1999
Kunert-2013
9-39
Eher schlimme Träume. Einmal war ich nächtlicherweile fünf bis sechs Meter groß, das war noch das Harmloseste, dann Traum von einem Python, riesiges Tier (Eissler! Freud!), das schlafend dalag, dann jedoch immer irgendwo versteckt unter Lumpen oder Abfall, zugleich drohend und beängstigend. Anschließend Dampfschiff gefahren, Ocean Liner, von dem man nicht absteigen konnte, lauter bedenklich höfliche Wachleute, bis wir mit dem Schiff direkt auf eine Hochhauswand zufuhren, welche sich öffnete, und wir in eine Stadt gelangten, in der wir zwar von Bord, aber sonst nirgendwohin gehen durften. Die Wachmänner trugen dunkelblaue Uniformen; mächtige Kerle, doch die Jackenärmel ließen nur ihre Fingerspitzen sehen, ihre Gewalt indirekt anzudeuten. Solche Reisen unternehme ich nachts, und leider werden sie nicht erfreulicher.
Das Schlimmste, wenn sich Träume erfüllen.
Keine andere Nation hat derart viele Umbrüche und Umschwünge erlebt und erlitten wie die deutsche. Ein Volk, das einem leidtun kann, da es, ohne die Kontinuität »normaler« Nationen, von Orientierungslosigkeiten heimgesucht worden ist. Die Brüche sind bekannt genug: Kaiserreich, erster verlorener Weltkrieg, Weimarer Republik, Hitlers Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg, Zerstörung weithin, Spaltung des Landes in zwei Staaten und deren Integration in rivalisierende Machtblöcke.
Was soll man da von den Menschen anderes erwarten als Verdrängung, Vergessenssucht, Hinwendung ins Private.
Noch heute, wenn ich einkaufen gehe, erzählen mir ältere oder alte Herren von ihren grausigen Kriegsabenteuern. Die »Einschnitte« machen sich als empfindliche, manchmal schmerzende Narben bemerkbar. Es ist ja nicht der Fall, daß man nach einer Zäsur eine andere Identität annimmt; daß man auf andere Art weiterlebt. Das Gewesene hat sich eingebrannt und wirkt fort. Und die nachfolgenden Generationen bekamen als trostlose Erbschaft die deutsche Geschichte hinterlassen. Sie, die Jüngeren, leiden zwar nicht mehr darunter, aber sie können sich auch der Vergangenheit nicht entziehen. Kein Tag beginnt um null Uhr bei Null.
Und was die Fortschritte betrifft, so fühle ich mich eher amüsiert, daß dieser Begriff aus dem 19. Jahrhundert immer noch wie ein wohlschmeckendes Bonbon im Munde geführt wird. Zwar hat Brecht behauptet, es käme nicht auf das Fortgeschrittensein an, sondern auf das Fortschreiten, doch er hat offenkundig weder geahnt noch gewußt, daß wir uns in einem geschlossenen, unaufhebbaren Zirkel bewegen. Vordem ist ja der Fortschritt meist technologisch verstanden worden und die Technologie als Wegbereiterin der Humanität: das war natürlich lange vor Auschwitz und lange vor der Atombombe. Und lange vor der allgemeinen geistigen Reduktion durch das Fernsehen. Wir sind doch so etwas wie Neandertaler geblieben, unserem Ingenium hilflos ausgeliefert. Unter unseren fleißigen Händen verkehrt sich jegliche menschenfreundliche Innovation in ihr krasses Gegenteil. Wir lesen in den Pandekten autoritativer Wissenschaftler, unser Gehirn hätte der technologischen Entwicklung nicht zu folgen vermocht.
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Aber das merkt man jeden Tag. Dazu brauche ich weder einen Neurologen noch einen Philosophen, weder einen Genetiker noch einen Historiker. Unser »Fortschritt« besteht darin, daß wir wirksamere Mittel besitzen, uns zu vernichten, als sie unseren Ururahnen gegönnt waren. Unser ganzer »Fortschritt« besteht darin, daß auf Knopfdruck eine Lampe aufleuchtet, eine Rakete abgeschossen wird, ein buntes, verlogenes Bild auf einer gläsernen Röhre erscheint. Anständiger, moralischer, menschlicher sind wir nicht geworden. (Und nur unter diesem Aspekt ließe sich noch von »Fortschritt« reden.)
Der Balkan-Krieg, also das Abschlachten der Einwohner im Zuge »ethnischer Säuberungen« in Bosnien und jetzt im Kosovo, wird, meine ich, abschwächende Folgen für die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« haben. Der aktuelle Schrecken und Massenmord verdrängt das Gewesene, drängt es zumindest in den Hintergrund und läßt womöglich den Gedanken entstehen, so müsse man eben mit wenig zivilisierten Völkerschaften umgehen. Oder die Schuld der Deutschen sei geringer zu beurteilen, da »die anderen« auch nicht gerade menschlicher agieren würden.
An meinen Träumen fällt mir auf, daß manche ihrer Stoffe, ihr »Material«, keiner Herkunft aus der Realität zuzuordnen sind. Wie gestern der Traum, da auf Lastwagen mit Turbanen und in Lumpen gekleidete Araber herbeifuhren, um gefesselte, offenkundig weiße Männer, die aufgereiht an Wänden standen, bestialisch umzubringen. Währenddessen stand ich mit einem anderen Mann hinter einer Ecke und erläuterte ihm, daß ich für das eben von mir geschnitzte Boot einen dieses Erzeugnis abbildenden Karton gefunden hätte. Dabei aus den Augenwinkeln das Grausige wahrnehmend, aber mich durch das Gerede über den Schrecken hinwegsetzend.
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Man möchte meinen, es existierten tatsächlich frei umhergeisternde Schicksale, von denen man im Zustand abwesender Bewußtheit als Gefäß, als Katalysator für ihre Manifestation benutzt wird. Selbstverständlich setzen sich viele Träume aus bekannten Bestandteilen zusammen, Berliner Straßen, Grenzkontrollen, Verlust des Passes, London, die Läden mit Blechspielzeug - dergleichen ist mir ohne weiteres erklärlich. Doch hin und wieder erreichen mich Träume von einer Fremdheit, die mir unbegreiflich ist, weil sie von keiner Erfahrung, keinem Erlebnis legitimiert wird. Sollte es doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde geben, die und so weiter?
Die Lust am Reisen schwindet. Der Plan, zu meinem 70. Geburtstag vor dem Händegeschüttel auf die Kanarischen Inseln zu fliehen, gestrichen. Mit Aufatmen. Die Vorstellung, man säße dort in einer Hotelanlage, zwischen den Mahlzeiten von Beton umgeben, von Meer und zahllosen Urlaubern, machte schon im vorhinein die Depression, der man dort verfallen würde, zur Gewißheit. Da bleiben wir mit Lust besser im Regen und unter dem grauen Himmel Schleswig-Holsteins zuhaus.
Über das Altern. Und wie es sich bemerkbar macht. Vor allem im Psychischen. Gewisse Überlegungen des Alternden scheinen rational fundiert, basieren jedoch auf seinem Empfinden. So zum Beispiel das zunehmende Desinteresse an der Welt, an globalen Ereignissen, weil das Gefühl und somithin das Hirn sagt: Die Konsequenzen erlebst du ja doch nicht mehr. Dem alten Menschen ist die Haltung zu eigen: Nach mir die Sintflut! Oder der Gedanke:
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Soll ich noch dies oder jenes kaufen, wo mir immer weniger Zeit bleibt, mich damit zu befassen? Das schwindende Verlangen nach bestimmten Büchern, die zu lesen auf einmal unsinnig erscheint: Wozu noch die Beschäftigung mit der Literatur, wenn ich mich demnächst doch nicht mehr daran erinnern kann, weil keine Erinnerungssubstanz mehr vorhanden ist?
Solch mental fundiertes Denken bewirkt Rückzüge aus vielen Lebensbereichen. Der Zirkel verengt sich. Unsichtbare Tentakel werden eingezogen, Verbindungen gelöst. Warum noch einen Brief an den oder jenen schreiben, wo doch die Wochen, die Tage davonrinnen wie Wasserfälle. Unwesentliches unterläßt man ebenso wie Wesentliches, wobei einem verborgen bleibt, was dieses Wesentliche denn eigentlich wäre. Damit wird die Gleichgültigkeit zu einem bestimmenden Moment des Alterssyndroms. Man nimmt am sogenannten »Fest des Lebens« bestenfalls als Beobachter am Rande teil, bis man zum endgültigen Verlassen des Schauplatzes gezwungen ist.
Das Kind kramt gern, jedes. Allein in der Wohnung, geht es auf Entdeckungsfahrt. Es wühlt in Schränken, Truhen und Kommoden, doch vorsichtig und mit Bedacht, die vorgefundene Ordnung wiederherzustellen, damit niemand sein Tun bemerke. Da findet es seltsame Dinge, manche, bei denen es ahnungslos über den Verwendungszweck ist. Zwar kann es sich den Inhalt einer grün-lila gestreiften Schachtel mit dem Aufdruck »Fromms Akt« erklären und stellt sich vor, über welches Körperteil man diese Gummibeutel zieht, doch anderes, das wie ein Strumpfhalter aussieht, mit Klammern, um eine Binde daran zu befestigen, bleibt unentschlüsselt. Und zwischen Wäschestapeln im Kleiderschrank entdeckt es ein schwerwiegendes Buch ohne Einband, herausgegeben, das kann
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es schon lesen, von einem gewissen Magnus Hirschfeld: Was für ein seltsamer Name! Und die Bilder zeigen, was Erwachsene beschäftigt, untereinander oder allein, seit der Antike bis zum Moment, da die Kunstdruckseiten aufgeblättert werden. Eine »alte Türkin« hebt ihre schweren, sackartigen Brüste an den Warzen in die Höhe. Und die »römische Kopie einer griechischen Plastik« zeigt eine bequem hingelagerte »Nymphe«, zwischen deren Schenkeln ein »Faun« kniet, um von der gipsernen Dame zu kosten. Was es nicht alles gibt, denkt das Kind und verspürt zugleich ein angenehmes Gefühl in einer körperlichen Region, mit der es sich sowieso hin und wieder tastend befaßt. In der absoluten Stille der Zimmer erblüht eine empfindungsreiche Heimlichkeit. Sich selbst überlassen, erfährt das Kind eine abstrakte Initiation ins Dasein ausgereifter Menschen und schafft sich damit Erinnerungen für alle Zeiten, zumindest für die des eigenen Lebens.
Verkindlichung des alten Menschen. Kindisch werden. Wahrscheinlich bedingt durch den Schwund des Kurzzeitgedächtnisses, was dem Langzeitgedächtnis größere Bedeutung zukommen läßt. Durch die akute Vergeßlichkeit des augenblicklichen Momentes gewinnt die Vergangenheit an Gewicht: sie ist, weil neue Eindrücke mindere Spuren hinterlassen, stärker präsent als je. Indem der alte Mensch, im Wissen um die nur noch kurze Strecke Existenz, sich seiner Kindheit und Jugend zuwendet, nimmt er wohl die frühen Verhaltensmuster wieder an. Die Tatsache, daß alte Menschen rascher zu Tränen gerührt sind als jüngere, scheint mir ein Indiz für die Weinerlichkeit des Kindes zu sein, zu dem man graduell aufs neue wird. Obwohl einem dieser Prozeß bewußt ist, ganz kann man den Rückfall ins Infantile kaum vermeiden.
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Aufgepaßt also, bevor du dich wie ein Achtjähriger benimmst. Was du nicht merkst, finden Außenstehende abstoßend bis mitleiderregend. Wenn man Glück hat, erkennt man diese Wirkung selber nicht. Was für eine Definition von Glück! (Mal wieder eine ex negativo!)
Mit jedem uns nahestehenden Menschen, den wir ins Nichtsein verabschieden, verlieren wir ein Stück von uns selber.
Siebzig Jahre geworden. Merke keinen Unterschied zu den Jahren davor. Höchstens die Gewichtzunahme ist auffällig. Bewegungsarmut. Man schiebt die Trägheit auf die Wetterbedingungen; wer geht schon gern bei Regen spazieren? Vielleicht ein Nachlassen der Interessen, der Aufmerksamkeit, eine gewisse Indolenz. Mangelnder Antrieb, etwas zu tun, zu zeichnen, zu schreiben, zu lesen. Ja, die Leselust ist stark reduziert. Man steht vor seinen Büchern und wendet sich nach kurzen Augenblicken wieder von ihnen ab. Wir haben uns wohl nichts mehr zu sagen ...
Längere Zeit des Nichtschreibens, des schriftlichen Schweigens. Den Schwankungen der Psyche zwischen Lust und Unlust läßt sich schwer Einsicht abringen. Das Wieso und Warum bleibt im Dunkel der Tiefenschichten. Es scheint jedoch, als sei meine Unlust vorüber, als begönne sogar eine neue Phase in meiner »unendlichen« Arbeit.
Das 20. Jahrhundert war gekennzeichnet durch Kriege und Massenmorde, durch menschengemachte globale Katastrophen. Der Titel eines englischen Bühnenstückes trifft just den Kern der Retrospektive: »Blick zurück im Zorn«.
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Aber Zorn ist eine wenig konstante Gefühlsaufwallung, der die Resignation folgt. Denn, so lautet das Resümee, die Menschen lernen nichts aus ihrer Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg blühte der Pazifismus, obwohl nur kurze Zeit. Wer einen Krieg verliert, sinnt auf Korrektur des Ergebnisses - das hat uns den Hitler beschert. Ein Hauptmerkmal der unaufhörlich noch wirksamen Vergangenheit war eben dieses Verlangen nach Korrektur des Gewesenen, dessen Faktizität man schwerlich ertragen mochte. Insofern besteht ein unauflöslicher und unheimlicher Konnex zwischen den Individuen und ihren Gesellschaftssystemen. Wie der einzelne seine persönliche Biographie zu retuschieren und nachträglich aktiv zu wandeln sucht, genauso agiert die Gemeinschaft. Das subjektive Versagen muß durch eine entsprechende Handlung, durch eine nachfolgende und nur aus dem Versagen erklärliche Tat oder Untat aufgehoben werden. Wo aber der Verlust an Selbstwertgefühl kollektive Formen annimmt, entsteht der innere wie äußere Zwang, sich mittels Gewalt der Niedergeschlagenheit, dem Zurückgesetztsein, der als unverdient empfundenen Deklassierung zu widersetzen.
Solches Empfinden war nach dem Ersten Weltkrieg für die Deutschen bezeichnend. Die Formeln »Im Felde unbesiegt!« und jene andere vom Dolchstoß von hinten, der den Sieg verhindert habe, zeigten die allgemeine Psychose und den Versuch, die Wahrheit zu verdrängen. Dieser Quelle entsprang die Neigung, sich verführen und zur Geschichtskorrektur mißbrauchen zu lassen. Das Desaster war voraussehbar, denn Geschichte bleibt im nachhinein irreparabel wie alles Geschehene.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lief der psychische Mechanismus ungehemmt weiter: Leugnung der ungeheuerlichen Verbrechen, Leugnung der eignen Beteiligung, Bewußtseinsverblendung und diesmal, weil an gewaltsame
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Mittel nicht mehr zu denken war, die Geschichtskorrektur durch hemmungslose Identität mit den Siegermächten nebst der Übernahme ihres Geschichtsbildes.
Die Gewissensentlastung bestand in der Option für ein jeweils anderes politisches System in Deutschland, und man durfte im Kalten Krieg, bei dem es ja ebenfalls um Geschichtskorrektur ging, wenigstens als »Hiwi«, als Hilfswilliger, ergo als von Schuld freigesprochener Versager hingebungsvoll teilnehmen. Keine andere Nation war aus diesen erwähnten Gründen so anfällig für Ideologien und deswegen so blind für die Realitäten. Das scheint mir für die Aufeinanderfolge von Epochen innerhalb Deutschlands typisch gewesen zu sein.
Haben wir uns jetzt der Ideologien begeben? Sind wir von der Tendenz rückwärtsgewandter Nachbesserung unserer Historie endlich frei? Mitnichten. Da der Drang nach Selbstwertgefühl in seelischen Tiefenschichten wurzelt, droht bei einer allgemeinen Amalgamierung Gefahr. Noch ist diese nicht gegeben. (Übrigens bietet die Ex-DDR ein Musterbeispiel des besagten Verlangens nach Verschönerung und Verklärung eines ziemlich unschönen und erbärmlichen Vorgestern.) Noch schützt uns die monadische Existenz der Personen vor kollektiven Exzessen, vor gewagten Unternehmungen. Obwohl sich gegenwärtig beim sogenannten Kosovo-Konflikt durch die deutsche Teilnahme etwas abspielt, was unter dem Motto »Wir sind dabei, wir gehören nun endlich wieder dazu!« mittelbar der »Vergangenheitsbewältigung« dient. Als machten wir bei diesem Krieg wieder gut, was wir in zwei vorhergehenden in größerem Maßstab angerichtet haben. Unsere historisch bedingte Prägung ist unabänderlich.
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Voraussehen, was das dritte Jahrtausend bringen wird, ist keinem Propheten gegeben. Vermutlich wird die virtuelle schöne neue Welt die häßliche Wirklichkeit mit einem Schleier überziehen, um sie erträglicher zu machen. Womit man jedenfalls rechnen muß, ist der Rückgang des subtileren, durch Erziehung und Bildung bewirkten Umganges mit den Mitmenschen. Die Verrohung wird zunehmen, die Indolenz wachsen. Die europäische Zivilisation wird langsam, aber sicher aus dem fruchtbaren Schoß ihrer Technologie die Barbarei gebären. Die Menschen, reduziert auf ihre Funktionalität, begreifen sich heute schon größtenteils nur noch über ihre Rädchenexistenz als Bestandteil einer Megamaschine, deren Herrschaft unausweichlich ist.
Was das für die Literatur bedeutet, kann sich jeder einigermaßen Klarsichtige ausmalen. Die dpa-Meldung »Millionen Deutsche können weder lesen noch schreiben« regt bereits gegenwärtig niemanden auf. Und künftig wird es solche Meldungen wohl nicht mehr geben - weil sie keiner lesen will und keiner lesen kann. Die Gesellschaft verwandelt sich in eine Majorität von Heloten und in eine Minderheit von Herrschenden, deren Anspruch unangefochten sein wird, weil eine Gegenposition gar nicht mehr artikuliert werden kann. Für Schriftsteller sieht die Zukunft also recht düster aus. Wer wird denn in einigen Dezennien noch Gedichte lesen? Und wer welche schreiben, wenn sich die Bindung zwischen »Produzenten und Rezipienten« dank universaler Geistlosigkeit aufgelöst hat?
Um das Weiterleben des belletristischen Buches ist es schlecht bestellt. Wir stehen erst am Anfang der Entwicklung elektronischer Medien, wir erleben praktisch ihre Kindheit, und wir ahnen nicht, daß wir die Büchse der Pandora geöffnet haben - wobei vermutlich allein eine Elite noch weiß, worum es sich dabei handelt.
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Die Sprache der Generationen ist durch eine sich verbreiternde Kluft getrennt, das Verständnis füreinander, gleich welchen Alters, schwindet mehr und mehr, so es überhaupt noch vorhanden ist. Und dieses Mißverhältnis entfaltet sich unaufhörlich weiter. Möglicherweise werden einst die Leute, durch unterschiedliche Sprechweisen voneinander abgesondert, so wie einander fremde Planetarier ihr unerfreuliches Dasein verbringen. Und vielleicht werden wirklich die letzten Leser zu Outlaws, denen man bestenfalls eine Nische zubilligt, wo sie ihrer, als Perversität gebrandmarkten, Leidenschaft frönen können. Sind das übertriebene Befürchtungen? Gut - sprechen wir uns in hundert Jahren wieder!
Aufgefordert, zur Jahrhundertwende Stellung zu nehmen, und zwar in Kurzform, habe ich mich zwangsläufig auf zwei Punkte beschränken müssen. Zur ökologischen Katastrophe hätte man viel mehr zu sagen, zu dem langsamen Absinken der sogenannten »Lebensqualität« round the world. Angebracht wäre ein endloses Lamento, doch das will keiner hören, und man selber mag es auch schon nicht mehr wiederholen: zu nutzlos.
Tücke des Objekts? Sobald das Wetter schön wird, erkältet man sich. Hat man für sich Zeit, erscheinen Störenfriede. Glaubt man sich zur Arbeit gestimmt, wird man daran gehindert. Dahinter verbirgt sich ein geheimes Gesetz, das lautet: Nichts ist unvollkommener als der Mensch, und er soll stets daran erinnert werden.
Die Zähmung des Bösen bedient sich der Gewalt, doch etwas vom Bösen geht dabei auf den Bändiger über. (Gilt vor allem für die Politik!)
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Der Tod als Unterhaltungswert. Dieses Faktum ist durch Überdeutlichkeit und permanente Präsenz unsichtbar geworden. Was wäre eine Zeitung ohne die Nachrichten und Berichte über Mord und Totschlag? Was der Film ohne Leichen? Was das Fernsehen ohne die tödlich endenden Duelle zwischen Gut und Böse? Was ohne die Erdrosselten und Erschossenen, die Erstochenen und Vergifteten, also ohne die Opfer, deren Täter aufgespürt und liquidiert zu sehen man »regen« Anteil nimmt? Merkbar ein Anstieg der blutigen Kriminalfälle in allen Medien. Insofern ist der obige Satz zu korrigieren: Der gewaltsame Tod besitzt Unterhaltungswert, nicht der durch Altersschwäche, Herzinfarkt oder sonstige Leiden. Das Interesse erlischt dort, wo die Gewalt keine entscheidende Rolle spielt. Denn der normale Tod, der uns allen in den Knochen steckt, ist langweilig, eben weil er als allgemeingültig gilt. Erst die Ausnahme weckt die Neugier, die Hinwendung, das verheimlichte Prickeln, wenn die Rettungsmannschaften die Leichen aus dem Unglückszug bergen oder der Schurke den Fangschuß erhält. Ob Realität oder Fiktion, wir alle sind Katastrophentouristen, vorausgesetzt, die Katastrophe fordert Opfer. Ein Bergrutsch, eine Lawine ohne Verschüttete wird von den allwissenden Medien ignoriert. Unsere täglichen Leichen gib uns heute wie morgen, damit wir nicht in der Monotonie unseres so dahingelebten Lebens versinken.
Und die Einfälle »sprudeln« nicht mehr wie vor Jahrzehnten oder Jahren. Hängt das mit dem Altern zusammen oder mit dem Umstand, daß ich viel, vielzuviel geschrieben und mich dadurch erschöpft habe? Und die Gedichte wachsen langsamer hervor, zögerlicher, als scheuten sie das Aufgeschriebensein. Auch kommen sie mir manchmal fremder
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vor als meine früheren. Etwas steckt in ihnen, das mir unbekannt ist, und das ich doch nicht enträtseln, entschlüsseln kann. Bei der Überarbeitung melden sich Wörter zu Wort, an die ich bei den ersten Fassungen nie gedacht hatte. Nimmt der Anteil des Unbewußten, des Unterbewußtseins jetzt zu, nach einer derart langen Zeit literarischer Produktivität? Sollte nicht eher der Verstand dominieren, nachdem die Kenntnisse sich vermehrt haben? Es ist mir, als kenne ich mich von Mal zu Mal, von Tag zu Tag weniger, ohne daß ich den Grund dafür wüßte. Ein sich dehnender Abschied von der eignen Person? Zerfließendes Ego? Etwas ist mit mir geschehen und geschieht fortwährend, wobei mir, der für andere rasch mit Erklärungen bei der Hand ist, der Vorgang nicht klarwerden will. Vielleicht ist man durch lebenslange Bekanntschaft mit sich selber blind geworden, wie man eben blind wird anderen gegenüber, mit denen man eine »Ewigkeit« Umgang pflegte.
Christa Wolf bekennt, sich im Osten daheim zu fühlen. Ich fühle mich nirgendwo daheim. Einzig einzelne Menschen vermitteln etwas in der Art von »Behaustsein«. Ich drücke mich vorsichtig aus, weil auch derartige Bindungen nicht sehr stark sind. Man könnte auch irgendwoanders angelangt sein, unter ähnlichen Verhältnissen leben, am Schreibtisch, in der Küche sitzend, mit wenigen Bekannten in lockerem Kontakt. Daheim - wo liegt das?
In den Zeitungen und Zeitschriften las und lese ich immer zuerst die Schreckensmeldungen über die Ungeheuerlichkeiten, über die Untaten, Massenmorde, Vergewaltigungen, Quälereien Unschuldiger. Warum ziehe ich die Horrorgeschichten den anderen Artikeln vor? Daß mir derlei ein grausiges Vergnügen bereiten würde, kann nicht sein.
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Doch in mir unerreichbaren Tiefenschichten meines Selbst muß das Verlangen nach dem Entsetzen existieren. Und wenn ich mich an meine frühere Lektüre erinnere, so staune ich darüber, wie oft ich Theodor Plieviers »Stalingrad« gelesen habe, meist nachts, in der wohligen Wärme meines Bettes, während der Schneesturm fern an der Wolga die Leichen und die noch lebenden Leichname einhüllte. Stärkt die Kenntnisnahme fremden Leidens und Sterbens das eigene Lebensgefühl? Besagt der grausige Tod anderer, man selber lebe ja noch und unter angenehmen Umständen? Bin ich so etwas wie ein »Katastrophentourist«, freilich ohne den Augenschein des noch dampfenden Unglücks, Unheils, sondern es in der gemilderten Form der Abbildung wahrnehmend? Ich scheue es, mich weiter zu befragen. Im Menschen, in wahrscheinlich allen Menschen, rumort ein Ungeheuer, das nur in besonderen Situationen ans Licht dringt und seine Fratze zeigt.
Ich auferlege mir die Lektüre des Grauens. »Flucht aus Sobibor« das zuletzt gelesene Buch. Durch die Abstraktion der Sprache, der Schrift ist das Ungeheuerliche überhaupt rezipierbar. Man macht sich beim Lesen bewußt stumpf, um nicht dem Entsetzlichen zu verfallen. Ich verweigere meiner Fantasie, das Gelesene mit den Erinnerungen an meine Verwandten zu verbinden. Ich will mir nicht vorstellen, wie es ihnen erging, wo ich doch wahrnehmen muß, wie es allen zur Ermordung Beorderten ergangen ist. Säuberlich getrennt halte ich die letzten Bilder der Verwandten von den Leichenbergen und Flammenschlünden, von den Gaskammern und Erschießungsstätten. Nur dadurch, daß die Opfer in den dokumentarischen Texten für mich anonym bleiben, kann ich es ertragen, diese Texte zu lesen.
Und ich lese sie wie eine Fürbitte, wie ein Gedenken an die Toten, voller Mitleid, und doch als ein Außenstehender, der deshalb das Lesen als Abbitte darbringt, als eine Art Kaddisch, als mühsam zu bewältigende Kulthandlung, als eine Entschuldigung dafür, daß ich lebe.
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Man trägt von der eigenen Person ein anderes Bildnis mit sich, als es die Realität zeigt. Im Traum ist man entweder ganz und gar alterslos, also auf keine Lebensstufe festgelegt, oder doch im sogenannten besten Mannesalter von der Selbsttäuschung fixiert. Blicke in den Spiegel und wundere dich! Daß ich nicht mehr so aussehe wie vor zwanzig Jahren, will mir nicht in den Kopf. In bewußtseinslosen Momenten, wenn man zufällig an einem Spiegel vorbeigeht und plötzlich hineinschaut, nimmt man einen Fremden wahr, mit dem man nichts zu tun hat. Er ist ein anderer, als ich es in meinem Innern bin. Bedenkt man diese Realitätsverkennung, dann sollte einem dämmern, daß man sein Umfeld, die durchlebte Wirklichkeit, genauso falsch sieht. Und da dieses Phänomen jedermann betrifft, kann man ahnen, wie die verfremdete Sehweise auf die Verhaltensweise einwirkt. Die Welt ist so, wie sie ist, weil ihr deformiertes, verschrobenes, verlogenes Abbild unser Agieren bestimmt. (Trostlos, aber unveränderbar. Unsere Geschichte besteht aus der Verkettung unserer Irrtümer, welche wir aufgrund von »Einsichten«, von »Fakten«, von »Tatsachen« unaufhörlich produzieren.)
Jenseits der Schattengrenze verzweifelte Rückkehrversuche. Wie in den lichten Tag erneut eingehen? Mit der Zeit steigt das Dunkel wie gewöhnlicher Nebel, der Blick wird vom Näherkommenden mehr und mehr eingeschränkt, bis sich einem die schwarze Binde über die Augen legt. Und da soll einer sich noch optimistisch gebärden!
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Wieder Regen, schon herbstliche Stimmung im Garten. Ich sitze auf einer Bank unter dem Schuppendach und lausche auf das Getröpfel. Nichts ist beruhigender, nichts derart an die Endgültigkeit des sogenannt Existentiellen gemahnend - darum auch so tröstlich sedativ.
Eigentlich bin ich Menschen gegenüber wenig mißtrauisch. Einzig wenn sie mir ihre Zuneigung bekunden, werde ich sofort skeptisch. Zwar will jedermann geliebt werden, aber wer glaubt schon, daß es eine Tatsache sein könne?
Von Blechspielzeug geträumt. Auf meinem Rücken trug ich eine Leiter, auf deren Stufen ich einige unwesentliche Blechspielzeuge plazierte. Freilich konnte ich mich wegen der Leiter nur in halbgebückter Haltung bewegen, damit die Stücke nicht herunterfielen. Nach dem Aufwachen schien mir die Bedeutung klar: Das Blechspielzeug, meine Sammlung, meine spürbar abklingende Sammelleidenschaft - alles eine schwer erträgliche Last, wie es mir der Traum enthüllte. Da sage noch einer, Träume seien Schäume! Nur: so eindeutig sind sie leider (oder Gott sei Dank) selten.
Hatte Friedrich II. noch die Lüge auf den Lippen, er wolle der erste Diener seines Staates sein, so ist selbst dieser Schwindel kaum mehr aktuell. Anstatt zu dienen, haben die Politiker beschlossen, sich zu bedienen - wie immer aus den Taschen der Bevölkerung. Die Unverfrorenheit wird mühelos kaschiert, und wen man dennoch »entlarvt«, der weiß sich großartig herauszureden, ohne daß ihm irgendwelche Folgen drohen. Merke: eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Bestenfalls wird im Spiel der Politiker ein Bauer geopfert, doch das Spiel selber geht unverändert weiter.
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Nochmal ein neues Leben beginnen. Alle Irrtümer, alle Fehler noch einmal wiederholen. Denn nichts ist einfacher als das; nichts schwerer als die Einsicht, wie man sie vermeiden könnte, als die Mühe, sie nicht zu repetieren. Aus unseren Irrtümern und Fehlern, diesen Zwillingen unserer Charakterschwäche, lernen wir niemals, da wir der besagten Schwäche niemals ansichtig werden oder werden wollen. Unser Blick in den (metaphorischen) Spiegel zeigt einen, der so ausschaut, wie er ausschauen möchte. Die Illusion überdeckt die Wahrheit, deren Unerträglichkeit unser Dasein auf Dauer zerstören würde. Einzig wer suizidbereit ist, konfrontiert sich dem eigenen, ungeschönten Ich - eine Hilfestellung für den Strick oder den Gashahn.
Berlin habe ich vorgestern nicht wiedererkannt. Am »Marlene-Dietrich-Platz« stand ich vor einer Kulisse für das Remake eines Films: »Doktor Mabuse 1999«. Das Expressive der Bauten war nicht zu übersehen. Gestylte und gesteilte Vertikale, ins Auge springende scharfe Kanten wie Schiffsbuge, tonnenartige Rundungen, auffällige Farben, deplaziert wirkende rotbraune Ziegel, ein Mischmasch aus der architektonischen Wundertüte. Gebaute Zitate, Epigonentum soweit das Auge reicht und schlagender Beweis für verlorengegangene Kreativität, zu der, ebenfalls als Verlustanzeige zu verstehen, die »moderne« bildende Kunst haargenau paßt. Innovationen werden nun den Naturwissenschaften überlassen. In den sogenannten schöpferischen Bereichen regiert die Mimesis, die, weil sie haltlos nachahmt, sich lautstark kundtun muß, um über ihre Trivialität hinwegzutäuschen.
Vor zwanzig Jahren entzogen wir, meine Frau und ich, uns der verwirklichten Utopie, zur Genüge bekannt unter
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dem Kürzel DDR, und landeten in Schleswig-Holstein, in Itzehoe, einer Kleinstadt nördlich Hamburgs, von Friedrich Schiller im »Wallenstein« phonetisch falsch mit einem Ö am Ende genannt. Unsere neue Adresse strotzte von Omina: Edendori, Goldbergweg i A. Sogleich hoffte man auf die Erfüllung dieser positiven Vorzeichen. Kaum hatten wir unsere sieben Katzen ausgeladen und das Haus betreten, fühlten wir uns geborgen. Unterm Dach ein Zimmer, zur Dichterklause geeignet. Damit wir nicht Hunger litten, stellte man uns am nächsten Tag einen Freßkorb vor die Tür, Absender Günter Grass. Den kannten wir aus Berlin, wo wir einander des öfteren gesprochen hatten. Nun würden wir die Dialoge in Wewelsfleth fortsetzen, bis die Politik, diese ist ja unaufhörlich das Schicksal der Deutschen, uns »auseinanderdividierte«.
Dann klingelte das frisch installierte Telefon, am Draht der Mitverursacher unseres Umzuges von Ost nach West. Wolf Biermann warnte uns eindringlich vor dem Finanzamt, was mich im Augenblick wenig kratzte. Der zweite Anrufer schlug prompt in dieselbe Kerbe. Marcel Reich-Ranicki (Originalton): »Sie brauchen einen Steuerberater, mein Lieber. Wenn schon ich nichts von diesen Steuerdingen verstehe, dann verstehen Sie erst recht nichts davon!«
Und als hätte eine geheime Macht unser Gespräch belauscht, erhielt ich einen Brief mit der Aufschrift: »Versehentlich geöffnet - Steuerbüro Horst Kunert«. Als wir den Namensvetter aufsuchten, bemerkten wir verblüfft, daß er meinem Vater ähnelte. Seine Familie stammt aus dem Sudetenland, woher auch mein Großvater väterlicherseits gekommen war: dort muß ein Kunert-Nest gewesen sein. Immerhin trug diese abgründige Banalität zur Eingewöhnung in der Fremde bei. Und vor allen Dingen: hilfsbereite Personen im Kulturbetrieb. An erster Stelle Marcel Reich-
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Ranicki, der mich zur Mitarbeit an der FAZ einlud, Themen vorschlug, Bücher zur Rezension schickte, Gedichte forderte. Seine extreme Liebe zur Literatur schloß auch Literaten mit ein, beispielsweise einen wie mich. Jedes Telefonat - nach seiner Einleitung: »Nun, mein Lieber, was gibt es Neues ...?«- kreiste um die Schriftsteller und ihre Produkte. Erstaunlich sein Gedächtnis, ein lebendes Archiv, das unentwegt erweitert wurde. Durch ihn wurde ich in den Club der lebenden Dichter einbezogen.
Ebenso hilfreich zeigte sich Fritz J. Raddatz, für dessen ZEIT ich ein Jahr lang wöchentlich das Gedicht eines Gegenwartslyrikers interpretierte. Ihn kannte ich aus Ostberlin, wo wir uns in jenem legendären »Donnerstag-Club«, dem er vorsaß, getroffen hatten, und wo Dissidenten und Spitzel in trautem Verein über die Reformierbarkeit des Ulbricht-Staates monologisierten. Long, long ago.
Nicht zu vergessen Wolfram Schütte von der FR, mit dem wir schon in Ostberlin Bekanntschaft geschlossen hatten; für eine kurze Weile standen mir die Seiten der FR offen.
Nachdem mir die Mitherausgeberschaft des Rowohlt-schen »Literaturmagazins« angetragen worden war und mein Name auf dem Umschlag erschien, erhielt ich von Kollegen und solchen, die es nie werden würden, Manuskripte unterschiedlicher Qualität zugesandt. Ein bayerischer Redakteur schickte mir seine Hervorbringungen und schrieb dazu im Post scriptum, er würde auch gern meine Texte unter das Volk bringen. Bis dahin waren mir die Praktiken des westdeutschen Kulturbetriebes Hekuba gewesen, und ich schickte dem Einsender seine Werke mit einer freundlich-kritischen Anmerkung zurück und ahnte nicht, wie sehr man sich solchermaßen »beliebt« machen kann.
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Bereits vor unserem Austritt aus dem Narrenparadies hatte ich für den WDR (3.Programm) einiges verfertigt. Darunter zwei Filme mit eigenen Zeichnungen und einen, den Bernhard Wicki inszenierte. Jetzt meldete sich der zuständige Dramaturg Hartwig Schmidt, ebenfalls ein alter Bekannter aus den hinter uns liegenden trüben Tagen. Ach, Hartwig, was haben wir für heitere Stunden mit deinem Calvados und Mariannes Kochkünsten verbracht! Er bot mir ein Projekt an, nämlich die Überarbeitung von elf Drehbüchern des polnisch-jüdisch-britischen Fernsehautors Leo Lehman, eine Filmfolge nach der Autobiographie von Janina David, »Ein Stück Himmel«, eine Kindheit im Warschauer Ghetto, ihre Rettung, ihr Überleben in einem Nonnenkloster. Wer hätte da nein gesagt, abgesehen vom Honorar. Schließlich fanden sich weitere Fernseh- und Rundfunkanstalten, Verlage und Zeitschriften, und ich arbeitete unter Dampf, mehr mit Schreiben denn mit Leben beschäftigt, wobei ich die Identität des ersteren mit dem letzteren längst erfahren hatte. Was eigentlich sollte das sein - »Leben«? Noch dazu für einen Schriftsteller, der, wie jeder seinesgleichen, das Dasein in bedrucktes Papier verwandelt. Hatte ich mein erstes Leben, ein halbes Jahrhundert, in Berlin, der »Reichshauptstadt«, der Vier-Sektoren-Stadt, der »Hauptstadt« eines untergegangenen Systems, verbracht, sollte ich fern davon ein zweites Leben anfangen. Müßte ich mich nicht »wie neugeboren« fühlen? Für derartige Emotionen hatte ich keine Zeit.
Heute morgen in der Zeitung knappe Information über den Bildungsstand der Deutschen. 39 Prozent wissen nicht, wann der Erste Weltkrieg begann, dafür aber kennen 71 Prozent die Abkürzung für den Deutschen Aktienindex. Selbst bei einer gewissen Skepsis gegen Umfragen -
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ein beängstigender »Bildungsnotstand« läßt sich nicht verleugnen. Doch der wird weniger aus den Antworten kenntlich als aus der Test-Liste. Bereits die Fragen zeugen von der Unbildung der Initiatoren, die sich aufgemacht haben, die Allgemeinbildung zu erforschen. Was sie für kenntniswert halten und für ein Bildungsgut, hat mit letzterem nicht das mindeste gemein. Bildung als wesentlicher Bestandteil des Denkens, als Fundus, aus dem man, um die eigenen geistigen und sprachlichen Möglichkeiten zu bereichern, sich bedienen kann, steht nicht mehr zur Debatte. Die Erkundigung ist von erschütternder Oberflächlichkeit und bewegt sich auf dem Kreuzworträtselniveau, durch das jedermann, der von dem Jahr 1914 weiß und Dax zu sagen vermag, den Ritterschlag erhält und die Ernennung zum gebildeten Bürger. Unmerklich, oder doch nur von wenigen wahrgenommen, gilt Bildung als überholt. Bis auf schrumpfende Eliten, bei denen noch intellektuelles Interesse vorhanden ist, hat die Majorität sich der Barbarei ergeben. Weil eben die Eliten keine Vorbildfunktion mehr besitzen, von einem Demokratieverständnis entthront, demzufolge auch der letzte Dummkopf sich als Gleicher unter Gleichen sieht. Was im biologischen Sinne richtig ist und ebenso im juristischen als Gleichheit vor dem Gesetz, wird im Kulturellen - und Bildung läßt sich davon nicht lösen - zur Gleichmacherei, welche gnadenlos bestimmt, was als Kenntnis einzustufen sei. Wir erleben nun die Kehrseite der Demokratie, die »Dialektik der Aufklärung«, aus welcher die Monstren selbstgefälligen Unwissens hervorgehen.
Ganz wesentlich für unsere Existenz der Carl Hanser Verlag in München. Der hatte 1963 meinen ersten Gedichtband im Westen herausgebracht und mir damit Schutz
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und Trutz zukommen lassen. Ohne einen durch den Verlag bewirkten Bekanntheitsgrad hätten die dumpfsinnigen Kulturfunktionäre mit mir leichtes Spiel gehabt und mich in den finstersten Winkel der ohnehin ziemlich da-hindämmernden Provinz verbannt. Der Hanser Verlag druckte alles, was ich ihm andiente, wahrscheinlich mit heimlichem Seufzen über die Fruchtbarkeit und zugleich mäßige Verkaufbarkeit seines - gegenwärtig »dienstältesten« - Autors. Abgesandter des Verlages nach Ostberlin war der heutige Verlagsdirektor Michael Krüger, mit dem man sich auf den Flügeln von Scherz, Ironie und tieferer Bedeutung über die ringsum herrschende Graue erhob. Sobald Michel erschien, hob sich die Stimmung. Ebenfalls befreundet waren wir mit dem vormaligen Chef, mit Christoph Schlotterer, der uns nach der Übersiedelung einen zinslosen Kredit seines Unternehmens beschaffte: damit wir für die »nächsten fünfzig Jahre« ein eigenes Domizil hätten. Die Summe wurde peu ä peu mit den anfallenden Honoraren verrechnet; reich ist der Verlag durch mich kaum geworden. Aber Anstand und Hilfsbereitschaft haben ihren Preis, vor dem der Verlag nicht zurückschreckte. So zogen wir eines Tages um, in ein Abseits, das meinem Geistes- und Seelenzustand entsprach: fern der Welt, und ihr doch durch viele Tentakel verbunden. Waren wir, wie es eine DDR-Phrase von den Künstlern forderte, im Alltag angekommen? Hatten wir eine Heimat gefunden? Oder bloß eine Durchgangsstation? Im Exil fühlte ich mich keineswegs. Nicht allein, daß eine Anzahl mir geneigter Menschen unseren Wechsel »abgefedert« hatten, ich befand mich ja nicht im Ausland. Was Günter Grass die deutsche »Kulturnation« nannte, galt auch für mich, und ich war in ihr tröstlich aufgehoben.
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Merkwürdig, daß ich nach den fünf Dezennien in Berlin keine Schwierigkeiten mit dem Leben in der Ländlichkeit hatte. Ich, die Großstadtpflanze, war durch äußere Umstände umgetopft worden, übergangslos, ohne Symptome des Widerstrebens oder der Introversion aufzuweisen. Als wäre eine unbewußte Affinität realisiert worden. Und außerdem: Der Planet mit all seinen Verlockungen lag nicht mehr im Unerreichbaren, sondern praktisch vor der Haustür. So wurden wir zu Reisenden, sprich, Vertretern deutscher Literatur zwischen Norwegen und Italien, zwischen der Türkei und Australien. Unser Reisebüro hieß »Goethe-Institut«; außer mehr oder minder exotischen Gegenden lernten wir in den jeweiligen Dependancen sympathische Goetheaner kennen, Menschen, mit denen man sich auf Anhieb gut verstand. Ein Grund mehr, mögliche Empfindungen von Ausgesetztsein, von fehlender Zugehörigkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wo immer man auftauchte bei Goethes, man war erwünscht und in sorglicher Obhut. Und mit manchen blieb man in Kontakt.
Überhaupt: Um Kontakte mußte man sich kaum kümmern. Viele Leute gingen durch unser Haus, um stets wiederzukommen oder auch nicht. Heide Simonis saß auf dem Sofa und strickte eifrig an einer undefinierbaren Handarbeit. Günter Gaus trank eifrig unseren Whisky und erinnerte sich mit Wehmut jener Tage, da er selber Exzellenz und mit Erich Honecker auf der Jagd gewesen war. Jurek Becker, einer der ersten Ausreiser, berichtete von seinen achtzig Lesungen und daß er bei einer letzten vor dem Publikum eingeschlafen sei. Uwe Johnson hatte uns schon in Itzehoe besucht, Sarah Kirsch suchte uns auf, und Klaus Poche, der Fernsehfilmautor, ließ sich Wein servieren, den Johannes Mario Simmel ablehnte, da er seit undenklichen Zeiten »trocken« wäre. Manch einer blieb weg,
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um anderen Platz zu machen, wie beispielsweise Ralph Giordano oder dem Maler Klaus Fußmann, dem Bildhauer Sihle-Wissel.
Auf zahllosen Lesetouren durfte ich die alte, gemütliche Bundesrepublik studieren. Freilich ein flüchtiges Studium. Man hält sich ja an einem Ort nie länger als ein, zwei Tage auf, so daß die kurzfristigen Eindrücke sich zu einem einzigen summieren. Das Gedächtnis registriert restaurierte Fachwerkhäuser, die Fußgängerzone mit den stets gleichen Lampen und den bepflanzten Betonringen, Horten und Hertie, Kirchen und Dome und Hotels von wechselnder Qualität und Größe. Sämtliche Lesungen verschmelzen zu einem unerschütterlichen Grundmuster des Ablaufs. Nachdem man anhand des Stadtplans seine Unterkunft gefunden und sich beim Initiator des anstehenden »Events« gemeldet hat, nimmt man irgend etwas zu sich, denn sogleich trifft man sich mit dem beglückt über die Ankunft des reisigen Dichters sich gebenden Einlader. »Wollen Sie den Raum (oder Saal) Ihres Auftrittes sehen?« Man will nicht. Man hat zu viele besichtigen müssen. Und ein Einwand gegen die Akustik wäre sowieso überflüssig; geändert kann nichts mehr werden. Allez hopp, aufs Podium! Man wird vorgestellt. Und wagt aus Höflichkeit nicht, die bei der Vorstellung des Autors verlesenen Unrichtigkeiten zu korrigieren. Oder aus Resignation. Man liest »vom Blatt«, wird mit höflichem Beifall bedacht, anschließend wird zur Diskussion geschritten. Anhaltendes Schweigen. Es wird um Fragen aus der Zuhörerschaft gebeten. Zögernd erhebt sich einer oder eine, und man weiß, was kommt: »Für wen schreiben Sie?« Wie oft habe ich das gehört? Ich weiß alle kommenden Fragen und Statements auswendig: Warum schreiben? Wie schreibt man ein Ge-
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dicht? Warum sind Sie so pessimistisch? Wenn ich so denken würde wie Sie, würde ich mich aufhängen ... Nach Absolvierung des Verhörs heißt es dann: »Jetzt gehen wir zum Italiener (Griechen, Türken, Chinesen)!« Man wird zum Essen eingeladen, zum Trinken, und kippt mehr Gläser als sonst hinter die Binde, als Sedativ. Tags darauf wiederholt sich der Ritus, zum Schluß ist man ausgelaugt und eines Urlaubs dringend bedürftig.
Zum Gemälde »Schlaraffenland« von Pieter Bruegel d. Ä. Als wir noch arm und hungrig waren, träumten wir von einem Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Hühner in den Mund fliegen würden, wo der Wein aus den Brunnen sprudeln müßte und ewiger Sonntag herrschen. Da wir nun satt sind, hat sich der Traum in einen Albtraum verkehrt. Statt der Gespenster des Mangels plagen uns nun höchst reale Folterknechte mit den Namen »Übergewicht«, »Fettsucht«, »Herzinfarkt«, »Cholesterin« und »endogene Depression«. So haben wir uns das Paradies der Völlerei, der ständig erfüllten leiblichen Wünsche keineswegs vorgestellt. Doch dem Menschen fehlt die Voraussicht. Wenn eintritt, was er sich ersehnte, folgt die Enttäuschung. Man hatte sich das Glück des Leibes anders gedacht, ohne Beschwerden und ohne Leiden. Freilich: das alte Schlaraffia, genannt Bundesrepublik Deutschland, existiert nicht mehr. Die dicken Herren im Gras unter dem Tisch werden gebeten, sich zu erheben, die Alimentierung wird gekürzt, die Not der fernen Welt rückt näher. Und greift nach unseren immerhin noch vollen Tellern. Aber die fetten Jahre sind vorüber, die mageren bereits im Anmarsch, und wir müssen uns ihrem Schritt anpassen. Zum Trost dürfen wir unseren Enkeln erzählen, daß wir einst im Garten Eden gehaust hätten, ohne es zu wissen. Und
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dann zeigen wir mit dem Finger auf Bruegels Vision, damit man auch verstehe, was wir meinen.
Lese in der Zeitung, daß eine Kopftransplantation nicht mehr außerhalb des Möglichen liege. Der Tag naht, da man seinen alten Kopf auf einen jungen Körper verpflanzen lassen kann, vorausgesetzt, man ist pekuniär einigermaßen ausgestattet. Freilich ist das einzige Hemmnis, daß man querschnittsgelähmt bleibt, denn das Rückenmark zu verbinden scheint noch in weiter zeitlicher Ferne zu liegen. Hebt so das ewige Leben an? Wird Unsterblichkeit etwas Alltägliches? Die Menschen werden noch die wunderlichsten Dinge erfahren und erleben, wobei sie nicht ahnen, was an Verwunderlichem nach ihnen auftreten wird.
Das Befinden verschlechtert sich mit dem Alter und mit der desolaten Lebensweise. Man merkt, was man sonst nie spürt, daß man von einer internen Pumpe abhängig ist. Der Blutdruck ist zu hoch, der Puls zu schnell. Kleine Anstrengungen bedeuten schon schwere Mühen. Vieles bleibt unerledigt liegen. Man schafft nicht mehr, was einem noch (scheinbar) vor kurzem leichtfiel. Wie Jean Amery es in seinem Buch über das Altern beschrieb: es vollzieht sich in Schüben, absolut diskontinuierlich. Was man gestern noch mit einer Hand hochhob, bringt man heute nicht mehr vom Boden. Und die physische Unsicherheit wächst. Treppen hinunterzusteigen wird zur Bedrohung, insbesondere Metalltreppen, zwischen deren Stufen man in die Tiefe sehen kann. Aufwärts mag es noch unbeschwerlich sein, abwärts hingegen dräut der Sturz in den Abgrund. Freihändig, das Tablett mit den Frühstücksresten in beiden Händen, also praktisch haltlos, steige ich jeden Morgen in den Orkus, der mich zu verschlingen bereit ist,
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hinab. Wie lange werde ich diese artistische Leistung noch vollbringen können?
Marianne heute morgen einer Ohnmacht nahe - zum ersten Male. Die letzten Wochen täglich Migräne. Zu hoher Blutdruck. Übergewicht. Da keimt Angst auf, wie ich sie auch kenne. Man rechnet mit dem Schlimmsten, sobald der Körper seine Funktionen nicht wie bisher erfüllt. Die Anzeichen mehren sich. Die uns gegebene Zeit verkürzt sich merklich. Mit vielem rechnet man nicht mehr. Und auch mit einem selber wird immer weniger gerechnet, je weniger man zu leisten imstande ist. Verdrängen, Verdrängen!
Am 22.10. kam mittags eine kleine Film-Crew, um in unserem Garten den Dichter beim Lust- oder Unlustwandeln zu filmen. Es ist stets der gleiche Aufwand. »Sie kommen jetzt hinter dem Gesträuch hervor und gehen in Richtung Haus-danke-bitte noch einmal!« Und um 16.00Uhr der Übertragungswagen für die Live-Sendung. Scheinwerfer drinnen und draußen, um Tageslicht vorzutäuschen. Kabelstränge en masse. Die Interviewerin übt mit mir. »Sie sitzen da, ich hier, ich stehe vor der Kamera (Klebestreifen auf dem Boden), wende mich zu Ihnen und befrage Sie.« Kameramann, Tonmensch, Beleuchter, Techniker im Wagen, auf dem eine riesige Parabolantenne prunkt: Wo steht denn hier der Satellit? Endlich ist es soweit. Permanenter Funkkontakt mit dem Sender in Kiel. Countdown. Dann das Zeichen! »Wir sind hier bei Günter Kunert ... Und nun fragen wir ... und sagen Sie uns doch ... Vielen Dank ...« Die Übertragung dauerte ganze vier Minuten, wurde über Stunden und Aberstunden hinweg vorbereitet, was für ein Aufwand für nahezu nichts. Man wollte
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mir wohl ein Gleichnis vorführen: Das Verhältnis von toter und gelebter Zeit sei hundert zu eins. Aber das habe ich ohnehin längst gewußt.
Natürlich macht, wie das Sprichwort behauptet, Geld nicht glücklich, aber es macht frei. Nur entsteht sogleich die zu verneinende Frage, ob denn Freiheit glücklich mache. Freiheit besteht ja in der Selbstverantwortung, und diese ertragen die allerwenigsten Leute. Der Mensch »als solcher« ist knechtselig, und in dieser Seligkeit liegt für ihn vielleicht etwas wie Glück.
Leute kommen aus ihren Träumen auf die Straße und in eine Wirklichkeit, die in ihrer ärmlichen Eindimensionali-tät dem Geträumten keineswegs entspricht. Diese Diskrepanz führt dazu, etwas vom Traum realisieren zu wollen, was manchmal blutig endet, manchmal in der Psychiatrie, manchmal in der Chefetage.
Kleine Verkrüppelungen, aber mit Haut überzogen. Wer sie erblickt, wird durchaus nachdenklich. Vielleicht siehst du selber so aus für fremde Augen? So unnatürlich verrenkt und mehrfach unterteilt und früh gebrochen; so widerwärtig verfärbt, bläulich und glänzend, von angesammeltem Fett unterschwemmt. Einzelne Haare hier und da, wie der mißlungene Versuch, den üblen Anblick zu verdecken: Tat twam asi, mühsam durchpulstes Gewebe, anhaltend vergänglich, nach dem Gegenteil dessen verlangend, immer nach dem Gegenteil von allem, was dir zugestanden wird. Und das ist ja bekanntlich ziemlich wenig. Doch für manche schon vielzuviel.
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Manche bedürfen des Regens für ein Wohlbefinden. Auch Nebel gehört dazu, Verschleierung der Welt, Verhüllung, unter der man sich unerreichbar wähnt, unauffindbar, solange der dichte Dunst es will. Manche bergen sich im abendlichen Dunkel, vermeiden Licht, da jede Finsternis mehr Inhalte umfaßt als die klar kenntliche Umgebung voller gewohnter Gegenstände, die dem Erinnern zwar Hilfe leisten, aber jeden Zuspruch verweigern. Manche gar erfreut der Sturm durch die Garantie für ein ungestörtes Mitsichselbersein: Mögliche Besucher werden ferngehalten. Und erst der lang anhaltende und starke Schneefall! Für manche bedeutet er den sonst vermißten Schutz: Das quirlende weiße Treiben schenkt ihnen, was sie ersehnen: Unsichtbarkeit. Bei einem Unsichtbaren kreuzt niemand auf, um ihm die Tatsachen seiner Existenz trostlos bewußt zu machen, denen der unter Naturereignissen Versteckte nur durch eben diese sich zeitweilig und keineswegs endgültig zu entziehen vermochte.
Gleich ist auch dieses Jahrhundert Vergangenheit, und man wird, bedingt durch die neue Zahl, vom 20. sprechen wie von einer fernen und vergangenen Zeit. Ja, damals im 20. Jahrhundert, wird es heißen, als lägen unversehens die Ereignisse und Schrecknisse derart weit zurück, daß man sich ihrer entledigen zu können meinen wird. Allein die Zwei mit den drei Nullen sorgt für Distanz und Vergessen. Das neue »Millennium«, tagaus tagein beschworen, gleicht einem frisch gekauften Anzug, das alte geht in die Lumpensammlung.
Unter Garantie wird es so empfunden werden.
In der Zeitung las ich, wann die Schönheitsoperationen um sich griffen, nämlich in den dreißiger Jahren unter Hitler. Juden wollten sich ihre Nasen begradigen lassen, und »Arier«, mit einer, wie sie meinten, »jüdischen« Nase ausgestattet, mochten nicht wie die von den »Nürnberger Gesetzen« Betroffenen erscheinen. Von da ab blühte die kosmetische Chirurgie auf - ein Nebeneffekt des Nazismus, freilich ohne lebensverlängernde Folgen.
1945 lag das Jahr 2000 in undenklicher zeitlicher Ferne und war genauso unvorstellbar wie 1960 oder 1970. Abgesehen davon, daß die Zukunft ohnehin hinter undurchsichtigen Schleiern liegt, sie interessierte auch niemanden, da jeder mit den Nöten des Nachkriegsalltags befaßt gewesen ist. Was einstmals sein würde, war keinen spekulativen Gedanken wert. Wie niemals vordem lebte man im Jetzt und von Augenblick zu Augenblick. Daß man überhaupt noch existierte, bestimmte das Lebensgefühl und verlieh diesem einen mächtigen Auftrieb.
Vor Überlegungen, was einem die Zukunft bescheren würde, verblaßt die Gegenwart. Und es gehörte wohl zur uneingestandenen Strategie des Kommunismus, sich unentwegt auf die Zukunft zu beziehen, als Ablenkung vom Perpetuum mobile des erbärmlichen Heute und Hier: der Hoffnungsschimmer als Beruhigungspille. Mit dem faulen Wechsel auf die Zukunft agieren alle Diktaturen, ja, man könnte sagen, das sei eines ihrer wesentlichen Merkmale, während die Demokratie nur individuelle Zukünfte kennt. Freilich, nach dem Platzen der Wechsel reduzierte sich auch in den demokratischen Ländern der Glaube an jenes »bessere Morgen« für den einzelnen und die Allgemeinheit.
Ob der Staat oder das Individuum die Zukunft zu definieren und zu bestimmen suchen, die Folgen erweisen sich stets als katastrophal. Denn nicht nur der omnipotente Staat legt die Grundlage für eine lebensunwerte Zukunft, auch der »Common man« zerstört durch sein bloßes Dasein, durch Tätigkeit und Konsum, was unbedingt erhaltensnotwendig ist, um überhaupt noch irgendeine erträgliche Künftigkeit zu ermöglichen. Die Schatten sind gewachsen. Der Trubel und die vom Wahn befallene Geschäftigkeit, um das neue »Millennium« zu feiern, gleicht dem Pfeifen im dunklen Wald und betäubt die düsteren Ahnungen, das kommende Jahrtausend brächte nichts Gutes.
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