Start 

20. Suche nach einem neuen Leben

  Nachwort

  

224-240

Wir fuhren nordwärts bis zur Höhe des Luftflottenstützpunktes Vandenberg an der kalifornischen Küste. Kurz darauf erhielt ich eine Mitteilung, daß ich als Funkoffizier auf die Koliwan versetzt werden sollte, einem anderen russischen Trawler der großen sowjetischen Flotte außerhalb der Gewässer von Nordamerika.

Während die Tage verstrichen und aus Juli August wurde, dachte ich mehrmals an Simas Kudirka und welcher Zukunft er entgegensah: Im günstigsten Falle 10 Jahre Gefängnis. Die Sowjets wußten, daß, wenn erst einmal der Prozeß vorüber war, die Welt Kudirka vergessen würde, und dann konnte er für immer im Gefängnis bleiben — er könnte auch dort einen "Unfall" haben.

 wikipedia  Simas_Kudirka  *1930

Wenn das das Schicksal eines gewöhnlichen Fischers war, was würde erst mir, einem Marineoffizier und kommunistischen Jugendführer, bevorstehen? Ich wußte, was passieren würde. Ich würde tot sein, bevor ich noch Rußland erreichte, wenn man mich erwischte oder auslieferte.

Während wir uns mit jedem Tag mehr der Küste Kanadas näherten, rückte auch der Zeitpunkt heran, der für mich über Leben und Tod entscheiden würde. Ein Zurück gab es für mich nicht mehr. Während wir für kurze Zeit außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone vor Vancouver lagen, erhielten wir den Befehl, mit einem weiteren russischen Trawler, der Schturman Elagin, zusammenzutreffen, der mich als nächsten Funkoffizier übernehmen sollte. Die Versetzung wurde auf der Höhe von Vancouver vollzogen, und die Elagin nahm darauf umgehend Kurs auf die Amchitka-Insel vor der Küste Alaskas, die als Versuchsgegend für unterirdische Atomwaffenversuche diente.

Wenn ich "Trawler" sage, dann benutze ich den Ausdruck, den auch die sowjetische Marine benutzt. Wenn die Schiffe, auf denen ich war, sich tatsächlich auf Fischfang befanden, dann mußten die Fische schon sehr schnell schwimmen und dazu noch von selbst an Deck springen. Wir fuhren ziemlich schnell und ignorierten die Fische samt und sonders.

Während dieser Tage auf See hörte ich mit Vorliebe die "Stimme Amerikas", um zu wissen, was wirklich in der Welt passierte.


Schon in Rußland hatte ich es oft gehört, und ich wußte, daß der größte Teil der russischen Bevölkerung und auch viele der Marinekadetten das gleiche taten. Natürlich war es gefährlich, und wenn man dabei geschnappt wurde, konnte man mit schweren Strafen rechnen. Doch manchmal ist der Hunger nach Neuigkeiten und Wahrheit größer als die Angst vor der Entdeckung. "Die Stimme Amerikas" und religiöse Sendungen in russischer Sprache von irgendwelchen Missionsstationen halfen mir, Kraft zu sammeln für das, was mir bevorstand.

Ende August 1971 erhielt die Elagin Befehl, wieder vor die Küste Kanadas zurückzukehren. Die letzten Wochen hatte ich täglich mehrere Stunden mit Gewicht­heben und anderer Körperertüchtigung verbracht, um zu gegebener Zeit richtig in Form zu sein, der Zeit, in der ich enorme Kraftreserven und Ausdauer brauchen würde. Verschiedene meiner Bordkameraden machten ihre Witze darüber und ulkten: "Hee, versuchst du Mr. Universum zu werden?" Doch ich blieb dabei, denn nur ich wußte, warum.

Die Elagin hatte eine Besatzung von 110 Mann und für je zehn Mann einen Offizier. Der Kapitän war ein fairer, aufrichtiger Seemann, den ich sehr bewunderte. Wir verbrachten viele Stunden gemeinsam oder spielten Schach.

Eines Tages, als ich Informationen nach Rußland durchgab, erhielt ich wieder Nachricht von einer in Kürze zu erwartenden Meldung. Ich machte mich bereit, sie wie immer sorgfältig mitzuschreiben. Es war eine Mitteilung, die mich betrat. In fünf Tagen sollte das Versorgungsschiff, Maria Uljanowa, benannt nach Lenins Schwester, mit uns zusammentreffen und uns mit Lebensmitteln eindecken. Ich sollte dabei auf dieses Schiff umsteigen, das dann anschließend direkt wieder Kurs auf Rußland nehmen würde.

Nachdem ich die Durchsage bestätigt hatte, grübelte ich darüber nach und zwar höchst alarmiert. Ich war jetzt seit sechs Monaten auf See. Noch fünf Tage auf der Elagin und dann zurück nach Rußland, um wahrscheinlich nie wieder der Freiheit so nahe zu sein. Meine größte Chance, in Freiheit zu kommen, war bis jetzt vor der Küste von Los Angeles gewesen, doch ich konnte nicht das Risiko eingehen, zurückgeschickt zu werden.

Es folgte eine weitere Mitteilung über Funk, daß meine Beförderungspapiere fertig wären und mich in Petropawlowsk erwarteten. Doch das war das letzte, was mich jetzt interessierte. Eine Welle der Verzweiflung überkam mich. Während die Gedanken sich in meinem Kopf überstürzten, stießen wir auf unerwartete Schwierigkeiten in Form von Gegenwind und schwerer See. 

225


Es dauerte nicht lange, bis wir mitten in einem Wirbelsturm steckten. Mühsam kämpften wir uns unseren Weg voran, wobei jeder Mann und jede Maschine bis zum letzten eingespannt waren. Verschiedene unserer Schiffe waren bei diesem Sturm in irgendwelche Schwierigkeiten geraten, und ich verbrachte zusätzliche Stunden im Funkraum, um Nachrichten aufzufangen und weiterzugeben, über mir hing ein Wandkalender, den ich häufig mit meinem Blick streifte. Die Zeit schien nur so dahinzufliegen. Die wenigen verbleibenden Tage waren Körner in einer Sanduhr, die unaufhaltsam verrannen und damit die Stunde meiner Entscheidung in atemberaubende Nähe brachten.

"Sergei", befahl plötzlich der Kapitän. "Setz dich mit den kanadischen Behörden in Verbindung. Bitte um Erlaubnis, bei diesem Sturm in ihrem Hoheitsgewässer Schutz suchen zu dürfen."

"Jawohl", erwiderte ich routinemäßig. Doch dann traf mich die Bedeutung dieses Befehls wie ein Schlag. Innerhalb der kanadischen Hoheitsgewässer!

Das war's! Wenn wir so dicht an die Küste kamen, was wir sonst nie tun würden, konnte ich es vielleicht schaffen. Ich hatte ursprünglich beabsichtigt, außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone über Bord zu gehen und irgendetwas Hölzernes als Schwimmhilfe zu benutzen. Doch ich kannte die Wassertemperatur und wußte nur zu gut, daß ich höchstwahrscheinlich an Unterkühlung sterben würde, bevor ich die zwölf Meilen geschafft hatte. Doch jetzt gingen wir in die kanadischen Gewässer! Diese Aussicht füllte mich mit neuer Hoffnung und Energie. Doch was immer auch geschehen mochte, ich hatte mich fest entschlossen: Ich würde nicht auf der Uljanowa nach Rußland zurückgehen, nicht zurück in dieses Leben.

Da die endgültige Entscheidung jetzt gefallen war, nämlich zu fliehen, unter allen Umständen und unter jeder Bedingung, konnte ich mich nun ganz auf eine Sache konzentrieren — den Moment meiner Flucht. Und dieser Augenblick sollte während der wildesten Sturmstärke kommen.

Am 3. September 1971 gegen zehn Uhr abends sprang ich in die schwarze, aufgewühlte See. Nach fünf Stunden in dem eisigen Wasser erklomm ich die etwa 70 m hohe Klippe, fiel auf der anderen Seite eine Art Schlucht hinunter, wobei ich zerschnitten und zerschlagen unten ankam. Ich war der Kälte, dem Wind und dem Regen ausgesetzt gewesen. Ich zitterte nur noch unkontrolliert und blutete aus mehreren Wunden an den Beinen, den Füßen und Händen. Ich schwamm den halben Weg durch die Bucht, die mich noch von dem Dorf trennte. Dann begann sich alles in meinem Kopf zu drehen. Ich war zu kalt, zu erschöpft. Ich hatte zu viel Blut verloren. 

226


Ich sah noch einmal hoch, bevor mich eine Welle von Schwindelgefühl überkam, und das letzte, woran ich mich erinnerte, gesehen oder gedacht zu haben, waren die Lichter der kleinen Ortschaft an der Küste. Ich muß es schaffen! Ich muß es schaffen! Und dann gingen die Lichter der kleinen Ortschaft aus.

Ich weiß nicht, was anschließend passierte. Es ist alles nur verschwommen in meiner Erinnerung. Doch später erfuhr ich die ganze Geschichte von den guten Leuten des Dorfes Tasu, die mich fanden und aufnahmen.

Dieser Morgen des 4. September 1971 begann ungemütlich und stürmisch über der kleinen Siedlung an der Küste der Insel Queen Charlotte. Die meisten der Dorfbewohner arbeiteten im Bergwerk. Eine Frau allerdings, deren Haus etwa 20 m oberhalb des Strandes lag, ging um halb neun ans Telefon und sah dabei aus dem Fenster. Es war sehr ungewöhnlich, daß sie sich überhaupt an diesem Tage zu Hause aufhielt.

Ich erfuhr später, daß sie normalerweise um diese Zeit an ihrer Arbeitsstelle war, doch heute ausgerechnet zu Hause blieb. Beim Telefonieren sah sie hinaus aufs Meer und glaubte ihren Augen nicht zu trauen.

Sie sah mich den Strand herauftaumeln, halb nackt, erschöpft und blutend. Sofort forderte sie telefonisch Hilfe an, und ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Der Arzt sagte später, daß ich vor Erschöpfung eine Herzunregelmäßigkeit gehabt und mehrere Tage in einem schlafähnlichen Zustand verbracht hätte.

Dann hörte ich plötzlich wie aus weiter Ferne Stimmen, die sich in einer fremden Sprache im Flüsterton unterhielten. Ich konnte nichts verstehen. Ich fragte mich, wo ich war. Zurück an Bord, dachte ich mit zunehmender Panik. Doch nein, nein, das waren fremde Stimmen! Kanada! Ich mußte es geschafft haben!

Meine Augen begannen jetzt, Dinge zu erkennen, und ich sah in das Gesicht einer Krankenschwester, die sich über mich beugte. Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Ich lebte also! Ich war in Kanada! Ich hatte es geschafft! Ich war der glücklichste Mensch auf der Welt!

Nach einigen Stunden kam ein Mann ins Zimmer und sagte, daß er für mich übersetzen würde. "Wer sind Sie?" fragte er. "Warum sind Sie hierher gekommen? "

Vor lauter Schmerzen konnte ich kaum sprechen, dennoch brachte ich mühsam hervor: "Ich will nicht wieder auf das russische Schiff zurück!"

227


"Nun gut," sagte er. "Wir werden jetzt mit den kanadischen Behörden in Prince Rupert Kontakt aufnehmen, von wo man uns mitteilen wird, was in Ihrer Sache zu tun ist."

Noch am selben Nachmittag kam ein Hubschrauber und brachte mich in die Hauptstadt von Queen Charlotte und von dort nach Prince Rupert in Britisch-Kolumbien. Bevor ich das Krankenhaus verließ, bedankte ich mich noch bei der Schwester und dem Arzt, die mich so gut in Tasu versorgt hatten. Außer meinem Dank konnte ich ihnen nichts geben, zumal ich noch nicht einmal ihre Sprache verstehen konnte.

In Prince Rupert kam ich in die Gefangenenabteilung des Krankenhauses. Ich blieb ein paar Tage dort und erhielt von allem das Beste — wundervolles Essen, Ruhe und die beste medizinische Pflege. Alle waren sehr gut zu mir. Ich stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses; obwohl ich ihre Sprache nicht verstand, bekam ich doch so viel mit, daß nicht allzu viele russische Seeleute nach Prince Rupert kamen. Ich hatte manchmal das Gefühl, als würde man mich mit einem Wesen aus dem Weltenraum verwechseln. Niemand sprach russisch, so versuchte ich es mit ein wenig Deutsch, und sie fanden jemanden, der es übersetzen konnte. Diese Fremden pflegten mich so ausgezeichnet, daß meine Kräfte bald wiederkehrten.

Mit zunehmender Gesundheit interessierte ich mich mehr und mehr für meine Umgebung. Eines Tages führten mich ein Beamter der Emigrationsbehörde und ein Übersetzer aus dem Krankenhaus heraus und machten eine Rundfahrt mit mir durch Prince Rupert. Meine Augen fielen mir fast aus dem Kopf, als ich die vielen Autos und die hübschen Häuser sah. Ich nehme an, daß ich ziemlich dumm aus der Wäsche guckte, denn er sagte darauf erklärend: "Hier wohnen die Leute."

"Wer, die Kapitalisten und Geschäftsleute?" fragte ich. Er lachte und sagte: "Nein, die Arbeiter."

Nun, ich glaubte das natürlich nicht. Ich dachte, das ist eine richtige Propaganda-Tour, Sergei. Fall nicht darauf herein.

Später brachte man mir eine Illustrierte zum Anschauen. Sie hieß so ähnlich wie "Innendekoration leichtgemacht". Sie enthielt phantastische Bilder von Spiegeln, Stühlen, Betten, Teppichen und wunderschönen Eigenheimen mit teuren Möbeln. Aha! dachte ich. Das ist eine speziell von der Regierung gedruckte Illustrierte, um mich hereinzulegen. Ich war so aufgewachsen, in allem Positiven Propaganda zu sehen, und es war mir zur Gewohnheit geworden, einer Regierung grundsätzlich keinen Glauben zu schenken. Ich war zwar dem Kommunismus entflohen, aber der Kommunismus mit all seinem Argwohn und Mißtrauen steckte noch in mir.

228


Später, als ich erkannte, daß normale Arbeiter tatsächlich in solchen Häusern wohnten wie die in Kanada und daß die Zeitung nicht extra für Leute wie mich gedruckt worden war, kam ich mir doch etwas dumm vor.

In der russischen Propaganda heißt es, daß die Reichen nur durch die Ausbeutung der ganz Armen so reich werden. Doch die Häuser der Arbeiter sahen, verglichen mit Rußland, wie Paläste aus, und ich konnte nicht umhin festzustellen, daß hier fast alle gleich gut gekleidet waren.

Ich sah allerdings ein oder zwei Betrunkene, doch in Rußland kann man sie an jeder Straßenecke liegen sehen, wenn man abends durch die Stadt geht. Ferner hörten wir in unserer Propaganda immer wieder, daß in den kapitalistischen Ländern Millionen von Menschen arbeitslos sind, die Demonstrationen veranstalten müssen, um Brot zu verlangen und daß die Polizei sie dafür oft brutal schlagen würde.

Obwohl ich an der Richtigkeit dieser Behauptung gezweifelt hatte, zeigte mir meine erste Ausfahrt in einem freien Land doch, welch große, tragische Lüge die kommunistische Propaganda ist.

Mit jedem Tag fühlte ich meine alte Kraft wiederkehren, und ich schaute voller Zuversicht in die Zukunft. Doch plötzlich, ohne vorherige Warnung, gerade als meine Hoffnungen am höchsten waren, erreichte mich eine Nachricht, die mich in Angst und Entsetzen stürzte: Es war durchaus möglich, daß ich doch noch den Sowjets ausgeliefert würde.

Am nächsten Tag flog man mich nach Vancouver, wo ich im Zentral-Gefängnis untergebracht wurde. Mein Traum von Freiheit und einem neuen Leben war in Gefahr, in hunderttausend, hoffnungslose kleine Stücke zu zerplatzen. Warum? Warum?

Ich kann meine geistige Verfassung im Gefängnis von Vancouver nicht beschreiben. Ich war allein in einem fremden Land, in das ich all meine Hoffnung und mein Vertrauen gesetzt hatte und das sich jetzt gegen mich zu wenden schien. Ich hatte den stürmischen, eiskalten Nordpazifik den warmen, einladenden Wassern vor Kalifornien vorgezogen, weil ich diesem Land vertraut hatte. Ich hatte mein Leben in seine Hände gegeben. Ich hatte hier die wunderbarste Sorgfalt, Pflege und Hilfe von allen erfahren, denen ich begegnet war. Und jetzt wollte mich dieses Land möglicherweise wieder ausliefern! Dem sicheren Tod! Das war das letzte, was ich erwartet hatte! Allein der Gedanke daran verfolgte mich.

229


Ich war allein in meiner Zelle. Mit niemandem konnte ich sprechen. Ich fühlte mich grausam verraten und verletzt. Zeitweise gelang es mir, meine Probleme zu vergessen, aber nur für Momente. So war es mir eine willkommene Abwechslung, wenn mein Wächter, mit dem ich mich, so gut es eben ging, befreundet hatte, hin und wieder aus der Zelle in den Hof ließ, wo wir zur Entspannung ein paar Bälle hin- und herwarfen.

Ich hatte noch immer ein paar physische Beschwerden, doch sie waren nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die meine Seele quälten. Ich mußte einfach mit jemandem sprechen. In meiner Verzweiflung wollte ich zu Gott beten. Ich kniete nieder, wie ich es bei den Gläubigen gesehen hatte. Vielleicht würde es mir helfen. Doch ich kannte keine Gebete. Ich war verlegen, unbeholfen und irgendwie beschämt. Aber mein Herz war so voll, daß ich einfach mit Gott zu sprechen begann und zwar so, wie es mir gerade einfiel. Ich wußte nicht, ob Er mich hörte, aber für eine Weile fühlte ich mich besser.

Mein vom Gericht ernannter Anwalt war ein freundlicher und fähiger Mann, der sein Bestes tat, um mir zu helfen. Er bearbeitete meinen Fall mit großem Interesse und persönlichem Einsatz, wofür ich ihm stets dankbar sein werde. Ich fragte ihn, aus welchem Grunde ich ausgeliefert werden könnte. Er erklärte mir daraufhin, daß Kanada und Rußland in sehr regen Handelsbeziehungen ständen und Kanada Millionenwerte von Weizen nach Rußland exportierte. Man war daher bemüht, die freundschaftlichen Gefühle nicht zu trüben, zumal die russischen Behörden es unmißverständlich klargemacht hatten, daß sie mich unbedingt zurückhaben wollten und außerdem Kossygin im nächsten Monat hier erwartet wurde.

Wieder allein in meiner Zelle, dachte ich: Wenn ich denen ausgeliefert werde, bin ich erledigt.

Ich hatte versucht, unter unglaublich großen Schwierigkeiten eine neue Heimat zu finden, nur um Gefahr zu laufen, wieder zurückgeschickt zu werden. In meiner Verzweiflung versuchte ich in dieser Nacht wieder, mit Gott zu sprechen und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf.

Die nächsten Tage waren voller Angst und Ungewißheit. Jeder sich nähernde Schritt auf dem Gefängnis­korridor konnte das Ende bedeuten. Russische Schiffe lagen im Hafen von Vancouver. Es würde eine Sache von Minuten sein, mich auszuliefern. Ich erlitt wahre Folterqualen.

War ich erst einmal in russischer Gewalt, würde das Schicksal Kudirkas, den man geschlagen und getreten hatte, gnädig gegenüber dem sein, was mir bevorstand. Während dieser einsamen, angsterfüllten Tage und Nächte lag ich oft auf meinen Knien und betete zu Gott.

230


Eines Abends konnte ich vor innerer Spannung wieder einmal nicht schlafen. Um zwei Uhr schaltete ich das Licht aus und lag noch wach in der dunklen Zelle. Gegen halb drei hörte ich plötzlich Männerstimmen auf dem Korridor und näher kommende Schritte. Vor meiner Zellentür machten sie halt. Jetzt ist es soweit, dachte ich.

Schlüssel rasselten, und die Tür wurde geöffnet. Jemand knipste das Licht an, und ich sah mehrere Männer in Zivilkleidung im Eingang stehen. "Komm mit", sagte einer von ihnen. "Nimm all deine Sachen. Wir werden eine kleine Stadtbesichtigung unternehmen."

Eine Stadtbesichtigung um halb drei Uhr morgens? Da mußte etwas anderes dahinterstecken! Sie brachten mich hastig durch den Hinterausgang des Gefängnisses in einen dort wartenden Wagen, in dem drei Beamte in Zivilkleidung saßen. Der Fahrer fuhr los in die Dunkelheit. Selbst um halb drei Uhr morgens war die Straßenbeleuchtung noch an, und ich konnte sehen, wie groß und wundervoll Vancouver wirklich war. Es war die erste große Stadt in der freien Welt, die ich gesehen hatte. Wir fuhren durch die Hauptstraßen, dann mit voller Geschwindigkeit durch kleine Seitenstraßen. Der Fahrer schlug immer wieder entgegen­gesetzte Richtungen ein, fuhr in unbeleuchtete Gassen, bog wieder scharf nach rechts oder links und das alles in einem Höllentempo.

Diese "Tour durch die Stadt" dauerte ungefähr zwei Stunden. Endlich, gegen halb fünf, parkte er irgendwo, ging in eine durchgehend geöffnete Imbißstube, führte ein Telefongespräch und kam wieder heraus. "Alles in Ordnung", sagte er. "Es kann losgehen." Wir fuhren wieder los und zwar diesmal zum Flughafen — nicht auf einen Parkplatz sondern gleich zur Rollbahn, wo er vor einem großen Flugzeug hielt. Wir gingen an Bord. Es waren nur wenige Passagiere da, einschließlich der Polizeibeamten, die mich begleitet hatten.

Wir flogen quer über Kanada, in den bereits dämmernden neuen Tag und landeten schließlich in Montreal. Ich wurde schnell wieder in einen nicht gekennzeichneten Polizeiwagen verfrachtet, rechts und links von Polizisten umgeben. Dann brachte man mich nach Quebec City in ein Gefängnis, das auf einer Insel im St. Lawrence River lag und zwar in eine verschlossene Zelle.

Zu dieser Zeit wußte ich noch nicht, daß nur wenige Tage später der sowjetische Dampfer Alexander Puschkin den St. Lawrence River heraufkommen und in unmittelbarer Nähe vor Anker gehen sollte. 

 wikipedia  Marco_Polo_Schiff,_1965

Nach meiner Überlegung konnte mein heimliches Fortbringen aus Vancouver nur eines bedeuten: eine Übergabe an die sowjetischen Behörden. 

231


Mein Fall hatte in Britisch-Kolumbien bei der Bevölkerung viel Staub aufgewirbelt, und viele Leute hatten mir ihr Interesse und ihre Sympathie bezeigt. Aus diesem Grunde dachte ich auch, sollte die Auslieferung am entgegengesetzten Ende von Kanada vollzogen werden, wo mich niemand kannte. Für mich gab es nur zwei Erklärungen für das heimliche Verlassen des Zentral-Gefängnisses in Vancouver, die mitternächtliche "Stadtbesichtigung" und den Flug quer über Kanada: entweder, um mich vor unbekannten Feinden zu schützen oder, was wahrscheinlicher war, mich ohne großes Aufsehen den Russen zu übergeben. Zu dieser Zeit allerdings hatte ich wenige Zweifel, daß es das letztere war.

Doch im Westen Kanadas bemühten sich einige meiner neuen Freunde, mir zu helfen. Ein Unbekannter — jedenfalls weiß ich bis heute nicht, wer es war — rief Pat Burns an, einen Mann, der beliebte Radio­Interviews durchführte und informierte ihn von meinem Verschwinden. Herr Burns hatte meine Geschichte im Radio erzählt und sich besonders für meinen Fall interessiert.

Da er fürchtete, daß ich jeden Augenblick ausgeliefert werden könnte, handelte er sofort. Während einer Direktübertragung telefonierte er mit Ottawa, um den zuständigen Parlamentsabgeordneten für Vancouver zu sprechen. Pat Burns teilte ihm mit, was passiert war. Dieser Parlamentsabgeordnete wandte sich daraufhin, ohne Zeit zu verlieren, an Premierminister Pierre Trudeau und verlangte eine direkte Antwort auf die Frage, ob die kanadische Regierung geplant habe, mich an die Russen auszuliefern. Er verlangte außerdem eine umgehende öffentliche Stellungnahme vor der Presse, die über diesen Fall berichtete.

Mit meiner Notlage jetzt so an die Öffentlichkeit gebracht, wo es großes Interesse erregte und zu meinen Gunsten viel Staub aufwirbelte, war es jetzt den Behörden nicht mehr möglich, mich auszuliefern, und die Gefahr war vorüber. Ich habe nie erfahren, wie groß sie wirklich war und ob ich tatsächlich ausgeliefert worden wäre. Für mich jedenfalls war es so, als hätte ich die letzten Tage unter dem berühmten "Damoklesschwert" gesessen.

Inzwischen lief ich nervös, betend und wartend in meiner Zelle auf und ab. Ich wußte nicht, daß meine flehentlichen Gebete erhört worden waren.

Als man mir dann auf einmal mitteilte: "Sie können in Kanada bleiben", war ich beinahe wie vom Schlag gerührt. Ich fühlte die Ketten von mir abfallen, obwohl ich immer noch hinter Gefängnismauern saß. Es war, als wenn mir mein Leben neu geschenkt worden wäre. Ich war ein freier Mensch in einem freien Land. Obwohl ich so darauf gewartet hatte, konnte ich es jetzt kaum fassen. Doch es war endlich Wahrheit!

232


Ich dankte Gott von Herzen, daß Er meine Gebete erhört hatte, so schlecht ich mich Ihm und Seinen Kindern gegenüber auch benommen hatte.

Ich blieb noch ein paar Wochen in verschiedenen Gefängnissen Kanadas, während meine Papiere bearbeitet und meine Geschichte nachgeprüft wurde. Doch da ich jetzt wußte, daß ich nicht mehr ausgeliefert würde, war es eine wundervolle Zeit. Ich spielte Gitarre. Ich sang. Ich komponierte Lieder. Ich bekam Briefe von verschiedenen Leuten aus Kanada, die meine Geschichte gelesen hatten. Ich hatte Freunde, die mich besuchen kamen. Und ich war der kanadischen Regierung für diesen Entschluß unendlich dankbar. Nie werde ich ihr diese Freundlichkeit vergessen.

Es kamen auch andere, weniger willkommene Besucher. Eines Tages erschien der zweite Sekretär der russischen Botschaft. Er sprach mit mir in Anwesenheit von kanadischen Beamten und sagte: "Wir wissen, daß Sie noch sehr jung sind und einen Fehler gemacht haben. Wenn Sie zurückkommen, werden wir Ihnen alles vergeben, und alles vergessen. Sie werden Ihre frühere Position wiedererhalten, und alles wird wie früher sein."

Ich antwortete ihm darauf, daß ich niemals wieder zurückkehren könnte.

Dann überreichte er mir einen Brief von meiner früheren Freundin, Olga, die mich mit dringenden Worten bat, zu ihr zurückzukehren und mir ebenfalls versprach, daß alles vergeben und vergessen sei — fast die gleichen Worte, die auch der Botschaftsangestellte benutzt hatte. Als ich jedoch bei meiner ablehnenden Haltung blieb, sagte der russische Beamte abschließend: "Kourdakov, eines Tages werden Sie zu uns kommen und darum betteln, zurückkehren zu dürfen!"

Kurz darauf waren meine Einwanderungspapiere fertig, und es wurde mir gesagt, ich sei jetzt ein freier Mann, frei, das Gefängnis zu verlassen und ein neues Leben in Kanada zu beginnen.

 

Während meiner Wochen im Gefängnis war ein Regierungsbeamter zu mir gekommen und sagte etwa in dem Sinne: "Herr Kourdakov, wir haben Ihre Geschichte sorgfältig von Anfang bis Ende nachgeprüft. Wir haben all Ihre Angaben in einen Computer gegeben, der besonders darauf programmiert ist, Analysen zu stellen. Wir haben dabei die Wassertemperatur berücksichtigt, die Richtung und Stärke des Windes, die enorme Sturmstärke, die Entfernung vom Schiff bis zur Küste, die Höhe der Wellen — selbst Ihre physische Kraft. 

233


Unsere Wissenschaftler haben all dieses mit Hilfe des Computers getestet, doch die fertige Analyse hat ergeben, daß Sie unmöglich diese Strecke unter diesen Bedingungen zurücklegen und überleben konnten. Ist da vielleicht doch noch irgend etwas, irgend etwas, das Sie vergessen haben, uns zu erzählen?"

Ich dachte einen Augenblick nach und sagte dann: "Das einzige, was ich nicht angegeben habe, ist, daß ich sehr viel zu Gott gebetet habe."

Er ging, kam dann aber ein paar Tage später wieder. "Herr Kourdakov", sagte er, es wird Sie interessieren, daß wir nochmals all Ihre Angaben, einschließlich Ihrer Gebete, in den Computer gefüttert haben, mit dem Ergebnis, daß Ihr überleben möglich war. Wir sind jetzt von der Wahrheit Ihrer Geschichte überzeugt."

Ich war überrascht. Was wußte ein Computer von Gott? Später erklärte man mir, daß meine Gebete zu Gott als "psychologische Kraft" gewertet wurden. Und das war der motivierende Faktor, der selbst auf Grund der Computerberechnung mein Überleben möglich gemacht hatte.

Ich verließ das Gefängnis von Quebec als freier Mann und mietete mir ein Zimmer in einem kleinen Hotel. Dort und auch schon vorher traten verschiedene Leute mit mir in Verbindung und boten mir ihre Hilfe an, einen Arbeitsplatz oder eine Möglichkeit zu wohnen. Ein Stellenangebot war dabei, das entgegen all meinen Erwartungen war: Ein Veranstalter von Schwimmwettbewerben in Ontario schrieb mir, daß er für nächstes Jahr einen großen Sommer­schwimmwettbewerb plane. Da ich in ganz Kanada eine Art Berühmtheit als Schwimmer geworden war, wollte er mir 150,- Dollar zahlen, wenn ich im Rahmen seiner Veranstaltung 25 Meilen schwimmen würde. "Jedermann kennt Sie als großartigen Schwimmer", schrieb er. "Die Leute werden von überall herkommen, um Sie schwimmen zu sehen. Wir können zusammen ein gutes Geschäft machen."

Nun, ich bin zwar ein guter Schwimmer, aber ich schrieb ihm, daß es Gott war, der mir die Kraft gegeben hatte, so lange im Ozean schwimmen zu können und daß ich daher sein Angebot nicht annehmen könne.

Für mich gab es jetzt zwei Dinge von größter Wichtigkeit: Das erste war, mein Versprechen Gott gegenüber einzulösen. Ihm zu dienen. Das zweite war, eine Arbeit zu finden, mich in Kanada niederzulassen und als freier Mensch zu leben. Ich war mir im klaren darüber, daß mein zweites Vorhaben leichter durchzuführen war als das erste.

234


Die Priorität hatte allerdings der Wunsch, Gott zu finden. Doch wie? Wo? Ich wußte so gut wie nichts über Gott und kannte auch keinen Pastor, mit dem ich hätte darüber sprechen können. Doch im Zentrum von Quebec hatte ich eine große Kirche gesehen, die Kirche der Heiligen Anna. Dorthin beschloß ich zu gehen, denn ich dachte, wenn das ein Gotteshaus ist, dann ist es hier, wo ich Gott finden kann. Ich ging hinein und wußte nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte. Es waren noch ein paar andere Leute da, und ich beschloß, ihnen alles nachzutun.

Sie gingen nach vorn und knieten nieder. Ich tat das gleiche. Sie begannen zu beten, und ich versuchte es auch, wußte aber nicht, was ich sagen sollte, denn ich fühlte mich unbeholfen und nicht wert, im Hause Gottes zu sein.

Ich hatte die Gläubigen in Rußland geschlagen und getötet. Ich hatte mehr als 150 geheime Zusammen­künfte der Untergrundkirche überfallen. Ich hatte Bibeln verbrannt. Ich hatte alte Frauen und viele Gläubige verletzt. Ich war es nicht wert. Und doch fühlte ich eine innere Ruhe über mich kommen, und ich begann mit Gott zu reden, wie ich es im Ozean und in den Gefängnissen getan hatte.

Nachdem ich so eine Weile gebetet hatte, fühlte ich, wie meine Last leichter wurde. Er war eine ungeahnte Ruhe und ein nie gekannter Friede, der mein Herz erfüllte. Wenn es das war, was Gott den Seinen gab, dann wollte auch ich es haben, mehr als alles auf der Welt. Drei Stunden hatte ich so vor Gott gekniet, und ich hatte wirklich das Gefühl, als wäre mir geholfen worden, doch ich suchte noch nach mehr, nach etwas, was die Gläubigen in den Untergrundkirchen hatten. Ich wollte haben, was Natascha hatte ...

Ich verließ die Kirche und ging zurück auf mein kleines Zimmer. Dort erwartete mich eine Nachricht, daß sich jemand mit mir über eine Arbeitsstelle unterhalten wolle. Dazu sollte ich zu einem Interview zu einer bestimmten Adresse kommen. Zwei junge Bulgaren, die einige Monate früher nach Kanada geflohen waren, halfen mir als Übersetzer und auch sonst in meinem neuen Leben. Ich hinterließ ihnen eine Nachricht, wo ich zu finden war, dann machte ich mich auf den Weg zu der angegebenen Adresse. Verschiedene Leute warteten dort bereits auf mich. Sie hatten nicht die geringste Absicht, mit mir über Arbeitsmöglichkeiten zu reden. Nichts schien ihnen ferner zu liegen als das, denn sie waren, wie sich bald herausstellte, Mitglieder der FLO, der französischen Separatisten- und Terror-Organisation in Quebec, die Bombenanschläge verübten und in ihren Bemühungen, sich von Kanada zu lösen, selbst Diplomaten umgebracht hatten. 

235


Sie besaßen starke kommunistische Verbindungen und Unterstützung. Ich sah mich um und bemerkte sofort, ich war in eine Falle gegangen.

"Kourdakov," warnten sie mich, "solltest du deinen Mund zu weit aufmachen und Dinge sagen, die besser ungesagt bleiben, werden wir dich zum Schweigen bringen!"

Ich versuchte mit ihnen zu sprechen, um Zeit zu gewinnen und einen Weg zu finden, heil hier wieder herauszukommen. Glücklicherweise kamen sehr bald meine beiden bulgarischen Freunde, die meine Nachricht gefunden hatten und mir auf schnellstem Wege gefolgt waren. Ich verschwand sofort mit ihnen, während mir die Warnungen noch in den Ohren klangen. Ich wußte jetzt, daß ich selbst hier, als freier Mann, nicht in Ruhe gelassen würde. Moskau streckte noch immer die Hand nach mir aus.

In Quebec folgte mir ein Mann von der russischen Botschaft auf Schritt und Tritt. Die. Polizei warnte mich, daß ein sowjetisches Schiff im Hafen von Montreal läge und bat mich, vorsichtig zu sein.

"Rufen Sie uns an, wenn Sie sich bedroht fühlen", sagten sie. Mit der Drohung der FLO im Rücken und den ziemlich starken Kommunisten in Quebec beschloß ich, diese Stadt zu verlassen und nach Toronto zu gehen. Es gab ein russisches Konsulat in Montreal und eine russische Botschaft in Ottawa, und von all dem wollte ich so weit weg wie möglich sein.

So kam ich denn nach Toronto und wohnte dort bei einer russischen Familie, die meine Geschichte gelesen und mir ihre Hilfe angeboten hatte.

Die kanadische Regierung bezahlte mein Englischstudium an der Universität, und ich machte mich mit Feuereifer daran, die neue Sprache zu meistern.

Doch erstrangig in meinem Geist war die Suche nach Gott. Ich fühlte einen geistlichen Hunger, den ich nur schwer beschreiben kann, und ich wußte, ich würde erst dann ein vollkommener Mensch sein, wenn dieser Hunger gestillt war. Es war nicht nur ein Gefühl der Reue, weil ich die Gläubigen in Rußland geschlagen und getötet hatte. Ich wußte, daß Gott mir das vergeben hatte, denn es war aus Unwissenheit geschehen. Was ich fühlte, war eine aufrichtige, tiefe geistliche Not in meinem Leben. Ich wußte, ich würde nicht eher ein wirklich freier Mann sein, als bis auch mein Geist genauso frei war wie mein Körper. Ich erinnerte mich daran, daß einer der Gläubigen bei einem Verhör gesagt hatte, daß sie oft fasteten, wenn sie mit besonderer Dringlichkeit um etwas beteten. Und ich dachte, vielleicht ist es das, was ich tun sollte. Bald darauf ging ich in eine Kirche in Toronto, die ich einmal mit einer befreundeten Familie aufgesucht hatte. Diese Kirche war immer geöffnet.

236


Es war niemand da, so ging ich nach vorn und begann zu beten. Ich blieb zwei ganze Tage dort und nahm in dieser Zeit nur Wasser zu mir. Ich wußte nicht, welche Worte ich wählen sollte, doch mein Herz betete für mich. Es konnte all das ausdrücken, was ich fühlte. Nach zwei Tagen, in denen ich nachts nur etwa drei Stunden schlief, verließ ich die Kirche und ging wieder zur Schule zurück.

Ich fühlte mich geistig gestärkt, aber trotzdem schien noch etwas zu fehlen.

Etwa um diese Zeit erhielt ich eine Karte von Valentine Bubowitsch, einem russischen Mädchen, das als Bibliothekarin an einer Universität in der Nähe von Toronto arbeitete. Sie schrieb mir, daß sie Christin sei und lud mich ein, in ihre Gemeinde zu kommen. Ich willigte gern ein.

Als ich dann am nächsten Sonntag die Kirche betrat, gewahrte ich etwas Vertrautes. "Das ist ja hier wie in Rußland!" rief ich überrascht aus. Ich dachte an die Lieder, den Geist und die Gemeinschaft, die ich in der russischen Untergrundkirche bemerkt hatte. Valentines Vater gab mir ein Psalmbuch, das mir eine große Hilfe war.

Ich begann jetzt, in ukrainische Kirchen zu gehen und fand dort eine wundervolle geistige Lebendigkeit - besonders unter den jungen Leuten. Eines Tages wurde ich mit einem Pastor bekannt, der von mir gehört hatte, und wir unterhielten uns. Ich sagte ihm, daß mein Herz immer noch in einer gewissen Weise leer war und, obwohl physisch befreit, ich mich doch nicht vollkommen fühlte, und ich erklärte ihm, wie es mein größter Wunsch war, Gott zu gehören und Ihm zu dienen. Er verstand mich und beantwortete mir manche Frage, erklärte mir Bibelstellen und zeigte mir den Weg zu Gott. Ich werde ihm immer dafür dankbar sein.

Eines Tages während des Gottesdienstes sagte er: "Sergei, bist du bereit, dein Leben ganz und gar Gott zu übergeben?"
"Ja", erwiderte ich.
"Dann laß uns zusammen beten", sagte er.

Und während wir beteten, geschah etwas in meinem Leben — etwas Endgültiges, Konkretes und Wunderbares. Ich fühlte plötzlich den Frieden Gottes in mir, und ich wußte, daß meine Suche nach dem neuen Leben vorüber war.

Ich übergab es Jesus Christus, und Er trat in mein Leben. An diesem wundervollen Tag wurde ich neu geboren, und die innere Leere wurde von Ihm gefüllt. Der Gedanke war wunderbar, daß ich jetzt auch dazugehörte, neben Natascha, Pastor Litowtschenko und den anderen Gläubigen, die ich verfolgt hatte.

237


Jetzt war ich einer von ihnen! Der Pastor unterwies mich noch oft, damit ich im Glauben wachsen sollte. Eines Tages sagte er zu mir: "Sergei, du bist jetzt ein Christ, und du brauchst eine Bibel in deiner Muttersprache."

Und damit reichte er mir eine kleine, schwarze, russische Bibel. Ich stand da — wie vom Donnerschlag gerührt. Ich traute meinen Augen nicht!

Der Pastor sah meinen Schock und fragte erstaunt: "Was ist los? Was hast du?"
"
Diese Bibel!" rief ich aus. "Ich habe genau die gleiche schon einmal gesehen!"
"Wo?"
"In den Untergrundkirchen von Rußland!"

Ich schlug sie auf und blätterte darin. Ja, das war sie. Es war die gleiche Bibel.

"Das ist schon sehr gut möglich", erwiderte der Pastor. "Es ist eine von den Bibeln, die von einer Organisation mit Namen "Underground Evangelism" gedruckt und nach Rußland gebracht werden."

"Wo kann ich sie finden?" fragte ich. "Ich möchte ihnen danken und ihnen sagen, daß ihre Bibeln ankommen."

Er gab mir daraufhin die Anschritt dieser Organisation, und ich bat einen Freund, für mich dort anzurufen. Ich sprach mit dem Vorsitzenden, L. Joe Bass, der sich sehr für mich interessierte und mich auch gern persönlich kennenlernen wollte.

Wir hatten auch bald Gelegenheit dazu, als er auf seinem Weg nach Europa den Umweg über Toronto machte. Wir unterhielten uns mehrere Stunden lang, und ich erfuhr von der Arbeit, die diese .Organisation leistet, um den verfolgten Christen in Rußland und anderen kommunistischen Ländern zu helfen, und ich dankte ihm im Namen der russischen Menschen.

Mein Englischkurs ging dem Ende zu, und ich war bald so weit, eine Arbeit annehmen zu können. Ich erhielt auch ein gutes Angebot von einer Elektronikfirma als Radioingenieur, und ich sah voller Erwartung in mein neues Leben. Ich würde ein gutes Gehalt bekommen, könnte mir einen Wagen leisten, später eine Familie gründen und ein eigenes Heim haben. Das war natürlich alles sehr verlockend für mich. Doch während ich über all diese angenehmen Dinge nachdachte, konnte ich die Erinnerungen an Rußland nicht loswerden. Ich konnte nicht die vielen Gläubigen vergessen, die immer noch um ihres Glaubens willen geschlagen wurden. Ich mußte an den jungen Mann denken, der meinen Platz in Nikiforows Sonderteam eingenommen hatte. 

238


Ich konnte die Bibeln nicht vergessen, die immer noch verbrannt wurden und die Gläubigen, die sich noch immer heimlich trafen. Ich dachte an die Millionen von russischen Jugendlichen, die, wie ich, irregeführt, illusionslos und enttäuscht nach der Wahrheit suchten. Ich konnte nicht anders, ich mußte alles tun, was in meinen Kräften stand, um ihnen zu helfen.

So begann ich denn, öffentlich zu sprechen, in Kirchen, vor der Presse, im Fernsehen und bei anderen Gelegenheiten. Ich sprach von den Verfolgungen und Schwierigkeiten in Rußland und auch darüber, was es für mich bedeutete, Christ geworden zu sein. Schließlich bat ich die Menschen, für mein Volk zu beten und ihnen zu helfen, soweit es im Bereiche des Möglichen lag.

Eines Tages kam ich vom Dundas Westbahnhof in Toronto und war auf meinem Nachhauseweg. Als ich merkte, daß ich verfolgt wurde, blieb ich plötzlich stehen und wandte mich abrupt um. Hinter mir standen drei bärenstarke Kerle. Einer von ihnen sagte in einwandfreiem Russisch: "Wenn du weißt, was für dich gut ist, dann hältst du den Mund! Wenn du noch einmal den Mund aufmachst, wirst du einen tödlichen Unfall haben. Denke daran, du bist gewarnt worden!"

Dann wandten sie sich um und waren in wenigen Augenblicken in der Dunkelheit verschwunden.

Ich kannte die sowjetische Polizei gut genug, um zu wissen, daß dies keine leere Drohung war. Ich wußte aber auch, daß ich eine große Verantwortung meinem Volk gegenüber hatte, besonders gegenüber denen, die so schwer für ihren Glauben verfolgt wurden. Wenn ich schwieg, wer sollte dann für sie sprechen? Wer würde von ihren Qualen erfahren?

Und so entschloß ich mich, trotz dieser Drohung zu tun, was ich glaubte, tun zu müssen.

Natürlich wünschte ich mir ein Zuhause, eine Familie und ein normales, geregeltes Leben, Dinge, die ich nie selbst kennengelernt hatte. Doch bevor ich daran denken konnte, mußte ich etwas für die tun, die ich zurückgelassen hatte. Ich mußte ihre Geschichte erzählen und ihnen helfen. Und ich mußte den Menschen zeigen, besonders den jungen, an meinem eigenen Leben, daß es einen Gott gibt und daß er selbst das verpfuschteste Leben verändern kann, wie Er es an mir bewiesen hatte.

239


Die Seele des großen russischen Volkes ist nicht tot. Sie ist nicht erstickt unter einer fremden, gottlosen, sterilen Ideologie. Und sie wird auch nicht ersticken, solange es Männer gibt wie Alexander Solschenizyn, Frauen wie Natascha Sdanowa und Millionen von anderen, in denen der Funke des Glaubens und der Liebe nicht erloschen ist.

Es ist vielmehr so, daß in Tausenden von Untergrundkirchen die Flamme des Glaubens heller leuchtet denn je und die Bindungen an göttliche Prinzipien wahrscheinlich gerade durch die brutalen Verfolgungen mehr wachsen als je zuvor. Eines Tages vielleicht werden jene einzelnen, brennenden Lichter von Glaube und Liebe in einer einzigen großen Flamme aufleuchten.

 

Ich habe eine stille Botschaft an alle die Gläubigen in Rußland, die so viel dazu beigetragen haben, daß mein Leben anders wurde. Diese Botschaft habe ich in diesem Buch niedergeschrieben, in der Hoffnung, daß es eines Tages irgendwie zu ihnen gelangt und daß sie verstehen werden.

An Frau Litowtschenko, der gelähmten Frau des Pastors, den wir bei Elisowo getötet hatten: "Ich möchte Ihnen sagen, daß es mir unendlich leidtut, mehr, als Sie es sich jemals vorstellen können."

An Nina Rudenko, das hübsche junge Mädchen, dessen Leben durch meine Attackiergruppe ruiniert wurde: "Bitte, vergib uns!"

Und schließlich an Natascha, die ich fürchterlich geschlagen hatte und die willens war, sich für ihren Glauben noch ein drittes Mal schlagen zu lassen, ihr möchte ich sagen: 

"Natascha, hauptsächlich deinetwegen ist mein Leben verändert, und ich bin jetzt dein Bruder in Jesus Christus. Ein neues Leben liegt vor mir. Gott hat mir vergeben. Ich hoffe, du kannst es auch.  Danke, Natascha, wo immer du auch bist. Ich werde dich niemals, niemals vergessen!"

 

Ende

240


     

Für Sergei Kourdakov gilt das Wort von 2. Korinther 5,17

Darum, ist jemand in Christus, 
so ist er eine neue Schöpfung;
das Alte ist vergangen, siehe, 
es ist etwas Neues geworden!

 

 

241


   

Nachwort des Herausgebers  

 

Kurz nach der Fertigstellung des Entwurfes für dieses Buch starb Sergei. Er widmete sein "neues Leben" der Aufgabe, die Christen Nordamerikas auf die Notlage der russischen Christen hinzuweisen und bat um Bibeln und Hilfe jeder Art für sie.

Von Januar bis April 1972 erzählte er seine Geschichte in vielen Kirchen in Kanada. Am 1. Mai des Jahres trat er der Organisation Underground Evangelism bei (in Deutschland und der Schweiz ist es die Christliche Ostmission). Diese Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Gläubigen in den kommunistischen Ländern Bibeln und jede erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen.

Er sprach in Gemeinden, im Fernsehen, gab Zeitungsinterviews und sprach vor Regierungsvertretern. Er erzählte von den Christenverfolgungen und sprach über die Methoden der Geheimpolizei. Außerdem arbeitete er an seinem Buch und sagte, daß er voller Freude auf den Augenblick warte, wo er über Radio zu der Jugend in Rußland sprechen könne. Die Vorbereitungen hierzu liefen, als die Nachricht von seinem Tod kam.

Verschiedentlich hatte er erwähnt, daß er sich bedroht fühlte, und schließlich lieh er sich eine Pistole zum Selbstschutz. Am 1. Januar 1973 starb er durch eine Kugel aus dieser Pistole. Obwohl die Nachricht von seinem Tod erst als Selbstmord durch die Weltpresse ging, wurde diese Möglichkeit dann doch bald ausgeschlossen. Ein Verfahren wurde eingeleitet, und am 1. März 1973 wurde sein Tod als Unfall erklärt.  

Genau an diesem Tag wäre Sergei zweiundzwanzig Jahre alt geworden.

242

 

 

  ^^^^  

www.detopia.de