüderlichkeit und Hilfe für die Schwachen.
Ich beugte meinen Kopf und betete zu ihm. Ja, es war ein Gebet. Ich kann es mit keinem anderen Wort beschreiben. Ich betete: "Hilf mir, Vater Lenin, in meinem weiteren Leben. Gib du mir die Führung und Richtung, die ich brauche. Hilf mir, daß ich deine Lehren verstehe und sie befolge. Räum alle Hindernisse und Gefahren aus meinem Weg und aus meinem Leben. Beschütze und leite mich. Hilf mir, Vater Lenin." Ich hob wieder meinen Kopf, schaute noch ein paar Sekunden auf die verbliebenen Reste Lenins und ging. Irgendwie fühlte ich mich jetzt gestärkt und durchaus in der Lage, den Dingen, die auf mich zukamen, zu begegnen.
Am nächsten Tag kaufte ich mir eine Fahrkarte nach Leningrad, 600 Kilometer nordwestlich von Moskau, wo ich bald darauf eintraf, um ein neues Kapitel meines Lebens zu beginnen, eine hoffnungsvolle Karriere als zukünftiger Marineoffizier, Student an der Alexander-Popow-Marine-Akademie. In Barysewo hatte ich "meinen" Alex Popow bereits immer damit geneckt, daß die Akademie nach ihm benannt worden wäre.
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Als ich zum erstenmal Leningrad sah, begriff ich plötzlich, weshalb sie die Königin der sowjetischen Städte genannt wird und weshalb Voltaire im achtzehnten Jahrhundert gesagt hatte: "Sämtliche Herrlichkeiten aller europäischen Städte Europas können mit St. Petersburg nicht konkurrieren." (Dem früheren Namen von Leningrad). Leningrad bietet eine Mischung von der zeitlosen Größe Rußlands und seiner modernen Kultur. Man spricht von ihr oft als der Hauptstadt der Zaren und gleichzeitig auch der Wiege des Kommunismus.
Vor Jahrhunderten von Peter dem Großen gegründet, war sie nach ihm benannt worden. 1924 erhielt sie den heutigen Namen zu Ehren von Wladimir Iljitsch Lenin, der an einem Oktobertag im Jahre 1917 einen Aufstand auslöste, der das Heilige Rußland in eine Union der sowjetischen, sozialistischen Republiken umwandelte. Er gründete die erste kommunistische Regierung in der Geschichte und zündete eine ideologische Explosion, die die ganze Welt verändern und erschüttern sollte. Sein riesiges, 30 m hohes Bild hing über den Straßen und dominierte den berühmten alten Palastplatz. Genau, wie ich es in Büchern gelesen oder auf Bildern gesehen hatte, war es eine Stadt mit unzähligen Brücken, die sich über die zahllosen Kanäle und Flüsse spannten.
Mir fiel auf, wie niedrig die Stadtsilhouette war für eine Stadt von vier Millionen Einwohnern. Doch ich hatte bereits von dem alten Gesetz gelesen, das es verbot, Gebäude — mit Ausnahme der Kirchturmspitzen — höher als 30 m zu errichten, eine Höhe, die den Winterpalast des Zaren nicht überschreiten durfte.
Als wir den Newsky-Prospekt hinunterfuhren, die Hauptverkehrsstraße von Leningrad, bemerkte ich die vielen Geschäfte, Restaurants und Cafes, die die Straße mit einer Gesamtlänge von 4 1/2 km säumten. Eine Beschreibung des Dichters Alexander Blok fiel mir ein, der gesagt hatte, der Newsky-Prospekt sei "die lyrischste Straße der Welt". Er hatte gewiß nicht übertrieben.
wikipedia Alexander_Alexandrowitsch_Blok 1880-1921
Leningrad ist außerdem eine Stadt der Museen, darunter das wohl bekannteste Eremitage-Museum im ehemaligen Winterpalais von Katharina der Großen. Die Führer dort erklären dem Besucher, daß sie zwölf Jahre brauchten, um einen Rundgang zu beenden, wenn sie vor jedem ausgestellten Gegenstand nur eine Minuten stehenblieben. Jedes Jahr passieren mehr als drei Millionen Besucher die Eingangstür.
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Als Student an der Leningrader Marine-Akademie während seines ersten Militärdienstjahres.
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Die Bürgerschaft von Leningrad spricht gern von ihr als Heldenstadt, ein Titel, wohlverdient durch die tragische Erfahrung, die sie im letzten Krieg mit Hitlers Armeen machen mußte. Während die Stadt selbst sich erstaunlich gut von dieser Verwüstung durch Bombeneinschläge und Beschuß erholt hatte, blieben mehr als eine Million Bürger von Leningrad in riesigen Massengräbern liegen. Ich hatte das alles vor meinem Kommen nach Leningrad über die Stadt gelesen.
Natürlich schaute ich erwartungsvoll in die Zukunft, nicht nur, was mein Leben in Leningrad betraf, sondern auch meine Ankunft in der Alexander-Popow-Marine-Akademie. Schließlich gelangte ich auch dort wohlbehalten an, in einem grünflächigen Vorort, ziemlich weit vom Zentrum der Stadt entfernt.
Am ersten Tag wurden alle Rekruten gemeinsam zur Musterung gerufen. Da auch die älteren Kadetten anwesend waren, waren wir Neulinge alle ein wenig nervös. Doch das Eis brach sehr schnell, als die älteren Kadetten aufstanden und riefen: "Wer ist aus Moskau?" Oder "Wer ist aus Karkow?" oder Donets oder Baschkin. Und immer, wenn Hände sich erhoben, gesellten sich die älteren Kadetten zu den neuen aus demselben Wohnort. Auf diese Art und Weise fanden die Kadetten, die aus allen Teilen der Sowjetunion kamen, aus den verschiedensten Städten zusammen. Und aufgrund des gemeinsamen Wohnorts oder der gemeinsamen Herkunft entwickelten sich rasch Freundschaften.
Schließlich rief jemand: "Wer kommt aus Nowosibirsk?"
"Ich", rief ich aufgeregt und schaute mich um. Ein älterer Kadett lächelte mich freundlich an. Wir gingen aufeinander zu, schüttelten uns die Hand und stellten uns vor. Sein Name war Wasil, er war zwei Jahre älter als ich und schien ein freundlicher Bursche zu sein. Ich war froh, ihn getroffen zu haben, denn er half mir, mich schneller in die alltägliche Routine der Marine-Akademie einzuleben und so eine Menge Probleme zu vermeiden.
Wie in den meisten Schulen war es auch hier üblich, daß die älteren Semester die Neuen einschüchterten, gleichzeitig aber auch befreundeten. Wasil und ich, wir verstanden uns auf Anhieb sehr gut und verbrachten oft Stunden in angeregter Unterhaltung. Bald entwickelte sich zwischen uns eine so starke Freundschaft, die Jahre halten sollte.
Mir wurden zwei verschiedene Studienfächer angeboten, zwischen denen ich wählen konnte, und das waren Mechanik und das Funk- und Radarwesen. Nach gründlicher Überlegung entschloß ich mich zum Funkoffizier. Ich war schon immer gut in Physik und Mathematik gewesen und war fasziniert von Funk- und elektronischen Geräten.
Bereits drei Tage nach unserer Ankunft in der Akademie versammelten sich alle neuen Kadetten der Radioabteilung, um die Führer ihrer Kommunistischen Jugendliga für ihre Abteilung zu wählen.
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Verschiedene Namen wurden vorgeschlagen, und jemand sagte: "Ich stimme für Sergei Kourdakov." Das kam für mich völlig überraschend, denn schließlich war ich neu hier, und ich fühlte mich mehr als geschmeichelt, als der Vorschlag angenommen und ich tatsächlich zu ihrem Führer ernannt wurde.
Später erfuhr ich, daß dieser Vorschlag auf den Bericht über mich aus Barysewo zurückzuführen war und daß mein Name vom Parteichef der Marine-Akademie vorgeschlagen worden war. So folgte meine "Wahl" ganz automatisch. Ich leitete also auch die kommunistische Jugendliga der Radioabteilung innerhalb der Marine-Akademie, solange ich dort war.
Ich organisierte Unterrichtsstunden und lehrte kommunistische Ideologie, während ich zu meinem eigenen Fortkommen Vorträge in Politik und Zeitgeschehen besuchte.
Die Arbeit und die Disziplin an der Akademie waren hart und streng, aber für mich, nach meinem Leben in den Kinderheimen, war es fast eine Erholung. Während andere Kadetten, die in gesicherten Familienverhältnissen aufgewachsen waren, es nicht schafften und wieder abgehen mußten, war ich in der Lage, meine ausgezeichneten Noten zu halten, vor allen Dingen bei meiner Arbeit in der Liga.
Gleich in den ersten Tagen lernte ich Pawel Sigorsky kennen, der mir ein teurer Freund werden sollte. Er war schon länger dort und kam aus dem Teil Polens, das nach dem Krieg an Rußland fiel. Da er ein polnischer Nationalist war, sprach er in meiner Gegenwart nur polnisch. Wir lachten darüber, und er sagte: Wenn du mit mir sprechen willst, mußt du schon Polnisch lernen." Ich hielt das für eine ausgezeichnete Idee und bat ihn, mich darin zu unterrichten. Das machte er dann auch. Schon bald waren wir in der Lage, jeder in der Heimatsprache des anderen zu sprechen.
Oft mußte ich am Eingang zur Akademie Wache stehen. Eines Sonntagmorgens sah ich mehrere Leute über ein nahe gelegenes Feld gehen.
"Was sind das für Leute?" fragte ich den anderen, der mit mir Wache stand.
"Gläubige."
Ich schaute mir die Leute näher an. Mich hatten gläubige Christen schon immer sehr interessiert. "Wohin gehen sie? " fragte ich.
"Och", erwiderte er, "dort hinter den Bäumen steht eine Kirche, dort gehen sie hin."Das stimmte. Hier, in einem entlegenen Vorort von Leningrad, hatte man es einer Kirche erlaubt, ihre Pforten offen zu lassen. Und alle Christen aus der ganzen Stadt, die an einem Gottesdienst teilnehmen wollten, mußten hier in diesen Vorort kommen.
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Ich war beeindruckt. Ich erinnerte mich, daß ich in der Schule in der Konstitution der Sowjetunion gelesen hatte, daß jeder Bürger religiöse Freiheit besäße und nicht nur das, sondern auch religiöse Versammlungsfreiheit. Das stimmt ja tatsächlich! dachte ich. Es gibt religiöse Freiheit in Rußland! Gläubige gingen öffentlich zur Kirche. Das war ein Beweis für mich, daß es diese Glaubensfreiheit in Rußland wirklich gab.
Die Monate im Winter 1967 und im Frühjahr 1968 vergingen rasch. Meine Arbeit an der Marine-Akademie in Leningrad wurde immer umfassender. Es fiel mir aber nicht weiter schwer, da mich meine Studienfächer sehr interessierten. Besonders genoß ich die Vorlesungen über Politik und Marxismus-Leninismus. Sie zogen mich magisch an, und ich studierte unermüdlich.
Trotzdem war ich froh, als endlich der April nahte und ich meinen Plan, den ich mir für die Frühjahrsferien vorgenommen hatte, ausführen konnte. Ich wollte zurück nach Nowosibirsk und Barysewo.
Die Ferien wurden ein voller Erfolg. Ich verbrachte herrliche Stunden mit all meinen alten Freunden. Ein Erlebnis, das mich besonders beeindruckte, hatte ich auf der kurzen Busfahrt von Nowosibirsk nach Barysewo, wo ich meine Freunde im Kinderheim besuchen wollte. Als wir durch den Vorort Inskaya fuhren, sah ich plötzlich einen Bus vor uns, der im Verkehr steckengeblieben war. Neugierig schaute ich aus dem Fenster, um zu sehen, was denn da los sei. Ich sah verschiedene Wagen, die die Straße blockierten. Polizeifahrzeuge, zwei Feuerwehren und Hunderte von Menschen, die sich schoben und drängten.
Es war ein hoffnungsloses Gewühl. Jedem von uns im Bus war es klar, daß wir einige Zeit warten mußten, und so schauten wir weiter neugierig zu, was da vor sich ging. Keiner konnte sich die Situation erklären. Wir wußten nur, daß wir eine aufgebrachte Menge vor uns hatten. Dann kamen ein paar Leute und stiegen in unseren Bus. Wir fragten sie, was denn passiert sei.
Es stellte sich heraus, daß sie Gläubige waren. Ich hatte immer angenommen, Gläubige wären Großmütter und Großväter, alt und gebeugt. Doch so sahen diese Menschen keineswegs aus. Jede Altersstufe war vertreten. Viele waren genauso jung wie ich, und sie benahmen und kleideten sich auch genauso wie ich.
Wir fragten sie, was denn hier los sei, und sie erzählten uns, daß viele Kirchen in Nowosibirsk geschlossen worden wären. Doch nach vielen Bittschriften hatten sie die Regierung endlich so weit gebracht, daß hier in einem kleinen Vorort von Inskaya eine Kirche wieder geöffnet werden durfte, genau am heutigen Tag. Sie erzählten, die Neuigkeit hätte sich unter den Gläubigen wie ein Lauffeuer verbreitet, und obwohl man damit gerechnet hatte, daß eine große Anzahl von Leuten kommen würde, hätte man niemals mit einer solchen Menschenmenge gerechnet.
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Die Kirche faßte ungefähr 150 Menschen, wenn sie dicht gedrängt standen. Doch es waren viele Hunderte von Gläubigen gekommen und hatten die Straßen blockiert in der Hoffnung, noch hineinzukommen. Kein Wunder, daß es so viele waren! Nowosibirsk war schließlich eine Stadt mit eineinhalb Millionen Einwohnern, und seit Jahren hatte es nicht eine einzige protestantische Kirche gegeben. So waren zur Öffnung dieser Kirche eben alle Gläubigen gekommen.
Es dauerte nicht allzu lange, bis die Polizei auf der Bildfläche erschien und die Gläubigen aus der Gegend verwies. Wir fragten die Christen in unserem Bus, wie sie jemals erwarteten, alle am Gottesdienst teilnehmen zu können/ "Nun", sagten sie, "wir wechseln uns ab, jede Gruppe darf eine halbe Stunde in der Kirche zum Gebet und zum gemeinsamen Gottesdienst bleiben und muß dann wieder gehen. Dann kommt die nächste Gruppe von einhundertfünfzig Leuten und so weiter, bis jeder einmal dabei war."
Ich war mehr als verwundert, und was ich sah, verschlug mir fast die Sprache. Erstens hatte man mir erzählt, es gäbe nur noch sehr wenige Christen, und hier waren mehrere Hunderte, die die Straßen verstopften. Dann hatte ich immer gehört, daß nur noch die alten Leute weiterhin an Gott glauben, aber in dieser Menge waren mindestens genauso viele junge Menschen wie ältere.
Nachdem die Polizei die Gläubigen auseinandergetrieben hatte, kam der Verkehr wieder in Fluß, und unser Bus setzte seine Fahrt nach Barysewo fort. Ich war völlig versunken in Gedanken über das, was ich soeben erlebt hatte. Es hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und ich mußte noch lange immer wieder darüber nachdenken.
Den Rest meiner Ferien verbrachte ich mit meinen Freunden in Barysewo und Nowosibirsk. Es wurden ein paar glückliche, unbeschwerte Tage. Die Zeit verging wie im Flug, und ich mußte wieder nach Leningrad zurückkehren. Ich stürzte mich wieder in meine Studien und arbeitete bald härter als je zuvor.
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Im Juli 1968, nachdem ich fast ein Jahr lang die Marine-Akademie in Leningrad besucht hatte, erhielt ich den Bescheid, daß ich einen Studienplatz an der Marine-Akademie in Petropawlowsk in der Provinz Kamtschatka bekommen hätte. Das war einfach großartig, ein Studienplatz genau nach meiner Vorstellung.
Die Marine-Akademie in Petropawlowsk war sehr bedeutend. Sie lag an der Pazifikküste von Rußland, nördlich von Japan. Kamtschatka wurde das "Auge Rußlands" genannt. Dorthin an die Marine-Akademie zu kommen, war ein weiterer Schritt nach vorn. Der größte Teil der sowjetischen Flotte lag in diesem Gebiet, und ich war unbeschreiblich glücklich.
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So verabschiedete ich mich wieder einmal von meinen Freunden, einschließlich meines polnischen Kameraden, von dem ich lange nichts mehr hören sollte. Mein Militärzeitplan erlaubte mir erst noch anderthalb Monate Ferien, bevor ich mich an meinem neuen Studienplatz melden mußte. Ich beschloß, meine Ferien wieder bei meinen Freunden in Nowosibirsk zu verbringen.
Meinen letzten Blick auf Leningrad warf ich mit sehr gemischten Gefühlen hinaus. Ich wußte, diese mit Arbeit ausgefüllten und aufregenden Tage würde ich niemals vergessen und natürlich auch nicht die unerreichte Schönheit dieser großen Stadt.
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Zwischen Leningrad und den Vororten von Moskau verlief die Reise ohne besondere Ereignisse. Doch dann geschah etwas: Plötzlich hörte ich im Wagen hinter mir einen großen Aufruhr, und da ich von Natur aus neugierig bin, wollte ich selbstverständlich gerne wissen, was da vor sich ging. So schlenderte ich durch unser Abteil in das nächste.
Dort waren drei große, robuste Kerle gerade dabei, einen schmalen, schülerhaften Jungen mit dicken Brillengläsern und blasser Hautfarbe brutal hin- und herzuschütteln. "Gib uns dein Geld", zischten sie ihn drohend an, "oder wir brechen dir den Arm!" Der Junge zitterte wie Espenlaub. Einer der drei Banditen behielt die anderen Fahrgäste im Auge, damit es ja keiner wagte, sich da einzumischen, während die anderen beiden den Jungen bearbeiteten. Ich hatte solche bulligen Typen nie gemocht, und was ich da sah, machte mich wütend. Ich zog meinen Militärgürtel ab und wickelte ihn um meine Hand, so daß die schwere, eiserne Schnalle wie ein Schlagring wirkte. Damit bewaffnet, trat ich den dreien entgegen. Als ihr Wachtposten einen Schritt auf mich zumachte, schnappte ich ihn mit einem Judogriff, warf ihn gegen die Wand und schlug ihm mit meinem improvisierten Schlagring genau ins Gesicht. Er sackte zusammen.
Inzwischen zogen die anderen beiden bereits das Geld aus der Tasche des Jungen. "Legt sofort das Geld hin", sagte ich, "oder ihr bekommt die gleiche Behandlung!" Erst jetzt sahen sie ihren Freund bewußtlos am Boden liegen. Ich machte ein paar Schritte auf sie zu, doch sie wichen zurück und sagten: "Ja, ja, wir gehen ja schon." An der nächsten Station stiegen sie aus und nahmen ihren Freund mit.
Der Junge war natürlich völlig durcheinander. Ich half ihm, sein Geld zusammenzusuchen, nahm ihn beim Arm, sprach beruhigend auf ihn ein und schlug vor, daß wir uns erst einmal hinsetzten. Während der Unterhaltung erfuhr ich, daß er Mikhail Koptelow hieß. Eine Zeitlang zögerte ich, weiter nach seinem Namen zu fragen.
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Es wäre ein solch einmaliger Zufall gewesen, wenn er etwas mit der Person zu tun hatte, an die ich dachte. Doch schließlich konnte ich die Frage nicht länger unterdrücken, und ich sagte: "Bist du zufällig irgendwie verwandt mit dem großen Schriftsteller Konstantin Koptelow?"
"Ja, natürlich", erwiderte er. "Das ist mein Vater."
"Dein Vater!" rief ich aus. Ich war wirklich beeindruckt. Jeder in Rußland, der Literatur liebt, kennt den Namen Konstantin Koptelow. Er ist einer der bedeutendsten und bekanntesten Schriftsteller Rußlands und hat den Leninpreis für Literatur bekommen. Seine Bücher sind in der ganzen Sowjetunion bekannt.
detopia-2021: Eine Google-Suche bringt wenig. Hier falsch geschreiben?
Jetzt war die Sache natürlich noch interessanter für mich geworden. Mikhail fragte mich, wer ich sei und wohin ich führe, und ich sagte es ihm. "Hör mal", sagte er, "wenn du schon hier in Moskau bist, warum unterbrichst du deine Reise nicht und kommst mit in unsere Wohnung, um meine Eltern kennenzulernen, Sergei?"
Großartig, dachte ich, eine Gelegenheit, Konstantin Koptelow kennenzulernen. Ich entschloß mich schnell. "Gut", stimmte ich zu. "Ich habe sowieso ein paar Stunden Aufenthalt." Die Aussicht, einen der berühmtesten Schriftsteller Rußlands zu treffen, versetzte mich in eine richtige Hochstimmung.
Nachdem wir ausgestiegen waren, nahmen wir die Untergrundbahn, um zu ihm nach Hause zu kommen, wo er mich seinen Eltern vorstellte und erzählte, was ihm auf der Heimfahrt widerfahren war. Sein Vater schüttelte mir die Hand und dankte mir für meine Hilfe, und seine Mutter lächelte mich an und war ebenfalls sehr dankbar. Dann fragte sie: "Sergei, hast du noch so viel Zeit, um mit uns gemeinsam zu essen? Es ist alles gleich fertig. Bis dein Zug nach Nowosibirsk abgeht, können wir uns doch noch ein bißchen unterhalten." Ich war hoch erfreut und nahm die Einladung gerne an.
Es dauerte nicht lange, bis wir alle gemeinsam um den Tisch saßen und, während wir uns das wundervolle Essen schmecken ließen, uns wie alte Freunde unterhielten. Herr Koptelow fragte mich nach meiner Vergangenheit, was ich augenblicklich machte und wie ich mir meine Zukunft vorstellte. So erzählte ich ihm meine Lebensgeschichte. Er schien fasziniert. Gebannt lauschte er und fragte mich nach immer mehr Einzelheiten aus meinem Leben. Nach dem Essen gingen wir ins Wohnzimmer hinüber, wo wir unsere Unterhaltung bei einigen Gläschen Wodka fortsetzten, bis es Zeit war, mich an die Bahn zu bringen. "Sergei", sagte er schließlich, "während ich deinen Erzählungen zugehört habe, dachte ich darüber nach. Ich bin überzeugt, daß deine Geschichte und die Geschichte vom Kinderheim in Barysewo ein faszinierendes Buch ergäben."
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Ich war sprachlos. Daran hatte ich noch nie gedacht. Er stellte weitere Fragen und sagte: "Ich könnte ein Buch über dein Leben im Kinderheim schreiben. Es wäre wie eine russische Tom-Sawyer-Erzählung." Ich fühlte mich durchaus geschmeichelt, aber ich sagte ihm ganz ehrlich, daß ich nicht ganz sicher wäre, ob es überhaupt eine gute Geschichte geben würde. Natürlich könnte er das am besten beurteilen, schließlich war das sein Beruf. Und ich versicherte ihm, daß ich ihm gerne alles erzählen würde, was ich wüßte.
"Gut, machen wir es!" meinte er erfreut. "Ich werde mich bald wieder mit dir in Verbindung setzen. Wir werden ein Sommerhaus in der Nähe von Nowosibirsk kaufen. Dann bin ich dicht genug beim Kinderheim, um dich und die anderen Jungen zu interviewen."
Dann brachten mich meine neuen Freunde zum Bahnhof, wo ich mich von ihnen verabschiedete und den Rest meiner Reise nach Nowosibirsk antrat.
Als ich am Bahnhof von Nowosibirsk ankam, wartete Boris Lobanow auf mich. Guter alter Boris! Ich setzte meinen Koffer ab und umarmte ihn herzlich. Auch er umarmte mich, während wir uns begrüßten und beide gleichzeitig aufgeregt drauflosredeten. Wir gingen in seine Ein-Zimmer-Wohnung, und nachdem ich mich ein bißchen frisch gemacht hatte, gingen wir los, um die anderen zu treffen. Als erstes begegneten wir meinem guten alten Freund Nikolai Powalejew.
"Sieh mal an!" rief er aus. "Wer ist denn dieser schneidige Offizier an deiner Seite, Boris? Als er fortging, war er noch nicht trocken hinter den Ohren, und als Admiral kommt er zurück! Junge! Junge! Die sind heute aber auch gar nicht mehr wählerisch, wem sie eine solche Uniform verpassen!"
Nachdem wir alle herzhaft gelacht und uns begrüßt hatten, kam ich gleich zur Sache: "Hör mal, Nikolai, ich habe tolle Neuigkeiten für dich", und ich erzählte ihnen von meinem Gespräch mit Konstantin Koptelow und seinem Vorschlag, ein Buch über das Kinderheim und die Menschen darin, einschließlich Nikolai, zu schreiben. "Ich habe ihm alles erzählt", sagte ich, "und, Nikolai, deine Geschichte will er ebenfalls bringen. Ich werde dich noch berühmt machen!"
Nikolais Gesichtsausdruck wurde immer entsetzter, und er rief aus: "Sergei, wie blöd bist du eigentlich? Natürlich werde ich berühmt dadurch. Aber das würde mir auch gleichzeitig das Genick brechen! Das letzte, das ich brauche, ist berühmt zu werden! Verstehst du denn nicht, was das für mein Geschäft bedeuten würde? Sergei, wie konntest du mir das antun, einem guten, alten Freund? "
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Jetzt dämmerte es mir. Natürlich! Wie konnte ich nur so dumm sein! — "Hör zu, Nikolai", sagte ich, "das tut mir wirklich leid. So hatte ich die Sache gar nicht gesehen. Aber du hast recht, ich habe nicht daran gedacht."
"Nun, dann fängst du am besten gleich damit an", brummte er, "Die Art von Aktivitäten, in die ich verwickelt war — nun darüber spricht man am besten gar nicht. Boris und ich und noch ein paar andere, wir haben uns jetzt eine gute Sache aufgebaut, und ein neugieriger Schreiber würde allem ein rasches Ende setzen!"
Ich wollte ihn unterbrechen, doch er ließ mich gar nicht zu Worte kommen. "Ich weiß, du bist auf der Marine-Akademie nur zu wenig Geld gekommen, Sergei. Und meine Geschäfte sind in letzter Zeit recht gut gelaufen. Hier, ich gebe dir das Geld, das du an diesem Buch verlierst, wenn du die ganze Idee an den Nagel hängst. Einverstanden? "
Jetzt wurde ich aber doch ärgerlich. "Hör mal zu, Nikolai", fast schrie ich ihn an, "wenn du mal für eine Minute aufhören würdest zu reden, dann sage ich dir, was ich schon die ganze Zeit sagen wollte. Ich hatte das nicht so gesehen! Hast du gehört?! Es tut mir leid! Das Buch wird nicht geschrieben, und der Fall ist erledigt! Aber was fällt dir eigentlich ein, mich bezahlen zu wollen?! Ich bin doch dein Freund."
Nikolais Gesicht entspannte sich, und ein kleines Lächeln erhellte sein Gesicht. "Das ist der alte Sergei, den ich kannte. Vielen Dank."
Später schrieb mir Koptelow an die Adresse, die ich ihm genannt hatte, und teilte mir mit, daß er sich ein kleines Sommerhäuschen in der Nähe gekauft hätte und daß er bald eintreffen würde. Als er ein paar Tage später ankam, fuhr ich hin und erklärte ihm, daß ich die ganze Idee doch nicht so gut fände und daß ich daran doch lieber nicht mitarbeiten würde. Es stimmte ihn keineswegs glücklich, daß ich meine Meinung geändert hatte. Aber ich sagte ihm, daß ich leider nicht anders könnte, und das war das Ende unserer Zusammenarbeit.
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Die mir noch verbleibenden zwanzig Tage Ferien, bevor ich nach Petropawlowsk zurückkehren mußte, vergingen wie im Fluge im Kreise meiner alten Freunde. Wir waren richtig glücklich, wieder zusammenzusein, und nutzten die Zeit aus. Eines Tages sagte Nikolai: "Sergei, ich möchte dich gern dem Chef unserer Organisation vorstellen."
Ich hatte schon viel von diesem Mann aus der Unterwelt gehört, als ich noch Kurier war. Ich hätte ihn damals schon gern kennengelernt, aber ich stand auf einer solch niedrigen Rangstufe in diesem Geschäft, daß ich keine Chance hatte. So betrachtete ich diese Einladung als große Ehre.
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Wir gingen durch mehrere Straßen in Nowosibirsk, bis wir in eine Gegend kamen, in der ich noch nie gewesen war. Nikolai betrat ein etwas abseits stehendes Haus, während ich ihm auf den Fersen folgte. Wir standen einen Augenblick da, dann flüsterte er: "Hier! Paß auf! Er kommt!" Die Tür ging auf.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen! — Ich traute meinen Augen nicht! Ich sah Nikolai an und sagte: "Das ist der Chef? Das ist doch Sauschkin!"
"Genau, Sergei. Sauschkin. Ich bin die — wie soll ich sagen — Nummer eins in diesem Geschäft."So erfuhr ich schließlich doch noch, wie es Sauschkin ergangen war! Ich sah es wieder vor mir, wie er in Barysewo festgenommen wurde, als er versucht hatte, die dicke Irene mit einem der tödlichen Gewehre umzubringen, die wir im Kinderheim heimlich anfertigten. Niemand wußte, wohin man ihn damals gebracht hatte. "Sie haben mich in ein Gefängnis für Kinder gesteckt", sagte Sauschkin, als er begann, die Fragen auf meinem Gesicht zu beantworten. "Und dort knüpfte ich auch die Kontakte, die mir zu meinem jetzigen — ääh — sagen wir Beruf verholfen haben."
Sauschkins "Beruf" war es, Rauschgift unter die Leute zu bringen. Er war der größte Händler in ganz Nowosibirsk.
Hier war ein Junge aus Barysewo, der es wirklich weit gebracht hatte. Ich starrte noch immer Sauschkin an und konnte kaum glauben, was er und Nikolai mir erzählten. Doch wenn ich daran dachte, wie schwierig und robust er in Barysewo gewesen war, dann wußte ich, daß es stimmte.
Ich hatte nicht geglaubt, daß er sich meiner noch erinnern würde, da ich so viel jünger war als er, doch er tat es. "Natürlich, kenne ich dich noch, Sergei", sagte er. "Wie ist es dir ergangen? Ich sehe, du bist jetzt beim Militär."
So verbrachten wir ein paar vergnügte Stunden damit, über Barysewo zu sprechen und wie's uns in der Zwischenzeit ergangen war.
An diesem Tag erfuhr ich zum erstenmal, daß Boris und Nikolai Sauschkin zusammenarbeiteten. Nachdem wir eine Weile miteinander gesprochen hatten, machte Sauschkin mir einen Vorschlag. "Sergei, du bist doch noch ein paar Tage hier. Wie wär's wenn du dir noch ein bißchen Geld verdienen würdest?"
"Ich könnte es gebrauchen", erwiderte ich. "Wie meinst du das?"
"Solange du hier bist", sagte er, "könntest du mit Boris, Powalejew und mir zusammenarbeiten. Die Geschäfte gehen im Augenblick sehr gut. Wir verkaufen eine Menge Narkotika und bekommen aus Japan auch noch andere Waren, die wir auf dem Schwarzmarkt verkaufen werden."
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Ich beugte mich zu Boris vor und fragte: "Was verkaufst du denn?"
"Tonbänder, Lippenstifte und solche Dinge", erwiderte er. "Gut", sagte ich, "ich mache mit."
Ich dachte an die Lektion, die ich schon vor Jahren gelernt hatte, daß in dieser Welt jeder sehen mußte, wie er selbst zurechtkam.
Ein paar Tage lang arbeitete ich eng mit Boris, Nikolai und Sauschkin zusammen. Dann passierte das Unglück. Sauschkin wurde festgenommen und dazu verurteilt, acht Jahre in einem veralteten, harten Gefängnis in der Nähe von Tomsk zuzubringen.
Doch das Geschäft mußte weitergehen. Es konnte nicht stillgelegt werden, nur weil der "Chef" nicht mehr da war. Nikolai Powalejew war der Meinung, daß es ihm zukäme, Sauschkins Gebiet zu übernehmen.
Eines Abends luden Boris und er mich ein, an einem besonderen Treffen verschiedener Unterweltführer teilzunehmen. Seitdem Sauschkin verhaftet wurde, haben wir Schwierigkeiten mit einer anderen Organisation. Sie beginnen, langsam, aber sicher, in unser Territorium einzudringen.
Ich dachte mir im stillen, nun, das wird sicherlich ein interessanter Abend. Da möchte ich dabeisein. Auf dem Wege erzählte Boris mir, daß bereits verschiedene Schießereien stattgefunden hätten und bei Kämpfen zwischen den beiden rivalisierenden Organisationen einer getötet worden war. Deshalb war diese Friedenskonferenz nötig geworden. Diese Dinge mußten ein für allemal geregelt werden, damit man sich wieder ausschließlich den Geschäften widmen konnte. Das Treffen sollte in einem baufälligen Haus in einer abgelegenen Gegend des Stadtgebietes sein.
Als wir ankamen, mußten wir über einen schmalen Treppengang hinaufgehen, über einen langen, dunklen Flur, bis wir in ein nur schwach erhelltes Zimmer in der dritten Etage kamen, wo der Anführer der anderen Gruppe bereits auf uns wartete. Ich blieb im Hintergrund stehen, während Nikolai mit dem Chef der anderen verhandelte. Nachdem sie sich eine Weile ihre Argumente gegenseitig vorgetragen hatten, schlug Nikolai plötzlich mit der Faust auf den Tisch und rief: "Wenn ihr unserem Territorium nicht fernbleiben könnt, werden wir mit euch eine andere Sprache sprechen. Wir haben versucht, die Sache im guten zu klären, aber anscheinend ist das nicht möglich. Ihr habt euer Gebiet — und dabei bleibt ihr! Ist das klar?"
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Nikolai erhob sich. Der andere Chef und seine Leute sprangen ebenfalls auf und stürmten hinaus. Ich schaute Nikolai an und zwinkerte ihm zu. Er war doch der gleiche harte, unbeugsame Kerl geblieben, wie ich ihn in Barysewo kennengelernt hatte, der gleiche Kerl, der sich damals "um die beiden Männer gekümmert" hatte, die mich in einer dunklen Gasse mit einem Messer niedergestochen hatten.
Nach meiner Meinung war die Konferenz jetzt beendet, und so sagte ich zu Nikolai: "Ich gehe schon voraus, um ein bißchen frische Luft zu schnappen. Ich werde unten warten."
So ging ich allein durch den Korridor zurück, die zwei Treppen hinunter und trat auf die Straße. In dem Augenblick aber, als ich aus der Tür trat, erfüllte eine Explosion die Luft. Ich fühlte einen heißen, brennenden Schlag unterhalb meiner Rippen und einen heftigen Schmerz, der mir den Atem nahm.
Völlig benommen schaute ich an mir herunter und entdeckte, daß ich stark blutete. Mein Hemd war bereits durchtränkt, und auch meine Militärjacke begann sich ebenfalls aufzuweichen. Das einzige, woran ich zu denken imstande war. war: Man hat auf mich geschossen! Man hat auf mich geschossen!
Ich fiel auf die Knie. Dann hörte ich hinter mir Fußtritte. Jemand kam die Treppe heruntergerannt. Es waren Nikolai und Boris, jeder mit zwei Gewehren bewaffnet und bereit, meine Angreifer hinwegzufegen. Doch die waren längst verschwunden. Nikolai und Boris steckten die Gewehre fort, halfen mir wieder auf die Füße und zogen mich ins Haus. Der Regenmantel, den ich über meiner Jacke trug, hatte eine Innentasche, die mit Papieren vollgestopft war, Briefe, meine Anweisungen, mein Ausweis und noch anderes.
"Du hast aber vielleicht Glück gehabt, Sergei!" rief Boris aus, während er diese Tasche, die sich ausgerechnet auf meiner linken Brustseite befand, ausleerte. Die Kugel war glatt durch alles hindurchgeschlagen, mein dickes Adreßbuch, all meine Ausweispapiere und sämtliche Kleidungsstücke, um dann unter meiner Haut steckenzubleiben.
Nachdem Boris sich die Wunde und dann das Loch in sämtlichen Papieren angesehen hatte, stieß er einen vielsagenden Pfiff aus. "Wenn dieser Stoß Papier nicht gewesen wäre, wärst du jetzt eine Leiche!" sagte er.
Mit unseren Taschentüchern und Boris' Hemd machten wir einen provisorischen Verband, um die enorme Blutung einzudämmen. Dann halfen sie mir auf die Beine und brachten mich ins Krankenhaus.
Es war eine sehr nahe Begegnung mit dem Tod, und ich war ihm gerade noch entkommen.
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Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, verbrachte ich noch einige Tage bei Boris, um mich noch etwas zu schonen. Ich hatte nichts zu tun, und so trank ich. Ich war nie ein starker Trinker gewesen. In Barysewo hatte ich manchmal getrunken wie alle anderen Kinder auch, und anschließend auch hin und wieder einmal. Aber gewöhnlich hörte ich kurz vorm Betrunkensein auf, denn ich war stets darauf bedacht, in guter physischer und psychischer Verfassung zu bleiben. Ich wußte, daß zu viel Alkohol schädlich sein konnte, und betrank mich daher nur bei wirklich besonderen Anlässen.
*
Eines Morgens nach einer großen Party, die Boris am Abend zuvor für mich gegeben hatte, wachte ich gegen neun Uhr auf und sah, daß alle anderen noch nicht zurechnungsfähig waren. Immer noch etwas benommen, ging ich nach draußen, um meinen Kopf vollends klar zu kriegen. Und dort traf ich einen anderen, der wohl den gleichen Gedanken gehabt hatte. Er war ungefähr 50 Jahre alt, von gedrungenem Körperbau und hatte ein Holzbein. Da wir beide "die Spinnweben" in unserem Kopf loswerden wollten, beschlossen wir, zusammen ein wenig im nahen Park spazierenzugehen. Nach einigen Minuten fanden wir auch eine Bank, wo wir uns erst mal hinsetzten. Es dauerte nicht lange, bis wir im Gespräch vertieft waren. Ich erzählte, wer ich war und was ich vorhatte, und fragte dann auch ihn danach.
Zu meiner Überraschung erfuhr ich, daß er ein Major bei der Polizei in Norilsk gewesen war. Als er den Namen dieser Stadt erwähnte, spitzte ich die Ohren. Norilsk zählt zu den berühmtesten Städten der Sowjetunion. Sie hat ein fabelhaftes Meisterwerk der nördlichen Technologie. Norilsk ist eine Stadt, die im nördlichsten Teil des Landes gebaut wurde, steht als leuchtendes Beispiel für die sowjetische Kunst, auch im hohen gefrorenen Norden Städte zu bauen und sie bewohnbar zu machen.
"Das ist ja großartig!" rief ich aus. "Ich habe viel über diese phantastische Stadt in meinen Schulbüchern gelesen. Soviel ich verstehe, ist es eine große technische Errungenschaft für die Partei."
"Technische Errungenschaft!" schnaubte er. "Ihr Grünschnäbel wißt nur das, was ihr in den Büchern lest. Das ist das Problem mit euch! Ihr glaubt alles, was sie euch erzählen und alles was ihr schwarz auf weiß seht!"
"Regen Sie sich doch nicht so auf!" erwiderte ich beschwichtigend. "Ich wollte ja nur nett sein und sagen, was ich darüber gelesen habe."
"Nun, dann vergiß schnellstens, was du gelesen hast! Kein Wort davon ist wahr. Ich weiß es besser. Ich bin von dort. Ich war Major dort bei der Polizei."
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"Aber", protestierte ich, "soviel ich weiß, sind spezielle Maschinen und spezielle technologische Fähigkeiten entwickelt worden, um mit den schwierigen Bedingungen dort fertig zu werden."
"Maschinen!" sagte er und lachte. "Willst du wirklich wissen, was für Maschinen wir entwickelt haben? Die Maschinen waren Sklaven. Zehntausende starben, während die Stadt gebaut wurde. Ihre Knochen sind noch dort. Das ist die 'Technologie', die Norilsk erbaut hat — das Blut und die Gebeine von Sklaven."
Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da hörte. Ich wünschte, ich wäre in der Lage gewesen, seine Worte als dummes Gerede eines betrunkenen Trottels abzutun, doch wie sollte ich? Der Mann war ein ehemaliger Polizeimajor, und wenn es stimmte, was er sagte, hatte er nicht nur dort gelebt, sondern auch geholfen, die Stadt zu erbauen. "Ich sah sie zu Tausenden sterben", fuhr er fort. "Sie starben vor Hunger oder Kälte oder vor beidem."
Er fuhr fort, mir zu erzählen, wie er sein Leben dem Kommunismus geweiht hatte.
Als die ungarische Revolution im Jahre 1956 ausgebrochen war, hatte man ihn nach Ungarn geschickt. Doch dort, während er als Panzerwagenkommandeur in Budapest kämpfte, bekam er eine Kugel ins Bein und mußte es amputieren lassen. "Danach", sagte er, "wurde ich als wertlos angesehen, zu nichts mehr nütze. Sie schickten mich nach Norilsk, damit ich dort die armen Teufel zur Arbeit antrieb. Dafür war ich ihnen gerade noch gut genug."
Dieses Gespräch hatte für mich etwas Entheiligendes. Dieser Mann, ein Fremder, griff das System an, an das ich glaubte, und was ich hörte, gefiel mir gar nicht. Ich versuchte, nicht mehr hinzuhören, doch das ging nicht.
"Weißt du, was sie mir gaben, mein Sohn? - Oh, sie waren gut zu mir, in der Tat. Sie gaben mir ein Holzbein und eine Hand voll Rubel jeden Monat, von denen ich kaum leben kann, dann warfen sie mich hinaus! Oh, ja..." — und es schien mir, als wenn er sich das für den Schluß aufgehoben hatte — "sie gaben mir noch etwas. Weißt du was? Eine Handvoll Orden." Er griff in seine Tasche und fischte verschiedene heraus. "Wie du siehst, habe ich ihnen gut gedient in Ungarn. Und in Norlisk ebenfalls!"
Er hielt mir die Orden unter die Nase und fuhr fort: "Medaillen! Was soll ich damit? Sie essen? Meine Miete davon bezahlen? Sieh mich an, Sohn." Er schwieg, als wenn ich ihn wirklich von Kopf bis Fuß betrachten sollte — und ich tat es. Ich mußte dem, was er sagte, zustimmen. Er nannte sich selbst alt und wertlos und betonte noch einmal, daß er ein Holzbein habe und fünfundvierzig Rubel im Monat. Er entsprach wirklich nicht meiner Vorstellung von einem abgedankten kommunistischen Offizier. Die Orden, ja. Aber nicht die Armut, die Bitterkeit und diese große Hoffnungslosigkeit.
Dann bekam er einen Hustenanfall, und die Orden fielen aus seiner Hand in den Schmutz. Er spuckte Blut. Mit einem Taschentuch wischte er sich das Blut vom Mund und fiel dann in den Schmutz auf die Knie, wo er mit seinen Fingern nach den Medaillen suchte.
Ich stand auf und ging weg.
"Nun ja", dachte ich, "wenn das stimmte, was der alte Mann gesagt hatte, so war es vielleicht mal in der Vergangenheit. Und das ist ja längst vorbei." Ich hatte für meine eigene Zukunft zu leben, und das war jetzt das Wichtigste. Nur Narren verweilen bei den Problemen der Vergangenheit, so hatte man uns gelehrt.
Gewiß hatte unsere Partei vor langer Zeit Schwierigkeiten gehabt, als unser Land noch in den Kinderschuhen steckte. Es hatte Kämpfe bestehen müssen und schwer gelitten in den ersten Tagen des neuen Regimes. Einige kleine Ungerechtigkeiten mußten da in Kauf genommen werden, übrigens, in welchem Land gibt es keine Ungerechtigkeit?
Doch all die vielen Toten, nur um eine Stadt zu bauen! Konnte man das als kleine Ungerechtigkeit abtun? Ich führte eine Art Debatte mit mir selbst, beschloß dann aber die ganze Angelegenheit aus meinem Gedächtnis zu löschen.
Wie dem auch war, ich fand keine rechten Antworten auf meine Fragen und für mich mußte das Leben weitergehen, gleichgültig, was diese pathetische Figur, die da im Schmutz nach ihren Orden suchte, für Probleme haben mochte. Es gelang mir trotzdem nur mit Mühe, diesen Vorfall zu vergessen, während ich mich für meine Abreise rüstete. Bald würde ich auf meinem Weg in den Fernen Osten der Sowjetunion sein, um meine neue und aufregende Karriere in der sowjetischen Marine anzutreten.
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