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  Prolog 

Kunert-2013

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Vor über fünfunddreißig Jahren, also vor einer Generation nach alter Zeitrechnung, fing ich an, mich als »Chronist« zu betätigen, wobei, was ich aufschreibenswert fand, just das Obskure jener Gegenwart gewesen ist ... Mein »Big Book«: Fast Tag für Tag notierte ich, was mir auffiel, was ich dachte, was ich geträumt hatte, worüber ich lachen oder mich ärgern konnte, Geschehnisse von erschütternder Bedeutungslosigkeit, die unter meinem Schreibstift erst eine Bedeutung für die Zeit, für die Gesellschaft, für die Verfassung des Homo sapiens annehmen.

Nichts schien mir zu gering, als daß es nicht von unabweisbarer Wichtigkeit für mein Menschenbild gewesen wäre, jede Nachricht, jede Meldung, jede Reflexion ein Indiz meiner Person, aber nicht allein meiner. Ich konnte mich ja auf Michel de Montaigne berufen, da er in den »Essais« meinte, es genüge, sich selber zu kennen, dann kenne man ohnehin alle Menschen. Er war mein Alibi, mein Kronzeuge.

Ob das »Big Book« je vollständig erscheinen wird, ist für mich von geringem Interesse: es nutzt mir vor allem zur Verständigung über die Weltläufte, über meine Haltung zu dem, was mich umgibt, was ich fühle und denke: es ist, wie alle Literatur, ein Selbstgespräch, und ich kenne, ironisch gesagt, keinen besseren Dialogpartner als mich selber. (Es darf gelacht werden!) Sich seiner selbst bewußt werden, ein Prozeß, bei dem man Angeklagter, Verteidiger und Richter in einem ist.

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