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  2011 

Kunert-2013

 

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Zu der unaufhebbaren Antinomie des Menschen gehört seine Illusion, sie aufheben zu können - den inneren Widerspruch, jeglichem Individuum eigen, operativ durch Vernunft und Moral entfernen zu können. Schon dieser Irrtum gehört ja zu dem janusköpfigen Personal des Planeten. Kaum einer bemerkt, daß doch alle Existenz- und Organisationsformen nichts als Widerspiegelungen unserer inneren Verfassung sind.

Wir sind schon deshalb nicht in der Lage, die Gesellschaft (welche auch immer) nach den erträumten Idealen, nach der »wissenschaftlich« begründeten Utopie auszurichten. Weil wir die Nabelschnur zwischen unserem ständig gespaltenen Bewußtsein und den daraus sich ergebenden Gegensätzen in unserer Umwelt, in unserer Welt überhaupt nicht erkennen. Wir denken, wir handeln (im persönlichen Bereich) für unsere Interessen und handeln doch ganz konkret dagegen.

Nichts anderes unternehmen wir in den ererbten Verhältnissen. Wir wollen das Beste und sei es durch das Schlechteste. Glück für alle durch Unglück. Wie in unserer Privatsphäre, so auch in der allgemein gültigen, lavieren wir zwischen Skylla und Charybdis durch die schmale Bahn unseres zeitlich begrenzten Daseins: unweigerlich geraten wir mit den beiden Polen in Berührung, was volksmündlich »zwischen Baum und Borke sitzen« heißt. Dennoch sind wir stets den Versprechungen gefolgt, die Widersprüche einst beseitigt zu sehen, Widersprüche, deren historischer Wechsel uns für die gegenwärtigen und eventuell künftigen blind macht.

»Unsichtbar« durch manipuliertes Licht - Paris (AFP/ND). Für Bankräuber tun sich neue Perspektiven auf: Britische Physiker haben eine Art »Tarnumhang« entwickelt, mit dem Ereignisse für kurze Zeit unsichtbar gemacht werden könnten. Das Forscherteam, das seine Erkenntnisse im »Journal of Optics« veröffentlichte, manipulierte dazu den aus Photonen bestehenden Lichtstrahl. Durch eine Verlangsamung der Photonen könnten bestimmte Ereignisse »gelöscht« werden, schreiben sie. -- »Ein Panzerknacker könnte für kurze Zeit irgendwo auftauchen, einen Safe öffnen, den Inhalt herausholen, die Tür schließen und wieder abhauen, während die Überwachungskamera einen anscheinend die ganze Zeit geschlossenen Safe zeigt«, heißt es in dem Papier der Physiker. Das Bild des geschlossenen Safes am Anfang werde »verlangsamt«. Dadurch verschwinde die Phase des Einbruchs in einem »Raum-Zeit-Loch«.

Selten hat mich eine Nachricht so beschäftigt (und beunruhigt) wie diese von einer Entdeckung, die König Laurins Mantel wahr werden läßt. Jeder Mensch kennt von Kindheit an den Wunsch (oder die Vorstellung), einmal unsichtbar zu sein.   projekt-gutenberg.org/dominik/laurins/laurins.html von Hans Dominik

Diese Idee wandert durch die Sagen, Legenden und durch die Literatur. Von Siegfried, der unsichtbar Brun-hild besiegt, bis zu einem der ersten Tonfilme »Ein Unsichtbarer geht durch die Stadt«, darin der Unsichtbare nur durch Körperbinden sichtbar wird. Nicht zuletzt benutzt Max Frisch in »Mein Name sei Gantenbein« das Motiv, da Gantenbein, zwar nicht unsichtbar in Persona, sondern durch Abhörmaßnahmen, seine Gäste belauscht. Auch die partielle Unsichtbarkeit der Geheimpolizei in den entsprechenden Diktaturen verbindet sich im Unbewußten mit den tradierten Erzählungen, in deren Umfeld

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auch die Gespenstergeschichten ihren Platz haben. Primär jedoch ist der infantile Traum, unsichtbar umherzugehen, Menschen bei intimsten Vorgängen zu beobachten, zu belauschen, zu necken oder gar zu berauben. Unsichtbar zu sein ist ein erhebendes Gefühl, von dem ich probeweise kosten durfte. In den Nachkriegsjahren wanderte ich abends und nachts durch Berlin, blieb vor den Fenstern von Parterrewohnungen stehen und blickte hinein, sicher, daß mich Draußenstehenden keiner wahrnähme. In dieser Situation: ich sehe euch, aber ihr seht mich nicht, steckte eine subtile Überlegenheit, gar ein Vergnügen, das sich in späteren Zeiten der Vorhänge, Jalousien und Rolläden verflüchtigte.

Was sich heute als »Raum-Zeit-Loch« ankündigt, darinnen der Täter oder Untäter ungesehen seiner Untat nachgehen kann, wird uns eines Tages wahrlich beängstigen, denn wir werden nicht mehr wissen, wer um uns umgeht, was mit uns geschieht, was uns angetan wird. Vermutlich wird die militärische Forschung sich der Weiterentwicklung der Unsichtbarmachung widmen, da der unsichtbare Soldat »unbesiegbar« sein dürfte. Auch Technologie unterliegt dem Gesetz der Evolution, eine fast naturhafte Entwicklung, die jedoch, im Gegensatz zum gleichmäßigen Ausschreiten der Natur, Tag für Tag mehr Tempo gewinnt und mit Riesenschritten über ihr Ziel, ein vorerst human genanntes, hinausschießt. Jede Innovation zeigt uns eines Tages ihre schwarze Kehrseite, und zwar immer dann, wenn es zu spät zur Umkehr ist.

Das Wort »Entfremdung« war einst, als Ergebnis der kritischen Theorie, ein vielgebrauchtes Schlagwort, das zur Floskel regridierte. Vielen war es auch zu abstrakt, kaum greifbar, schwer durch Beispiele zu belegen.

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Die Sache selber aber hat sich unter dem ständigen Schneefall immer neuer Begriffe und ideologischer Hervorbringungen nicht nur als beständig erwiesen, sondern auch durch ein rasantes Wachstum in selbst abgelegenen Ecken der Republik kaum mehr ignorierbar.

Seit dreißig Jahren lebe ich innerhalb einer relativ kleinen Gemeinde, nahe einer Ortschaft mit rund dreitausendfünfhundert Einwohnern. In diesen dreißig Jahren habe ich den Zusammenbruch einer Gemeinschaft erlebt, die etwas (für mich seltsam) Familiäres hatte. Jeder kannte jeden, auch ich kannte bald, mehr oder weniger genau, die Einwohner des Ortes. Man traf sich im Postamt, in der Drogerie, im Schreibwarenladen, im Haushaltswarenladen, in einem Miniatursupermarkt, im Elektrowarenladen - es waren Kontaktpunkte der Kommunikation. Man begegnete meist den immerselben Leuten, ließ sich auf Unterhaltungen ein, machte das, was man in Norddeutschland einen »Klönsnak« nennt. Diese Kommunikation bedeutete für den Neuzugezogenen den Weg zur Integration. Nicht daß sich umfassende Freundschaften entwickelten, aber man sprach miteinander, man lernte sich mehr oder minder kennen und lernte zugleich sehr viel über Land und Leute, über ihre Mentalität, über ihr Denken. Das Umfeld war ländlich geprägt, der Ort selber hatte etwas Dörfliches und wurde auch allgemein »das Dorf« genannt. Dann erschien der erste größere Supermarkt SKY, dem kurz darauf ALDI folgte, bis schließlich auch PENNY eine riesige, unübersichtliche Halle wie die anderen errichtete. Die Post wurde geschlossen. Der Schreibwarenladen verschwand. Der Haushaltswarenladen schloß. Die Drogerie gab auf. Der Elektrowarenladen wurde zu einer im Ausland agierenden Electronicfirma. Ein langsamer Prozeß, an dessen Ende man plötzlich bemerkte, daß man keines der bekannten Gesichter mehr sah.

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In den Tempelanlagen der Einkaufszentren vermißte man jene Einheimischen, mit denen man sich geruhsam unterhalten und über Politik und Sonstiges ausgetauscht hatte. Unerwartet breitete sich just das aus, was ich eingangs »Entfremdung« genannt hatte: die zwischenmenschliche Begegnung, wie flüchtig oder unbedeutend sie gewesen sein mag, hörte auf. Das Miteinander und Nebeneinander, das Verhältnis der Geschäftsleute zu den Kunden, deren Verhältnis untereinander, waren auf einmal Vergangenheit. Die Verkaufsmaschinerie hatte ihre Tentakel bis zu diesem Dorf erstreckt und herausgesogen, was an nichtkommerziellen Kontakten vorhanden gewesen war. Eine Ausdünnung, ja, Ausdörrung des Humanen ist längst eingetreten und wird hingenommen, da, was geschieht, nicht greifbar, weil entpersonalisiert ist. Die Megamaschine kennt keine Refugien und keinen Stillstand, zermahlen wird alles Überschüssige und Überflüssige, nämlich das uns Herdentieren Angeborene und Natürliche. Morgen wird das Wort »Seele« in keinem Lexikon mehr zu finden sein.

 

US-Experten sehen Erde an den Grenzen ihrer Kapazität

Washington (dpa/ND). Bevölkerungswachstum, Raubbau an den Ressourcen und Klimaveränderungen bringen die Erde nach Ansicht von US-Experten an die Grenzen ihrer Kapazität. »Wir können schon sieben Milliarden Menschen nicht ausreichend versorgen, wie sollen wir denn neun Milliarden ernähren?« fragte Joel E. Cohen von der Rockefeller Universität in Washington. Dort hielt der Amerikanische Wissenschaftsverband AAAS seine Jahrestagung ab. Sollte es nicht bald gelingen, die Erträge der Landwirtschaft drastisch zu verbessern, müßten alle den Gürtel enger schnallen. »Die Landwirtschaft ist der größte Feind unseres Planeten«, erklärte der Naturschutzexperte Jason Clay vom World Wildlife Fund. »Derzeit vergeuden wir einen Liter Wasser, um eine Kalorie an Nahrung zu gewinnen.«   en.wikipedia  Joel_E._Cohen *1944    wikipedia  American_Association_for_the_Advancement_of_Science  

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Der Prophet gilt im eigenen Lande nichts. Das habe ich oft genug bemerken müssen, sobald nach einer Lesung sich nörgelnde oder protestierende Stimmen aus dem Publikum erhoben, um mich zurechtzuweisen. Die Menschheit habe noch alles überstanden, ich sei ein Panikmacher, eine männliche Kassandra, ein Unheilsprediger und dergleichen freundliche Epitheta mehr, die in den vernagelten Köpfen spukten. Später habe ich es gänzlich aufgegeben, mich auf »Diskussionen« einzulassen, weil von Anfang an klar war, daß die unangenehme Botschaft keiner hören wollte.

Glücklicherweise konnten sie den Boten, den Überbringer schlechter Nachrichten, nicht köpfen. Aber immerhin ein bißchen diffamieren. Freilich hat mich besagtes Publikum in meiner Menschenkenntnis, meiner Mensch-Erkenntnis bestärkt. Keiner wagt es, einen Blick in den Abgrund vor den eigenen Füßen zu werfen; jeder denkt, es wird schon den anderen etwas einfallen, das Schlimmste zu verhindern, doch das Schlimmste ist bereits geschehen: nämlich diese blindwütige Position einzunehmen.

Thomas Mann sprach vor langer Zeit in Weimar bei seiner Schiller-Rede davon, daß eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unterm Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergang entgegentaumle. So die männliche Kassandra aus Kilchberg, Schweiz.

 wikipedia  Thomas_Mann  ab 1954 in wikipedia  Kilchberg_ZH 

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Vor allen Dingen sind korrumpierte, gekaufte Wissenschaftler unsere Totengräber, da sie vor Beginn von Katastrophen die deutlichen Anzeichen leugnen und schlimme Wahrheiten in Frage stellen, wie beim Waldsterben, wie bei der Klimaerwärmung, wie bei den »Unfällen« der Öltransporte oder Ölbohrungen. Selbst solche Beispiele rufen beim Publikum nur Achselzucken hervor, die Resignation ist bereits fortgeschritten, und aus dem Munde der Mehrheit quillt zuletzt eine in Deutschland beliebte Phrase: Wir können ja doch nichts machen!

Nicht anders wird es Joel E. Cohen ergehen, ohnehin ein Jude, die wollen sowieso immer schlauer sein als andere, und das beste Rezept bei Weltuntergängen war noch immer: abwarten und stillhalten. (Man könnte heute schon eine unbesiegliche Inschrift für später in Bronze gießen lassen: Ruhet in dem Frieden, den ihr erwählt habt.)

Es heißt, unsere Erfahrungen prägten uns, ja, drohender, wir seien Gefangene unserer Erfahrungen. Das stimmt gewiß. Was dabei jedoch übersehen wird: daß uns unsere nichtgemachten Erfahrungen ebenso beeinflussen und formen. Sind verpaßte Affären, denen wir in manchen Stunden nachhängen, nicht ebensolche Mittel, unsere Psyche und damit unser Denken zu beeinflussen - was uns meist gar nicht bewußt wird? Sich im Gegensatz zu anderen der Unterdrückung entzogen zu haben kann nicht ohne Wirkung auf den Entkommenen sein. Wird er jene, die sich beugten, verachten, gar hassen oder bemitleiden? Also notwendigerweise zu einer Einstellung, zu einer Haltung kommen, die auf Haltungen und Einstellungen auch für andere Bereiche abfärbt? Der versäumte Augenblick, eine Gelegenheit zu ergreifen, ein Zögern im unrechten Moment führt vielleicht dazu, konträr zu handeln und so sich selber zu schaden? Unser Leben besteht aus mehr Nichterfahrungen als aus Erfahrungen. Eine Studie über die psychischen und geistigen Folgen des Unerlebten wäre

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schreibenswert, und ich vermute, daß angesichts der Sintflut von echten und pseudologischen Untersuchungen in absehbarer Zeit auch eine solche auf den Markt kommt.

Wie es anderen damit ergehen mag, weiß ich nicht, aber mein Gedächtnis basiert primär auf dem Bildhaften. Ich erinnere mich an viele Menschen, die mir nahe- oder auch ferner standen, ich sehe ihre Gesichter, ihre Kleidung, ihre Bewegungen, aber ich höre niemals ihre Stimmen. Die Stimmen sind wie gelöscht. Jede Bewegung meiner Mutter steht mir vor Augen, ohne daß ich ihre Stimme hören könnte. Der Tonfall fehlt, die Worte sind verflogen. Eine Einseitigkeit, gewiß. Ich hatte das sogenannte eidetische Gedächtnis, besitze es im reduzierten Maße immer noch, was dazu führt, daß ich Zeitungsfotos aus meiner Kindheit, erscheinen sie heute in der Presse, erkenne und identifizieren kann. Im mehr als siebzig Jahre zurückliegenden Einst tauchte ich in die Welt der Magazine und Zeitschriften ein, bildsüchtig, und versuchte mich selber in der zeichnerischen Wiedergabe angeschauter Fotos und mir als Modelle dienender Menschen. Musik, das heißt, ernsthafte, erreichte mich nicht. Obwohl ich hin und wieder mit Leidenschaft auf einem, in Pergamentpapier gewickelten, Kamm blies oder hingebungsvoll irgendwelche Schlager pfiff. Doch alles, was mir visuell zustieß, bewahrte ich im Fundus meines Hirns. Die Folgeerscheinung: Träume, ständig nächtlicherweile, von starker Eindringlichkeit, an die ich mich morgens erinnere, als handele es sich um reale Vorgänge, an denen ich aktiv oder passiv beteiligt gewesen bin. Doch die bunten Filme im Hirn sind Stummfilme. Nur manchmal höre ich eine Stimme, das jedoch ist bloß meine eigene, der ich nur beiläufig lausche.

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In der arabischen Welt melden sich die Verdammten dieser Erde zu Wort. In Tunesien ist der Diktator nebst Anhang entflogen. Sein ägyptischer Kollege ist gestürzt. Die restlichen arabischen Herrscher wehren sich gegen den Protest ihrer Untertanen mit Knüppeln, Tränengas und scharfen Schüssen. Offenkundig waren die islamischen Länder Pulverfässer, die jetzt eines nach dem anderen explodieren. Warum erst so spät, wo die unerträglichen Verhältnisse für die Bevölkerungen seit Jahrzehnten bestehen - bis zum gegenwärtigen Augenblick? Wieso ist die Geduld der Unterdrückten so spät zu Ende gegangen? Der Dialektiker würde meinen: das ist die positive Kehrseite einer negativen Entwicklung, nämlich der Kontinente übergreifenden, alles und jedes egalisierenden, kulturzerstörerischen Technologie. Noch im mexikanischen Dickicht in Yukatan, wo ich in eine Wohnscheune geriet, darinnen die Hängematten sämtlicher Bewohner ordentlich an den Wänden aufgehängt waren, lief in dem leeren Raum ein Fernseher vor sich hin. Vermutlich sahen sich die Indigenen das an, was sie für die europäisch-amerikanische Zivilisation hielten. Ein Panorama, das unentwegt falsche Eindrücke vermittelte, die jedoch Wünsche erzeugten, welche zu Antriebskräften wurden und werden. Und ich erinnere mich, daß viele DDR-Bürger sich schwächliche amerikanische Serien anguckten, nur um die Interieurs, die Wohnungseinrichtungen, die Autos, die Gärten kennenzulernen. Man ahnt schon, daß nach den semirevolutionären Aufschwüngen eines Tages die Ernüchterung eintreten wird, die Enttäuschung darüber, daß das Leben kaum wesentlicher geworden ist und die frei gewählten »Volksvertreter« unerwartet ihren Vorgängern ähneln. Obschonnicht erwartet, schleicht sich, wie stets, die Restauration in die Gesellschaft: sie ist das einzig wirkungsmächtige Gespenst, das keineswegs allein in Europa umging.

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 Der historische Moment, da alle Menschen Brüder werden, ist ein kurzer Rausch, wir haben ihn angesichts der Wende in der DDR erlebt und den darauffolgenden Kater. Die Erwartungen und Hoffnungen entsprechen nie den Möglichkeiten und unterliegen immer wieder dem Trägheitsgesetz. Man kann nicht unentwegt demonstrieren und Freiheit fordern, man will auch mal in Ruhe im eigenen Bett schlafen und ungestört seine Suppe löffeln.

Zuerst stand ich mit Brecht in einem Zimmer, wir unterhielten uns, als Marianne unvermutet hereinplatzte, aber doch gleich wieder verschwand. Anschließend sprach ich in einem Hotelzimmer mit einem Mann, der einen harten, slawischen Akzent hatte. Er empfahl mir Sehenswürdigkeiten in der alten Stadt (Italien?), in der wir uns befanden. Dann erschien erneut Brecht; wir hatten uns schon anfänglich geduzt, und ich nannte ihn Bert (was ihm in der Realität höchst unangenehm gewesen wäre). B. B. parlierte auf englisch mit dem Mann, der auch in dieser Sprache seinen Akzent beibehielt. Nachdem die merkwürdige Gestalt verschwunden war, kam es mit »Bert« zu einer kleinen Auseinandersetzung: er hielt meine Absicht, die erwähnten Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, für das übliche touristische Sightseeing-Unternehmen, woraufhin ich ihm meinen Standpunkt erklärte: ich hätte auf meinen Reisen immer über das geschrieben, was ich gesehen hätte; die Rudimente der Vergangenheit (ich wörtlich) hätten mir Geschichtsunterricht erteilt, sozusagen Geschichte aus anderer Perspektive gesehen, und durch die Gegenständlichkeit abstrakte Kenntnisse mit Wirklichkeit ausgestattet. Er schien nicht so recht überzeugt, und ich wachte etwas enttäuscht auf, da ich mir doch soviel Mühe gegeben hatte,

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ihm, dessen Sinn für Historie mich beeindruckt hatte, meine keineswegs touristische Absicht darzulegen. Ich drehte mich im Bett auf die linke Seite, und als ich wieder einschlief, war er nicht mehr da.

Es wäre wohl kaum übertrieben, wenn ich sagte, mein Big Book, dieser Berg von Aufzeichnungen, ähnele einem Steinbruch. Wobei ich längst den Wert von Steinbrüchen erkannt habe. Vor mehr als dreißig Jahren besuchte ich meinen Zahnarzt in Puhlheim; er schlug mir vor, an dem kommenden Sonntag, also einem arbeitsfreien Tag, mit ihm den nahe gelegenen Steinbruch zu besuchen; er sammele Versteinerungen. Er zeigte mir auch diverse Stücke, Belemniten, Ammonshörner und was die Natur uns nach einigen Millionen Jahren zukommen läßt. In dem besagten Steinbruch eine mehr als sonntägliche Stille. Abgestorbene Vergangenheit. Trümmer rundum, Brocken verschiedener Größenordnung. Wir hatten Hämmer mitgebracht, und Rudi S., vordem in seiner Ostberliner Praxis vor seiner Flucht der »Schöne Rudi« genannt, begann hier und da an den Felswänden herumzupochen. Vieles an paläontologischen Präsenten lag vor meinen Füßen, ein reiches Angebot. Jedes Stück wies eine Besonderheit auf, keines glich genau dem anderen, als hätte die Individualisierung der Lebenserscheinungen schon ziemlich früh begonnen. Immer wieder hob ich eines von den vergangenen Wesen auf, jedes nicht allein der Betrachtung, sondern auch der Mitnahme und einer nachfolgenden Reflexion wert. Wie Brecht ehedem einem Garten gleichen wollte, der zu jeder Jahreszeit etwas Neues, Blühendes böte, so offeriert der Steinbruch meines Big Book manches für den oder jenen oder auch für niemand.

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Eines Tages klingelte es an der Wohnungstür meiner Mutter. So fangen Geschichten, sogar wahre, manchmal an. Die sechziger Jahre, vielleicht schon die siebziger. Draußen stand ein Mann, der sich als Kriminalbeamter auswies und darum bat, meine Mutter sprechen zu dürfen, was ihm auch von der alten Genossin und Normalbürgerin der DDR gestattet ward. Im Wohnzimmer die Erklärung: jenseits der Straße wäre doch dieser große HO-Laden, ja, genau gegenüber, und da würde wohl eingebrochen werden oder sonstwie Unheilvolles vorgehen. Nun bitte man sie, ihren Balkon als Späherposten für eine Weile zur Verfügung zu stellen. Natürlich stimmte meine Mutter zu, nicht zuletzt, weil sie eine begeisterte Kriminalromanleserin war und immer gewesen war. Also bezog ein Beobachter den Posten. In einem relativ normal bürgerlichen Lande hätte sich meine Mutter rückversichert, ob der Beamte das sei, was zu sein er vorgab. Derlei tat man nicht in der DDR, der Heimstatt des Autoritativen. Der Beamte kam, blieb lange Nachmittage und Abende, unauffällig, manchmal zu einem Schwätzchen mit meiner Mutter aufgelegt, ein stiller Mann, der eines Tages nicht mehr auftauchte - ohne daß von ihm je wieder etwas gehört wurde. Der Vorgang könnte der Feder Kafkas entsprungen sein, wäre da nicht eine Einzelheit, die das scheinbare Rätsel erklärt. Der Sohn meiner Mutter hatte Schwierigkeiten mit der Obrigkeit bekommen, er hatte Beziehungen in alle Welt, vor allem in das »nicht-sozialistische Ausland«, er korrespondierte mit möglichen Feinden der »sozialistischen Menschengemeinschaft«, er schrieb längst nichts mehr im Sinne der »leuchtenden Zukunft« und veröffentlichte gar seine Produkte im Westen, in der Gegenwelt. Meine Mutter, in vieler Hinsicht naiv und recht alt, hielt die Lüge des Staatssicherheitsmannes für pure Wahrheit.

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Auf der Suche nach verwertbarem Material gegen den Sohn hatte man sich eine Weile an die Mutter und ihren Umkreis, lauter alte Frauen, gehalten, ohne etwas Belastendes zu finden. Ein Vorgang, der für den »tiefen Humanismus« des Systems unverkennbar ein negatives Zeugnis ablegt. Solche Systeme, die alte Mütter belauern, um des Sohnes habhaft zu werden, sind gerechterweise zum Untergang verurteilt. Auch wenn es manchmal vierzig Jahre dauert.

Ein namhafter Dichter veranlaßt testamentarisch, daß zu seinem Begräbnis ganz unterschiedliche Personen eingeladen werden, Leute mit völlig konträren Positionen in Sachen Literatur, Rezensenten, die einander hassen, und Autoren, die sich gegenseitig nicht leiden können. Wahrscheinlich würde er, wenn er das überhaupt noch könnte, sich im Grabe die Hände reiben, denn er rechnet mit heftigen Auseinandersetzungen, Kleinkrieg vorgeblich Trauernder, Beleidigungen, Kränkungen, auflodernden Feindschaften, er wäre aber wahrscheinlich sehr enttäuscht, daß von alldem nichts geschähe, denn er rechnet nicht damit, daß selbst die bösartigsten Gegner bei dem Begräbnis eines Konkurrenten sich einer versöhnlichen und milden Stimmung hingeben und bereits rühmende Nachrufe formulieren, um den Toten so rasch wie möglich dem Vergessen anheimzugeben.

Die deutsche Sprache ist, im Kopf mancher Leute, wie eine chinesische Papierblume, die in einem Glas mit Wasser aufblüht. Solch eine Blüte ist das Wort »Willkommenskultur«. Nie gehört? »Willkommenskultur« ist die Beschönigung für einen längst fälligen, verspäteten Gnadenakt. 300 000 Migranten in Deutschland, deren heimatliche Zeugnisse und Referenzen bisher hier nicht anerkannt

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worden sind, sollen nun binnen dreier Monate überprüft und die Personen in den Arbeitsprozeß eingereiht werden. Willkommen! Wir haben auf euch gewartet! Dabei seid ihr ja schon zehn Jahre oder länger in diesem unseren Land, und ihr mußtet Taxi fahren, Fußböden schrubben, Bierkästen stapeln, Zimmer anstreichen, anstatt Leuten die Zähne zu ziehen, physikalische Experimente durchzuführen, Mathematik zu vermitteln, mit einem Wort: eurer eigenen Berufung nachzugehen. Erst mußte ein Mangel an Fachkräften eintreten, bevor sich diese unbewegliche, in ihrem eignen Dunst vor sich hin dösende Gesellschaft zu einem Akt des Selbstverständlichen aufgerafft und, sich selber auf die Schulter klopfend, mit einem faulen Begriff den Fehler zu verdecken sucht: »Willkommenskultur«.

Am Beginn der Disziplinierung und Verformung des Menschen steht das Schulheft. Die Einteilung der Linien, die sorgsame Beachtung der Trennzeilen, das Verbot, darüber oder darunter auszuschweifen, zwingen zu einem Ordnungssinn, den man nie wieder los wird. Überhaupt stellt die handschriftliche Übung die Einübung ins nahezu Militärische der fremdgesteuerten Lebensführung dar. Und vielleicht lieben wir die Kunst und die Künstler darum, weil sie stets jene Linien, Quadrate, Rechtecke, Dreiecke, regelmäßigen Kreise überschritten haben, was uns einst ausgetrieben wurde. Jenes geringe Maß an Wildheit, dessen sich die darob verachteten und verfemten Künstler zu erfrechen wagten, mag eine in uns eingeschla-fene, betäubte, anästhetisierte Regung berühren, so daß wir Kunst brauchen, um uns des verborgenen, überbordenden Freiheitsempfindens gezügelt bewußt zu werden.

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Kein Wort ist derart dolchstoßartig treffend wie die lateinisch-englische Kombination »Infotainment«. Denn genau betrachtet wird hier der Information ihre Objektivität oder Neutralität, ihre Sachlichkeit abgesprochen durch das Anhängsel aus dem Begriff der Unterhaltungsindustrie: »Entertainment«. Die von den Köchen des medialen Hexensabbats zubereiteten Augen- und Ohrenspeisen dienen keineswegs mehr der Nahrung und der Mehrung des Wissens, sondern der Verdauung der zu ihrer Zubereitung benutzten Ereignisse. Das primäre Rezept heißt ja »Unterhaltung«. Das Übermittelte bezweckt nicht mehr - um eine uralte Bezeichnung zu gebrauchen - die Katharsis, also das einsichtsvolle Erschrecken des Zuschauers, sondern dient hauptsächlich seinem Unterhaltungsbedürfnis. Noch das schlimmste Geschehen fällt unter dieses Rubrum »Infotainment«. Der Vorgang ist zwangsläufig mit einer individuellen oder allgemeinen Katastrophe gekoppelt, doch seine Darbietung will nicht aufklären, sondern zirkusartig schockieren, verwundern, ergötzen, verblüffen, rühren und / oder erheitern. Im Gegensatz dazu sieht die anglo-amerikanische Presse, zumindest die seriöse, anders aus: Fakten dominieren. Freilich, auch in jenen abgelegenen Weltgegenden jenseits und diesseits des Ozeans beherrscht die Dramaturgie der Unterhaltung das Fernsehen oder die »Yellow press«, die Boulevardblätter. Doch in der Hauptsache stammt die besagte Dramaturgie aus dem Fernsehen, stammt von den bewegten Bildern der einstmals »tönenden Wochenschau«, welche wiederum von den Jahrmärkten mit ihren grausigen Tafelbildern und stimmgewaltigen, zeigestockverse-henen Berichterstattern stammt. Auch das war schon »Infotainment«, ohne jedoch jene tiefenpsychologische Auswirkung zu haben wie das heutige, das auf seine unmerk-

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liche Weise die Wirklichkeit für den Wirklichkeitsteilhaber entwirklicht. Die einst eigenmächtige Perspektive ist der kollektiven, fabrikmäßig erzeugten erlegen. Etwas Diabolisches hat den Erdenbürgern die Augen ausgetauscht, ohne daß sie es bemerkten.

Objekte, an die man sich erinnert, weil sie in einem emotionalen Zusammenhang mit unserem Leben stehen. So bleibt mir unvergeßlich eine gläserne Kugel, in der sich ein Davidstern befand; die Kugel, vielleicht zwei Fäuste groß, war elektrifiziert, damit nach Knopfdruck auf dem Kugelsockel der Stern bläulich aufleuchtete. Die Kugel stand, strahlend, auf der Anrichte einer alten jüdischen Frau, die in einem Seitenflügel unseres Hauses in der Köpenicker Straße wohnte. Bei welcher Gelegenheit und warum sie mich einmal zu sich eingeladen hatte, ist mir gänzlich entfallen. Ihre Wohnung jedenfalls war winzig, im zweiten Stockwerk, glaube ich jedenfalls, kein Name hat sich mir eingeprägt: nur diese glimmende Kugel. Und daß sie mir einen uralten Atlas schenkte, auf dem Europa noch gänzlich anders aussah als zu der Zeit, da ich sie besuchte. Wie bunt waren die Landkarten! Wie viele Königreiche und Fürstentümer in den unterschiedlichsten Färbungen markiert. Eine fremde, erst kürzlich verschwundene Welt. Mit winzigen Schiffen aus Bleiguß fuhr ich die Ströme ab, kreuzte das Mittelmeer und legte an der nordafrikanischen Küste an. Meine unbeauftragte Geographielehrerin mußte den gelben Stern tragen und wagte sich nur selten auf die Straße, nachdem das Jahr 1938 schon das Schlimmste vorangekündigt hatte. Ein einziges Mal traf ich sie noch wieder auf der Straße, wir hatten ja keine engere Beziehung zueinander, und sie hielt mich fest, weil sie meinte, ich wolle, des Sternes an ihrem Mantel wegen, an ihr grußlos

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vorübergehen: Traust du dich nicht, mich zu grüßen? Ein Vorwurf, den ich nie verwunden habe. Denn er stimmte. Mir fehlte der Mut, zwischen den Passanten bei ihr stehenzubleiben und mich mit ihr zu unterhalten. Wir, die mehr oder minder durch die berüchtigten Maßnahmen Betroffenen, waren schon verschreckt genug und spielten, als seien wir Statisten in dem damaligen Drama, die Rolle der Unauffälligkeit. Als wäre einem die Verstellungskunst angeboren, sie war aber andressiert. Ich begegnete der alten Frau nie wieder, später erst wissend, wo sie verblieben sein mußte. Die Wohnung wurde wahrscheinlich anderweitig vergeben, der leuchtende Davidstern landete vermutlich auf dem Müll. Für den Antiquitätenhandel war er zu jüdisch. Ich als sicherlich einziger betätige in meinen Fantasien noch manchmal den Schalter, um in der Glaskugel das Zeichen aufflammen zu lassen. Schuldlos schuldbewußt.

 

Laserstrahl überträgt riesige Datenmenge

Bei der Übertragung von Daten haben Forscher vom Karlsruher Institut für Technologie einen Geschwindigkeitsrekord verbuchen können. Jürg Leuthold und seinen Kollegen ist es gelungen, den Inhalt von 700 DVDs binnen einer Sekunde mit nur einem einzigen Laserstrahl zu übertragen
Da meldet sie sich wieder: unsere Hybris. Und wieder fällt einem der Buchtitel des H. G. Wellsschen Werkes »Menschen, Göttern gleich« bei solcher Nachricht ein. Doch die Armseligkeit der »Götter« taucht während des gigantomanischen Momentes (eine Sekunde!) nicht auf, sondern bleibt hinter den abstrakten Zahlen wohlweislich verborgen. Unter der Elmsfeuer-Leuchtschrift »Schneller, höher, weiter« verblaßt die Realität und wird kaum noch wahrgenommen. Was denn eigentlich bedeutet es, sieben-

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hundert DVDs, vulgo Spielfilme, in einer Sekunde einem Empfänger zuzumuten, der keinmal die Muße hat, sich das ihm Zugedachte anzusehen. Ganz abgesehen davon, daß die Fülle des übermittelten Materials nichts über dessen Qualität aussagt. Wie man die Produktionen kennt, erweisen sie sich meist als künstlerischer Schrott, des Be-trachtens ohnehin nicht wert. Aber das sind so die Spielchen von Wissenschaftlern, die der Zahlenmagie verfallen sind. Welche Substanz sich hinter den Zahlen verbirgt, interessiert sie nicht mehr. Ihre nackte instrumentale Vernunft, ihr seelenloses Vermögen, nichts anderes als neue Methoden zu ersinnen, macht den psychopathologischen Zustand der Gesellschaft kenntlich. Das leere Tun, die sich ständig steigernde Rastlosigkeit der selber nur als Zahlen erscheinenden Individuen läßt sich überall entdecken. Die Unfähigkeit zur Besinnung, auch zur Selbstbesinnung, zur Einkehr ins eigene Selbst, äußert sich in der blinden Hinwendung, in der »Fähigkeit«, hinter den technologischen Errungenschaften als Mensch zu verschwinden.

Unter Primaten ist eine egalitäre Gesellschaft undenkbar.

Die Bundesregierung hat sich die Gründung einer Ethik-Kommission einfallen lassen. Darauf hat man, im Zeitalter der sich ständig aufsplitternden Fachbereiche, längst gewartet. Da die christlichen Kirchen mit nichts anderem als dem eigenen Überleben befaßt sind und ohnehin in Sachen Ethik ihre Kompetenz wahrlich »eingebüßt« haben, also als unbußfertige, personell depravierte und nur durch Steuergelder erhaltene Vereine dastehen, war nur logisch, daß für Ethik eine Kommission notwendig wurde. Denn die politische Lehre besagt ja, daß alles, wofür eine Kom-

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mission zuständig ist, organisatorisch aus der Allgemeinheit eliminiert wird. Jede Kommission ist die sprichwörtlich lange Bank, auf welcher Sachfragen gemeinschaftlich formalisiert werden, um sie ihrer möglicherweise störenden Elemente zu entledigen. Die Kommission ist um Konsens bemüht, um Kompromiß, um Übereinstimmung, damit sie ins allgemeine Tableau einer Gesellschaft paßt, deren sicherste Grundlage Kommissionen sind.

 

Die Märchen unserer Kinderzeit weisen ein historisches Faktum auf, das wir als jüngste Leser gar nicht zu erkennen vermochten. Uns fesselte eher das Unheimliche, Bedrohende, Beängstigende, bis es sich mit einem Happy end auflöste. Wir lasen (unbewußt) Geschäftsabkommen wie den Pakt zwischen dem Teufel und einem armen Bauern; der Holländer-Michel kaufte Herzen gegen Barzahlung (»Das kalte Herz«); tüchtige junge Männer gingen nach bestandenen Proben lukrative Ehen ein, wobei selbstverständlich, wie in der realen Wirtschaftswelt, auch Pleiten vorkamen, wie im »Butt«, der mit dem Fallissement des Fischers und dem Verlust alles bisher Gewonnenen endete. Jegliches Geschäftsgebaren in den Märchen erschien mit einer solchen Selbstverständlichkeit, daß eine Tatsache dabei unbemerkt blieb: immer spielte ein rechtsstaatliches Element eine wesentliche Rolle: die Geschäftsabschlüsse mußten unbedingt eingehalten werden, meist zum Schaden des Geschäftsunkundigen, der auf die Investitionsversprechen des Bösen einging. So spiegelten die Märchen, neben allem Fantastischen und freudianisch Deutbarem, einen Rechtsstatus wider, der offenkundig bereits in frühen Zeiten derart selbstverständlich gewesen ist, daß er keiner Erläuterung bedurfte. Nicht die pure Gewalt triumphierte, sondern die Legalität des (obwohl obsku-

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ren) Handels, was ja nur auf Grundlage allgemeingültiger Rechtsnormen möglich gewesen ist. Und just dieser Umstand ist das überhaupt nicht Märchenhafte an den Märchen unserer Kindheit und zugleich unbewußte Einübung von Handelspraktiken, wie sie im späteren Alter alltäglich waren.

Die Darstellung des Bösen als häßlich zieht sich durch den Bilderwald aller Epochen. Was für abscheuliche Gestalten, Ausgeburten der Hölle, die das Schlechte personifizieren. Was hat sich miteinander verkoppelt, verbunden, miteinander verschmolzen, um Bösartigkeit und Häßlichkeit zu vereinen, wohingegen das Gute, die Güte stets in ästhetisch angenehmer Form hervortritt. Und, so die Frage, wie weit haben wir uns von dieser Psychologie der blanken Physiologie entfernt? Wahrscheinlich erst wenige Zentimeter. Wir erwarten immer noch in unserer unsterblichen Naivität, daß der Schurke im Film auch wie ein Schurke auszusehen hat, zumindest muß er einige Züge aufweisen, die seine Tücke ahnen lassen. Die Schönheit der verfolgten Unschuld, das klare Antlitz des zu Unrecht Beschuldigten, das verlangen wir unabdingbar, als hätten wir das Zeitalter der Psychologie verschlafen wie Rip Van Winkle in seiner Höhle. Hitler, von dessen Nachleben kein Ende abzusehen ist, galt seinen Anhängern, insbesondere den Frauen, als gutaussehender »männlicher« Mann, was seinem Wesen und seinem Tun vollkommen widersprach. Hätte er den Erfolg bei den Deutschen gehabt, wäre er Quasimodo ähnlich gewesen? Wohl kaum. Dem Schönheitsideal komplementär ist das Häßliche, durch Jahrhunderte hindurch ausgestellt und publik gemacht. Daß Schönheit täuschen kann, ist zwar eine ziemlich späte Einsicht der Moderne, hat sich aber bisher kaum durchgesetzt.

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Noch immer dominiert die Fassade. Woher dieser Umstand kommen mag, wo sein Ursprung liegt, das zu erkunden scheint schwierig. Vielleicht ist der schon den Frühmenschen eigene ästhetische Sinn ausgedrückt in Nasenringen, Gesichtsbemalung, Höhlenzeichnungen, Steinsetzungen -Dinge, die neben ihrer religiösen Bedeutung einen ästhetischen Eindruck mitvermittelten. Zwar wandelten sich die ästhetischen Anschauungen von Epoche zu Epoche, basierten jedoch immer letztlich auf einem Konsensus der Mehrheit. Und wenn wir eine bunte Illustrierte aufschlagen oder ein Werbemagazin, angenehm berührt von den Models, von den herausgeputzten und glänzend geschminkten Frauen, kommt uns niemals der Gedanke, wir könnten es mit Kindsmörderinnen, Hochstaplerinnen, Betrügerinnen, Diebinnen zu tun haben.

Immer wieder liest man das Lob des »gesunden Menschenverstandes« und zweifelt dabei am eigenen ...

Der »gesunde Menschenverstand«, primär auf materielle Effizienz ausgerichtet, ist längst zum Wahn geworden, alles von ihm verursachte Unheil kurieren zu können, vor allem durch Zaubersprüche und Beschwörungen. Eines dieser Wundermittel aus der Apotheke des Doktor Faustus heißt »Wachstum«. Verlagerte man es nur auf andere Gebiete, fort von den schon verwüsteten, würde sich alles zum Guten, falls nicht gar zum Besseren wenden. In der Botanik jedoch spricht man von dem Vorgang des Sich-zutodeblühens. Kurz vor dem Absterben entfaltet die Pflanze noch einmal eine ungeahnte Blüte. Das Wachstum richtet sich, sind sämtliche vorhandenen Ressourcen aufgebraucht, selber hin. Ein Naturgesetz, dem nicht nur eine Pflanze erliegt. Allem, was existiert, sind Grenzen gesetzt. Oftmals sind sie nicht zu erkennen und werden blind

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ignoriert. Und ebensooft werden sie sehenden Auges ignoriert, was sich der »gesunde Menschenverstand« allein dadurch erklären könnte, daß er eben nicht gesund ist. Doch das verkneift er sich lieber, weil solche Einsicht die Abdankung einschlösse. Und so regiert der »gesunde Menschenverstand« eben weiter unter dem Motto: Rien ne va plus.

Viel zu selten wurden von viel zu wenigen Autoren ihre Träume aufgeschrieben. Man kennt nur wenige Traumprotokolle berühmter Schriftsteller und Künstler, es würden sich, gäbe es mehr solcher Texte, wohl erstaunliche und zusätzliche Perspektiven auf die Werke selber ergeben, möglicherweise Interpretationsansätze, ein tieferes Verständnis für das Geschriebene.

Bei manchen meiner Träume scheinen mir die Beziehungen zur Realität auf der Hand zu liegen, wie bei dem nächtlichen Erscheinen eines zertrümmerten Berlins. Andere, aus dem schlafenden Bewußtsein emporgestiegene Vorgänge kann ich nicht entschlüsseln. So ging es mir auch heute nacht, da ich in einem Saal mit vielen Leuten der »feinen Gesellschaft« zusammen war; der Raum war, fast wie eine Schulklasse, durch Bankreihen zur Schmalseite hin gestaffelt. Ich trug elegante Kleidung, und als ich mich zur Seite bückte, um meine Schuhe zuzuschnüren, entdeckte ich nagelneue schwarze Halbschuhe. Eine Dame, schräg an meiner Seite sitzend, machte mich auf eine Ungehörigkeit aufmerksam: aus meiner Socke hing ein langer Faden, den ich sofort (verbal) als »Zügel« meiner Person deklarierte. Ich zog eine kleine Schere hervor, schnitt den langen Faden einfach ab und steckte die Schere in meine Westentasche, wo ich schon eine andere Schere deponiert hatte. Sodann mußten wir uns alle erheben, weil der Präsi-

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dem den Saal betrat, ich weiß aber nicht, welcher. Fand mich anschließend in einem schloßparkähnlichen Gelände vor einem exquisiten Wohnhaus wieder, an einem Tisch mit einigen Damen sitzend. Plötzlich rollten zwei Motorradpolizisten langsam auf dem Kiesweg zum Haus, es folgte die königliche Limousine, aus der Elisabeth II. stieg und auf uns zu trat. Wir standen auf. Elisabeth grüßte freundlich und reichte einer der Frauen am Tisch einen Briefumschlag. Die Empfängerin öffnete das Kuvert und entnahm diesem ein Schreiben, das sie laut vorlas. Es war ein Brief von Sigmund Freud. Nun wußte ich, daß die Vorlesende seine Tochter Anna gewesen, obgleich für seine Tochter viel zu jung erscheinend. Freud teilte ihr mit, er hinterlasse ihr seine Praxis mit allem Drumunddran, sie solle sein Erbe weiterführen, unterschrieben: Dein alter Sigmund ... Anna Freud brach in Tränen aus, wurde von der Königin sanft getröstet; sodann grüßte sie uns noch einmal distanziert und fuhr mit ihrer Staatskarosse davon. Keines dieser Traumelemente stand in irgendeinem Bezug zu meiner konkreten oder literarisch oder elektronisch übermittelten Wirklichkeit. Dieser Traum mußte einen großen verborgenen Umweg genommen haben, um mich endlich doch noch zu erreichen. Daß das Thema Freud im Traum auftauchte, kein Wunder, irgendwann mußte es ja einmal sein. Und die Königin? Hieß das in freudianischer Übersetzung, ich hielte die Psychoanalyse für den »Königsweg« der Seelenerkundung, auch der meinen? Ohne mir weiterhin den Kopf über die Sache zu zerbrechen, nahm ich den Vorfall hin, als hätte ich eine fesselnde Geschichte gelesen, ohne weitere Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.

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Nachrichtenhören. Es meldet sich kurz vor Beginn der Sendung eine diffuse Erwartung, als bekäme man gleich etwas Überraschendes zu hören, etwas völlig Unerwartetes, etwas wahrhaft Entscheidendes. Doch es folgen nur die üblichen Kurzberichte politischer Natur, immer wieder Kämpfe zwischen Rebellen und Regierungstruppen, Vulkanausbrüche, Flugzeugabstürze, Überschwemmungen in fernen Ländern, Staatsbesuche und andere Banalitäten. Stets stellt sich eine leichte Enttäuschung ein, weil entweder die Apokalypse oder das Wunder nicht stattgefunden hat. Man könnte fast annehmen, die »Neuigkeiten« wären vor Wochen schon angefertigt worden und würden in dieser oder jener Reihenfolge demnächst wiederholt. Aber diesem winzigen Spannungsmoment, bevor das übliche Dilemma dem Hörer mitgeteilt wird, diesem Augenblick eignet ein verborgenes Hoffen, eine ängstliche Neugier auf etwas Einzigartiges, das im guten wie im schlechten Sinne die Welt, von der die komprimierte Rede ist, verwandelt. Als kündige sich Messianisches an, das aber dann doch in der klischierten Sprache der vorgefertigten Mitteilung dem Lauschenden nichts weiter bietet als die Aussicht auf die nächste Sendung.

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Die grundlegende Übereinstimmung von Kapitalismus und Sozialismus besteht in der Einigkeit des Zieles: industrielles Wachstum ohne Rücksicht auf Verluste in allen Daseinsbereichen. Im Kalten Krieg konkurrierten Geschäftsunternehmen unter verschiedenen Markenzeichen. Alles Reklamemäßige war nichts als Ideologie. Dem Konkurs der einen Firma, der Sowjet-GMUB (Gesellschaft mit unbeschränkter Haftung der Bevölkerung), folgt voraussehbar der Konkurs des Konkurrenten, denn globale Wirtschaftsmonopole lassen sich niemals auf ewig aufrechterhalten. Gegen die Urteile von Herrn Chronos gibt es keine Berufung.

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Aus der Perspektive Gottes betrachtet, ist dieser Planet, behaust von Allesfressern, von Schädlingen, also von jenen Wesen, die geschaffen zu haben er gleich nach diesem Werk bereute, völlig überflüssig. Selber nicht leuchtend oder grandiose Emanationen gebärend, würde es nicht auffallen, wenn dieser Steinklotz fehlte, dieser dunkle Punkt in der endlosen Karriere des Herrn der Materie. Stellt man sich Gott als Abbild Albert Einsteins vor, der, nachdem er das tödliche Geheimnis enthüllt hat, uns auch noch die Zunge zeigte?

Man könnte glauben, die Herstellung des normierten Erdenhäuslers werde unter anderem durch das bewirkt, was sich fälschlicherweise Architektur nennt. Wenn Singapur sich Frankfurt am Main zum Verwechseln angleicht, wenn sich Dubai noch protziger als Schanghai darbietet, wenn London dem afrikanischen Kapstadt ähneln will, kann die logische Schlußfolgerung daraus nur die sein, daß auch die Inhabitanten, um nicht zu sagen: Insassen dieser Orte der Übermacht ihrer Umwelt erliegen und ebenso eckig werden, so gläsern, so übertrieben modisch und zugleich so funktionsgefesselt und des wahren Lebens entleert wie der ihnen zugewiesene Platz. Alle essen denselben Fraß, trinken dasselbe Gebräu, tragen die gleiche (höchstens preislich unterschiedliche) Kleidung, betrachten von Kamtschatka bis New York dieselben bunten Märchen in immer perfekteren Maschinen und reisen von einer Baukastenwelt in die nächste, dahin, wo die Sonne scheint, für knappe vierzehn Tage, bis der Freigang per Dekret oder Gewerkschaftsübereinkunft beendet ist. Ein Franzose würde,

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Goethe variierend, ausrufen: Die Merde hat mich wieder! So geht es auf unserem Planeten zu, nämlich insgesamt auf das Endziel Industriezivilisation, die eben das Ende des Endzieles wäre. Auch wenn die Mehrheit der jetzigen sieben Milliarden noch ortsgebunden verharrt, im Innern sind sie ja zu diesem Ziel, der von Europa oder Amerika vorgegebenen Verheißung, aufgebrochen. Weil sie nicht den Ausspruch eines alten Juden kennen, der einst sagte: Wenn alle Menschen in eine Richtung gehen, kippt die Welt um!

Sechshundert Seiten. Tausend Seiten. Ich erwarte täglich den Roman von dreitausend Seiten und fürchte, ich werde diesen Tag sogar noch erleben. Heute schreibt kein Autor mehr einen Aphorismus. Das wäre ja bloß eine Zeile! Wie kommt man damit auf die Bestsellerliste? Vom Honorar ganz zu schweigen. Eine Novelle, ja, gar Novellette - aus dem Kopf der Muse entfernt. Wo lese ich noch einen Text wie den »Schlag ans Hoftor« von Kafka? Nirgends natürlich. Die Kulturindustrie, die nicht zufälligerweise sich diesen Begriff zugelegt hat, kann mit einer Anekdote, wie sie einst Alfred Kerr oder Roda Roda geschrieben, keine Geschäfte machen. Lichtenberg, ohne staatliche Anstellung, müßte als Schriftsteller verhungern, denn wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist es allemal der Kopf jener Literaturmanager, deren wichtigstes Buch das Hauptbuch aus der Finanzabteilung ist. Soeben gab ein Dichter bekannt, er werde einen Roman von achthundert Seiten verfassen. Gott schütze die Wälder vor den ungezügelten Wallungen des Geistes!

Pietätvolles Gedenken - sollte das alles sein? So allgemein dahingedenkend, ohne Konsequenz, ohne Adressaten?

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Wäre da nicht Anlaß genug, ja, fast Anlaß zuviel? Wir können unser Denken, auch unser besonderes Gedenken, nicht vor uns selber verbergen. Wir müssen davon sprechen, auch wenn es schon mantrahaft erscheint. Immer wieder aufs neue und immer wieder mit der gleichen schrecklichen Verwunderung stellt man sich die Frage: Wie konnte das geschehen? Wie konnte eine einstmals ihrer geistigen Werte sichere Kulturnation zu dem werden, was Ernst Niekisch »das Reich der niederen Dämonen« nannte? Ein Verwundern, das bisher nicht aufgehört hat, auch nicht bei unseren europäischen Nachbarn, die, leider, muß man sagen, in den Malstrom des Verderbens miteinbezogen wurden. Als sei von Deutschland nach Hitlers Machtergreifung eine tödliche Strahlung ausgegangen, die noch bis in die fernsten Erdenwinkel ihre Auswirkungen gehabt hat. Jene Geistfeindlichkeit, Zeugnis ideologisch regulierter, dienstbereiter, Leben und Tod verfälschender Sprache, hat bis heute ihre Spuren hinterlassen. Ihre Relikte begegnen uns noch hier und da als »Druckerzeugnisse«, in eben diesen.

Die Wahrheit des Heine-Worts, daß man dort, wo man Bücher verbrenne, auch Menschen diesem Schicksal ausliefere, haben wir zur Genüge erfahren. Und wer diesem Schicksal entgehen konnte, wurde zum Flüchtling, zum Emigranten, zum Exilanten, zum »Luftmenschen«, der, als Autor, außerhalb seines muttersprachlichen Bereiches um sein »täglich Brot« bangen mußte. Unter den unfreiwillig Ausgereisten befanden sich Schriftsteller unterschiedlichster Couleur, dennoch verbunden durch das gleiche Anathema, durch die gleiche Verfluchung. Ihr Dasein in der Fremde verlief unterschiedlich: die Weltberühmten durften ein relativ normales Leben führen, die weniger Bekannten besaßen nichts außer Sorgen und Ang-

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sten, wie sie noch einmal erneut davonkommen sollten. Der in England gegründete Exil-PEN-Club deutschsprachiger Schriftsteller konnte seinen Mitgliedern keinen gedeckten Tisch bieten, sondern nur (aber dieses nur ist schon wichtig gewesen) etwas wie Solidarität, ein Gemeinschaftsgefühl, selbst wenn dieses durch interne Querelen belastet gewesen ist. Zumindest hatte man das Bewußtsein: ich bin nicht allein. Ein sehr wichtiges und oftmals mißbrauchtes Gefühl. Ein Gefühl, dessen Bedeutung, auch in unserer Gegenwart, gar nicht überschätzt werden kann.

Es existiert wohl kaum ein Autor, der sich nicht schon einmal vorgestellt hat, wie es denn wäre, aus seiner Heimat vertrieben oder zum Staatsfeind erklärt worden zu sein. Man kann sich nur zu gut in die Situation der tatsächlich Betroffenen hineindenken. Und solange es auf diesem obskuren Planeten immer wieder, falls nicht gar ständig, vorkommt, daß die Verfertiger von »Druckerzeugnissen« Pressionen (und Schlimmerem) ausgeliefert sind, wird dieses Empfinden, man kann es ruhig Mitgefühl nennen, anhalten. Wir kennen ja alle die längst verblaßten Sprüche zur Genüge: »Die Toten mahnen die Lebenden« und ähnliches, das längst seine Wirkung eingebüßt hat. Die Lebenden wollen mit den Toten nichts zu tun haben. Aber diese Toten, diese besondere Spezies von Toten, sind durch ihr Werk noch höchst lebendig. Selbst solche, deren Arbeiten vergessen sind oder vergessen scheinen, bleiben dennoch durch ihr Wort, das es neu zu entdecken gilt, vorhanden.

Falls man mich fragte, was ich für die bösartigste Krankheit, die schlimmste Epidemie, etwas der Pest Gleichartiges, halte, antwortete ich: das Vergessen. Wir vergessen nicht allein diejenigen, deren Geschick und Schrift uns angeht, wir vergessen sogar, daß auch unserer eigenes, mira-

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kulöses Nachleben darauf basiert, daß man uns nicht vergißt. Das Vergessen des geschichtlich Relevanten - und das ist die Literatur - hält einen Spalt der Tür zum »Reich der niederen Dämonen«, die nie zu bannen sind, gefährlich offen.

Vorstellbar wäre ein Sprachwissenschaftler, der sich sein Leben lang bemüht, eine bisher unbekannte Schrift zu entziffern. Sein ganzes Dasein besteht nur in dem Bemühen, diesen vertrackten Zeichen einen Sinn zu entlocken, einen Sinn, der in seiner Fantasie immer bedeutsamer wird, da er derart verschlüsselt ist, damit ihn kein Unberufener lesen kann. Hätte ihm doch der Zufall einen »Stein von Rosette« zugespielt, der bekanntermaßen zur Übersetzung altägyptischer Hieroglyphen beitrug! Aber nichts! Am Ende, als der Forscher die Bilanz seiner Anstrengungen ziehen will, gelingt es ihm schließlich, die Inschrift in seine eigene Sprache zu übersetzen. Die Inschrift lautet kurz und bündig: »Eintritt verboten«. Wenig später würde der vordem gefeierte Philologe in eine geschlossene Anstalt eingeliefert. Als prominenter Patient erhielte er ein bequemes Einzelzimmer, an dessen Tür zum Gang er ein Schild in der von ihm enträtselten Sprache, das Tabu betreffend, anbrächte. Mehr wüßten die Fachblätter nicht über ihn zu berichten.

Die Presse meldet, Wissenschaftler hätten herausgefunden, wie es kommt, daß, wenn man einen Raum mit einer bestimmten Absicht verläßt, im nächsten Raum diese Absicht vergessen ist. Es läge, heißt es, an der Tür: man trete durch die Tür und lasse den eben erst gefaßten Entschluß hinter sich, der einem erst wieder einfalle, kehre man in den gerade verlassenen Raum zurück. Eine Hypothese

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oder eine belegbare Tatsache? Falls tatsächlich der Gang durch eine Tür unser Gedächtnis derart steuert, läßt sich dieses Phänomen auf alles Türdurchschreiten erweitern. Und es ist ja tatsächlich an dem, daß man, zum Beispiel ein Museum betretend, hinter der Eingangspforte anders gestimmt ist, so, als fiele etwas von dem Draußen von einem ab. Man wechselt die Welten. Wie erst eindringlich und wirksam muß sich dieser Wechsel gezeigt haben, trat man von der Straße in eine Kirche, in ein Amt, in eine Behörde. Jeder hat wohl schon diesen emotionalen Wechsel verspürt, der beim Durchqueren eines Tores eintritt. Selbst das Verlassen des Pflasters, um durch ein Hoftor in den geräuschärmeren Bereich eines Hinterhofes zu treten, macht sich deutlich bemerkbar. Dergestalt ist, wie mir scheint, die Tür zum Symbol des Wechsels vom Leben zum Tod, von der irdischen in eine, zumindest geglaubte, andere Welt geworden. Übergang, nachdem alles Gewesene zurückbliebe und man Neues erfahren würde. Das Überschreiten der Schwelle hat eine metaphysische Färbung. Eine Schwelle zu überschreiten war demjenigen, der diesen Schritt vollzog, als etwas Außerordentliches bewußt - zumindest in jenen frühen, längst verdämmerten Zeiten, als wir noch im Werden begriffen waren.

Ist die Gewöhnung an den stets gleichen Arbeitsprozeß, der gegen einen geführt wird, nun ein Trost oder eine permanente Vergiftungserscheinung wie durch Smog oder Insektizide in der Gemüsesuppe? Mich wundert nur, daß niemand einmal aufschreit, Schluß mit der Eintönigkeit, Ende der Repetition von sinnlosen Hand- oder Kopfbewegungen. Geduldig wie Lämmer trottet die Menschheit dahin, bitte keine Seitenwege, folgen Sie den Hinweisschildern, biegen Sie jetzt nach rechts (oder links) ab.

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Fortwährend geradeaus im Kreise, weil der Kreislauf, erst einmal begonnen, nur durch Exitus zielgerecht zu beenden ist. Wahrscheinlich handelt es sich um erlernte Abstumpfung, den Zwang, sich den Magen füllen zu müssen, jenes Monster in uns, das uns, indem wir dauernd etwas in dieses hineinschlingen, uns selber verschlingt. Zumindest unsere naturgegebene Freiheit der Wahl, die uns von eben dieser Natur auch wieder entzogen wird. Obwohl wir, als ihre Sklaven, uns als ihre Herren ausgeben.

Die Zunahme psychischer Störungen ist bedrohlich. Die Zeitungen strotzen vom grassierenden Wahnsinn einer Gesellschaft, die außer Rand und Band geraten ist. Da wirft eine Mutter ihr Neugeborenes aus dem Fenster, als handele es sich um Müllbeseitigung; ein Vorgang, den der gierige Leser in letzter Zeit bereits mehrmals genießen konnte. Besonders erfreut hat den Leser vermutlich, daß eine Frau ihren Mann umgebracht und gekocht hat. Es bildet sich sogleich die Vorstellung von der treusorgenden Hausfrau, die, kochbuchgeschult und dem Küchendasein verpflichtet, auf die ihr gewohnte Art sich des ungetreuen Gatten entledigt. Solche Nachrichten aus aller Welt lieben wir, denn sie bestätigen unsere Normalität, von der wir überzeugt sind, obwohl sie längst der allgemeinen psychischen Auflösung anheimgefallen ist.

Phobos und Deimos, Furcht und Schrecken, so die Namen zweier Planetenbegleiter, von denen man meinen könnte, sie seien in Wahrheit schicksalregierende Gestirne. Dieses Pärchen hat, im übertragenen Sinne, das 20. Jahrhundert regiert und seine unauslöschlichen Spuren hinterlassen. Die Spuren sind noch immer überdeutlich erkennbar, ihr Signet - die Gewalttätigkeit, von der kein Ende abzusehen ist. Die beiden totalitären Herrscher Hitler und Stalin, obwohl von ihren Sockeln gestoßen, haben ihre Schatten den Nachgeborenen hinterlassen.

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In der Hilflosigkeit vieler, sich in dieser übervölkerten und überforderten Welt zurechtzufinden, ist das (im wahren Wortsinne) Nachbeben der Vergangenheit deutlich. Das Dressat der Massen hat diese, bis auf in sich solidarische Gruppen, eingeschüchtert. Man ist im allgemeinen vorsichtiger geworden, seine Ansichten zu äußern, einem Ranghöheren zu widersprechen, eine Maßnahme des Staates abzulehnen. Der bekannte Herdentrieb, eine dem Menschen ohnehin innewohnende Eigenschaft, von den einstigen Diktatoren ausgenutzt und instrumentalisiert, bildet die Grundlage einer nur noch rein formalen Demokratie.

Der Rahmen, in dem sich Wille zum Wandel einer zum Untergang verurteilten Gesellschaftsform regen könnte, ist genau abgesteckt und organisatorisch überwacht. Im Grunde erleben wir die sogenannte parlamentarische Demokratie als Theaterinszenierung, und zwar merkbar daran, daß sich auf der politischen Bühne obskure Figuren tummeln können. Harlekine, die Minister spielen, Parteiführer, deren Souffleure die Texte wechseln, Amtsträger, denen nichts mehr am Herzen liegt als die Erhöhung ihrer Pension. Kein Wunder, daß sich Gleichgültigkeit, ja, Ignoranz ausgebreitet hat, Lustlosigkeit, an dem als solches erkannten Spiel teilzunehmen. Und selbst wenn der Zug der Zeit eine andere Farbe bekäme, er liefe doch in den unveränderlich gelegten Gleisen weiter.

Revolten und Revolutionen in der Dritten Welt, Aufstände und Protestmärsche, Freiheitskämpfe und Bürgerkriege, alle in hundert Jahren in den Geschichtsbüchern zur Fußnote verdammt. Die wahren Veränderungen verlaufen lautlos und ohne Geschrei, ohne geschwenkte Fahnen und jubelnde Mengen, sie vollziehen sich (um einen sowohl modernen wie modischen Begriff zu gebrauchen) im Nanobereich.

Chronisten, denen die Fakten mehr bedeuten als die Leserschaft, sind wenig beliebt. Genauere Geschichtskenntnis verhilft zur Melancholie, falls nicht gar zu einer exquisiten Depression. Unwissenheit ist notwendig für den Fortbestand der Gesellschaft. Wer zuviel erfährt, versinkt in Gleichgültigkeit, denn er weiß ja jetzt, daß sich alles im Kreise bewegt, nur etwas schneller als vordem. Das Tempo der Kreisbewegung hat zugenommen. Wir lernten noch, die Evolution hätte sich in einer Spiralbahn aufwärts bewegt, doch bei diesem Bild irrte der Hersteller desselben: akzeptierte man diese spiralförmige Bewegung als Grundmuster von Geschichtsverlauf, sollte man wohl eher eine Abwärtsbewegung wahrnehmen.

Aus dem Paradies der Tierheit haben wir uns selber ausgebürgert in eine Welt, deren Induktionssystem wir nicht beherrschen, obwohl wir es erfanden. So sind wir uns selber hilflos ausgeliefert, Exilanten in der eigenen Heimat, von der nichts als Schein, als Anschein übriggeblieben ist, und von der wir nur wissen, daß sie einst vor uns entstand, um uns durch ein mumifiziertes Fortleben zu beruhigen. Beliebt sind nur solche Chronisten, die an dem freundlichen Bilde unseres Umfeldes mitschaffen. Die Wahrheitsgetreuen aber sind des Teufels, der Vernunft genannt werden könnte oder Erkenntnis.

Immer wieder Erinnerung an Hebbel und dessen Tagebuch, mein Inspirator und Helfershelfer, durch den ich angeregt wurde. Seine Theaterstücke sind heute antiquiert, seine Tagebücher frisch und lebendig, ein wahres Vergnügen, sich einem Mann zu konfrontieren, der mit der Welt sowenig einverstanden war wie ich selber. Vieles bei ihm witzig bis kauzig, scharfsinnig und scharfsichtig - ein Tagebuchgenie, wie später Franz Kafka, dessen Diarien gleichfalls den Eindruck erwecken, sie seien eben erst verfaßt worden, obwohl sie zeitlich zu »verorten« sind.

Aber das Zeitliche bei Hebbel und Kafka ähnelt dem des Chronisten, dessen Zeitzeugenschaft seine Persönlichkeit bildet: der Mensch und die von ihm erlebte Historie sind auf wundersame Weise miteinander verschmolzen. Pures Gold im Bergwerk der Literatur, von vermutlich nur einer kleinen Leserschaft zutage gefördert und genutzt. Aber von keiner geschichtlichen Erosion zerstörbar.

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