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detopia-2019: 

Ich hoffe darauf, dass Krug sein Tagebuch über die Ausreisezeit einmal als zeitgeschichtliches Dokument gilt.

 


Tagebuch  1

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19. April 1977, 10.15 Uhr, Dienstag

Das Rathaus in Berlin-Pankow hält noch ein paar hundert Jahre. Es ist ein roter Backsteinbau mit einem Stummelturm, ein wilhelminisches Gemäuer, nur die Fenstergitter sehen nach Jugendstil aus.

Heute ist Behördensprechtag, aber niemand will die Behörde sprechen, die Stühle auf den Gängen sind leer. Kaum zu glauben, sonst ist es auf allen Ämtern voll. Dabei riecht es hier nach Menschen, wie in einer Schule, nach Schweiß und Bohnerwachs. Ich komme an die Tür mit der Aufschrift ABTEILUNG INNERE ANGELEGENHEITEN — DER LEITER. Einen Moment bleibe ich stehen und überlege, mit welchem Gesicht ich reingehen soll. Eindrucksvoll muß es sein und MIT MIR IST NICHT ZU SPASSEN muß auf der Stirn stehen. Zwischen meinen — nebenbei gesagt: gütigen — Wurstfingern steckt der Brief.

Ich klopfe. Das Fräulein sagt, der Leiter sei nebenan in Nummer drei. In Nummer drei ist wieder ein Fräulein, hausbacken aber geistesgegenwärtig. Sie nimmt zögernd den Brief und lehnt es ab, die mitgebrachte Empfangsbestätigung zu unterschreiben. Sie erkennt, daß es sich um was Wichtiges handeln muß, und sie erkennt auch mich und sagt, ich solle im Flur warten. Da sitze ich nun. Ganz schön berühmt für meine Verhältnisse. Und doch bloß ein Furz auf einem Behördengang in Pankow. 

Gut 26 DDR-Jahre habe ich auf dem Buckel. Habe lässig die ersten, die trostlosen Jahre runtergerissen, mit den Trümmern und den Lebensmittelkarten, habe mit meinem Alten zusammen in einem Bett geschlafen und mich nie im Leben so verladen gefühlt wie im Winter '49/'50 in Leipzig, unter den Sachsen, die sich dann als so feine, gutherzige Leute erwiesen haben. 

Das Beste war noch, daß ich die Pauker auf dem Gymnasium in Duisburg hinter mir hatte, eingetauscht gegen die Neulehrer an der 33. Grundschule in Leipzig. Die hatten nicht alle Welt zu bieten, aber sie hatten den Enthusiasmus, dir die neue Welt zu erklären, die wir jetzt gemeinsam bauen würden, die klassenlose, gerechte, endgültige Ordnung, die irgendwie um mich herum errichtet wird, denn ich bin der Mensch, der im Mittelpunkt steht.

Endlich lassen sie mich rein. Der Leiter sitzt hinter dem Schreibtisch, der mit einem rechtwinklig davorstehenden Tisch ein T bildet. Um den T-Fuß herum stehen vier Stühle. Das ist nicht so doll. Im Politbüro der SED sitzt ein wirklich großer Leiter, Werner Lamberz, verantwortlich für das Fernsehen, das Radio und die Zeitungen. Im Westfernsehen sagen sie immer, er würde mal der Nachfolger von Erich Honecker werden. Den Lamberz schätze ich auf zwei Dutzend Stühle. Adameck aber, der Vorsitzende des Fernsehens, begnügt sich mit der Hälfte. Die Stühle in den Audienzsälen »hochgestellter Persönlichkeiten« sind ihre Rangabzeichen, man kann sie zählen wie Sterne auf Schulterstücken.

Der Vier-Stühle-Leiter hier im Rathaus zeigt Haltung. Worum es geht, weiß er schon aus der Überschrift: ANTRAG AUF AUSREISE AUS DER DDR IN DIE BRD. Er muß die paar Seiten schon mehrmals gelesen haben, jetzt blickt er nur noch auf das Papier und versucht, kein Gesicht zu machen. Kein Gesicht zu machen, ist das Schwerste, was es gibt, man macht dabei immer zuviel. Mir gegenüber sitzt das Fräulein mit Block und Bleistift, aber es gibt nichts zu notieren. Es ist still.

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Ich muß an mein Haus denken, das schönste Haus in der ganzen DDR. Unter dem Ärmel meiner bulgarischen Lammfelljacke versteckt, lege ich den Daumen auf meinen Puls.

»Haben Sie dem mündlich noch etwas hinzuzufügen?« fragt der Leiter. 
»Nein.«

Das Fräulein schreibt sich meine Telefonnummer auf, der Leiter gibt mir angeekelt die Hand, ich gehe. Draußen fange ich damit an, mir die Häuser einzuprägen. Der Buchladen und der orthopädische Schuster waren mir nie aufgefallen. Die Straßenbahnschienen müßten mal wieder gemacht werden. Das gußeiserne Pissoir ist das Grünste, was es an diesem 19. April auf dem Kurt-Fischer-Platz zu sehen gibt. Es ist noch sehr kalt. 

Schräg rüber vom Kohlenhändler hängt das Transparent, das den ganzen Winter durchgehalten hat, und so sieht es auch aus: PLANE MIT, ARBEITE MIT, REGIERE MIT! Wieviel tausend Menschen mögen das in diesem Moment lesen, an wie vielen Straßenecken im ganzen Land? Und was denken die Leute, wenn sie es lesen? Die Leute denken: Leckt mich am Arsch, und fertig. Ich weiß, wovon ich rede, ich hab wirklich viele gefragt. 

Die Typen, die das Transparent malen und aufhängen, können die sich nicht dieselbe Frage stellen? Dann kämen sie zu demselben Ergebnis. Warum malen sie das und hängen es auf? Nur um der Partei zu schaden. Um große, unsichtbare Massen zu versammeln, die Tag für Tag, nämlich immer, wenn sie an so einem Transparent vorbeilaufen, denken: leckt mich am Arsch, und fertig. Welchen Schaden die Genossen sich damit zufügen. Und daß sie diesen einfachen Mechanismus bis heute nicht verstanden haben, muß jeden denkenden Menschen befremden, wenn nicht gar abstoßen. Das ist einer der Gründe, warum ich nie Lust hatte, in die Partei einzutreten, obwohl mein Vater mir gelegentlich zu diesem Schritt geraten hat, wegen der Karriere und so weiter.

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Nein, im Ernst, wer tatsächlich mitdenken will, oder auch nur mitregieren, der sollte nicht viel über zwanzig sein. Ich bin vierzig. Das ist zu spät, denn wenn du in der Deutschen Demokratischen Republik ausgeschaltet wirst, mußt du jung genug sein zum Warten, bis du wieder eingeschaltet wirst.

Wer schaltet da eigentlich und waltet? Honecker? Abrassimow? Lamberz? Oder dürfen schon die Kleinen, wie etwa Adameck, an den Hebeln spielen? Es hat mir immer ein bißchen ein stolzes Gefühl, ja sogar ein gewisses Gefühl von Freiheit gegeben, mir unter diesen Männern keinen Freund und keinen Gönner gesucht zu haben, nicht mal in den Jahren bis zum XI. Plenum, als ich überzeugt war, die DDR sei noch zu retten. Meine Freunde und Gönner saßen im Publikum. Und wenn ich das Land verlasse, verlasse ich mein Publikum, und sonst gar nichts. Über 60 Filme und Fernsehfilme habe ich gemacht, nur die Hauptrollen gerechnet, und ein Dutzend Langspielplatten. Alles in 20 Jahren. Es hätten dreimal soviel sein können, aber für unsere Verhältnisse ist es viel, es zeigt, wie unermüdlich und fleißig ich war. Das Telefon ging den ganzen Tag, wir hatten eine beachtliche Zahl von Ausreden gelernt, um in freundlicher Form Termine abzusagen. Im November '76 verstummte der Apparat.

Ich war nicht im Krieg, nicht mal Flakhelfer. Damit gehöre ich schon der Generation von schlappen Jungs an, die eine anständige Niederlage nicht in Würde wegstecken können. Trotzdem. Ein halbes Jahr ist viel Zeit. Vielleicht nicht für einen Profi wie den Grafen von Monte Christo. Für mich war es zuviel. Wenn man in der DDR ein Jahr als Filmschauspieler arbeitet, muß man die Hälfte davon ohnehin mit Warten vertrödeln. Anders geht es im Sozialismus nicht.

Aber was sie mit mir gemacht haben: einen anständigen Menschen bestrafen, indem sie ihm die Arbeit wegnehmen; einem Schauspieler zeigen, was 'ne Harke ist, indem sie so tun, als sei er nie wirklich gebraucht worden, als seien ihm bloß aus Erbarmen ein paar Brocken hingeschmissen worden; ihm eins rüberziehen und sagen: Ohne uns bist du gar nichts; seine Ehre verletzen, seinen Ruf schädigen, indem er verleumdet wird — das kränkt den Stolz des Künstlers.

Mit denen bin ich fertig. Die waren hart mit mir, jetzt muß ich hart mit denen sein. Ein Zurück kann es nicht geben. Wenn ich umkehre, bin ich verloren.

 

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Vor ein paar Tagen rief mich Biermann von drüben an, ich erzählte ihm, daß ich seit seiner Ausbürgerung kein einziges Arbeitsangebot hatte. Einen Tag später warfen sie mir einen Knochen hin, ein paar Takes seien zu synchronisieren in einem rumänischen Film. Ich habe abgelehnt. Ich habe kein schlechtes Gewissen, das mich treiben würde, wieder als Synchronsprecher anzufangen, wie vor 20 Jahren. Verdammt, ich bin ein Star in diesem Land, was ich nie zu sagen gewagt hätte, und jedermann kennt meine Stimme und weiß, daß sie mir gehört und daß sie zu mir gehört, was also nütze ich dem Schauspieler Popescu? Das wäre, als wenn mich in Amerika Jack Nicholson synchronisiert. Die Leute würden im Kino sitzen und sich fragen, was die Visage von dem Fremden da hinter der Stimme von Nicholson zu suchen hat.

Im Wintergarten meiner Villa sitzen der Schauspieler Armin Müller-Stahl, genannt Minchen, und meine Frau Ottilie, sie haben mit dem Frühstück auf mich gewartet. Auf Minchens fragenden Blick sage ich: »Erledigt.« Ottilie steht unter einer Art Schock, sie plaudert über den Haarausfall einer unserer Katzen.

Ich lege den Finger auf das Zifferblatt der Standuhr, es ist halb elf. Wenn der Mann den Instanzenweg einhält, wird er seinen Chef im Roten Rathaus anrufen, den Leiter der Abteilung Inneres von Berlin/Hauptstadt der DDR, der wird den Brief selber lesen wollen und läßt ihn sich im Dienst-WOLGA kommen. Mein Finger rückt vor auf halb zwölf, um zwölf Uhr bestellt das Politbüro einen Dienst-TATRA, also nach der Mittagspause haben sie den Ausreiseantrag. Hinter mir steht Minchen, der meinen Finger verfolgt hat, und sagt: »Das würde ich auch denken, um zwölf haben sie ihn.«

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Wir frühstücken schweigend. Alle kauen an ihren Rühreibrötchen.

Ich ziehe ein Blatt in die Schreibmaschine und fange auf der Stelle an, dieses Tagebuch zu schreiben. Bis zur Ausreise oder bis zur Verhaftung will ich es durchhalten. Im ersten Fall will ich ihr eine Kopie zukommen lassen, der DDR, damit sie weiß, was sie angerichtet hat. Es könnte eine heilsame Medizin für sie sein; denn wenn ich sie jetzt auch hasse, die DDR, sie ist krank und scheint von ihrem Zustand nichts zu wissen. Wenn sie mich einsperren, erscheint das Buch im Westen. Ich sorge dafür, daß mein Freund Nico von der Italienischen Botschaft auf dem neuesten Stand bleibt, er bekommt täglich die letzten Blätter, die er in Westberlin aufbewahrt.

Am Abend kommt Jurek Becker. In letzter Zeit umarmen wir uns wie Brüder, die sich lange nicht sehen werden.

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Die BERLINER ZEITUNG bringt auf Seite 1 ein Foto aus Italien: ein alter Mann mit hochgeschlagenem Kragen sitzt auf der Straße, neben sich ein Pappschild mit der Aufschrift »Fame«, Hunger.

 

20. April 1977, Mittwoch

Eine benachbarte Freundin stutzt mit Kamm und Schere meinen Haarkranz, manchmal tropft mir eine Träne auf die Glatze. Sie hat bis heute nicht geglaubt, daß ich es tun würde. Sie will, daß ich ihr den Antrag vorlese:

 

Antrag auf Ausreise aus der DDR in die BRD 

 

Mein Name ist Manfred Krug, ich bin Schauspieler und Sänger. Infolge der Scheidung meiner Eltern bin ich als Dreizehnjähriger aus Westdeutschland in die DDR gekommen, wo ich seither lebe. Ich bin verheiratet und habe 3 Kinder. 1956 lernte ich Wolf Biermann kennen, mit dem ich befreundet war und bin. 1965 erschien ein erster gegen Biermann gerichteter Artikel im NEUEN DEUTSCHLAND, gegen den ich polemisiert habe. Daraus erwuchsen mir Maßregelungen und die üblichen Nachteile. Ich gehörte nie zum »Reisekader«, durfte nie an einer der vielen in ferne Länder reisenden DEFA-Delegationen teilnehmen. Weitergehende Folgen sind mir damals jedoch nicht erwachsen. Diesmal ist das anders: Wie bekannt, verfaßten nach der Biermann-Ausweisung 12 Schriftsteller einen Protest, den auch ich unterschrieb. 

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Nachdem ich nicht bereit war, diese Unterschrift zurückzuziehen, hat sich mein Leben schlagartig verändert.

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Schmerzlich ist die durch solche Mittel erzielte Isolation. 

Erste Bekannte verzichten auf Besuche; bei der Auszahlung der Jahresendprämie wagten es in der DEFA unter Hundert noch fünf, mir die Hand zu geben; Eltern verbieten ihren Kindern, weiterhin mit meinen Kindern zu spielen; auf Parteiversammlungen wird gesagt, Krug spiele zwar Parteisekretäre, führe aber das Leben eines Bourgeois, man müsse sich von solchen Leuten trennen; eine Berliner Staatskundelehrerin sagt ihren Schülern, Schauspieler verkauften für Geld ihre Meinungen, insbesondere Krug sei ein Krimineller, der schon mehrmals im Gefängnis gesessen habe; einem befreundeten Bildhauer wird von Armeeoffizieren, seinen Auftraggebern, geraten, sich von mir zu distanzieren; Beamte stellen in der Nachbarschaft Recherchen darüber an, wen ich wann und wie oft besuche; auf einem Potsdamer Forum wird öffentlich geäußert, ich sei ein Staatsfeind und ein Verräter an der Arbeiterklasse.

Das war ich nie, und ich werde es nie sein. 

Während meiner letzten Konzerttournee im Winter '76/'77 bin ich von Kriminalbeamten offen observiert, meine Bühnenansagen sind demonstrativ mitgeschrieben worden; Freunde unserer Konzerte beklagten sich, es habe kein freier Kartenverkauf stattgefunden; 

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Fotografen sind mit Gewalt aus den Sälen entfernt worden; es gab sortierte Zuhörer, vor allem in den vorderen Reihen, die während des gesamten Konzerts finstere Mienen zur Schau trugen und demonstrativ keine Hand rührten; es gab verabredete Feindseligkeit aus dem Publikum, die einem Bühnenkünstler die Arbeit unmöglich macht, die ihn kaputtmacht. 

Ich weiß jetzt, welche Unzahl von Möglichkeiten es gibt, Menschen zu entmutigen und zu deprimieren. Dagegen waren Geschmacklosigkeiten, die ich bei der Premiere des Films »Spur der Steine« erlebt habe, vergleichsweise plump und schmerzarm.

Ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß es verschiedene Meinungen geben muß und daß es nicht verboten sein darf, sie öffentlich auszutragen. Ich bin davon überzeugt, daß Biermann unserem Land fehlt. Nach meinen Erfahrungen sehe ich keine Chance, hier weiter zu existieren. 

Die Situation mag für einen Schriftsteller eine andere sein, der für seine Arbeit nur Papier und Bleistift braucht. Nach reiflichem Bedenken beantrage ich für meine Familie und mich die Ausreise aus der DDR in die BRD, wo meine Mutter und mein Bruder leben.

Mein Haus in 111 Berlin, Wilhelm-Wolff-Str. 15, überlasse ich dem Staat. Es ist das materielle Ergebnis langjähriger fleißiger Arbeit. Ebenso überlasse ich der Gemeinde Vipperow im Kreis Röbel das Grundstück, das ich als Vergünstigung nach dem Fernsehfilm »Wege übers Land« 1968 kaufen konnte.

Ich hoffe sehr, daß meinem Antrag stattgegeben wird und bitte darum, meine Umzugsangelegenheiten ohne Verzug, aber nicht überstürzt regeln zu können.

 Manfred Krug

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Einige, darunter auch Stefan Heym, haben über den November '76 was geschrieben, Chroniken und Protokolle. Wir werden sehen, wie lange sie das Zeug in den Schubkästen verstecken werden. Bald wird es stiller werden, die Dichter wandern wieder ab in die Welt ihrer verklausulierten Geschichten, die sie gern im alten Griechenland spielen lassen und die das einfache Volk kaum liest und versteht. Deshalb werden sie auch gedruckt. 

Manchmal stehe ich morgens auf und frage mich, ob meine Lebensumstände eigentlich normal sind. Normal — ich weiß schon, die Irrenärzte waren die ersten, die sich dieses Wort abgewöhnt haben. Also, ich frage mich, ob ich eine Chance habe, ganz selbstverständlich meinen eigenen Entschlüssen folgend zu reagieren, wenn mein Dahinleben angegriffen oder gestört wird. Wenn ich z.B. Krach habe mit dem Generaldirektor des Filmstudios, werde ich bei ihm keinen Film mehr drehen. Es sei denn, er begreift, daß dieser Krach nichts mit meiner Qualität als Schauspieler zu tun hat. Das begreift er aber nicht. Er ist ein dummer Junge, so wie alle Männer ihr Lebtag dumme Jungs bleiben. Nicht anders ist es, wenn ich Krach kriege mit dem Fernsehchef, dem Schallplattenchef, dem Rundfunkchef; denn alle diese Institutionen und ihre Chefs gibt es in der DDR jeweils nur einmal. Ich kann nirgendwo anders hingehen, und kein anderer Direktor kann sich darüber freuen, daß die Unfähigkeit der Konkurrenz ihm endlich eine Zusammenarbeit mit mir ermöglicht.

Wenn einer die Regierung kritisiert, dann kriegt er mit der Regierung Krach, dann wird es ungemütlich, das kann schlimm enden. Man kann es noch so freundlich säuselnd tun, es können sich — wie im letzten Fall — zwölf berühmte Schriftsteller dransetzen, sich die Hirne zermartern, um ausreichend unterwürfige Formulierungen zustande zu bringen — es gibt Krach. Wenn die Regierung mit einem Regierten wie mir Krach hat, dann ist der unten durch bei all den Chefs, die ich eben aufgezählt habe, und da habe ich noch den Synchronchef vergessen und die Mehrzahl der Theaterchefs, die feigen Hunde. Das ist doch nicht normal.

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Wenn die mächtigen Männer im Land, die zugleich ängstliche Männer sind, mit dir schmollen, wird's gefährlich, denn, das weiß jeder, Macht und Angst, das ist ein fürchterliches Gemisch.

Ich hätte also mein Haus vermietet oder bedürftigen Freunden geliehen, und dann wäre ich nach Zürich, mein Glück versuchen, vielleicht hätte ich gehört, daß sie dort einen genialen Vierziger brauchen, oder nach Paris, da ist das Leben so süß. Und nach Jahren wäre ich nach Pankow zurückgekommen, um nachzusehen, ob sie mich dort wieder brauchen können. Aber es bliebe doch wenigstens meine Heimat, ich hätte niemandem was weggenommen, nur mich selbst für eine Weile aus der Schußlinie. Das geht nicht. Nur eine absolute Trennung, eine Amputation, das geht. Das ist doch nicht normal.

Wir haben den Brief abgegeben und gehören jetzt zu den Aussätzigen in der DDR. Heute abend noch nicht, heute sind wir bei Freund Pröbrock in der Nachbarschaft eingeladen. Auch ein paar Ausländer sind da, Italiener, Holländer und eine Australierin. Ich erwarte Minchen und Jurek, die sich heute die interne Vorführung des Films »Das Versteck« angesehen haben. Die Arbeit an diesem Film hatte vor der Biermann-Ausweisung begonnen, den größeren und schwierigeren Teil haben wir nach Erscheinen der Liste gedreht, unter dauerndem Streß, täglich hatten wir Zusammenkünfte in den Garderobenräumen, wo wir unsere Chancen, unsere Lage besprachen. Denn die Namen der wichtigsten Mitarbeiter an diesem Film standen allesamt auf der Liste: Autor Jurek Becker, Regisseur Frank Beyer, die großartige Jutta Hoffmann als Hauptdarstellerin und der Hauptdarsteller Manfred Krug. Es ist ein Film, der die ver-

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geblichen Hoffnungen auf Wiederbelebung einer kaputten Ehe schildert, gedreht von vier »Dissidenten«. Minchen Müller-Stahl kam mit seiner Frau. Sie hatte die Tränen noch in den Augen, die sie während des Films geheult hatte. Jurekkam mit Jutta Hoffmann. Alle erzählten, wie schön der Film war, den sie in einer internen Vorführung sehen durften, zu der ich nicht geladen war. Vielleicht würde ich »Das Versteck« niemals sehen. Der kleine Saal sei von Leuten voll gewesen, es habe langen Applaus gegeben. Da liegen nun drei Filme in den Kellern, in denen ich spiele und die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht herauskommen werden. »Feuer unter Deck«, »Das Versteck« und »Abschied vom Frieden«, ein dreiteiliger Fernsehfilm. Wie viele Millionen mögen die gekostet haben? Wie viele Hoffnungen auf Erfolg mögen dranhängen, Hoffnungen der Regisseure, Autoren, Schauspieler? Ich sollte mich schämen. Mein Ausreiseantrag hat alle diese Hoffnungen begraben. Meine eigenen dazu.

Den finanziellen Verlust könnte ich wiedergutmachen. Nebenan wohnt ein ausländischer Botschaftssekretär in einem dieser hastig gebauten Kästen, sein Land zahlt monatlich 5000 Mark West Miete dafür, die Heizung nicht gerechnet. In meinem Haus könnte der Botschafter einer großen Nation würdig residieren, es müßte vergleichsweise 10 000 Mark abwerfen, das würde in zehn Jahren meine drei Filme bezahlen. In West. Aber die Leute sagen, die Hoffmann sei nie so gut gewesen wie in »Das Versteck«, Angelika Waller sei nie so gut gewesen wie in »Abschied vom Frieden«. Von der Hoffmann habe ich den Eindruck, daß sie mich verstehen kann. Die anderen?

 

21. April 1977, Donnerstag

Den ganzen Tag über klingelt es. Immer stehen Freunde draußen. Es zerreißt mir das Herz, daß ich so viele Freunde

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habe. Manche parken ihren Wagen direkt vor meiner Haustür. Jedem drücke ich meinen Ausreiseantrag in die Hand, alle nehmen ihn mit größter Selbstverständlichkeit und lesen.

Am Nachmittag kommt Frank Beyer. Auch er liest. Ich verdächtige ihn, daß er die Absicht oder den Auftrag habe, mit mir vernünftig zu reden, mich umzustimmen. Aber es kommt anders. Ich rede mit ihm. Ich sage ihm, daß er vielleicht der einzige sei, von dem ich mich verraten fühle. »Ich weiß«, sage ich, »daß ich auf andere oft den Eindruck einer starken, selbstsicheren Persönlichkeit gemacht habe, die ich nicht bin. Ich hoffe, wenigstens du weißt das. Ich bin ein Weichtier, eine Nacktschnecke. Ihr habt mich alle nicht heulen sehen über ein paar Töne von Ella Fitzgerald oder über ein Erdbeben im Fernsehen. Viele haben sich Rat von mir geholt und nicht bemerkt, daß sie auch mich beraten und beeinflußt haben, du am allermeisten. Denn du hast dieses große Wort gesagt, du wolltest im Bunde von Jurek und mir der Dritte sein. Als wir damals im November aus dem Zentralkomitee — oder war's das Politbüro? — kamen nach stundenlangen Gesprächen mit Lamberz, in denen er uns um alles in der Welt gebeten hat, ihm einen Es-lebe-die-DDR-Brief zu schreiben; wo er uns buchstäblich angebettelt hat, daß einem himmelangst werden konnte, weil wir mitten in seinem Büro, wo immer die anderen die Hosen runterlassen mußten, seinen nackten Arsch gesehen haben — da saßen wir abends in meinem Haus zusammen, und du sagtest: Nein. Keinen Brief. Niemals. Du sagtest: Sie werden die Briefe auf einen großen Haufen legen — ganz egal, was drinsteht — und werden die Liste ahhaken und unterteilen in die, die geschrieben haben und die anderen, die nicht geschrieben haben. Und den harten Kern werden sie sich vorknöpfen. Du warst ein paar Tage so herrlich in Fahrt, Frank Beyer!

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Du sagtest: Mehr als zehn Jahre habe ich gewartet, um ihnen einmal die Zähne zu zeigen, jetzt tue ich's. Du sagtest: Ich Idiot hab mich an der Kandare der Parteidisziplin gängeln lassen, damit können sie mich jetzt gern haben. Seit zehn Jahren gebe ich den Leuten nicht gern die Hand, weil ich Schwitzehändchen habe. Das ist jetzt vorbei! Kuck hier: furztrockene Hände! Du warst so echt in diesen Tagen, das Feuer deiner roten Haare, die dir die Kindheit vergällt haben, stand dir zum erstenmal gut zu Gesicht, deine Ohrläppchen waren nicht so lila wie sonst, und deine Sommersprossen gaben dir was Männliches. Du sahst aus wie ein wütender Cowboy. Ich wußte an diesem Abend: von Jurek Becker, Frank Beyer und Manfred Krug wird es keine Zeile geben. 

Ein paar Tage später hast du dem Lamberz irgendeinen Scheiß geschrieben, den ganzen Scheiß vom VIII. und IX. Parteitag. Jetzt hast du die Kandare wieder im Maul.« Frank sagt: »Ich habe die Unterschrift nicht zurückgezogen, sie gilt bis heute. Ich habe nie die Absicht verfolgt, mich irgendeiner oppositionellen Gruppe anzuschließen. Für mich gab es nie die Alternative, in den Westen oder sonstwohin zu gehen, ich gehöre auch nicht zu denen, die aus der Partei ausgeschlossen werden wollten. Meine Unterschrift hatte einzig das Ziel, Biermann zurückzuholen. «

Plötzlich sprechen wir über die kritische Weltlage. Er sei bewegt von dem Gedanken, wie nahe wir einem dritten Weltkrieg seien. Ob'dch mir schon einmal überlegt hätte, was aus Jugoslawien wird, wenn Tito stirbt. Was für Interessen und Völker dort widerstreiten, da könnte es — nachdem der Einmarsch in die CSSR so glimpflich verlaufen sei — leicht sein, daß die Russen wieder Briefe bekommen, serbische Hilferufe diesmal, und da unten einmarschieren und für Ordnung sorgen, und es könnte sein, daß die Amerikaner dann nicht tatenlos und so weiter.

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Was ist denn jetzt los? Was soll mir Jugoslawien? Frank Beyer kommt mir verwirrt und zerrissen vor. Er wischt sich wieder wie früher mit dem Taschentuch über die Handflächen. Drei Filme haben wir miteinander gemacht, den ersten 1959, er hieß »Fünf Patronenhülsen«, ein Polit-Märchen, und doch eine gute Arbeit. Die beiden anderen waren »Spur der Steine« und »Das Versteck«. Der eine ist seit 1965 eine Legende, der andere wird vielleicht eine werden. Ein Film kann nie so gut sein wie seine Legende. Die lange verbotenen »Sonnensucher« von Konrad Wolf waren großartig, der endlich aufgeführte Film eher schwach.

Ich fühle mich immer unfähig, über Sachen wie die Weltlage oder den Weltkrieg zu sprechen, aber aus Erleichterung darüber, daß wir unser Thema einer verrinnenden Freundschaft verlassen können, gehe ich auf Jugoslawien ein. Ich könne an einen solchen Konflikt schon deshalb nicht glauben, weil die jugoslawischen Soldaten bei einem Einmarsch ihre Hände nicht so stramm an die Hosennaht legen würden wie die tschechischen das klugerweise gemacht haben und wie wir es machen würden und weil die Amerikaner nicht zusehen würden und weil die Chinesen schon lange auf den Appetit der Sowjetunion und so weiter. Frank Beyer findet mich lächerlich. Wir finden uns gegenseitig lächerlich.

Frank Beyer geht, ich habe das Gefühl, ihn nicht wiederzusehen. Er sagt: »Du hast meine Telefonnummer, ich bin immer zu erreichen, falls du Hilfe brauchst.« Und ich verstehe, mißverstehe vielleicht, daß er Vermittlung meint. Er will, daß ich dableibe. Er will seine Filme wiedersehen. Er würde die richtigen Leute aufsuchen, falls ich zu feige oder zu stolz wäre, es selbst zu tun. Solange wir uns kennen, berühren sich zum erstenmal unsere Wangen. Es war auch das letzte Mal.

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Am Abend klingelt es immer wieder, unangemeldet kommen Freunde, darunter solche, die ich lange nicht gesehen habe. Zuerst Hilmar Thate und Angelica Domröse, ein nicht mehr ganz junges, flitterndes Schauspielerpaar. Beide standen auf der Liste. Er gehört zu denen, die etwas geschrieben haben. »Lieber Werner, Deinem Wunsch nach Geschriebenem habe ich entsprochen...«, so beginnt sein Brief an Lamberz vom 2. Dezember '76, in dem nichts über die Zurücknahme der Unterschrift steht, nur daß wir den Klassenfeind draußen lassen, denn er hat verleumdet, und wir sollten doch lieb und vertrauensvoll miteinander sein, so wie das immer war. 

Es ist ja nichts dagegen zu sagen, aber je öfter ich diesen Ringelwurm von einem Brief lese, desto weniger gefällt er mir. Wir küssen uns, wir setzen uns, ich reiche den Ausreiseantrag rüber, es folgen die zehn stillen Minuten, unterbrochen nur durch gelegentliche Entrüstungsschnalzer. Mein Antrag wird nicht mißbilligt, ich werde verstanden, und doch scheint die alte Solidarität irgendwie dünner geworden, mit feinen aber hörbaren Unterschieden reden wir von derselben Sache. Ist es noch dieselbe Sache? Es gebe auch glücklichere Nachrichten, sagt Hilmar, er habe ein Angebot für das erste Halbjahr '78, in Basel Theater zu spielen, und heute habe man ihm und seiner Frau erlaubt, in der nächsten Woche in die Schweiz zu reisen, sich das Theater und das Land einmal anzusehen. 

Einmal anzusehen. Ich denke an Frank Beyers Worte von damals: Sie werden die Briefe auf einen Haufen legen — egal, was drinsteht — und einteilen in die, die etwas geschrieben haben und die, die nichts geschrieben haben. Ich gönne den beiden die Reise, aber neidisch bin ich doch. Ich kann ihnen nichts vorwerfen, so gern ich es tun würde. Sie haben sich einen winzigen Hauch geschickter verhalten, dafür gibt's ein feines Zuckerbrot. Noch ein Schauspielerpaar kommt, Annekatrin Bürger und Rolf Römer. Wir küssen uns, wir setzen uns, zehn stille Minuten.

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Römer sagt: »Ich habe neue Rufmordgeschichten mitgebracht. In den Bezirken Rostock und Cottbus wird auf Bezirksleitungsebene der Partei von Manfred Krug offiziell als von einem Kriminellen gesprochen, gegen den genug Material vorliege, um jederzeit den Staatsanwalt zupacken zu lassen.« Ich spüre, wie mein Heldengefühl anfängt zu bröckeln. Wir sitzen da, ich verberge meine Unsicherheit im Plaudern. Die Frauen gehen zwischendurch in die Küche, wo sie Ottilie beim Kaffee helfen und ein bißchen weinen. 

Wir trinken eine Flasche Weinbrand, Teile des Gesprächs entgehen mir, ich denke an meine Kinder, an Ottilie, sehe irgendeine Straße vor einem Westberliner S-Bahnhof, wo wir mit den Koffern stehen werden, die Kinder schon hier des Abenteuers überdrüssig. Die werden mich noch oft von der Seite ankucken, mich, den Verursacher ihres Elends. Werde ich es schaffen, darin eine Herausforderung zu sehen? Kann ich noch denken, ohne daß mir vorgedacht wird? Kann ich noch handeln, kann ich den kapitalistischen Freistil noch lernen? 

Hier habe ich diese kuschlige Villa, in die ich vielleicht eine Million verbaut und verbuttert habe, die eigenen Arbeitsstunden mitgerechnet. Wer sich die Wand ansieht, die ich errichtet habe, um mit dem Arsch an dieselbe zu kommen, der weiß, wie unmöglich mir der Gedanke gewesen sein muß, dieses Land zu verlassen. Freilich, eine Villa ist nicht alles. Aber nirgendwo ist eine gute Wohnung nötiger als in der DDR, denn außerhalb der Wohnung ist so gut wie nichts. Ein eingezäuntes, umfriedetes Haus ist für keinen wichtiger als für Leute mit öffentlichem Beruf, denn außerhalb des Hauses belästigt sie das übersteigerte Interesse der Mitbürger. 

Ich bin Schauspieler in der DDR, ich mußte dieses Ghetto bauen, denn an mich kommt die Öffentlichkeit den ganzen Tag ran. Kein Mensch würde auf einer Straße in Borna das Politbüromitglied Lamberz erkennen, er könnte dort unrasiert und nasebohrend einen Schaufensterbummel machen.

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Für mich gab es das nicht, ich mußte auf der Hut sein und mich halbwegs so vorführen, wie die Leute es erwarteten. Nach Verlassen meines Hauses wurde ich verkrampft und steif und ordentlich, ich hatte den ganzen Tag Sehnsucht nach zu Hause. Dieses Haus ist mein Refugium, hier kann ich mich erholen, hier bin ich nicht der Vorbild-Mensch Manfred Krug. Ich höre Rolf Römer, der sich gerade von einer Krankheit erholt hat, sagen: 

»Schlimm genug, daß mich in jungen Jahren dieser Hieb getroffen hat, sonst wäre ich wohl schon weg. Ich weiß nicht, was ich machen soll, seit November habe ich keine Zeile geschrieben, weil ich nicht weiter an den Sachen vorbeikucken kann. Ich hab die Indianer und die Krimis satt, ich hab den ganzen Laden satt. Aber schmeiß mal hin... Was soll ich im Westen? Außerdem, Annekatrin will sowieso nicht.«

Sie wollen sicher beide nicht. Sie wollen mir nur klarmachen, daß mein Entschluß nicht aus der Welt ist, daß es eine Konsequenz auch für jeden anderen werden kann. Annekatrin will immer etwas sagen, ihr Mann fährt ihr immer übers Maul. Dann sieht sie immer ein bißchen beleidigt aus. Sie war als junge Frau so außergewöhnlich schön, daß es ihr sicher mehr weh tut als anderen Frauen, diese Schönheit schwinden zu sehen, wodurch für eine Schauspielerin auch ein Teil der Arbeit ausbleibt. Ein Mauerblümchen ist sie nicht geworden, sie hat politisch zu tun, sitzt in der Stadtbezirkskulturkommission oder wie das heißt. Und dort hat sie noch einiges zu erledigen, sagt sie. Nachdem sie soeben ein Museum vor der Auflösung bewahrt hat, will sie nun dafür sorgen, daß die schon zweimal als beliebteste Fernsehansagerin ausgezeichnete Maria Moese ihre Abenddienste wiederbekommt. Die hat man ihr weggenommen, weil ihr Mann ein Unterzeichner ist. 

»Lamberz ist zur Kur«, sagt Annekatrin, »sonst hätte ich das schon erledigt.« Ach, Annekatrin. 

Es ist spät, wir trennen uns. Die Liebe in unserer Ehe macht ihre erste Krise durch.

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22. April 1977, Freitag

Am liebsten würde ich dauernd im Zimmer auf und ab laufen, aber ich komme nicht dazu, es klingelt und klingelt. Ein Mensch, den ich kaum kenne, will 20.000 Mark von mir geliehen haben, bevor ich ausreise. Niemand glaubt mir, daß ich kein Geld habe. Ich hatte nie Geld, ich hatte immer nur Sachen.

Wir fahren nach Pankow und kaufen zehn Pappkoffer und — in verschiedenen Läden — einen Zentner Zellstoff als Verpackungsmaterial. Ich fange an, einige hundert alte Schellackplatten einzukoffern.

Am Nachmittag kommt Müller-Stahl und bringt Schwester und Schwager mit. Schwester und Schwager haben einen Sohn, der seinen Dienst bei der Naumburger Transportpolizei abreißt. Der Politoffizier habe im Unterricht zu diesem Sohn gesagt, Leute vom Schlage eines Krug lebten wie die Fürsten und seien Feinde des Staates. Wenn ich statt des Ausreiseantrags ein bißchen Asche auf mein Haupt geschüttet hätte, vielleicht von der Sorte, die kübelweise beim XI. Plenum übriggeblieben ist, wie hätten sie dann den Schlenker zustande gebracht. Wie hätten sie all den Stasileuten, Lehrern, Funktionären beigebracht, daß ich eigentlich kein Staatsfeind, sondern doch wieder der liebe Manfred bin, der Nationalpreisträger, Heinrich-Greif-Preisträger, der Mann mit dem Bestenabzeichen der Volksarmee, mit dem Goldenen Lorbeer des Fernsehens, mit der Verdienstmedaille der DDR. Und wenn sie eines Tages rauskriegen würden, daß, sagen wir, der Hacks oder der von Ardenne Staatsfeinde wären, wie werden die dann hier gelebt haben? Wie Kaiser und Könige. Wie denn sonst? 

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Minchens Schwager war bis vor kurzem Staatlicher Leiter, er war Intendant des Theaters Halle. Eines Tages im Januar hatte er keine Lust mehr, er schrieb einen kräftigen Brief an die Bezirksleitung der Partei, in dem er bedauerte, nicht um seine Unterschrift auf die Liste gefragt worden zu sein. Einen Tag später war er entlassen. Seit zwei Wochen ist er nicht mehr Mitglied der Partei.

Minchen redet immer seltener von seinen Ausreiseplänen, es sah eine Weile so aus, als würde er den Antrag eher stellen als ich. Nun wird es grün in dem Park, der sein Haus umgibt, der Blick auf den See stimmt versöhnlich und läßt in diesen wärmeren Tagen öfter darüber nachdenken, ob es je im Leben noch einmal einen solchen Schwanensee hinter dem Haus geben wird.

Beim Abschied wird laut Mut zugesprochen und laut gelacht, aber das klingt alles nicht gut.

Abends besuchen uns die Nachbarn Pröbrock, wir sehen uns gemeinsam den sowjetischen Film »Die Prämie« an. Ach, hätte es je in der Sowjetunion eine Brigade gegeben, die ihre Jahresprämie ablehnt, weil sie sich selbst das Geld durch eine kriminelle Planmanipulation zugeschanzt hat. Ein schöner Märchenfilm. Soll man Hoffnung daraus schöpfen, daß er überhaupt gedreht und aufgeführt werden konnte? Soll man mutlos darüber werden, daß es einen solchen entblößenden Film in der DDR nie gegeben hat?

23. April 1977, Samstag

Den ganzen Tag Besuch, den ganzen Tag Kondulationen. Während der freien Augenblicke Koffer gepackt. Am Abend den Doktor Meinhard Lüning und seine Frau, die Schauspielerin Barbara Dittus, besucht, die auf der Liste steht. Sie würde lieber heute als morgen gehen. Er wird bleiben. Er war immer lieb zur DDR, die DDR war immer lieb zu ihm.

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24. April 1977, Sonntag

Ich gehe noch einmal durch das ganze Haus, fange oben auf dem Dachboden an. Da sind die Balken, frisch bebeilt und durch und durch mit Gift getränkt, hundert Jahre holzbockfrei. Die Dachziegel heißen Biberschwänze. Wie ich das Wunder fertiggebracht habe, sie zu ergattern, habe ich vergessen. Ich klettere durch die neue Luke auf das Dach, die Laufplanken neu, die Kaminköpfe neu, mit Kupferblech umschlagen, alle Dachrinnen Kupfer, einen Millimeter stark, dünneres Blech gab's nicht, alle Dachgauben, die Ochsenaugen und alle Abwässerungen: Kupfer. 

Es ist windig und regnerisch heute. Auf dem Dachboden liegt ein ausgestopfter Braunbär, Geschenk einer Potsdamer Dame, die nach dem Westen gegangen ist. Seine Glasaugen sehen mich im Halbdunkel gutmütig an. »Dich werde ich wohl hier liegen lassen, mein Freund«, höre ich mich sagen. Im oberen Stockwerk der lange Korridor, an dem jedes Kind ein Zimmer hat, da ist die Bude von Daniel, das aufgeräumte Zimmer von Josephine mit verspiegelten eingebauten Schränken und die kleine Kammer von Stephanie mit eigenem kleinen Klosett. Ganz hinten das verwinkelte Stübchen für Gäste, vorn an der Treppe das Schlafzimmer mit nie benutztem Speiseaufzug und großem Balkon, daneben das Badezimmer. 

Wegen des Badezimmers habe ich mich einst in die Ruine verliebt. Es ist ganz mit hellem Marmor ausgekleidet, die großen Platten schwarz abgesetzt, auch die doppelt große Wanne ist eingefaßt, ebenso die Nische für das Bidet und die Dusche. Das ovale Waschbecken ist aus feinstem Carrara-Marmor und alle Armaturen alt, gediegen, hochherrschaftlich. Ein solches Badezimmer sieht man manchmal in Hollywoodfilmen der 30er Jahre, wenn es die Schauspieler anders nicht geschafft hätten, Millionäre darzustellen.

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Im ganzen Haus diskret verkleidete Heizkörper, seit einem Jahr an die vollautomatische Gasheizung angeschlossen, die aus dem Westen stammt. 8000 West und 7000 Ost für die Montage. Wie ich das wieder gedeichselt habe. Ich wandere durchs Parterre, die drei schönen Wohnräume, das Speisezimmer, durch eine Schiebetür vom Wohnzimmer und der Bibliothek getrennt. Das Wohnzimmer getäfelt, alles restauriert, kein Quadratzentimeter alter, rissiger Putz mehr am Haus, nicht außen noch innen. Alles, alles ist getreu restauriert, als wäre es ein Barockschloß. Wo man hinsieht, kleine Überraschungen. Der Wintergarten aus feinstem Napoleonmarmor mit Springbrunnen, die Schwingtür zwischen Diele und Windfang mit ihren geschliffenen Scheiben, die drei fein gestrebten weißen Bogentüren zur Terrasse, der Kamin, die Parkettböden, der wohlumfriedete Garten mit seinen alten Bäumen, Hecken, den versteckten Winkeln und dem Teehäuschen. Elf Jahre Arbeit.

Die Schauspielerin Marita Böhme aus Dresden kommt. Sie liest ihre zehn Minuten runter und sagt: »Schöne Scheiße, du.«

Wir trinken Kaffee. Sie sagt: »Warum gibst du das Haus nicht deinem Vater?« »Was soll der mit dem großen Haus?« Sie sagt: »Und deine Möbel, kannst du die mitnehmen?« »Ich hoffe es.«

»Meinst du nicht, daß deine Möbel allesamt zu Museumsstücken erklärt werden könnten?« »Möglich ist es.« »Dann bleiben sie hier.« »Das kann schon sein.« »Gibt es da ein präzises Gesetz?«

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»Das weiß ich nicht«, sage ich, »aber wenn es ein Gesetz gibt, dann ist das völlig Wurscht, ob es ein präzises ist oder ein anderes. In keiner Goldgräberstadt des Wilden Westens ist es je so Wurscht gewesen, ob es Gesetze gibt oder nicht, wie es hier Wurscht ist. Ob meine Sachen hierbleiben oder mitgehen, das entscheidet irgendwer hinter irgendeinem Schreibtisch. Abschiedsgeschenke überreiche ich ihnen genug.«

Ihr Auto sei kaputt, ob ich ihr nicht eins verkaufen könne. Ich biete ihr den Käfer, den alten Jaguar und den Trabant zur Auswahl an. Sie will es sich überlegen. Abends sind wir bei Maria Moese, der Fernsehansagerin, und ihrem Mann Willi eingeladen. Es wird getrunken, gelacht und geheult. Ottilie nimmt eine Beruhigungspille, die Schauspielerin Barbara Dittus ruft an: »Am 4. Mai werdet ihr ausreisen.« Ich: »Woher weißt du das?«

Barbara: »Vom Kollegen Handel, er ist FDGB-Vorsitzender beim BERLINER ENSEMBLE.« »Woher weiß der das?«

Barbara: »Er muß es irgendwo aus dem ZK haben. Er ist ein ganz penibler Mann, bisher hat alles gestimmt, was er gesagt hat.«

Ich kann das Ganze kaum glauben, bin aber umsichtig genug, es in der Runde auszuposaunen. Die Runde erstarrt. Ottilie nimmt noch eine Beruhigungspille. Es kostet Kraft, nicht in den Heulkanon einzustimmen. Spät kommen Rolf Römer und Annekatrin Bürger dazu, er legt Wert auf die Feststellung, neulich abends bei mir ganz schön angetrunken gewesen zu sein. Er hat noch eine Geschichte bei sich: In den Bezirksleitungen der Partei wird von dem Schriftsteller Ulrich Plenzdorf gesagt, er habe zugegeben, einer konterrevolutionären Gruppe anzugehören.

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Das meiste von dem Gespräch entgeht mir. Ich bin noch immer mit dem Abschied von meinem Haus beschäftigt, gehe in Gedanken durch die Keller, wo meine Werkstatt ist, wo die Sauna ist, die sich mit der im Interhotel »Stadt Berlin« messen kann, nur daß mein Ofen besser ist, der ist über dunkle Kanäle aus dem Westen gekommen. Ich gehe an den selbstgebauten Regalen vorbei, die überquellen von all dem Kram und Trödel, den ich in 20 Jahren zusammengerafft habe. Und wertvolle Sachen entdecke ich darunter: Edison-Phonographen, alte Telefone, Schiffskompasse, Bilder, Porzellan, Gläser, Humpen, Kannen, Kisten... Damit kann man nicht umziehen.

Und in der Garage stehen die alten Autos, einige völlig zerlegt, Arbeit für zehn Jahre. Da steht halb fertig der ORYX von 1910, in dem stecken mehr als 2000 Stunden, da steht der SIMSON SUPRA von 1930, in sämtliche Teile zerlegt, da stehen die BMW 327, 328 und 315, da steht ein halbes Dutzend anderer Schrotthaufen von AUDI bis FORD, und es stehen in einer Scheune an die 20 Kutschen, die außer ihrem Abtransport keinen Pfennig Geld gekostet haben, denn ich habe sie vor der Kiesgrube bewahrt, in einer Zeit, als noch keiner an so was gedacht hat. Damit kann man nicht umziehen.

 

25. April 1977, Montag

Es ist Montag, wir haben die Besuche satt. Die Gartentore verschlossen, zum ersten Mal, seit wir hier wohnen. Wir erwarten den Anruf. Vergeblich. Die Nachricht von gestern abend, wir würden am 4. Mai gehen, hat Ottilie einigermaßen umgehauen. Sie sieht schlecht aus. Unsere Haushälterin Frau Engel räumt in Ruhe den Dachboden auf. Das Telefon klingelt. Niemand dran. Drei-, viermal dasselbe. Dann ist der Komponist Günther Fischer dran, der uns zum Abend zu sich einlädt.

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Plötzlich ist Müller-Stahl da, weiß der Teufel, wie er reingekommen ist. Aber ich freue mich, wir haben ein langes Gespräch, das nur den Sinn hat, einander Mut zu machen. Er sagt, er würde seinen Ausreiseantrag selbst dann abgeben, wenn meiner abgelehnt würde. Nach dem Tee begleite ich ihn zum Taxistand. Kurz bevor er in den zerbeulten WOLGA steigt, fragen wir uns, was eigentlich passieren müßte, damit wir doch noch hierbleiben. Noch habe ich meinen Vertrag beim DEFA-Filmstudio. 3000 Mark brutto im Monat, davon könnte man gut leben. Aber wenn ihnen morgen einfällt, mich rauszuschmeißen, schmeißen sie mich raus. Da könnte auch der Genosse Hans-Dieter Made, neuer Generaldirektor der DEFA, nichts machen.

Made ist seit 15 Jahren Kandidat des ZK. Er war der erste von allen meinen potentiellen Arbeitgebern, dem sie erlaubt, vielleicht sogar befohlen haben, mich nach dem Ausreiseantrag zu einem Gespräch zu empfangen. Meine Erinnerungen an ihn stammten noch aus den frühen 60er Jahren. Damals war Made Intendant der Karl-Marx-Städter Bühnen und organisierte alljährlich die »Maitage«, ich hatte mit den JAZZOPTIMISTEN BERLIN ein Konzert in seinem Opernhaus.

Made ist ein kräftiger Mann, zwölf Stühle, seinem Auftreten nach etwa das, was man sich unter einem Heldenbariton vorstellt, vielleicht einen halben Kopf zu kurz. Er gibt sich freundlich, laut und unverbindlich. Seine Gedanken scheinen ihm so wertvoll zu sein, daß er nur wenige davon preisgibt, man muß sie aus einem Schwall von Worten herausfangen. Ich kann ermitteln, daß seine Rede auf den Vorschlag hinausläuft, ich könne durch Stillhalten nur gewinnen. Gewiß sei es das beste zu warten, bis der Rauch sich verzogen habe. Mein Vertrag würde gültig bleiben, und irgendwann, nach gründlichem Kuschen, wird man weitersehen.

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Hungern müßte ich vorerst nicht. »Was halten Sie davon«, sagt er. »Wie ist überhaupt Ihre Stimmung?« »Meine Stimmung ist schlecht, Herr Made«, sage ich. »Statt mich anzurufen, haben Sie den Film >Feuer unter Deck< aus dem Sommerfilmprogramm herausgenommen, weil Sie nur zu gern auf das Parteigerücht eingegangen sind, wonach ich, einfach so, einen aufrechten Genossen niedergeschlagen haben soll. Der war in Wahrheit ein Stasibeamter, den sie für einen Test eingeteilt hatten. Ein Mensch, der in der Öffentlichkeit von einem Schweizer Bankkonto faselt, das ich haben soll. Sie wissen doch, was es für einen DDR-Künstler bedeutet, eine solche Behauptung unwidersprochen hinzunehmen. Der soll sich nicht beklagen. Dafür ein paar Backpfeifen, das ist nicht zuviel. Jetzt haben Sie offenbar die Genehmigung, mit mir zu sprechen. Sie sagen, sie hätten zwei Filme mit mir im Keller, und es bestehe die Absicht, diese Filme aufzuführen. Ich lebe nicht von der Aufführung meiner Filme, sondern davon, daß ich welche drehe. Bisher hat es niemand für nötig gehalten, mir die Aufführung oder Nichtaufführung meiner Filme anzukündigen. Sie empfehlen mir, den Kopf einzuziehen und versuchen mich mit der Aussicht zu trösten, daß ich ihn eines Tages wieder herausrecken darf. Dazu habe ich keine Lust, dazu empfinde ich mein Verbrechen als nicht groß genug. Das sollte man nicht jedesmal nach diesem Schema machen, und nicht mit jedem. Ich bin nämlich ein ganz besonderer Schauspieler in diesem Land.«

Made sieht mich verständnislos an und sagt: »Wieso denn das?«

»Sehen Sie, den Frieden mit der Regierung zu machen, wäre eine an Leichtigkeit kaum zu überbietende Aufgabe gewesen. Wenn ich geschrieben hätte, meine Unterschrift sei in der ersten Wut auf die Liste geraten, ich sei empört

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über den Mißbrauch, den der Klassenfeind damit treibt, ich sei halbwegs überrumpelt worden und sähe erst jetzt, welchen Fehler ich gemacht hätte, welchen zwielichtigen Leuten ich mich da angeschlossen hätte, gerade ich als populärer Schauspieler und so weiter, dann säße ich jetzt nicht vor Ihnen, sondern wäre mit den Dreharbeiten zum >Götz von Berlichingen< beschäftigt. Sie müßten vielleicht sogar auf mich warten, weil ich mit Günther Fischer in Köln oder Regensburg konzertieren würde. 

Das wäre so einfach, Herr Made, daß es schon lächerlich wäre. Ein solcher Brief müßte nicht halb so brillant sein wie der von Professor Maetzig an Walter Ulbricht im NEUEN DEUTSCHLAND von 1965. Selbst wenn mein bockiger Charakter einen solchen Brief durchlassen würde — es ginge nicht. Eben weil ich ein besonderer Schauspieler bin in diesem Land. Ich meine nicht das Talent. Ich weiß schon, daß ich die Lücke, die der Tod von Emil Jannings gerissen hat, nicht füllen kann. Ich meine, daß der Schauspieler Krug und die Person Krug als identisch betrachtet wurden, daß da eine seltene Ausstrahlung von Echtheit und Freiheit war, von Unbefangenheit, da war eine Person, die sich nicht hat verbiegen lassen, jemand, von dem die Hälfte aller Interviews weggeworfen wurde, und den Rest konnte man immer noch nicht senden, weil zuviel Geradheit und Selbstvertrauen darin zu vernehmen war. 

Selbst auf der Leinwand blieb davon noch was übrig, und die Leute sagten: Kuckt euch den an, so was gibt's, solche Typen existieren, mitten in der sozialistischen Darstellungsroutine ein Mensch, dem man glauben kann. Und die Leute waren froh, glauben zu können, selbst wenn ich einen Parteisekretär gespielt habe. Denn ich habe keinen Parteisekretär gespielt, den ich kannte, keine von diesen armen, geschlagenen Kreaturen aus der Wirklichkeit von Leuna II vorgeführt, sondern den Parteisekretär, der ich selbst sein wür-

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de, wenn das die Partei wäre, die mich brauchen oder wenigstens ertragen kann. Was wäre aus diesem nur in der DDR möglichen, einmaligen Verhältnis zwischen meinem Publikum und mir geworden, wenn ich jetzt gelogen hätte? Es war ein Vertrauensverhältnis, verstehen Sie? Zwischen Schauspieler und Publikum. So was gibt es vielleicht auf der ganzen Welt nicht noch mal. Dieses Publikum, das sind nicht meine Fans, das sind meine Freunde. Und die Freundschaft wird jetzt auf breiter Front zerstört durch die mieseste Rufmordkampagne, die man sich vorstellen kann. Krieche ich zu Kreuze, bin ich kaputt. Krieche ich nicht, macht ihr mich kaputt.«

»Ach, das sehen Sie alles ein bißchen schwarz«, sagt Made. Er sei mit den Maßnahmen der Regierung voll einverstanden, er billige den Rausschmiß Biermanns, verurteile die Veröffentlichung der Petition beim Gegner. Allerdings höre er mit Vergnügen, wie ich mein Selbstbewußtsein vortrage und meine Gewißheit, ein guter Schauspieler zu sein. In Fragen des Selbstbewußtseins bis hin zur Selbstüberschätzung stehe er mir allerdings nicht nach, auch er halte große Stücke auf seine Leistungen, das Gebiet allerdings, auf dem er sich sicher fühle, sei das der Politik, insbesondere der Kulturpolitik. 

»Sie sollten sich, Herr Krug — ich sage das jetzt einmal so, nicht mit der Absicht, Sie zu kränken, eher in der Hoffnung, Ihnen eine Hilfe zu geben —, Sie sollten, sage ich, sich nicht hinreißen lassen, jetzt so was wie ein Hobby-Politiker werden zu wollen, das ist nicht Ihr Metier.« Das sei aber sehr wohl sein Metier, und wie er mir als Schauspieler vertraue, so möge ich ihm ruhig als Kulturpolitiker vertrauen. Er sei es gewohnt, seine Entscheidungen stets unter dem vielfältigen Aspekt des historischen Gesamtprozesses zu sehen. Was diesen Punkt angehe, sei ich offenbar weit zurück. Er hoffe dennoch, dieses Gespräch würde der Beginn einer Reihe von guten Gesprächen sein. 

»Gleich nach Ihnen«, sagt er, »kommt Ulrich Plenzdorf, mit dem ich ähnliche Probleme behandeln werde.«

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Auf Wiedersehen. Nichts Genaues. Kein Angebot. Immerhin bin ich noch nicht entlassen, das ist schon mal anständig. Wenn ich in diesen Wochen, da der Regierungsbus so ein bißchen durch die Schlaglöcher schlingert, nach dem Westen gehe, dann schäumt es im Volk noch einmal heftig auf, vielleicht ebenso heftig wie bei dem Komiker Cohrs oder Nina Hagen. Eine Unannehmlichkeit, die sich verhindern läßt, indem man mich ruhigstellt, und später stellt man mich kalt, und wenn die Stimmung im Land wieder harmonisch ist, dann, vielleicht!, in drei Teufels Namen ab mit dem, in den Westen. Verzeihen werden sie mir nie. Schauspieler sind schnell vergessen, noch schneller sind sie vergessen gemacht. Immer mehr Leute trauen ihren Augen nicht, wenn sie sehen, daß ich noch da bin. Ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, weiß ich nicht. Wähnen sie mich schon im Westen? Oder im Knast? In der Friedrich-Engels-Straße fährt der Kohlenhändler mit seinem neuen Wartburg am hellichten Tage gegen eine Gaslaterne, weil er den Blick nicht von mir wenden will. Die Laterne fällt einfach um, der Wartburg rast davon, ich gehe meiner Wege und habe nichts gesehen. In letzter Zeit begegnen mir ungläubige Gesichter, man sieht mich an wie einen Geist. Autos überholen mich unter gefährlichen Manövern, die Insassen wollen klären, ob ich es bin oder nicht.

Zu Hause sehe ich in den Briefkasten, frage nach einem Anruf, nichts.

Am Abend sind Ottilie und ich bei dem Komponisten Günther Fischer in Köpenick zum Essen eingeladen, es ist eine lange Autofahrt von Norden nach Süden durch die Stadt, Ottilie sitzt lustlos neben mir, die sechs Monate Aussatz haben sie nicht so mitgenommen wie diese letzte Woche des Wartens.

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Fischer war nie mein Freund, dazu schien er mir zu infantil, aber ich habe ihn liebgehabt. Ich nannte ihn ganz ernsthaft den kleinen Mozart, weil er ebenso leicht Musik machte und weil er im Übermut ebenso auf Kosten anderer witzelte. Mit mir hat er keinen Schabernack getrieben, mich hat er geachtet. Obwohl ich keine Note lesen konnte, hat er mich als vollwertigen Musiker angesehen, was mir schmeichelte, und obwohl ich nur fünf Jahre älter bin als er, war ich so etwas wie eine Vaterfigur für ihn. Er beobachtete mich und übernahm einige meiner Allüren, Ansichten, Steckenpferde. Sein musikalisches Urteil war genau, ich konnte stolz darauf sein, daß er mich für einen richtigen Sänger gehalten hat, mit dem man Platten und Konzerte machen kann. 

Ich glaube nicht, daß er Dankbarkeit kannte. Er hat mir wohl kaum gedankt, daß ich ihm bei seinem Start als Platten- und Filmkomponist geholfen habe. Hätte ich als Sänger nachgelassen irgendwann in diesen zehn Jahren, er hätte mich ausgebootet. Wie kaum einer, war er auf Vorteile aus, er war immer scharf auf Privilegien. Als er gewahr wurde, daß ihm auf dem Weg zum erfolgreichsten U-Musiker der DDR nicht mehr viel fehlte, da ging er auch gleich den richtigen Kulturbonzen um den Bart, knüpfte Kontakte nach oben, gehörte bald zum »Reisekader« und konnte — zusammen mit seiner Frau und kinderlos — in die Schweiz und nach Italien reisen, und das will in diesem Land weiß Gott was heißen. 

Günther Fischer war eine kleine Macht in der DDR, beim Jazz- und Schlagervolk ebenso beliebt wie bei den Kulturobristen. Er hatte in eine gut situierte, clevere Mittelstandsfamilie und in ein hübsches Einfamilienhaus hineingeheiratet und war schließlich der bestverdienende Musiker im Land. Nicht den politisch engagierten Kopf Fischer hatte ich damals im November angerufen, um ihn zu fragen, ob er seine Unterschrift hergeben wolle, sondern den reichen Günstling Fischer, der außerdem ein Talent war und eine Weile ohne Arbeit gut hätte durchhalten können. 

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Er kam damals in meine Wohnung und unterschrieb sofort. Ich glaube nicht, daß er die Tragweite begriffen hatte, die hatten wir alle nicht begriffen. Er war vielleicht wirklich der einzige, der es mir zuliebe getan hat. Sicher, es kann auch sein, weil Plenzdorf, Schlesinger, Thate und Domröse damals in meiner Wohnung waren, lauter achtbare Leute, vor denen er nicht als Feigling dastehen wollte. Aber nein, der Gedanke ist schöner, daß er es mir zuliebe getan hat, und das werde ich ihm nicht vergessen. Für einen Augenblick war er richtig fröhlich, mit so angesehenen Kulturschaffenden auf einer kessen Liste zu stehen, da mußten doch noch welche dazukommen, es flogen ihm die Namen nur so aus dem Mund: Paul Dessau, Manfred Wegwerth, Siegfried Matthus und andere.

Aber als zwei von denen nicht zu erreichen waren und alle drei nicht zu gewinnen, da wurde er still und ernst. Danach rief er mich jeden Tag an und fragte, wie es steht und wie es mir geht. Das ging ein paar Tage, dann hörte ich nichts mehr von ihm. Wenig später hat Werner Lamberz sich mit ihm gebrüstet und ihn verraten, in unserem Gespräch sagte er: »Sogar dein Fischer hat die Unterschrift zurückgezogen!« Sonst wäre es nie rausgekommen, und ich würde mich heute noch wundern, warum Fischer nahtlos weiterarbeiten konnte. Wie viele mögen es inzwischen sein, die einen Rückzieher gemacht haben? 

Wir kommen in der ländlichen Vorstadtstraße an, Fischer erwartet uns schon im Vorgarten. Er sperrt den großen Köter ein, und dann essen wir zu Abend. Knoblauchsuppe und Filetgulasch. Es wird wenig gesprochen. Was zu besprechen war, haben Fischer und ich unter vier Augen während unserer einsamen Autofahrten durch Mecklenburg erledigt, wo vor »erlesenem« Publikum unsere letzten Konzerte stattgefunden haben. Wir fuhren zum erstenmal allein in meinem Wagen, seine Autos waren kaputtgegangen.

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Wir stochern uns durch den Filetgulasch und genießen die Trauer des Augenblicks. Ob wir uns wiedersehen, wann, wo, ob wir je wieder zusammen Musik machen werden, ob die schönen Lieder noch einmal erklingen werden, ob damit noch eine Mark zu verdienen sein wird, ob sie im Osten die Songs von Fischer und Krug je spielen werden, ob Krug sie im Westen wird unterbringen können, ob es je Neues von den beiden geben wird... Beim Abschied präge ich mir den kleinen Mozart noch einmal ein, von dem ich mich nicht besonders verraten fühle, und seine Frau Petra, die von ihrer Mutter die großen Brüste geerbt hat und das endlose Nachdenken darüber, was von Vorteil ist und was nicht.

Wir fahren in die Stadt zurück, wo wir bei einem ausländischen Diplomaten einen Wodka einnehmen werden. Unterwegs pfeift Ottilie die Biermann-Zeile »Leben steht nicht auf dem Spiele, euer Wohlleben ja nur.« Mittlerweile gibt es so viele starke Biermann-Zeilen, daß sie im Osten wie Bibelsprüche ausgeteilt werden. In seinen Versen kommen die Sachen vor, die uns bewegen. Ist es das »bessere Deutschland«, das ich jetzt hinter mir lassen will, Biermann? Ich frage mich, ob du dir da selbst noch sicher bist.

In der kleinen Diplomatenwohnung in der Leipziger Straße treffen wir Bekannte, die von einem Empfang in der Portugiesischen Botschaft kommen, schönen Gruß von der Gemahlin des Botschafters, warum ich nicht gekommen sei, sie habe mich schriftlich eingeladen. Davon weiß ich nichts. Zunehmend fehlt Post in meinem Briefkasten.

Jutta Hoffmann, seit einigen Jahren Mitglied des BERLINER ENSEMBLE, ist unter den Gästen. Ich erzähle ihr von meinem Tagebuch und frage, ob sie nicht Lust hätte, eine Kleinigkeit beizusteuern. Sie kuckt eigentlich unglücklich. Und das kommt so: Wenn Jutta Hoffmann spielt, ist sie alles, was es auf der Welt gibt, aber den ganzen restlichen Tag über, wenn sie nichts zu spielen hat, dann kuckt sie eigentlich unglücklich. 

»Habe ich dir die Geschichte mit dem DEFA-Generaldirektor schon erzählt? Nein? Also, ich, mitten bei der Arbeit, hab ihn dort irgendwo im Filmgelände getroffen, in einem lila Kostüm und mit onduliertem Haar bin ich in sein Büro und frage ihn, warum er den Regisseur Egon Günther daran hindert, mit mir, Jutta, einen seit langem vorbereiteten Film zu drehen. Egon hat kein Drehbuch dazu geschrieben, weißt du? Warum auch, er hat den Film im Kopf. Da überschüttet mich der Generaldirektor mit einem Schwall von Worten, von denen ich mir nur die folgenden gemerkt habe: Wir müssen jetzt ein paar Filme drehen, die meine Position stärken. Und da hab ich gesagt, ich hätte noch nie im Leben einen Film unter dem Aspekt gedreht, eines Generaldirektors Position damit zu stärken.«

»Gut gegeben, Jutta«, sage ich. Hat die eine Ahnung. Heute habe sie sich so aufgeregt, sagt sie, sie sei von den »Erben« vorgeladen worden. »Wer sind die Erben?« frage ich.

»Die Erben«, sagt Jutta, »das sind die Erben der Brecht-Rechte, Brechttochter Barbara Berg und Brechtschwiegersohn Ekkehard Schall, die wollen genau dasselbe, was die Regierung will, die wollen ausdrücklich hören, daß man mit der abgedankten Intendanz unglücklich war und mit der neuen glücklich ist. Aber wer mich engagiert hat, das war die Berghaus, sie hat mich gemocht. Das heißt doch, daß sie gesehen hat, wer ich bin, das heißt doch, daß sie gewußt hat, was Qualität ist. Ich war nicht unglücklich mit ihr, ich war glücklich. Und nun haben sie schon alle rumgekriegt, nur Jürgen Holz und mich nicht.«

»Schmetterlingen darf man nicht auf die Flügel grapschen, und Schauspielern darf man nicht Gewalt antun«, sage ich. »Schon die unscheinbaren unter ihnen beschädigt man damit. Die schönen großen aber, wie dich, mein Schatz, sollte man nicht einmal rumkriegen wollen.« - »Deine Gleichnisse sind immer so leicht zu verstehen, mein Bester«, sagt Jutta. 

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