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5. "Nachhaltige Entwicklung"

Rolf Kreibich 2000

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Das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung ist unter den gegebenen Bedingungen die plausibelste reale Zukunftsvision, weil sie sowohl auf die großen ökonomischen als auch sozialen und ökologischen Heraus­forderungen zukunftsfähige und realistische Antworten gibt und im Hinblick auf umsetzbare Strategien und Maßnahmen operationalisierbar ist. Ein darauf aufbauendes Zukunftskonzept ist realistisch und machbar, weil es viele Gewinner und nur wenige Verlierer hat und auf einen hohen gesellschaftlichen Konsens aufbauen kann. 

Schon heute wird es von vielen Menschen besonders auf lokaler Ebene in den Kommunen, in Pionierunternehmen, Bildungseinrichtungen und Familien zumindest ansatzweise umgesetzt. Das Konzept hat zudem den hohen Eigenwert, daß es von der internationalen Staatengemeinschaft durch die Rio-Deklaration und die Agenda 21 prinzipiell anerkannt ist und von der Europäischen Union im Vertrag von Amsterdam dahingehend festgeschrieben wurde, daß sich jegliche Europäische Politik an einer "nachhaltigen Entwicklung des Wirtschaftslebens" orientieren soll. 

In Deutschland wurde das Leitkonzept der nachhaltigen Entwicklung durch den Bundestag, die Bundesregierung, die Ministerpräsidenten der Länder und zahlreiche Kommunen, durch die Verpflichtung auf die Agenda 21, ebenfalls prinzipiell anerkannt. Eine Reihe besonders innovativer Unternehmen, teilweise organisiert im Bundesdeutschen Arbeitskreis Umweltbewußtes Management (B.A.U.M.) und bei future e.V. des Bundesverbandes der jungen Unternehmer haben die Strategie der Nachhaltigkeit als Unternehmensleitbild aufgenommen.

Wenn wir zukunftsfähig bleiben wollen, dann müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft den Dreiklang der Entwicklung von Ökonomie, Ökologie und Soziales im Sinne dauerhafter Stabilität im Gleichgewicht halten durch 

Abb. 6  Nachhaltigkeits-Prinzip 

 

 

  Integration von ökonomischer, ökologischer und sozialer Entwicklung  

 

Das erfordert veränderte politische Rahmenbedingungen sowie grundlegende wirtschaftliche und soziale Innovationen. Nun wird von vielen die bange Frage gestellt: Bedeutet das ein Verlassen der Marktwirtschaft und staatliche Reglementierung? Keineswegs, aber der Markt ist blind gegenüber Notwendigkeiten, die gesellschaftlich nicht mächtig genug artikuliert werden. 

Hier zeigt sich nicht die Unfähigkeit der Marktmechanismen, sondern die Unfähigkeit der Wirtschaftssubjekte, zu erkennen, was der Markt leisten kann und was nicht. Marktwirtschaft ist — gerade im Zeichen der Globalisierung — kein Zauberinstrument, mit dem alle gesellschaftlichen, ökologischen und sozialen Probleme gelöst werden können, sondern ein wirtschaftliches Organisationsprinzip, das in der Geldwirtschaft effizient und selbststeuernd ökonomisch wirkt. Gerade wenn wir das erfolgreiche Organisationsprinzip erhalten wollen, sind angesichts der massiven sozialen und ökologischen Verwerfungen neue Zielvorgaben und Rahmenbedingungen zu setzen, die dem Marktgeschehen Richtung und Bandbreite angeben, wohin und in welchen Grenzen es sich entfalten soll. Diese Erkenntnis hat sich selbst auf dem vor 3 Monaten abgehaltenen World Economic Forum in Davos durchgesetzt.

Wir dürfen auch nicht zu ungeduldig sein: Um die gravierenden sozialen Disparitäten der technisch-industriellen Entwicklung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzufangen, hat es länger als 150 Jahre gedauert, um das Modell der sozialen Marktwirtschaft herauszubilden. 

Wir wissen jetzt mehr über die Notwendigkeiten und Instrumente, um auf die heutigen Verwerfungen schneller reagieren zu können und das Modell der nachhaltigen Wirtschaft zu formen. Seine zentralen Leitziele sind klar vorgezeichnet: Bestandserhaltung des Lebens- und Produktionswertes der Natur und Erhaltung der sozialen Stabilität.

Die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung hat in der Rio-Deklaration (Grundsatz 3) formuliert: "Das Recht auf Entwicklung muß so erfüllt werden, daß den Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen heutiger und künftiger Generationen in gerechter Weise entsprochen wird" (UNCED 1992). 

Ich bevorzuge eine Formulierung, die sich deutlicher auf die Erhaltung der Lebens- und Produktionsgrundlagen bezieht und damit näher an dem Prinzip der Nachhaltigkeit liegt wie es ursprünglich in der Forstwirtschaft entwickelt wurde: 

"Nachhaltige Entwicklung bedeutet, daß jede Generation so handeln muß, daß das natürliche Kapital (Quantität und Qualität der natürlichen Lebensmedien und Ressourcen) soweit erhalten bleibt, daß für künftige Generationen die Lebensgrundlagen nicht gefährdet werden und ein Zusammenleben aller Menschen in wirtschaftlicher und sozialer Stabilität möglich ist". 

 

Abb. 7  Dimensionen und Funktionen des Nachhaltigkeits-Prinzips 

 

Die wichtigsten Strategien sind wirtschaftliche Entwicklung, Effizienz und Konsistenz von Technik und Wirtschaft und soziale Innovationen einschließlich eines veränderten Suffizienzverhaltens. 

Das zentrale Credo für nachhaltige Entwicklung lautet: Nur ein Entwicklungsprozeß, der die Ausbeutung der Ressourcen, die Belastungen der Umwelt, die Investitionsflüsse, die Ausrichtung der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung und die sozialen und institutionellen Veränderungen mit den Bedürfnissen der Menschen weltweit und in Zukunft in Einklang bringt, ist langfristig zukunftsfähig. Nachhaltigkeit der Entwicklung ist also ein völlig neues Politik- und Wirtschaftskonzept. Es ist gerade nicht Umweltpolitik mit anderen Mitteln, sondern eine Politik der gesellschaftlichen Zukunftssicherung im Sinne einer dauerhaften Stabilisierung von Wirtschaft, Umwelt und Sozialverhalten. 

Für die praktisch handelnden Akteure in den Kommunen, staatlichen Institutionen, Unternehmen, Verbänden und Organisationen müssen die bisher genannten Leitziele und Handlungsmaximen natürlich durch umsetzbare Strategien sowie konkrete Projekte und Maßnahmen operationalisiert werden. Grundsätzlich muß sich der Wandel in Richtung "Nachhaltigkeit" auf alle gesellschaftlichen Bereiche beziehen. Die nachfolgenden Stichworte zu den wichtigsten Handlungsfeldern sollen andeuten, welche Konzepte und Maßnahmen den Prozeß fördern können: 

 

Abbildung 8:  Nachhaltige Entwicklung und Handlungsfelder  

 

Zur Erfüllung des Nachhaltigkeits-Prinzips müssen die verschiedenen Konzepte und Maßnahmen an definierten Indikatoren gemessen und bewertet werden. Hierzu sei betont, daß es sich immer nur um einen Tendenzprozeß handeln kann, mit dem wir uns schrittweise den Leitzielen der Nachhaltigkeit annähern. Nachhaltige Entwicklung ist somit eine reale Vision von einem permanenten Prozeß, der im Prinzip nie zum Abschluß gebracht werden kann.

   

 

6  "Informationsgesellschaft" und "Nachhaltige Entwicklung"

 

 

Heute lassen sich weltweit zwei dominierende Leitbilder ausmachen: Die "Informationsgesellschaft" als Fortsetzung der Industriegesellschaft mit anderen Mitteln und die "Nachhaltige Entwicklung" als Kurswechsel von der quantitativen Wachstumsgesellschaft zur qualitativen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. 

Deutlich stehen sich die Visionen beider Entwicklungswege bisher weitgehend unvernetzt gegenüber. Beide Zukunftsvisionen haben aus ganz unterschiedlichen Gründen eine besondere Mächtigkeit sowohl als Leitbilder für globale Handlungskonzepte als auch für das praktische Handeln auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Diese Leitbilder sind auch für die Zukünfte von Städten und Unternehmen prägend, ebenso für zukünftige Lebensstile, Arbeit, Bildung und Ausbildung, Kultur und Sozialverhalten. 

Die "Informationsgesellschaft" begründet sich hauptsächlich aus der wachsenden Bedeutung der Ressource "Information und Wissen" und der zunehmenden ökonomischen und sozialen Relevanz der technischen Informations- und Kommunikationssysteme in Verbindung mit dem Einsatz von Computern. Ihre Durchsetzung folgt im wesentlichen der Eigendynamik des technologischen und wirtschaftlichen Wettbewerbs im Rahmen des internationalen Wachstums- und Produktivitätswettlaufs. 

Die Mächtigkeit des Leitbildes "Informationsgesellschaft" resultiert vor allem aus der zunehmenden Verfügbarkeit und universellen Anwendung informationstechnischer Systeme. Ihr Einsatz bestimmt heute in hohem Maße die Entwicklung aller Lebensbereiche, insbesondere von Wirtschaft und Unternehmen. 

Die Vision der "Nachhaltigen Gesellschaft" begründet sich hauptsächlich aus der Notwendigkeit, die Lebens- und Produktionsgrundlagen weltweit dauerhaft zu erhalten und die Gewinne aus den natürlichen und wissenschaftlich-technischen Ressourcen gerechter zu verteilen. 

Ich betrachte es als große Herausforderung, diese Leitbilder auf ihre Vereinbarkeit und Zukunftsfähigkeit abzuklopfen und hierfür in allen gesellschaftlichen Handlungsbereichen reale Visionen zu entwickeln und darauf gründend, mögliche und wünschbare Zukunftsoptionen und Gestaltungsansätze herauszuarbeiten. Daß die beiden Leitbilder nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch zueinander stehen, geht bereits daraus hervor, daß der Einsatz der Ressource "Information und Wissen" nicht unmittelbar an hohe Stoff- und Energieumsätze und soziale Disparitäten gekoppelt ist — auch wenn der stoffliche und soziale Müll mit dem Einsatz der IuK-Technologien in den letzten Jahren eher noch gewachsen ist. Es lassen sich aber genügend Beispiele dafür anführen, daß bei richtigen Rahmenbedingungen Produkte und Prozesse mit besseren Öko- und Sozialbilanzen durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien möglich sind.

 

Die Stichworte Kreislaufwirtschaft, Organisations- und Umweltmanagement und Telebanking sollen für das Handlungsfeld Wirtschaft, die Stichworte Informationssysteme, telematisches Verkehrsmanagement, "intelligente" Schnittstellentechnik zwischen den Verkehrssystemen und neue Logistiksysteme für das Handlungsfeld Mobilität sowie Telearbeit, Telelearning, Multimedia-Nutzung und Wissensnavigation für den Bereich Arbeit und Bildung andeuten, wohin die Anwendung der digitalen Technologien gehen muß. 

Informations- und Kommunikationstechnologien sind per se weder nachhaltig noch auf eine Zerstörung der natürlichen Lebens- und Produktionsgrundlagen und des sozialen Friedens ausgerichtet. Deshalb stellt sich uns allen die grundlegende Aufgabe, die ubiquitär einsetzbaren effizienten IuK-Technologien für eine nachhaltige Entwicklung zu nutzen und in einem gemeinsamen gesellschaftlichen Diskurs herauszuarbeiten, welche politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen und Innovationen dafür erforderlich sind. Es wird Zeit, daß Wissenschaft und Forschung sowie Politik und Wirtschaft die Bewältigung dieser Aufgabe als eine gemeinsam zu bewältigende zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts begreifen. Der Einsatz neuer Technologien darf nicht länger Selbstzweck sein und einer nicht reflektierten ökonomischen Eigendynamik folgen, sondern muß den Zielvorgaben einer zukunftsfähigen human-ökologischen Wirtschafts- und Gesellschaftsperspektive dienen.

  

 

7  Intergenerative Verantwortung

 

 

Vor diesem Hintergrund müssen wir nun auf die Frage zusteuern, welche Akteure es sein werden, die im Sinne intergenerativer Verantwortung das Konzept der nachhaltigen Entwicklung aktiv umsetzen. Da es sich um die Kardinalfrage handelt, die sich an die gesamte Bürgerschaft richtet, sollte die prinzipielle Antwort in einer demokratisch strukturierten Gesellschaft nicht schwerfallen: 

Es sind nach traditionellem Demokratieverständnis in erster Linie die Bürger selbst und ihre legitimierten Vertreter in Staat und Wirtschaft, in den Medien und der Zivilgesellschaft, also den vielen bürgerschaftlichen Organisationen, Gruppen und Netzwerken. Wegen der Größe der Aufgabe sollten alle Anstrengungen unternommen werden, zwischen den einzelnen Machtzentren der Gesellschaft und der Bürgerschaft einen Verständigungsprozeß in Gang zu setzen, um einen Grundkonsens über die wichtigsten Ziele und Maßnahmen des zukünftigen Handelns und die notwendigen Innovationen herzustellen.

Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? 

Anstatt die Zukunftsfähigkeit und langfristige politische Zukunftssicherung im Auge zu behalten, zerbröselt das Politische. Die Glaubwürdigkeits­lücke zwischen Politik und Politikern und der Bürgerschaft wird immer größer. Täglich erleben wir, daß selbst zaghafte Schritte zur Zukunftsgestaltung, also etwa eine ökologisch-beschäftigungswirksame Finanzreform, ein wirksames Bündnis für Arbeit oder eine intergenerativ gerechtere Gestaltung der Sozialsysteme in den Mühlsteinen diverser Partialinteressen und eines mächtigen Wirtschafts­lobbyismus steckenbleiben.

Der Vertrauens- und Handlungsverlust der legitimierten Vertreter staatlicher Macht hat in ganz besonderer Weise in der Jugend ihren Niederschlag gefunden, also in jenem Teil der Gesellschaft, für den in erster Linie langfristige Zukunftsperspektiven und intergenerative Gerechtigkeit als zentrale Leitziele der Politik stehen sollten. 

Ich muß an dieser Stelle auf eine weitere Gefahr für unsere Demokratie aufmerksam machen: In kürzester Zeit ist zu dem Glaubwürdigkeits­verlust der Politik noch ein großer Vertrauensschwund gegenüber der Wirtschaft und den Wirtschaftsvertretern hinzugekommen.

Im Oktober letzten Jahres veröffentlichte die FAZ eine Repräsentativumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. Unter der Überschrift <Vaterlandslose Gesellen — Die Deutschen trauen den Unternehmern wenig Interesse am Gemeinwohl zu.> konnte man Einschätzungen und Meinungen der deutschen Bevölkerung über unsere Wirtschaftsbosse und die Interessen der Wirtschaft erfahren, die eigentlich landauf landab die Alarmglocken hätten in Gang setzen müssen. 

Während 67% der Deutschen fordern, daß Unternehmer und Manager neben dem Wohlergehen des Unternehmens auch das Wohl des Landes im Auge haben müssen, ist "eine deutliche Mehrheit davon überzeugt, daß es der Wirtschaft bei ihrem Plädoyer für Reformen ausschließlich um eigene Interessen geht und nicht darum, dem Land eine gute Zukunft zu sichern". Immerhin 73% der Bevölkerung widerspricht der Auffassung, daß es der Wirtschaft bei ihren Stellungnahmen zu politischen und wirtschaftlichen Grundsatzentscheidungen auch um eine gute Zukunft der Gemeinschaft geht. Noch vor wenigen Jahren standen die Unternehmer und die Vertreter der Wirtschaft in der Meinungsgunst der Bevölkerung hoch im Kurs.

Selbst in der FAZ werden die Ergebnisse u.a. wie folgt kommentiert: "In Zeiten der Globalisierung ist die Identifikation mit dem Gemeinwohl des eigenen Landes keineswegs überholt. Im Gegenteil spricht einiges dafür, daß das Vertrauen in eine gemeinsame Verpflichtung gegenüber dem eigenen Land Ängste vor der globalen Wirtschaft mildert". Es sei noch hinzugefügt, daß in einer weiteren repräsentativen Allensbach-Umfrage vom April des letzten Jahres fast 80% der Bevölkerung entweder Angst vor der Globalisierung hat oder gar nichts damit anzufangen weiß.

Günther Grass schrieb vor kurzem in der ZEIT: "Nicht mehr die gewählte Regierung, kein Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik: An ihrer Stelle herrschen unlegitimiert die Vorstände der gebündelten und sich global verflüchtigenden Wirtschaftsmacht ... Was ist das Papier noch wert, auf dem unsere Verfassung steht, wenn ihr tagtäglich, gepaart mit Drohgebärden — 'Entweder gibt die Regierung nach, oder wir wechseln den Standort' — Hohn gesprochen wird."  

Der Schriftsteller darf, ja er muß pointiert formulieren, wenn er zu einem herausragenden Problem unseres Gemeinwesens Stellung nimmt. Daß es sich hier um ein solches handelt, läßt sich nicht bestreiten. Mit dem Machtzuwachs der Global Player und der Verbandsvertreter der Wirtschaft schwindet sichtbar die Macht der demokratisch legitimierten Politik.

  

 

  8.   Junge Generation und Zukunftsengagement 

 

 

Generative Verantwortung bezieht sich ja in erster Linie auf die Jugend. Nach den Schlagzeilen über Ergebnisse aus Jugendstudien steht es mit dem politischen Engagement der heutigen Jugend schlecht. Wie läßt sich aber verstehen, daß wir vermutlich vor den größten Herausforderungen der menschlichen Zivilisation stehen und die jungen Leute, die das in erster Linie betrifft, kaum politisches Engagement zeigen, keine Protestbewegung bilden, vorwiegend sich angepaßt verhalten, eher konsumorientiert sind, leistungsbetont arbeiten und primär Spaß und Vergnügen haben wollen?

Das scheinbare Paradoxon löst sich auf, wenn wir die Situation der Jugend als Projektionsfläche der komplexen und hochbeschleunigten Entwicklung der Gegenwart und der mehr gefühlten als verarbeiteten Herausforderungen der Zukunft begreifen. Das paßt durchaus zu dem in allen Jugendstudien herausgefundenen hohen Stellenwert, den zentrale Probleme der Gegenwart und Zukunft wie Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit der Altersversorgung, Ausländerintegration, Bildungsdefizit, Solidarität mit der Dritten Welt etc. bei Jugendlichen haben. Auch die Bereitschaft ist groß, dagegen bzw. dafür etwas tun zu wollen. Andererseits ist aber auch die Kluft zwischen Bereitschaft und tatsächlichem Handeln ähnlich groß wie bei der älteren Generation zwischen Wissen und Tun.

Wir sollten aus dieser ambivalenten Situation endlich die richtigen Schlüsse ziehen und den Jugendlichen vielmehr Unterstützung bei der Vermittlung von Werten und zur Lebensorientierung geben. Das darf natürlich nicht abstrakt geschehen, sondern durch Vorbild und Aufzeigen konkreter Zukunftschancen und Handlungsperspektiven und durch das Herausstellen der vielen positiven Beispiele nachhaltiger Zukunftskonzepte und Projekte, anstatt alles und jedes den ökonomischen Gesetzen des Marktes zu überantworten. 

Die Zukunftsperspektive ist nicht die "Marktgesellschaft", sondern die nachhaltig zukunftsfähige humane Gesellschaft auf der Grundlage demokratischer Willensbildungs- und Entscheidungsstrukturen und einer sich in diesem Rahmen selbstorganisierenden Marktwirtschaft. Ich stelle jedenfalls fest, daß für diese Orientierung junge Leute zu begeistern sind. Die engagierte Mitarbeit in vielen Projekten etwa im Rahmen lokaler Agenda 21-Projekte der Solarenergie-Nutzung oder neuer Mobilitäts-Konzepte belegen das.

  

  9.  Prozeß und Träger der Zukunftsgestaltung  

 

Wie könnte und sollte der Prozeß der nachhaltigen Entwicklung umgesetzt werden und wer sind seine Träger? Ich kann das hier nur skizzenhaft andeuten und möchte ansonsten auf die vielen konkreten Organisationsformen von Politik und Zivilgesellschaft im Rahmen Lokaler Agenda 21-Prozesse sowie auf Ergebnisse etwa der Enquete-Kommissionen des Deutsches Bundestages "Schutz des Menschen und der Umwelt" oder der Berliner Enquete-Kommission "Zukunftsfähiges Berlin" verweisen, in der wir gerade der Trägerschaft des Nachhaltigkeits-Prozesses große Aufmerksamkeit gewidmet haben.

Grundlage der europäischen und nationalen Zukunftspolitik muß ihre Einbettung in die Vereinbarungen und Konventionen der Vereinten Nationen sein, in erster Linie in die Agenda 21 und ihre Nachfolgeverpflichtungen.

Auf nationaler Ebene sollte der Zukunftsprozeß durch die Konstituierung des seit langem propagierten Nachhaltigkeitsrats eine neue Dimension und Schubkraft erhalten. Der Rat sollte die relevanten gesellschaftlichen Kräfte aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft vereinigen und zeigen, daß trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen und Interessen in einem diskursiven Verständigungsprozeß Handlungsfelder, Strategien und prioritäre Maßnahmen für die wichtigsten Zukunftsaufgaben konsensual zu erarbeiten sind. Das Vorbild der Niederlande sollte besonders ermutigen. Nachhaltige Entwicklung muß endlich auch Querschnittsverpflichtung alter Bundesministerien werden.

Der Wirtschaft kommt angesichts der enorm gewachsenen Macht eine Schlüsselrolle zu. Sie muß in Anbetracht des rapide geschwundenen Vertrauens in der Bevölkerung und der in Unsymmetrie geratenen Machtbalance wieder deutlich den Primat der Politik anerkennen und die Strategie der nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung sowohl in ihren Unternehmen als auch in der Verbändepolitik verankern. Es sprechen im übrigen alle relevanten volks- und betriebswirtschaftlichen Gründe dafür, daß Unternehmen mit besonderer Orientierung am Gemeinwohl und an den Prinzipien der Nachhaltigkeit, zumindest mittel- und langfristig, die erfolgreichsten sein werden. Schon heute sind es die besonders innovativen und erfolgreichen, was wir in einer brandneuen Studie in unserem Institut für Zukunftsforschung in Gelsenkirchen herausgefunden haben.

Lassen Sie mich noch den wichtigsten Akteursbereich für die nachhaltige Zukunftsgestaltung hervorheben — die Zivilgesellschaft. Noch nie gab es eine so starke Unterstützung und Artikulation der Wünsche und Interessen von Bürgern wie heute durch die vielen bürgerschaftlichen Verbände, Vereinigungen, Netzwerke, Initiativen, Organisationen, Gruppen und Projekte. Auch wenn ihr Einfluß für die Vertreter von Staat, Kommunen und Wirtschaft vielfach unbequem ist, so sollte die Notwendigkeit und wachsende Bedeutung für phantasievolle Zukunftsprojekte und eine lebendige Demokratie von den Administrationen produktiv genutzt werden. Ähnliches gilt ja auch für kritische Beteiligung und Begleitung durch die Medien.

Auf der weiteren Entfaltung und Erneuerung der Demokratie durch eine stärkere Verknüpfung der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten mit den legitimierten politischen Strukturen und Institutionen ruhen heute bei den meisten Bürgern, auch bei den Zukunftsforschern, große Hoffnungen. Hier vor allem haben sich besonders im kommunalen Bereich durch die Agenda 21-Projekte neue und kreative Potentiale für das Zukunftsmanagement durch bürgerschaftliche Selbstorganisation und Partizipation herausgebildet. Hier bietet sich ein breites Feld, wo sich insbesondere auch die junge Generation am Prozeß der visionären und konkreten Zukunftsgestaltung aktiv einbringen kann.

  

 

10. Warum ist das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung eine attraktive Vision? 

 

Ich glaube, daß das Leitbild "Sustainable Development" einige Eigenschaften aufweist, die beim heutigen Stand der Erkenntnis in der komplexen Ausgangslage für Orientierung und ein zukunftsfähiges Handeln stehen: Die wohl bedeutsamste Qualität liegt darin, daß das Leitbild im Hinblick auf die wichtigsten Krisenpotentiale der menschlichen Zivilisation echte Lösungsperspektiven aufzeigt. 

Im Prinzip genauso relevant ist, daß das Konzept unterhalb der Leitziel-Ebene schon heute eine beachtliche Operationalisierungsfähigkeit aufweist, das heißt, daß für fast alle Bereiche unseres Lebens konkrete Einzelziele, Handlungsregeln und Maßnahmen darstellbar sind, die eine Umsetzung des Leitkonzepts auch ganz praktisch ermöglichen. Nachhaltige Entwicklung ist schon lange nicht mehr nur eine "konsensstiftende Leerformel".

Wichtig ist weiterhin, daß das Leitbild verschiedene Zukünfte und verschiedene Zukunftspfade zuläßt, nicht jedoch beliebige.  

So sind Effizienz-, Konsistenz- und Suffizienz­strategien mögliche Handlungsalternativen im Sinne einer sustainble economy, nicht jedoch eine Wirtschaftsweise der fortgesetzten Wertstoffvernichtung und Nutzung fossiler Energieträger auf Dauer. Entscheidend ist aber, daß dem Leitbild die grundlegenden Wertentscheidungen der inter- und intragenerativen Gerechtigkeit zugrunde liegen, die von vielen Menschen und Staaten für das weitere Leben und Zusammenleben prinzipiell anerkannt werden: Jedem Menschen steht prinzipiell das gleiche Recht zu, die globalen natürlichen Ressourcen in Anspruch zu nehmen und umgekehrt die gleiche Pflicht, sie nicht zu übernutzen. Alle Menschen, auch diejenigen zukünftiger Generationen, sollen hinreichende Lebenschancen haben und das natürliche Kapital der Erde nutzen können. Deshalb sollte jede Generation — auch unsere — das Kapital treuhänderisch nutzen und nachfolgenden Generationen übergeben.

Wir wissen heute, daß die Herausforderungen angesichts der Komplexität der Aufgabenstellung einer nachhaltigen Entwicklung bei der noch zur Verfügung stehenden Zeit und den gravierenden Interessenskonflikten horrend sind. Wir wissen aber auch, daß es hinreichende Erkenntnisse und Wissen über zukunftsfähige Optionen für Wirtschaft und Gesellschaft gibt, die zumindest mittel- und langfristig in Win-Win-Strategien für die überwiegende Anzahl der Menschen und der Interessengruppen umgesetzt werden können. Das sollte in besonderer Weise viele Bürger und besonders die junge Generation von der Zukunftstauglichkeit des Konzepts überzeugen.

Die internationale Staatengemeinschaft hat sich in Rio de Janeiro auf ein gemeinsames Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert verständigt. Das ist ein hoher Wert. Zudem hat die Agenda 21 die immanente Eigenschaft, weltweit und in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern eine große Eigendynamik in Richtung Zukunftsfähigkeit und intergenerative Gerechtigkeit zu entfalten. Zur Zeit erhält diese Vision vor allem durch die vielfältigen innovativen Aktivitäten auf kommunaler Ebene ihre reale gestaltende Kraft. Auch zahlreiche Pionierunternehmen, Netzwerke, Gewerkschaften, Organisationen, Verbände, Bürgerinitiativen und Familien sind dabei, das Konzept der nachhaltigen Entwicklung als Handlungsmaxime anzunehmen und umzusetzen.

Hieraus ziehe ich den Schluß, daß nicht nur das <Prinzip Verantwortung>, sondern auch das <Prinzip Ermutigung> in unserer Gesellschaft eine starke Verankerung hat.

 

Ende

 

 

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