Günter Kunert(1929-2019)
Ohne
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2018 170 Seiten detopia |
Ich liebe die Menschheit... |
"Wozu schreiben Sie das alles, Herr Kunert? Auf
Sie hört doch keiner. Es gilt, das eigene Bewusstsein nicht in die billige Akzeptanz des Bestehenden absinken zu lassen. Es gilt, das Denken in Bewegung zu halten, geistigen Stillstand zu vermeiden, um in der Auseinandersetzung mit der unsichtbaren Allgemeinheit, von der man nur die erste Silbe tilgen muss, ihren wahren Charakter zu entdecken. Das ist nicht sehr weise, Derartiges zu behaupten, doch sich an die Wahrheit zu halten ist ohnehin nicht klug. Im Bannkreis der Wahrheit sich zu bewegen ist gefährlich. Man ist dort ziemlich allein. Und weil man da allein ist, unabgelenkt, erkennt man sich und seine Lage besser als im Trubel geselligen Lebens. Dass immer weniger gelesen wird, dass die Mehrheit der Leute auf Literatur verzichtet und sich den bunten und nichtigen Bilderströmen hingibt, auf denen es sich gut treiben lässt, erweist sich ebenfalls als die unleugbare Wahrheit, wie es mit dem Personal des letzten und vorletzten Jahrhunderts bestellt ist. Der Ausspruch einer Trickfilmfigur kommt besagtem Umstand recht nahe: <I love mankind …, it’s people I can’t stand …>." (Seite 5-5) |
detopia-2023 Das Wort "Personal" verwendet Kunert auch woanders (und ich las es auch bei Bahro), also schlicht Personen, Durchschnittsbürger.
"des
letzten und vorletzten Jahrhunderts"? Mir kam gerade der Verdacht (nachdem
ich schon länger über diesen Satz nachdenke), dass er das 20. und 21. meint;
also das Kunert das gegenwärtige als das letzte bezeichnet; |
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(Verlagstext) Seit vielen Jahren schreibt Günter Kunert fast täglich an seinem »Big Book«, das er aber ganz und gar nicht als ein Tagebuch verstanden wissen will, über und gegen die uns umgebende Welt. Bissig und weise, melancholisch und mutig umspielt der Autor aktuelle Entwicklungen, folgt den Spuren der Vergangenheit und stellt neugierige Fragen an die Zukunft. Ein totes Pferd auf der kriegszerstörten Straße der Heimatstadt kann ebenso der Anlass sein wie eine Bibliothek der vergessenen Bücher oder das globale Problem drohender Überbevölkerung - Kunerts Nachdenken verharrt nicht im Tagesaktuellen, sondern nutzt es als Sprungbrett für pointierte und in die Tiefe gehende Gedankenbewegungen. Er bekennt, dass er im Laufe der Jahre immer skeptischer gegen das Fiktive geworden ist. »Die Realität hat alle Fantasie übertroffen.« Was nötig ist: ein nüchterner Blick auf das Faktische, unbedingt aber gepaart mit einem Ernstnehmen des Biographischen in all seinen Verwicklungen und Verstrickungen in die Wirklichkeit. Nur durch solch ein Verwebtsein entsteht Literatur, die den Anspruch erheben kann, Wesentliches über ihre Zeit und die Menschen auszusagen. Und so über die unmittelbare Gegenwart hinauszugehen. |
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Die Leseberichte zum Buch sind durchmischt. Das liegt am Stoff und am Band selbst; auch dort ist alles thematisch abwechslungsreich. - Es gibt viel Untergang, Pessimismus und Kassandra. Das alles ist klug, genauso wie im bisherigen Bigbook. Deswegen lohnt es sich für mich. - Natürlich muss ich als Linksgrüner Kunerts oftmaliges Rumhacken auf der Einwanderung auch mal falsch finden dürfen; aber mein Gott: wer weiß, was mich im Alter bewegt (Ich meine das hohe Alter.) Das Buch 2018 ist ähnlich wie 2004/2013, nur dünner (170 Seiten). Tagesgedanken und Gedanken bei Nacht, auch bei Herling.
Kunert schreibt auch wieder viel über seine Träume im Schlaf. das gibt mir auch viel. ich wundere mich nämlich auch, das manchmal die traumbilder und keinen bezug zur realität haben; man kann nur was 'echt freudianisch' an den haaren herbeiziehen. selbst wenn ich alle gesehenen filme und gelesenen bücher mit einbeziehe. anhaltspunkte gibt es nur für die festen merkmale (etwa, dass ich mich in einem raum befinde und gitterstäbe sehe und menschen, die 'sprechen'), aber für die Handlung (mit den Emotionen) gibt es keinerlei entsprechung 'zur wirklichen welt'.
Leseberichte